Museen geschlossen, Frank Goosen ausverkauft: Ärger und Freude liegen im Kulturbetrieb des Reviers nahe beieinander

Von außen sieht man ihm seine charakteristischen Tütenlampen gar nicht an: das Schauspielhaus Bochum, wo Frank Goosen sein „Silvester Spezial“ zur Aufführung brachte. (Foto: Schauspielhaus Bochum/Martin Steffen)

Frank Goosen, das ist mal klar, Frank Goosen hat uns gerettet. Das „Silvester Spezial“ des Bochumer Kabarettisten, dargebracht im Großen Haus des Bochumer Schauspiels, fügte sich exakt in die Erfordernisse des diesjährigen Besuchsbespaßungsprogramms: Beginn um 20 Uhr und um die zwei Stunden lang, so daß es bis zum Jahreswechsel dann nicht mehr weit war. Die Silvesterparty im Schauspielhaus knickten wir uns und strebten hernach den heimischen Dortmunder Fleischtöpfen zu. Guter Abend, gutes Timing, 2025 konnte kommen.

Ruhrgebietskultur

Warum erzähle ich das eigentlich? Nun, weil die Berliner Verwandtschaft in diesem Jahr bei uns zu Gast war und man dann natürlich einen gewissen Ehrgeiz entwickelt, richtig schöne Ruhrgebietskultur vorzuführen. In vielen Vorjahren war – in Berlin – die Komische Oper ein prominenter verwandtschaftlicher Bespaßungsort, aber die wird ja jetzt umgebaut und Barrie Kosky ist auch nicht mehr da und überhaupt. Also finde mal was, hier im Revier, wenn es nicht traditionelle Operette sein soll. Nun, wir fanden, wie gesagt, ihn, Frank Goosen, den man mit seiner grundsoliden Bochumer Erdung nebst gleichzeitiger, hochgradig anregender intuitiver Beweglichkeit und profundem historischen Spezialwissen auswärtigem Publikum durchaus zumuten kann, ja geradezu: sollte.

Andreas Weißert las in Dortmund

Der Fairneß halber sei ergänzt, daß auch andere Bühnen Jahresausklangsprogramme anboten. So las der geschätzte Schauspieler Andreas Weißert auf der Dortmunder Studiobühne wieder etwas vor, Textpassagen von Fontane, Kästner, Fallada und Bernhard unter dem Titel „Es ist ein hübsches Wort, daß die Kinder ihren Engel haben“ (ein Fontane-Zitat). Nur – um 16 Uhr fing er an und anderthalb Stunden später war er fertig, das ist dann noch verdammt viel Zeit bis Mitternacht.

Volle Hütte

Bei Goosen war das Theater voll, ganz offensichtlich giert das Volk nach Jahresendkultur. Da paßt es – Vorsicht, Ironie! – wunderbar ins Bild, daß die heimischen Museen an den letzten Tagen des Jahres einfach zumachen. Das Dortmunder „U“, zentrale Adresse, blieb zwischen 30. Dezember und 1. Januar, also von Montag bis Mittwoch, drei Tage immerhin, geschlossen, und in etliche anderen Städten hielten kommunale Museen es ebenso. Offensichtlich war hier eine Bürokratie am Werke, die die Welt in Brückentagen denkt und nicht in Publikumsinteresse. Warum sollte man an kalten, nassen Winter-Werktagen „zwischen den Jahren“, die wirklich nicht zu Spaziergängen irgendwelcher Art einladen, Museumsbesuche ermöglichen? Und der Montag ist eh sakrosankt, liege er für das ungeliebte Publikum auch noch so günstig zwischen den Feiertagen. Es macht die Sache übrigens nicht besser, daß wir, wären wir in Berlin gewesen, ebenfalls vor größtenteils geschlossenen Häusern gestanden hätten. Die Ignoranz einer selbstgefälligen kommunalen Bürokratie ist ein bundesweites Phänomen.

Offene Türen beim Schraubenkönig

Private Museen hingegen kennen das Publikumsinteresse und haben ihre Angebote angepaßt. So läßt „Schraubenkönig“ Würth die Tore seiner drei Häuser in und um Künzelsau jeden Tag von 10 bis 18 Uhr öffnen, das Potsdamer Museum Barberini, das SAP-Chef Hasso Plattner gehört, bot am 1. Januar zumindest Führungen durch das Haus an, und ebenso hatte die Duisburger Küppersmühle am 1. Januar geöffnet.

Wenigstens haben wir den Kran gesehen

In Dortmund, wo Tage vor Silvester museal nichts mehr ging, blieb als touristische Aktion schließlich noch eine Stadtrundfahrt mit dem eigenen Auto, Borsigplatz, Westfalenhütte (wo große städtebauliche Veränderungen anstehen), Hoesch-Museum (geschlossen wegen Umbau). Weiter über Malinckrodtstraße und Nordmarkt zum Hafen, wo vis-à-vis vom wilhelminischen Hafenamt der alte Kran zu besichtigen ist, den man weiter unten auf dem Hafengelände abgebaut und hier, auf der Vorzeigemeile, wieder aufgebaut hat. Gut, wenigstens diese Besichtigung hat geklappt, umsonst und draußen, wie es sein soll bei einem Freiluftindustriedenkmal.

Und es ging auch vom Auto aus. Mistwetter, wie gesagt.




Trotz alledem: Die Revierpassagen wünschen frohe Weihnachten und einen guten Jahreswechsel

Weihnachtliche Szenerie im Dortmunder Rombergpark. (Foto: Bernd Berke)

…auf dass – nach nahezu zwei Jahren – bald endlich wieder leichtere Zeiten anbrechen mögen. Nicht nur, aber auch für „die Kultur“, sprich: die Kulturschaffenden und ihr Publikum.




Wahn zum neuen Jahr – ein paar Halluzinationen mitten in der Silvesternacht

Am 31.12. 2015 bin ich um 23.30 zu Bett gegangen. Ich hatte mich entschlossen, mich den Feierlichkeiten zu entziehen und ganz normal einzuschlafen, um im Jahr 2016 erst wieder aufzustehen. Mein Wunsch war also, wieder aufzustehen.

Draußen sind die ersten voreiligen Schüsse zu hören. All die, die Angst haben, um Mitternacht überhört zu werden, schreien ihre Böller schon vorab in die Luft. Hört! Hier bin ich und ich knalle. Ich knalle jetzt, weil ich nicht weiß, ob ich das neue Jahr noch erlebe.

Ich schließe die Augen.

Anstatt mich die Wiege des Schlafes zu begeben, reist mein Hirn durch alle Regionen der Welt. Ich sehe Knallerfontänen auf Tonga. Der König von Tonga, Tonga, Tonga, erhebt sein Zepter und zeigt damit in Richtung Borsigplatz.

In Sydney leuchtet das Firmament als gelte es, den Weltuntergang einzuleiten. Zu Füßen der Oper verschluckt sich ein achtzehnjähriger an einem Drops und fällt tot um. Zur gleichen Zeit sitzt Wilhelm in der Dürener Straße an seinem Küchentisch und versucht, seine Flasche Bier an der Tischkante zu öffnen.

In Hongkong küsst der Suppenverkäufer Wang die Lehrerin Ming, während am Himmel ein Herz-Feuerwerk leuchtet. In Dubai brennt ein Hochhaus.

In Malaga werfen sich die Menschen Weintrauben in den Mund und in Castrop-Rauxel heult einsam ein Hund, während Manfred seinen letzten Korn herunterkippt.

Draußen herrscht Krieg. Darauf wird angestoßen und die vielen Kohlesäureopfer haben bereits ihre Aspirin-Tabletten auf dem Nachttisch platziert.

Plötzlich landet ein Knaller mitten in mein Hirn.

Erinnerungen werden abgespult im Blitztempo.

pizzeria Bedenkenswertes, Oberflächliches, Berührendes, Ärgerliches, Fragen und Antworten – eine Sammlung kleiner Erlebnisse und Begegnungen während des Projektes zur Erkundung und Beeinflussung der Nachbarschaft: Der Stahlarbeiter als Messdiener und Tanzstubentänzer, der ehemalige Boxtrainer und jetzige Rentner, der Grieche, der als Kürschner hierher kam und ein Geschäft eröffnete, als andere vor Kohle oder Stahl schwitzten, die Ex-Gefallene mit zwei Kindern, die jetzt als Disco-Fee Hula-Hoop Performerin ist, der Kiosk Betreiber als Imker und Soziologe, die Hundefrau mit ihren vier chinesischen Tempel-Tölen mit Comedy Ambitionen, der Sitarspieler und Heiler mit der Ruhestrahlung eines Friedens-Reaktors, der 12-jährige als Kochmeister, die Studentin und die obskuren Nachbarn, die afrikanische Kommunion, das Fensterkonzert von Queen, winkende Straßenbahnfahrgäste, die Spielerei mit der freien Republik Borsigplatz, der BVB-Fähnchen schwenkende Pizzabäcker, die Unterhose im Baum, die alle dutzende Frisörin, die Hippie-Wohnung des Lebenskünstlers, die Vogel-Kolonie im Geisterhaus, die Rollstuhlfahrer-Connection, die roten Tänzerinnen im Park, Monopoly für Aufmerksame, die Suppen von André, Biertrinker im Regen, die Kunstablehner, die Kunstverwirrten, das Klinkenputzen bei Eis und Wind, der Blinde und der Taube, das Punk-Konzert und die 90-jährige Zuhörerin. Die Wahrheiten.

Stille.

Nur in der Ferne noch ein paar Böllerchen.

In einer Wolke erscheinen Menschen und ihre Wünsche hängen wie Sprechblasen an ihren Lippen. Immer mehr und immer mehr. Wie in einem Drogenrausch höre ich Stimmen. Nichts ist sortiert. Ich versuche, meine Augen geschlossen zu halten und gleichzeitig, ein Lied zu summen……“Atemlos…“

zoo enteIch wünsche mir ein neues Jahr, höre ich jemanden flüstern. Ich wünsche, dass Mama mir einen Kuß gibt, dass Papa wiederkommt. Ich wünsche, dass ich mir was wünschen darf. Ich will im neuen Jahr immer zuverlässig sein. Ich will mich regelmäßig rasieren. Ich werde keinen Tropfen mehr trinken. Ich lasse das fluchen. Es soll im Sommer wieder die Sonne scheinen. Ich wünsche mir schönere Lippen. Im neuen Jahr will ich endlich Nein sagen. Ich wünsche mir ein Kind. Ich wünsche mir eine Oma. Ich werde niemandem mehr in die Fresse hauen. 2016 sollen mich alle am Arsch lecken. Ich werde Rücksicht nehmen. Der BVB soll Meister werden. Ich wünsche meinem Onkel, dass ihm der Arm abfällt. Ich werde an einem Friedensmarch teilnehmen. Ich werde einen Friedensmarsch organisieren. Ich werde einen Friedensengel basteln. Ich werde zu Gott beten. Ich verspreche, immer zuzuhören. Ich verspreche, mehr Sport zu treiben. Ich werde einmal pro Woche Sport treiben. Ich werde es einmal pro Woche treiben. Ich verspreche, mehr Luft zu schnappen. Ich werde einen Gymnastikball heiraten. Ich werde nie mehr vergessen, meinen Reißverschluss zuzumachen.

Ich werde zu meiner Schwester brüderlich sein. Ich will eine Frau werden. Ich will ein Mann sein. Ich will keine Plastiktüten mehr benutzen. Ich werde keine Selfies mehr posten. Ich werde Pornos nur noch sonntagmorgens anschauen. Ich verspreche: Bis dass der Tod uns scheidet.  Ich werde berühmt. Ich werde berühmt geworden sein. Ich will einen eigenen YouTube Channel gründen.

Mein Wunsch für 2016 ist: Mehr Licht! Mehr Geld, mehr Liebe, mehr Urlaub, mehr Hunde, mehr Fische, mehr Meer. Ich will meinen kleinen Bruder nie mehr mit der Faust ins Gesicht schlagen. Ich werde meinen Lehrer töten. Ich werde den Geburtstag meiner Katze nicht mehr vergessen. Ich will wieder laufen können. Gesundheit, Frieden, Gesundheit, Frieden…mehr Leben, mehr Kalorien, mehr Privatsphäre, mehr Katzen, ein gewaltiger Shitstorm soll alles in Schutt und Asche legen.

So langsam werden die Stimmen leiser und ich höre noch einen Böller, wie er langsam sich am Boden windet, platzen und krachen will, aber letztlich elend versagt und still liegenbleibt.

Ich schlafe ein. Das Jahr 2016 hat begonnen.




Flucht zum Jahreswechsel – München leuchtet

„Ich will zum Jahreswechsel raus“, sagen sich viele und verreisen, um den Wechsel ins Neue Jahr fernab mit Vorsätzen zu verbringen.

Den einen zieht es ans Meer, um über steife Brisen einen klar Kopf zu bekommen. Den anderen locken die Berge und der Schnee, um sich seiner vielen bunten Bilder zu entledigen, denen man täglich ausgesetzt ist. Viele reisen in eine Großstadt, um den Jahreswechsel als ganzheitliche Party zu erleben.  Durch einen Zufall war es bei mir München. Nicht deshalb, um dem fußballerischen Feind auf den Pelz zu rücken. Wenn man aus dem Revier kommt, gehört das Weben des Feindbildes FC Bayern zur Erziehung. Ich war schlichtweg Begleitung, also nicht nur vom eigenen Willen geleitet.

Flügelspiel in München

Flügelspiel in München

Tatsächlich stehe ich vor dem kleinen Fanshop in der Münchner City und ein post-weihnachtliches Gefühl überkommt den Gast aus Dortmund, mutet der Laden doch eher an wie die Geschäftsstelle des Weihnachtsmannes – alles in rotweiß. Und um die Ecke in einer Passage, vor einem Dirndlfachgeschäft, sitzt jemand an einem Flügel und spielt Rachmaninoff auf hohem Niveau. Es ist Silvester am Nachmittag und die Menschen eilen – schwer bewaffnet mit Plastiktüten und Koffern voller Wumm- und Bumm-Material – zu den jeweiligen Parties, um den letzten Balkankrieg akustisch nachzustellen.

Auf der Suche nach einem unspektakulärem Ort, landen wir „the night before“ in Schwabing im „Multikulti“, einem kleinen Lokal gegenüber vom „Lustspielhaus“, in dem sich Kabarettisten die Klinke in die Hand geben, wo zur Silvesternacht der urbayrische Barde Willy Michl aufspielt, von dem ich noch zwei Vinyls aus den 1970ern habe. Er ist der Begründer des bayrischen Blues und tritt heute in Indianerkleidung auf. Wollte man dabei sein, wäre man dicker bayrischer Luft ausgesetzt, umzingelt von urbayrischem Idiom, „lost in translation“. Und ausverkauft ist es sowieso.

Essen als Herausforderung

Im „Multikulti“ wird derweil das Essen serviert. Die Bedienung Olga aus Kiew sagt: “Ich komme aus dem buntesten Land Osteuropas“ und serviert uns gigantische Portionen auf ebensolchen Tellern. Mein „Krautwickel auf transsilvanische Art mit Sauerrahm, Kartoffeln und Speck“ wird von Koch Werner frisch hergestellt. Mutmaßlich hat er für diese Portion den kompletten Weißkohlkopf verwendet, ein mittelgroßes Schwein zerhackt, einen Sack Paprikapulver eingesetzt und ein paar Liter saure Sahne angehäuft. „Die letzte Herausforderung des alten Jahres“, denke ich und verputze schnaufend das zünftige Mahl.

Meine Begleiter haben es mit einem Haufen Wiener Kalbsschnitzeln und einer Lieferung Spaghetti mit allen Meeresfrüchten des Mittelmeeres zu tun, welches bekanntlich von München weniger weit entfernt ist als Dortmund. Am Nebentisch sitzt ein junges italienisches Paar mit ihrem dreijährigen Kind, das es mit einem „Kinderteller“ zu tun hat. In der Größe einer Kinderbadewanne breiten sich auf dem „Teller“ Rühreier für einen gesamten Kindergarten aus.

Steffi Graf, gemalt auf einer Rinderhaut

Hier will ich die Silvesternacht verbringen. „Ein Tisch ist noch frei, der kleine an der Tür.“ Die Einrichtung scheint aus den 70ern ins Jetzt gebeamt: Wände voll mit Gemälden, die Kunstsachverständigen Schaum vor den Mund jagen würden. Eins zeigt Steffi Graf, gemalt  auf einer Rinderhaut. Die Bestuhlung stammt durchweg von unterschiedlichen Omas.  Lampen, die vormals mal was anderes waren und Kerzenständer um Kerzenständer mit Kerzen. Im vorderen Bereich herrscht eine gediegene Wohnzimmeratmosphäre, im Raum hinten rechts laden kleinere Tische zu Tête-a-têtes, die kurze Theke ist mit ihrem Umfeld eine eigene Welt und hinten bedeckt ein buntes, wahrscheinlich handgesticktes Tuch einen Billardtisch. In der Ecke, hinter einem zusammengeknubbelten Vorhang, klemmt sich einer an einen Spielautomaten. Geradeaus geht’s zur Küche, rechts in die un-verzierten Toilettenräume. Unaufdringlich läuft das Album „A hard day‘s night“ von den Beatles.

"Multikulti" in Schwabing

„Multikulti“ in Schwabing

Für acht Uhr ist gebucht. Es soll live-Musik geben. Eine Seitenlehne des Sessels fällt aus ihrer Verankerung. Ich halte sie fest, als wäre sie ein Stück von mir. Die anderen Gäste sind schon da. Die Eingangstür vor uns wird naturgemäß auch als Ausgang benutzt. Es zieht. Diejenigen, die ich begleite, tragen ihre Mäntel auch am Tisch. Der Ausgang ist nah, falls es zu unerwarteten Tumulten kommt. Aber alles ist schön: Die Junge Münchener Generation am Nebentisch, der Vierertisch Pelzmantelschickeria, das stille Paar gegenüber. Im anderen Raum schön sortierte Vierergruppen.

Gibt es wirklich so große Forellen?

Nur an der Theke stehen ein paar abgerissene Anwohner, die schon um acht den Eindruck bestätigen, Bier sei ein Lebensmittel, und zwar von morgens bis abends. Auf dem abgedeckten Billardtisch stehen Sektflaschen, einige junge Dinger liegen oder sitzen schon querbeet. Es soll noch heiß werden in der Nacht ins kommende Jahr. Olga serviert die Forelle, die für jedes Seemannsgarn herhalten könnte. Gibt es Forellen in dieser Größe? Beim Pulpo hat man auf Fisimatenten verzichtet und ihn gar nicht erst in Einzelteile zerkleinert. Das wäre nur was für die Freunde der Häppchen-Kultur. Hier wird gegessen, auch, wenn die Teller erheblich die Größe des Tisches überschreiten. Aber man hat ja zwei Hände. Die beiden silberhaarigen Live-Musiker hocken mit ihren Gitarren vor der Theke und spielen ihre Jugend rauf und runter.

Die kaum angezogenen Mädchen und feierlich gekleideten Jungs am Nebentisch tauschen ihre Flüssigkeiten noch in Form von Getränken aus – sie spritzen Aperol on the rocks und Whisky/Cola . „Was ist Soda?“ fragt die mit dem offenen Oberteil. An der Theke plaudern sich die Einheimischen gegenseitig vom Hocker. Das Weißbier schäumt ihnen aus den Ohren. Ihre Haltung jedoch ist die von Lustknaben aus den Zeiten König Ludwigs.

Welch ein Aperol-Blick!

Die Zwei-Mann-Band spielt irgendwas von Rod Steward oder Keith Richards. Helles und Weißes an der Theke, Sekt am Billardtisch. Draußen donnern einem beim Rauchen die ersten illegalen Polenböller durch den Tinnitus. Nebel legt sich zwischen Lustspielhaus und Multikulti. Die ersten Plastiktüten werden im Lokal in Stellung gebracht – ready to be bombastic. Die junge Lady mit den schwarzen Haaren tänzelt an mir vorbei und wirft ihren Aperol-Blick in mein Gesicht. Ich lächle zurück und denke nichts. Die Tür geht auf und eine kleine Partygruppe stößt auf die andere. Drei weitere Sinnbilder jugendlicher Weiblichkeit. Wäre ich ein unzufriedener Rollatorschieber mit einer viel zu dicken Frau, würde mir die Fischsoße aus den Mundwinkeln rinnen. So aber bleibe ich cool wie ein 25-jähriger Golfspieler und starre bedenkenlos auf die Beine, die sich vor mir aufbauen, die High Heels in den Teppich gerammt.

Draußen herrschen gefühlte 5 Grad minus und vor mir sehe ich frostbeulenfreie nackte Beine mit dem Rocksaum auf meiner Augenhöhe.  „Früher war mehr Wolle“, höre ich mich denken und ziehe meine Handschuhe wieder aus.  Die Lady stöckelt weiter zu ihrer Freundesgruppe und legt sich mit einem Eimer Aperol an. „Die Uhr tickt“, fordern uns zwei der Girls auf, „gleich ist es soweit. Neujahr!“ rufen sie und erwecken uns damit aus dem Schlaf der Gesättigten. Gott sei Dank meinen sie nicht meine Lebensuhr. Nein, es sind anständige Einheimische.

Olga schiebt Biere nach und ist unerlässlich freundlich und das ist so echt, dass einem schwindelig wird. Die zwei alten Tanten in ihrer jungen Kleidung, zwei wandelnde Ü-50-Boutiquen, vergnügen sich am Vierer-Tisch mit ihren eisgrauen Männern, die aussehen, als hätten sie noch am Nachmittag einige Ausstellungen eröffnet. Silberringe, Silberhaare, Silberzähne und ein paar Meter weiter parken ihre Designer-Fahrräder. Wir werden herausgeschoben. Auf der Straße zwischen Multikulti und Lustspielhaus werden die Waffenarsenale in die endgültige Stellung gebracht. Ganze Batterien von Raketen aller Art werden in die Luft gejagt. Wer gewinnt? Und es kommen Menschen und umarmen mich, werfen mir Küsse an meine erkaltete Wange, auch die mit den Beinen greift mit frohen Grüßen in meine Souveränität ein.

„Ein Stadl is des“

Olga kommt und freut sich. Ich falle in meinen Sessel und versuche noch, ein Tanzbein zu greifen, aber es entschwindet mit Toni aus dem Nebenhaus in den Billardraum, wo sich die knapp gekleideten Sekttrinkerinnen vor der Böllerei versteckt hielten und nun Liebkosungen austauschen. Wir wechseln den Tisch. Das Lokal wurde umgeräumt, die ersten Jungen beginnen zu altern.  Die Schwarze hat dort einen Relief-Slip, wo in den 90ern noch das Geweih eingestanzt war. Das Böllerfestival draußen wird von den letzten Unentwegten aufrechterhalten. Nachdonnern mit Kollateralschäden an einzelnen Ohren und Mänteln. Die Damentoilette wird zum Lazarett umfunktioniert. Aperol wird zurückgeführt, Unverdautes bollert in die Keramik.

Die mit den Beinen kann sich auf diesen nicht mehr halten. „Sie ist das nicht gewohnt“, sagt der junge Mann mit dem Muskelshirt, der ihren Zickzackgang abfedert. An der Theke steht Andy Borg in einem langen eleganten Mantel und raunt: „Ein Stadl is des.“ Inzwischen laufen weitere Betrunkenen-Transporte per pedes. Wir verabschieden uns von Olga aus der Ukraine. An der Bahnstation treffen wir wieder auf die nackten Beine, die kreuz und quer laufen wollen. Aber der Gentleman hat alles im Griff und sagt: „Sie ist das nicht gewohnt.“

Wir verschwinden in der Dunkelheit des neuen Jahres. Hinter uns werden reihenweise Papierkörbe mit Aperol gefüllt. Am nächsten Tag schreibt die Abendzeitung, ein U-Bahnfahrer sei betrunken über ein Bein gefahren. Hoffentlich war es nicht eins der zwei nackten. Prosit Neujahr!




Silvester und der Alkohol

„In Sachen Alkohol ist Silvester eindeutig der gefährlichste Tag des Jahres.” Das sagt einer, der es wissen muss. Der Bottroper Peter Kruck hat sich tief ins Thema versenkt. Er ist Autor des Standardwerks mit dem glasklaren Titel „Alcohol”.

Am letzten Tag des Jahres sind Sekt, Wein, Bier und Konsorten so selbstverständlich wie sonst nie. „Da feiert man den ersten Tag vom Rest seines Lebens intensiver als sonst”, weiß Kruck (42). Auch werden womöglich negative persönliche Jahresbilanzen „ertränkt”. Andentags folgt unweigerlich der Neujahrskater.

Und noch eine Besonderheit zu Silvester: „Es wird zunächst oft nicht einfach drauflos getrunken, sondern eher mit Maß und Ziel – schließlich will man gegen Mitternacht noch die Uhr im Blick behalten.” Aber dann…

Gut möglich, dass Relikte aus der langen Kulturgeschichte des Alkohols ins Heute hineinragen. Kruck: „Vielleicht will man unbewusst böse Geister vertreiben. Aber vor allem gilt wie bei vielen Feiern: Man will sich lockern und entspannen, leichter ins Gespräch kommen.” Binsenweisheit: Bisweilen werden dabei die Grenzen zur Peinlichkeit oder zur Aggression rasch überschritten.

Und wenn man zum Ende des Jahres feststellen sollte, dass einen „kein Schwein” eingeladen hat? „Dann könnte auch das für manche Leute ein Anlass zum Trinken sein”, ahnt Kruck. Es wären keine sonderlich guten Vorzeichen.

Der promovierte Kommunikations-Wissenschaftler und Marktforscher verharmlost die Folgen des Alkohols keineswegs, sondern rät zum bewussten, vernünftigen Umgang mit den flüssigen Giften. Sorglosigkeit sei nicht am Platze, vorschnelle Hysterie aber ebenso wenig.

Fährnisse und Fluch des Alkohols seien „so alt wie die Menschheit”. Seine Ursprünge habe der Genuss von mehr oder weniger Hochprozentigem in kultischen Ritualen, die bei den alten Griechen in der Verehrung des Gottes Dionysos (bei den Römern dann Bacchus) gipfelten und schon mal tagelange Orgien mit Wein, Weib und Gesang einschlossen.

Kruck sieht ein stark gefiltertes und verdünntes Erbe dieser wüsten Zeiten auch in der katholischen Kirche walten – nicht nur in Form des Messweins. Statistiken belegen, dass in katholisch geprägten Ländern deutlich mehr gesüffelt wird als in protestantischen – von der muslimischen Welt ganz zu schweigen. Essenz: „Katholiken sind in der Regel genusssüchtiger.”

Vom Kult zur Kultur: „Goethe hat täglich zwei Flaschen Wein getrunken”, sagt Kruck. Beim Schreiben hat’s offenkundig kaum geschadet. Und der Dichterfürst ist immerhin bei besten Geisteskräften 82 Jahre alt geworden. Doch gerade in der Literatur gibt es auch sehr betrübliche Säufer-Biographien. Legendäre Trinker unter den Autoren waren Joseph Roth, Malcolm Lowry, Flann O’Brien oder Charles Bukowski. Und viele andere.

Peter Kruck kann Erstaunliches aus der Welt des Rausches erzählen. Im Mittelalter und bis weit in die Neuzeit hinein, so hat er herausgefunden, waren die Menschen praktisch permanent betrunken, selbst Kinder blieben selten nüchtern. Das Leben war gnadenlos hart und manchmal offenbar nur so zu ertragen. Bier als liquide Form von Getreide galt als Grundnahrungsmittel. Eine Folge: Die Lebenserwartung war erschreckend niedrig. Tiefpunkt: Zu den finstersten kapitalistischen Zeiten des 19. Jahrhunderts wurde im englischen Leeds ein Arbeiter im Schnitt nur 19 (!) Jahre alt.

Wann hat die große Sauferei sich gemildert? Als es in den Städten allmählich hygienischer zuging und Wasser nicht mehr durch Zusetzen von Alkohol desinfiziert wurde. Und als das Auto erfunden wurde.

Sollte man sich gezielt berauschen wollen, so erreicht man dies laut Kruck am verträglichsten mit klarem „Sprit”, der eben hauptsächlich diesem Zweck dient. Vorausgesetzt, das Zeug ist nicht lebensgefährlich gepanscht. Kruck zieht den Vergleich: „In Bier und Wein schwimmen viele Nebenstoffe herum.” Und überhaupt – die ach so kultivierten Weintrinker, die in Jahrgängen und Lagen schwelgen wie in kostbaren Kunstwerken: „Sie machen sich nur selbst mehr vor als andere Alkohol-Konsumenten.”

Kruck selbst, der besonders zu Studentenzeiten gern feuchtfröhlich gefeiert hat, will sich zu Silvester eher „einigeln” – erzwungenermaßen. Denn der Familien-Hund fürchtet sich daheim dermaßen vorm Feuerwerk, dass er fortwährend beruhigt werden muss. Mit dem verheißungsvollen Geräusch beim Entkorken der Flaschen sollte das Tier hingegen kein Problem haben.

Peter Kruck „Alcohol“. 300 Seiten, gebunden. Herbig-Verlag. 17,90 Euro.