Ein großes Versprechen: Der 26jährige Patrick Hahn tritt sein Amt als GMD in Wuppertal an

Patrick Hahn und das Sinfonieorchester Wuppertal. (Foto: Uwe Schinkel)

Ein spannender Tag für Wuppertal. Man spürt es im Publikum. Erwartungsfroh strömen die Menschen in die Historische Stadthalle. Das Foyer füllt sich wie früher. „Was für ein Zeichen des Aufbruchs“, freut sich Wuppertals Oberbürgermeister Uwe Schneidewind.

Nach eineinhalb Jahren Corona-Pandemie ist der glanzerfüllte Saal der Stadthalle wieder einmal voll besetzt. 1.200 Menschen erwarten den neuen Generalmusikdirektor Patrick Hahn zu seinem Antrittskonzert. Und auf dem Podium harrt das volle Orchester.

Patrick Hahn ist erst 26 Jahre alt und der jüngste GMD im deutschsprachigen Raum. Mit 19 stand er in Budapest zum ersten Mal vor einem großen Profi-Orchester; inzwischen hat er eine stattliche Liste vorzuweisen, die vom Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks über das Gürzenich-Orchester Köln und die Düsseldorfer Symphoniker bis zu den Wiener Symphonikern reicht – eingeschlossen Dirigate an der Bayerischen Staatsoper München, wo er mit Kirill Petrenko zusammengearbeitet hat.

Der neue Wuppertaler GMD, Patrick Hahn. (© Gerhard Donauer C&G Pictures)

Als „Shooting Star“ gehandelt, hat Hahn neben seinem Wuppertaler Engagement noch weitere Posten angenommen: Er ist Erster Gastdirigent und künstlerischer Berater beim Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra und übernimmt die neu eingerichtete Position eines Ersten Gastdirigenten beim Münchner Rundfunkorchester, wo er die neue Spielzeit am 10. Oktober mit dem 1. Sonntagskonzert und Viktor Ullmanns Kammeroper „Der Kaiser von Atlantis“ eröffnet.

In Wuppertal will Hahn sechs von zehn Abo-Konzerten und zwei Opern pro Spielzeit dirigieren. Eine Menge Verpflichtungen; ob der neue Stern am Dirigentenhimmel sie mit jugendlicher Energie alle zu erfüllen weiß, wird die Zukunft erweisen. Die Stadt hat erst einmal mit seinem Engagement einen Coup gelandet und die Wuppertaler haben den jungen Mann mitsamt dem Orchester mit herzlich langem Beifall begrüßt.

Dokument des Ehrgeizes

Hahn, in Graz geboren, stellt sich mit einer Hommage an einen der bedeutendsten österreichischen Komponisten der Moderne und einer Huldigung an die Alpen vor. Anton Weberns „Sechs Stücke für Orchester“ op. 6 sind ungeachtet ihrer Kürze und Transparenz eine diffizile Herausforderung für Orchester und Dirigent. Bei Richard Strauss‘ „Eine Alpensinfonie“ liegt die Sache umgekehrt: Da sind Länge und Opulenz zu bewältigen. Doch die Fülle saftiger Akkorde und das Leuchten des Instrumentierungsglanzes darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass bei aller üppigen Pracht eine ausgefeilte Balance der klanglichen Hierarchien vonnöten ist, sollen die Alpen nicht im dicken Nebel der orchestralen Fülle versinken, sondern ihre Gipfel klar und strahlend präsentieren.

Strauss‘ Alpensinfonie wird an diesem Abend zum Dokument des Ehrgeizes. Dieser junge Mann will viel, und er hat das Zeug, alles zu erreichen. Das zeigt sich in exemplarischen musikalischen Bildern, die ja oft als bloß illustrative Naturschilderungen missverstanden werden, tatsächlich aber eine Reflexion auf den Kosmos der Strauss’schen Form- und Klangvorstellungen sind. Hahn wählt den passenden Ansatz, wenn er die Musik nicht allzu illustrativ auffasst, wenn er sich darum bemüht, die breite Malerei („Auf dem Gipfel“ – „Vision“) nicht pastos aufzutragen, wenn er im Gebrodel von Sturm und Blitzen das Orchester – manchmal allerdings vergeblich gegen die Spiellust ankämpfend – vor platten Effekten zu bewahren sucht, wenn er das Gebimmel auf blumigen Almwiesen und das Duljöh der Holzbläser mit Mahler’scher Ironie übertreiben lässt.

Harte Arbeit bis zum Gipfel

Aber auf der anderen Seite spürt man deutlich, dass Dirigent und Orchester noch nicht beieinander angekommen sind. Die Routine im positiven Sinne fehlt. Der mystische, dem „Rheingold“ abgelauschte Beginn, der aller Strauss’schen Anti-Transzendenz Hohn spricht, bleibt (noch) brüchig. Der Aufschwung des Sonnenaufgangs gerät laut, nicht strahlend. Auf dem Weg zum Gipfel arbeiten sich Hahn und sein neues Orchester vorwärts, lassen so manche Schönheit unbeachtet, verlieren sich im Getümmel, das den Musikern willkommene Gelegenheit bietet, loszulegen, statt die raffinierten Strauss-Abmischungen durch eiserne Disziplin der klanglichen Balance einzuholen. Diese Alpenwanderung ist ein großes Versprechen, aber noch keine Erfüllung.

Mit exquisiten Klangmischungen haben es Hahn und das Sinfonieorchester Wuppertal auch in Anton Weberns Orchesteraphorismen zu tun, die wie so manche in Sprache gefassten Sinnsprüche höchste Prägnanz mit scheinbar improvisatorischer Spontaneität verbinden. Patrick Hahn steuert die transparente Luzidität, die kammermusikalische Finesse dieser vorbeihuschenden Miniaturen an. Die Soli aus den Reihen der Sinfoniker, etwa des neuen Konzertmeisters Nicolas Koeckert, sind brillant. Die riesige Geräuschwalze des „Trauermarsches“ (Nr. 4) gelingt aufmerksam kalkuliert. Bei Webern sind wir dem Einlösen des Versprechens schon sehr nahe.

Marlis Petersen, 2014 in Bellinis „La Straniera“ in Essen, als Alban Bergs „Lulu“ in Wien, München und New York gefeiert, als „Ophélie“ in Ambroise Thomas‘ „Hamlet“ gerühmt, als Aribert Reimanns „Medea“ in Wien ausgezeichnet, gehört zu den schlankstimmigen Strauss-Interpretinnen. In den „Vier letzten Liedern“ in Wuppertal kann sie ihren Ruf nur schwer verteidigen. Zum straff geführten, klanglich aber unspezifischen Orchester setzt sie sich mit kopfigem Vibrato, dünner Höhe und klangloser Tiefe nicht durch, lässt ihren Sopran nicht frei strömen und in den herrlichen Legati Samt und Leuchtkraft missen. Dem gespannten Ton fehlt die Flexibilität zur Gestaltung. Ein seltsamer Eindruck der jüngst gekürten bayerischen Kammersängerin, deren „Salome“ von der Kritik als fulminante, atemberaubend fesselnde Charakterstudie gefeiert wurde. Mag sein, dass ihr „weißliches, nicht sinnliches Timbre“ (Manuel Brug) für die raffiniert-kindliche Prinzessin passend ist, für Strauss‘ Weltabschied taugt es nicht.

Patrick Hahn ist am Sonntag, 19. September, und Montag, 20. September 2021 erneut am Pult des Sinfonieorchesters Wuppertal zu erleben. Als Solist begrüßt er den in Wuppertal bereits mehrfach gefeierten Cellisten Alban Gerhardt, der die Hebräische Rhapsodie „Schelomo“ von Ernest Bloch im Gepäck hat. Außerdem im Programm: „In the Beginning“ , das letzte Werk des 2016 verstorbenen finnischen Komponisten Einojuhani Rautavaara, und – passend zum 125. Todestag von Anton Bruckner – dessen Vierte Sinfonie.

Tickets sind erhältlich online unter www.sinfonieorchester-wuppertal.de oder telefonisch unter (0202) 563 7666. Es dürfen nur getestete, genesene oder geimpfte Personen die Konzerte besuchen.




Liebe und Staatsbankrott: „Lustige Witwe“ ist nicht so lustig

Valencienne (Dorothea Brandt) geht mit ihrem Mann Mirko (Miljan Milović) nicht immer so pfleglich um ... Foto: Andreas Fischer

Valencienne (Dorothea Brandt) geht mit ihrem Mann Mirko (Miljan Milović) nicht immer so pfleglich um … Foto: Andreas Fischer

Franz Lehárs „Lustige Witwe“ begeistert mit musikalischer Qualität und dramaturgischem Pfiff. Irgendwie scheint sie aber auch in unsere Zeit zu passen. Denn momentan wird zwischen Lübeck und Innsbruck auf mehr als ein Dutzend Bühnen versucht, der Dame ihre Millionen abzuluchsen. Allein in NRW intrigiert die pontevedrinische Diplomatie an vier Orten: ab Dezember in Düsseldorf, in Detmold ab 4. November in der Neuinszenierung von Holger Potocki und ab Silvester geht man in Dortmund an der Hand von Regisseur Matthias Davids ins Maxim. Im Barmer Opernhaus hatte Lehárs sensationelle Erfolgsoperette von 1905 am Samstag, 15. Oktober, ihre zweite Premiere – die erste fand schon im Juni in Solingen statt.

Gar so lustig, wie der Titel glauben machen will, ist diese „Witwe“ aber nicht: Es geht zwar ums erotische Vergnügen, um Grisetten und Seitensprung, aber vor allem ums Geld. Zwanzig Millionen ist Hanna Glawari wert. Eine begehrte Beute für die Pariser Lebewelt. „Die Millionen sind angekommen“, kündigt einer der Pariser Filous ihre Ankunft an: Damit ist alles gesagt. Charme, Intelligenz, Selbstbewusstsein, selbst Schönheit und Ausstrahlung? Egal. Hauptsache, die Frau ist millionenfach vergoldet.

Derweil plagen den pontevedrinischen Gesandten (im Rollstuhl, aber bei den „Weibern“ gut zu Fuß: Miljan Milović) lastende Sorgen: Wird das Geld der Frau Glawari aus seinem Vaterlande abgezogen, droht der Staatsbankrott. Abhilfe muss Graf Danilo schaffen. Der zeigt sich jedoch wenig patriotisch und lehnt den erotischen Staatseinsatz rundweg ab. Die Tanzmädels sind ihm lieber …

Pascale-Sabine Chevroton weiß um die gesellschaftlichen Untiefen in diesem Stück. Und inszeniert die „Lustige Witwe“ in dieser Koproduktion mit den „Folies lyriques“ in Montpellier weit weg von der üblichen Operettenästhetik. Weder Bühnenbild noch Kostüme (Tanja Liebermann) schwelgen in Frack und Tutu. In der Botschaft des Beinah-Bankrott-Staates sind Wände rissig und Stuckleisten geborsten. Für Madame Glawaris Heim ersinnt Bühnenbildner Jürgen Kirner eine gewaltige Handtasche. Es könnte auch ein Geldbeutel sein, der sich öffnet und wie aus einem roten Rachen die leichtlebige Festgesellschaft ausspuckt. Die Damen vom Maxim sehen aus wie Buchhalterinnen. Auch das passt: eher Dienerinnen des Geldes als des Eros. Dass Esprit und Humor gestutzt werden, scheint kalkuliert. Hans Richter als Komiker Njegus darf zwar wienern, aber die üblichen Stegreifsprüche sind ihm nicht erlaubt. So bleibt diese kommentierende Figur profillos. Chevrotons Lesart nimmt die Operette und ihr Sentiment ernst, aber die Szene moussiert nicht. Stellenweise glaubt man, Lehár habe ein Kammerspiel von Ibsen vertont.

Im Orchester sieht das zum Glück anders aus. Florian Frannek entschlackt die Partitur, gibt ihr kammermusikalische Finesse, welche die Orchester-Solisten der Wuppertaler Sinfoniker bereitwillig erfüllen. Der Dirigent „champagnerisiert“ den Rhythmus. Er gibt den schmeichelnden Melodien ohne schmierige Agogik Raum. Die Geigen flüstern wirklich „hab‘ mich lieb“ in feinstem, wenn auch nicht in süffigem Pianissimo der geforderten großen Besetzung. Und das Studium der Noten ist im Graben mindestens so eifrig betrieben worden wie auf den Brettern das Studium der Weiber.

"Lippen schweigen, s'flüstern Geigen ... Hanna Glawari (Susanne Geb) und Danilo (Kay Stiefermann)Foto Aandreas Fischer

„Lippen schweigen, s’flüstern Geigen …“: Hanna Glawari (Susanne Geb) und Danilo (Kay Stiefermann).Foto Andreas Fischer

Dorothea Brandt ist eine nahezu perfekte Tanzsoubrette; ihre Valencienne hat Format. Susanne Geb zeigt die selbstbewussten Seiten der Hanna Glawari. Doch ihrem soliden, zu strahlendem Ton fähigen Sopran fehlt schmeichelnde Weichheit; die lyrische Bezauberung kleidet sie eher in Silber als in Samt. Kay Stiefermann – der Wuppertaler „Holländer“ – erweist sich als wandlungsfähiger Darsteller und routinierter Sänger: Trotz Krankheit singt er den Danilo respektabel und rhetorisch reflektiert. Boris Leisenheimer als Camille de Rosillon scheitert ob der verfehlten Position seines Tenors an den Anforderungen der Partie. Seine Tongebung wirkt gequält, die Höhen sind trocken forciert. Tomas Kwiatkowski und Nathan Northrup sind als Cascada und Saint-Brioche richtige Klischee-Pariser mit Baskenmütze und Halstuch. Der Chor ist von Jens Bingert zuverlässig einstudiert.

Im Programmheft liest man mit Erstaunen, wie oft die Bankrott-Kandidaten unter den europäischen Staaten schon zahlungsunfähig waren – an Pontevedro ist dieses Schicksal noch einmal vorübergegangen. Die Botschaft ist angekommen: reicher Beifall.