Darf man über Untaten schweigen? Javier Marías‘ Roman „So fängt das Schlimme an“

Warum sprechen wir ständig über Dinge, die wir eigentlich gar nicht wissen können? Warum wühlen wir in Gerüchten und Lügen und präsentieren sie als vermeintliche Wahrheiten? Könnte es nicht manchmal sinnvoll sein, über mögliche Verbrechen zu schweigen und Untaten mit dem Mantel des Vergessens zuzudecken, mithin das Schlimme zu vermeiden, damit das hinter der Szenerie lauernde noch noch Schlimmere gebannt bleibt?

Mit solchen Fragen zur Psychologie des politischen und philosophischen Erkenntnisinteresses beschäftigt sich Javier Marías in seinem neuen Roman „So fängt das Schlimme an“. Schon der Titel des Buches spielt auf Shakespeare an, der einmal sagte: „Thus bad begins ans worse remains behind“.

Marias

Das Spiel mit Shakespeare ist beim spanischen Autor, der sich mit Romanen wie „Mein Herz so weiß“ oder „Morgen in der Schlacht denk an mich“ in die Weltliteratur schrieb und eine zeitlang in Oxford lebte und lehrte, nichts Neues. Immer wieder kommt er in seinen vielschichtigen Erzähl-Variationen über die Schwierigkeit, die Wahrheit von der Lüge, die Fiktion von der Realität und das Wunschdenken von den Fakten zu unterscheiden, auf den englischen Literatur-Giganten zurück.

Diesmal gibt Marias seinem Ich-Erzähler sogar einen anspielungsreichen Namen: Denn Juan, der von heute aus auf eine Zeit zurückschaut, als er noch ein 23jähriger Film-Freak war und sich naiv in ein Gespinst aus Lug und Trug, Liebe und Hass, Leidenschaft und Tod verwickeln ließ, trägt den Nachnamen de Vere – ist also ein literarischer Nachfahre von Edward de Vere, Earl of Oxford, Abenteurer, Duellant und Dichter, den manche für den wahren Shakespeare halten. Dessen Vorname – Edward – aber trägt im Roman die Person, die für den Erzähler Juan zum Vater-Ersatz wird: Eduardo Muriel, Film-Regisseur und Ikone des spanischen Kinos, bei dem Juan als Assistent anheuert.

Wir schreiben das Jahr 1980, vor wenigen Jahren ist General Franco gestorben und die klerikal-faschistische Diktatur sang- und klanglos verschwunden. Um ohne Blutvergießen den Aufbruch in die Demokratie zu ermöglichen, wird allen Tätern und Mitläufern eine Amnestie gewährt.

In diesem Milieu des Schweigens und Verdrängens gedeihen Gerüchte, deren Wahrheitsgehalt niemand überprüfen kann. Hat Doktor Jorge van Vechten seine Karriere und seinen Reichtum wirklich nur der Tatsache zu verdanken, dass er williger Helfer der Faschisten war? Benutzt er sein Wissen über die Geheimnisse der Menschen tatsächlich, um sie zu erpressen und Frauen sexuell zu nötigen?

Juan soll das im Auftrag seines Chefs herausbekommen. Denn van Vechten ist ein Freund des Film-Regisseurs und vielleicht sogar ein Liebhaber von Muriels Gattin Beatriz. Juan wird zum Spion wider Willen: Ihm ist das Geschnüffel widerlich, und peinlich ist ihm auch, dass er sich auf eine kurze Affäre mit Hausherrin Beatriz einlässt.

Doch als Juan endlich der ganzen Wahrheit über den dubiosen Arzt und über die Ehehölle der Muriels nahekommt, gebietet ihm der Regisseur zu schweigen. Er will das Schlimme doch lieber nicht wissen, um das noch Schlimmere zu bannen.

Dass die verwickelte, von literarischen Anspielungen, filmhistorischen Hinweisen, politischen Abgründen und erotischen Vergnügungen durchwirkte Geschichte nicht gut ausgehen kann, ist klar. Doch wie Javier Marías auf ein furioses Finale zusteuert und das gefährliche Intrigen-Spiel zu einem (halbwegs) versöhnlichen Ende bringt, ist ganz großes Erzähl-Kino.

Javier Marías: „So fängt das Schlimme an“. Roman. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. S. Fischer Verlag, Frankfurt, 638 Seiten, 24,99 Euro.




Ruhrgebiets-Flamenco: Rafael Cortés brilliert in der Lichtburg Essen

Rafael Cortés in der Lichtburg Essen. Foto: Hanns-Peter Huester

Rafael Cortés in der Lichtburg Essen. Foto: Hanns-Peter Huester

Dieses Konzert ist mehr als Tradition, es ist Kult: Alljährlich in der Vorweihnachtszeit kommt Rafael Cortés in die Lichtburg.

Der Gitarrist, der sich nicht entscheiden will, wie weit er Spanier, oder Essener ist, bringt Freunde mit und spielt einen Abend in Essens größtem Kinosaal. Und der ist knallevoll: Im Foyer wehen die harten Konsonanten des „Castellano“ durch den Raum. In der Pause diskutieren die Stamm-Besucher, die sich an jedes Konzert der Jahre zuvor erinnern. Spanier und Spanienfreunde mischen sich mit Menschen, die einfach Cortés‘ spezielle Mischung aus Flamenco, Jazz, Rock und Latin-Anklängen mögen.

Jugendliche sind wenige darunter: Cortés passt nicht zum Mainstream, nicht zu lulligem Wohlfühl-Pop, nicht zu maschinell stampfenden Disco-Beats. Er spielt einen anspruchsvollen Stil. Seine Mischung aus nachdenklichen Balladen, impulsiven rhythmischen Exzessen und klugen wie lebensfrohen Jazz-Elementen sperrt sich dem anstrengungslosen Hören. Aber sie passt auch nicht in die Fesseln klischeehafter Folklore oder in die Regeln des klassischen Flamencos, der oft in der Nachahmung vergangener Größen erstarrt.

Sein Publikum jedoch fesselt er nach wenigen Akkorden: Er spielt einige Motive an, erweitert sie zu einer schweifenden Melodie, spinnt sie meditativ aus, scheint sich im Improvisieren zu verlieren und kehrt dann mit impulsivem Akkordschlag zu hartem Rhythmus und grellen Akkorden zurück. Da kommen einem Bilder in den Sinn: Ein einsamer Gesang in einer kargen Bergwelt. Melismen aus der Musik der Mauren und Gitanos, die über eine ausgedörrte Ebene wehen. Liebesraunen in üppigen Parks, Trauergesänge an öden, steinigen Wegen. Innere Landschaften, die wenig zu tun haben mit den verkitschten Bildern iberischer Tourismus-Klischees, aber viel mehr mit der Härte und dem Zauber der Landschaft Andalusiens.

Der Flamenco, den Cortés pflegt – und das ist eine seiner ursprünglichen Wurzeln – hat zwar mit einer urwüchsigen Erotik zu tun, aber noch viel mehr mit einem harten, kargen Leben, mit existenziellem Leid, mit dem traurigen Gesang gebrochener Hoffnungen, aber auch mit dem hochfahrenden Aufbegehren von Menschen, die sich vom Schicksal nicht brechen lassen: Der Stolz einer Schicht, die nach unten gedrückt wurde, aber ihren Kopf hoch erhoben hält.

Cortés bleibt nicht im klassischen Flamenco stecken: Technisch souverän und musikalisch tiefsinnig verbindet er Tradition und Fortschritt. Für ihn sei es ein Glück gewesen, im Ruhrgebiet aufgewachsen zu sein, sagte er einmal in einem Interview. Nirgends sonst hätte er in seiner musikalischen Entwicklung all die verschiedenen Einflüsse aufsaugen können, die seinen Stil heute prägen.

Kreativer Mix musikalischer Kulturen

Da sind der unverfälschte Flamenco aus Granada, die „Alegría“ aus Cádiz, die balladesken Töne aus der andalusischen Musik, die kraftvolle, schroffe Farruca. Da ist das Herkommen seiner Familie: Flamenco seit Generationen. Da sind die alten Gitarristen wie sein Lehrer El Macareno. Aber da sind auch die Einflüsse des Jazz und des modernen Rock. Die raffinierten und tief ausgeleuchteten Harmonisierungen. Und der Mix der musikalischen Kulturen. Cortés, immer neugierig, nimmt sie auf – bis hin zum alten polnischen Tango, den er auf einer Tournee durch das östliche Nachbarland zufällig im Radio hört.

Wie ausgeprägt der Personalstil des weltweit gefeierten Gitarristen inzwischen geworden ist, lässt sich auf seiner gerade erschienenen CD „Cagiñí“ hören. Einige der Stücke spielte Cortés auch in der Lichtburg. Denn er kommt nicht allein: Unter seinen Freunden auf der Bühne spielt Rafael Cortés junior mit, die bekannten Gitarristen Juanfe Luengo und Miguel Sotelo mit seinem markanten Gesang. Oder Gonzalo Cortés, der mit seinem „cante“ einen spröden, archaischen Ton in das Konzert bringt.

Rafael Cortés; im Vordergrund die Tänzerin Rafaela Escoz Foto: Hanns-Peter Huester

Rafael Cortés; im Vordergrund die Tänzerin Rafaela Escoz Foto: Hanns-Peter Huester

David Bravo grundiert wie so oft den Rhythmus – mal kantig, mal geschmeidig. Wieder fasziniert Rafaela Escoz mit der kühlen Glut ihres Tanzes. Ihre hochvirtuose Fußtechnik im rasanten Konzertfinale ist nicht genug zu bewundern, vor allem, weil zur eigenwilligen Musik von Rafael Cortés nicht einfach traditionelle Schritte zu kombinieren sind. Miriam Suárez von der Essener Band „A solas sin mi“ und Riccardo Doppio bringen Pop-Anklänge ein, können aber nicht mit den urwüchsigen, aufgerauten Stimmen von Rebecca Carmona und Gonzalo Cortés konkurrieren. Als einzige Zugabe nach zwei wie im Flug vergangenen Stunden reißt der Evergreen „Tico Tico“ mit irrsinnigem Tempo die Fans aus den Kinosesseln.

In der Region tritt Rafael Cortes am 20. Dezember wieder auf: In der Essener Erlöserkirche spielt er bei einem Benefizkonzert zu Gunsten der Eggers-Stiftung. Mit dabei sind die Sopranistin Richetta Manager und der Chor „Gospel & More“. Am 2. Februar 2014 sind Cortés und seine Freunde im Scala-Club in Leverkusen zu Gast, am 8. März 2014 kommen sie nach Mülheim in den Ringlokschuppen.




Die anderen siegen, ohne zu singen, wir siegen nicht, weil wir nicht singen

Ich hab’s, diverse Politiker haben’s auch, die BILD hat’s und wer hat’s übersehen? WIR konnten ja gar nicht den Titel des Europameisters gewinnen, weil WIR nicht richtig singen können – oder wollen – oder ethnisch so wenig vaterländisch sein mögen, dass WIR zwar Fußball spielen für UNS, also Schland, aber die vaterländische Tradition des kollektiven Chorgesanges nicht mittels Muttermilch in uns aufgenommen haben.

Wutentbrannt stürzten sich bereits vor der schmählichen Niederlage gegen Italien diverse User ganz ohne  Netikette auf Özil, Klose, Kedhira oder Podolski, weil deren Lippen unbewegt blieben, während eine ganze Nation bewegend die Brust schwellen ließ und das weinerliche Singdings vom Inselfelsen Helgoland in jedes sich bietende Wohnzimmer bzw. über jeden sich bietenden Rudelguck-Platz jodelte. Deutschland sucht den Superstar der Hymnen, Schlandlied walle wehrhaft, elf Sänger sollt Ihr sein.

Hingegen intonierten die schwarmintelligenten Mitglieder der Squadra Azzura gläubig ein donnerndes „Italia, Italia“ übers Feld und – gewannen, zumindest gegen die fortgesetzt böswilligen Verschmäher deutschen Hymnengutes.

Also, wir haben’s: Es war nicht die Unfähigkeit eines Trainers, modernen Fußball als siegbringendes Heilmittel zu erkennen, es war nicht die Unfähigkeit vieler Spieler, schnelles, zielgerichtetes Bewegen in Richtung gegnerisches Tor bzw. in Richtung ballführende Spieler als siegbringendes Mittel zu erkennen, es war nicht die seit Jahren siechend humpelnde Fußball-Philosophie in den Vereinen der Republik (einen nehme ich natürlich aus, den großartigen Deutschen Meister), die wieder einmal eine iberische Mannschaft ins Ziel brachte und nicht uns, die wir ja eigentlich dahin gehören. Nein, es war der eklatante Mangel an sängerischer Inbrunst, erzeugt von ganz sicher zu starker germanischer Nichtherkunft einiger Balltreter.

Nun denken (tun die das?) Politiker darüber nach, Singpflicht einzuführen. Damit WIR wieder singend ans Siegen kommen. So einfach kann Fußball sein: Viel Singen, wenig Rennen!

Übrigens, wie machen diese noch viel schwarmintelligenteren Spanier das bloß? Die singen nie. Können sie auch schlecht, weil ihre Ahnen es versäumten, der auch nicht sonderlich anregenden Hymne einen gescheiten Text zu verpassen – so etwa „Spanien, Spanien über alles …“, was in Sachen Fußball ja so weit von der Realität derzeit nicht entfernt wäre. Sie singen nie, sie siegen ständig – das geht doch nicht zusammen, kann den gesangsfördernden Politikern das mal jemand erklären?

Einwurf fürs Team der Antarktis, das nach der EM wieder verstärkt in den Blickpunkt rückt. (Foto: Bernd Berke)

Einwurf fürs Team der Antarktis, das nach der EM wieder verstärkt in den Blickpunkt rückt. (Foto: Bernd Berke)




Spaniens Klassische Moderne – Druckgraphik im Ostwall-Museum

Von Bernd Berke

Dortmund. Frauengestalten feiern frenetische Feste, eine Stierkampfszene wird zur grazilen Tanzfigur; Kröte, Hummer oder Ziegenschädel ergeben frappierend plastisch wirkende Stilleben-Kompositionen – kein Zweifel, das ist die Bildwelt Pablo Picassos. Sie steht jetzt im Mittelpunkt einer Ausstellung des Dortmunder Ostwall-Museums (bis l. August, kein Katalog), die sich der Druckgraphik aus Spaniens „Klassischer Moderne“ widmet und aus lang nicht mehr gezeigtem Eigenbesitz bestritten wird.

Die Blätter von Picasso, Dalí, Miró und Juan Gris wurden in den 50er und frühen 60er Jahren dem berühmten Kunsthandler Daniel Hanry Kahnweiler abgekauft. Seither ist ihr Marktwert schwindelerregend gestiegen.

In der Eingangshalle sieht man 23 Graphiken von Picasso – Demonstration der außerordeutlichen Vielfalt von Techniken, mit denen der Künstler in den 50er Jahren operierte. Dieser Vielfalt entspricht die Unterschiedlichkeit der Quellen, aus denen Picasso zitierend schöpft.

Im ersten Stock folgen eine Serie kubistischer Buchillustrationen von Juan Gris, sowie Arbeiten aus Salvador Dalís nachsurrealistischem Schaffen – fast „barock“ gestaltet, aber mit hintergründigen Einsprengseln von Traumgeheimnis. Beispiele für Joan Mirós scheinbar simple und naive Darstellungsart (darunter das in seiner archaischen Gewaltsamkeit erschütternde Pastellbild „Ehebruch“ von 1928) setzen den Schlußakzent.

Wiewohl in der Summe nicht eben üppig geraten, bietet die Ausstellung doch eine Reihe hinlänglich interessanter Anschauungsstücke abseits vom Hauptwerk der spanischen Meister.