Die Besinnung nach den wilden Zeiten – Ernst Ludwig Kirchners erstaunliches Spätwerk in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Als der Künstler Ernst Ludwig Kirchner 1923 nach Davos kam, war er völlig entkräftet, teilweise gelähmt und drogensüchtig. Die vitalen und manchmal wilden Jahre des Expressionismus in Dresden und Berlin lagen hinter ihm. Nun begab er sich in dauerhafte ärztliche Obhut, suchte in der stilleren Schweiz Ruhe und Besinnung, übte als einzigen Sport das eher meditative Bogenschießen aus.

Derlei Lebens-Wandel musste sich auch aufs bildnerische Schaffen auswirken. Wenn jetzt das Essener Folkwang-Museum Kirchners Schweizer Spätwerk (bis zum Freitod des von den Nazis als „entartet“ Verfemten im Juni 1938) ins Zentrum rückt, so können wir einen anderen Kirchner entdecken, als er uns aus Zeiten der Künstlergruppe „Die Brücke“ vertraut ist.

Der Abgesang auf den Expressionismus hatte sich verbal um 1919 angekündigt. Der endgültige Abschied hatte dann zunächst praktische Gründe: Kirchner ließ sich aus Berlin etliche Bilder nach Davos schicken. Die Leinwände wurden für den Versand gerollt und datbei vielfach beschädigt. Also galt es, sie eigenhändig zu restaurieren. Der selbstkritische Kirchner nahm gleich eine Revision vor.

Beispiel: Das 1910 angefertigte Bild „Eisenbahnüberführung in Dresden-Löbtau“ übermalte Kirchner 1926 derart gründlich, dass es seinen Charakter änderte. Er tilgte den nervös-expressionistischen Gestus und setzte ruhige Flächen, wo vorher fahrige Striche gewesen waren. Das ganze Bild wirkte nun weit weniger spontan, dafür umso klarer und monumentaler. In ähnlicher Weise, glättend und besänftigend, verfuhr er mit weiteren Werken.

Unterwegs zur symbolischen Darstellung

Daraus entwickelte sich auch bei Neuschöpfungen jener Stil, welcher (nach einem prägnanten Wort Kirchners) nicht mehr schauend sondern bauend vorging, sprich: Das unmittelbar Gesehene trat zurück hinter sorgsam arrangierte Form-Additionen, die sich zusehends symbolisch verdichteten.

Tänzerinnen (ein Hauptmotiv in dieser Phase) sind nun nicht mehr so sehr lebendige Wesen, sic verkörpern stattdessen ein allgemeineres Prinzip bunt umrankter Freude. Schweizer Bergbauern stehen fürs entbehrungsreiche, in Traditionen verwurzelte Leben schlechthin.

Häufig breitet sich nun rund um die Figuren eine Aura von Farbfeldern aus. Dies hat nicht nur esoterischen Beigeschmack, sondern erweist sich auch als Mittel zur psychologischen Durchdringung.

Auf solch abstrahierende, aber doch „lesbare“ Art vermag Kirchner zwei Seiten einerPersönlichkeit zugleich darzustellen. Einen Mäzen zeigt er halb im Schatten – die helle Seite bezeichnet das öffentliche Wirken, die dunkle die Homosexualität, die der Mann verbarg. Fast eine triviale Fügung. Ähnlicher Fall: Mutter und Sohn, einander fast feindlich gegenüber gestellt, sind in doppeltem Umriss sichtbar. Bittere Realität und Wunsch nach besserem Einvernehmen sind als simultane Überblendung gegenwärtig.

Die Schau lässt durch punktuelle Vergleiche mit anderen Künstlern (Picasso, Max Ernst, Le Corbusier) Verwandtschaften erkennen. Zuweilen befindet sich Kirchner ihn ihrem Kielwasser, dann wieder schreitet er voran. Manchmal herrscht in ein und demselben Bild derart unbekümmerter Stil-Pluralismus, als habe Kirchner bereits die Heraufkunft yon Pop-Art und Postmoderne beschleunigen.

Ernst Ludwig Kirchner: „Farben sind die Freude des Lebens. Essen, Folkwang-Museum (Goethestraße). 9. April bis 18. Juni. Di-So 10-18, Fr 10-24 Uhr. Eintritt 8 DM, Katalog 42 DM.




Gesichter gleichen der Musik – Kunsthalle Bielefeld zeigt Porträts aus dem Spätwerk von Henri Matisse

Von Bernd Berke

Bielefeld. Man mag es kaum glauben, daß ein Weltkünstler wie Henri Matisse (1869-1954) erst viermal mit größeren Ausstellungen in Deutschland vertreten war. Den Anfang machte (erst 1981) die Kunsthalle Bielefeld. Jetzt ist es wiederum dasselbe Haus, das mit einer bundesweit exklusiven Schau aufwartet.

Sie heißt im Original „Visages découverts“, was man etwa mit „enthüllte“ oder gar „entdeckte Gesichter“ übersetzen könnte. Entdeckung ist in keiner Hinsicht übertrieben: Fast die Hälfte der Bilder war noch nie in Deutschland zu sehen. Es handelt sich bei den rund 130 Zeichnungen und Graphiken (ergänzt um wenige Ölgemälde) samt und sonders um Porträts aus dem Spätwerk.

Die Summe des Künstlerlebens besteht in grandioser Einfachheit. Meist genügt Matisse eine berückend schlichte Linienführung, um ein Gesicht zu charakterisieren. Es sind jedoch, entgegen dem ersten Anschein, Bilder jenseits jeder Naivität, deren Urheber sich freilich den kindlich offenen Blick bewahrt bzw. ihn wiedergefunden hat: Es sind Bilder eines Mannes, der alle biographischen und alle Schöpfungsphasen durchschritten hat und der dabei allmählich vorgedrungen ist zu einem Urmuster, einer Art Grammatik aller menschlichen Gesichter, aus der wiederum die individuellen Ausprägungen vielfältig erwachsen.

Zuweilen läßt Matisse die Gesichtsfläche vollkommen frei und leer. Geradezu sakral und wie befreit von irdischen Zufälligkeiten wirken solche Blätter. Angeregt wohl auch durch die staunenswerte Aussagekraft eigener unvollendeter Arbeiten, setzt Matisse diese äußerst reduzierte Form ganz gezielt ein, auf daß die Phantasie des Betrachters die „Leerstellen“ füllen kann. Es ist jene Phase; in der Matisse auch die Skizzen für die oftmals gerühmte Kapelle in Vence entwirft. Das Gefühl von Spiritualität, das sich vor diesen Werken einstellt, entsteht also wohl nicht zufällig. Ein weiteres Verfahren: Matisse gibt Gesichtern einen maskenhaften Ausdruck; eine andere Stufe auf der Skala zwischen allgemeinen Mustern und individueller Prägung.

Schönheit ohne Zweck paßt selten ins deutsche Konzept

Man findet in dieser Ausstellung ein Panorama menschenmöglicher Stimmungslagen. Die Gesichter schauen somnambul, beseelt, sinnend, lockend, meditativ, lachend, heiter, bestürzt. Ganz wie im richtigen Leben, doch ungleich deutlicher und unverstellter. Welch eine überragende Kunst, die dies zu zeigen vermag.

Ganz im Gegensatz zur maskenhaften Typisierung steht eine Art kinematographischer Zugang zum Porträt. Überzeugt, daß ein einzelnes Bild nicht das wandelbare Wesen eines Gesichtes wiedergeben kann, schuf Matisse häufig Bilderserien, in denen die stetige Veränderlichkeit der Emotionen aufscheint. Solange es lebendig ist, gleich das Gesicht einer fortwährenden Musik oder eben einem unaufhörlichen „Film“.

Bielefelds neuer Kunsthallen-Leiter Thomas Kellein meint, die deutsche Mentalität habe bisher eine intensivere Beschäftigung mit Matisse erschwert. Hierzulande habe man Experimente mit Linie und Farbe fast immer theorielastig betrieben. Einer wie Matisse, der Kunst auch als entspannende Ästhetisierung des Lebens begriff, habe nicht in dieses Schema gepaßt. Ganz und gar zweckfreie Schönheit ist bei uns ziemlich suspekt.

Henri Matisse:„Das unbekannte Gesicht“. Kunsthalle Bielefeld, Artur-Ladebeck-Straße 5. Bis 24. November. Tägl. außer montags 11-18uhr, Mi bis 21 Uhr, Sa ab 10 Uhr. Eintritt 8 DM. Katalog 48 DM.




Wenn jeder Gestaltungswille erlischt – Willem de Koonings Spätwerk in Bonn

Von Bernd Berke

Bonn. Wenn in den letzten Jahren von Willem de Kooning die Rede war, dann weniger von seinen Bildern als von seinem Leiden. Der 1904 geborene Künstler lebt mit der Alzheimer-Krankheit und ist gar entmündigt worden.

Man denkt dieses Schicksal unweigerlich mit, wenn man jetzt seine Bilder aus den 80er Jahren im Bonner Kunstmuseum betrachtet.

Die Arbeiten tragen allesamt keine Titel, und sie sind denkbar abstrakt; jedoch nicht von einer souveränen, alles Überflüssige aussparenden Art, sondern seltsam vage im Gestus. Impulsive Farbschleier und Spuren-Verläufe, meist in leuchtendem Gelb, Rot und Blau, ziehen und schlängeln sich durch all diese 35 Großformate. Wenig einprägsam. Man könnte glauben, unvollständige, zwischendurch aufgegebene Puzzles vor sich zu haben.

Ist es eine Kunst des Weglassens auf dem Weg zum Wesentlichen, oder sind es nicht doch bestürzende Protokolle der Resignation, eines fortschreitenden Verlustes? De Kooning ist hier wohl nicht mehr auf der früheren Höhe seiner bildnerischen Kräfte, und vielleicht hätte man ihm diese museale Bloßstellung ersparen sollen, gegen die er sich nicht mehr wehren kann.

Der vormals so machtvolle Künstler scheint in dieser späten Schaffenszeit beseelt vom Drang zu einer nur noch auflodernden Helligkeit, die irgendwann jeden Umriß und jeden Gestaltungswillen auzulöschen droht. Es wirkt so, als seien die völlig weiße Leinwand, Zeit- und Ortlosigkeit seine Ziel- und Fluchtpunkte. Es fällt sehr schwer, ihm in solche Fernen zu folgen.

Nur am Anfang dieser Phase, im Jahr 1981, hat De Kooning noch seine Signatur hinterlassen. Namenlos gemalt, sehen die weiteren Arbeiten dann zunehmend tatsächlich wie anonyme Hervorbringungen aus. Wüßte man nicht, von wem sie stammen, würde man wohl unnachsichtiger und respektloser urteilen.

Parallel zu de Kooning sind im selben Hause (bis 22. September) illustrierte Bücher von der Hand Pablo Picassos zu sehen. Hier kann man spüren, was rege künstlerische Inspiration vermag. Und gleich gegenüber gastiert in der Bundeskunsthalle das großartig bestückte „Moderna Museet“ aus Stockholm (die WR wird darauf zurückkommen). Bonn ist zwar nicht mehr politische Hauptstadt, mausert sich aber zur Kunst-Kapitale.

Willem de Kooning: Das Spätwerk – Die achtziger Jahre. Kunstmuseum Bonn (Friedrich-Ebert-Allee 2 („Museumsmeile“). Bis 18. August. Di-So 10-18 Uhr. Katalog 49 DM.