„Vorhofflattern“: Ein erregender Theaterabend

Foto: dman

Foto: dman

Was könnte man sich wieder aufregen: Über die miese Qualität von Taschentüchern heutzutage. Über die Scheiß-Tölen in der Stadt. Über Menschen auf Rolltreppen. Über die Erderwärmung und das trotzdem schlechte Wetter.

Wenn der Wutbürger sein eigenes Genörgel dann nicht mehr ertragen kann, besucht er einen Wut-Workshop. Dort sitzt er, probiert Modellbau als Substitution und versucht, konstruktiv mit seiner Wut umzugehen, was so einfach nicht ist: „Ich hasse Menschen, Tiere und Pflanzen. Aber Steine sind okay.“

„Vorhofflattern“ heißt das Stück von „artscenico performing arts“, das in Kooperation mit dem Dortmunder Theater im Depot und dem Theater Rottstraße in Bochum entstand. Die Gruppe um Rolf Dennemann, eigentlich Spezialist für ortsspezifische Inszenierungen, spielt diesmal nicht im Freien, nicht im Hotel oder auf dem Fried- oder Bauernhof, sondern ganz profan auf der Theaterbühne. Wut rauslassen lässt sich schließlich überall.

Wie ein überdimensionierter Stammtisch wirkt der schwarze lange Tisch, an dem die Darsteller (Karin Moog, Maximilian Strestik, Matthias Hecht, Manuela Stüßer) sitzen und Dampf ablassen. Was er seinen Darstellern in den Mund legt, hat Dennemann (Autor und Regisseur des Stücks) collagiert: Es sind Sätze aus Kommentaren in Sozialen Netzwerken und Internet-Foren, aufgeschnappt in Kneipen, gelesen in Leserbriefen. Es ist die vielleicht verzerrte, aber ungeschminkte öffentliche Meinung, die hier wütet: schreiend, zeternd, motzend, nörgelnd.

Um diesen Zustand der Dauer-Erregung auf der Bühne zu visualisieren, hat Dennemann starke Bilder gefunden. Schon vom Ankündigungsflyer glotzt schweinsäugig ein Pitbull in Lauerstellung. Im Stück taucht der Hund als Wackel-Dackel auf: Der Mensch (der Deutsche?) als ängstlich-angepasster Ja-Sager, dessen aufgestaute negative Energien sich an Nichtigkeiten entzünden und explodieren. Die vier Darsteller kommen und verschwinden wie Handpuppen im Puppentheater hinter ihrem schwarzen Podest und regen sich künstlich auf: Gegeben wird ein großartiges Wut-Theater der großen Posen.

Vorhof1

Foto: dman

Doch dann, plötzlich, bewegt sich ein Wesen auf dem Tisch. Es kriecht und schlängelt sich wie ein Wurm, und es ist zu groß, um es zu ignorieren. Die Workshop-Teilnehmer versuchen es, aber es wird nicht gelingen. Ist es etwa das hässliche, ungeliebte und bedürftige Selbst der Wütenden? Diese beginnen damit, das Wesen zu bandagieren wie eine Mumie. Die kümmerliche Kreatur muss gebändigt werden.

In einer eingespielten Simultan-Übersetzung der Rede eines schwedischen Arztes lernt der Zuschauer dann: Das Wesen steht für das Opfer eines Bombenanschlags. Trotz schlimmster Verletzungen kämpfe die Frau jeden Tag um eine bessere Zukunft im eigenen Körper. „Wir Menschen sind Wesen, die mit Narben gesund weiterleben können“, heißt es leider etwas aufdringlich, während sich die Bandagierte oben auf dem Podest sinnfällig ihrer Fesseln entledigt. Photini Meletiadis heißt die Tänzerin unter den Bandagen. Ihr Aufbegehren ist existenziell, ihre pure Körperlichkeit steht in krassem Gegensatz zum nun umso sinnloser scheinenden Aufbegehren der Unversehrten.

Diese, die vier Wut-Bürger, kauern am Ende unterm Tisch in vier kleinen Kabinen, gefangen im eigenen Unvermögen, mit der Welt und vor allem sich selbst klarzukommen.




Ungeheuerlich und ganz natürlich – „Der Prozess“ nach Franz Kafka in Dortmund

Wie inszeniert man Franz Kafkas Roman „Der Prozess“ für die Bühne? Ganz offensichtlich reizt der Stoff die Theaterleute, in den vergangenen Jahren hat es in der Region etliche Versuche gegeben, abgründige, kryptische, pompöse: 2010 in Wuppertal, 2012 in Düsseldorf, 2013 in Essen, und die Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollzähligkeit. Keine dieser Inszenierungen aber geriet so minimalistisch wie die von Thorsten Bihegue und Carlos Manuel auf der Studiobühne des Dortmunder Schauspielhauses.

prozess_4742a

Der Angeklagte und seine Wärter: Josef K. (Björn Gabriel, Mitte), Willem (Andreas Beck, Links) und Franz (Uwe Rohbeck, rechts) (Foto: Birgit Hupfeld/Schauspiel Dortmund)

„Nach dem gleichnamigen Roman von Franz Kafka“ (Untertitel) agieren dort, unmittelbar vor den Füßen der Zuschauer in der ersten Reihe, drei Männer und eine Frau in wechselnden Rollen. Nur der vierte Mann bleibt immer Josef K., gegeben wird er von Björn Gabriel. Und die Frage, die schnell sich über den Köpfen des geneigten Publikums nebelgleich erhebt, ist natürlich: Geht das? Funktioniert dieser geheimnisvolle, psychologisch aufgeladene, beengende und bedrückende Stoff noch, wenn man ihn ähnlich inszeniert wie ein naturalistisches, schmutziges, kleines englisches Theaterstück à la Dennis Kellys „Waisen“ ,das ebenfalls auf dem Spielplan des Dortmunder Schauspiels steht?

Sagen wir es mal so: Das, was hier von der Vorlage an „Kafkaeskem“ übrigbleibt, ist sicherlich nur ein kleiner Teil. Doch in der Einrichtung des verantwortlich zeichnenden Regie-Duos entsteht gleichwohl ein passables, schlüssig ablaufendes Bühnenstück, das in seinem linearen Aufbau stellenweise den Charakter einer Nummernrevue hat. Es erzählt, stark gerafft und vereinfacht ausgedrückt, wie die völlig absurde alptraumhafte Situation des Verhaftetseins aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet schnell eine Qualität des Normalen entwickelt. Für die Wärter ist der Umgang mit Verhafteten etwas Normales, Repression und Großherzigkeit im Kontakt mit Josef K. sind ihre üblichen Umgangsformen; Fräulein Bürstner aus dem Büro weiß – wie vermutlich das gesamte Büro – schon von der Verhaftung des Prokuristen K., der ja weiterhin arbeiten gehen darf, der Onkel will helfen, der Maler vermitteln, der Advokat schließlich, seinerseits mit großer Machtfülle ausgestattet, dem Angeklagten sein Ohr leihen. Und bald schon scheint es hauptsächlich darum zu gehen, wie man aus der Sache herauskommt, ohne daß die Sache, eine Straftat demnach, je erkennbar geworden wäre. Es gibt, erfährt das Publikum, wirklich Freisprüche, scheinbare Freisprechungen und die Verschleppung des Prozesses. Sollte man sich also auf einen „Deal“ einlassen?

prozess_6292a

Frau Bürstner (Merle Wasmuth) und Josef K. (Björn Gabriel) (Foto: Birgit Hupfeld/Schauspiel Dortmund)

Für die jugendlich-karge Dortmunder Inszenierung nimmt ein, daß sie scheinbar anstrengungslos immer wieder Bezüge zum realen Justizgeschehen unserer Tage schafft, zur vielfach üblich gewordenen Trennung von Tat und Urteil beispielsweise, die eher der Bequemlichkeit und der allseitigen Zufriedenstellung huldigt als dem Streben nach Gerechtigkeit und Sühne. Sehr viel mehr allerdings sollte man nicht erwarten. Wenn Merle Wasmuth uns in verschiedenen Frauenrollen auf die eine oder andere Art sexuelle Verführung und Obsession vorspielt, dann ist das möglicherweise zwar der Versuch, einen Hinweis auf (unterdrückte) sexuelle Anteile in der Verursachung der einen oder anderen Irritation des Josef K. zu geben, mehr aber nicht. Auch hält sich diese Inszenierung nicht damit auf, den Romantitel in seiner zweifachen Bedeutung auszuschmecken, nach der „Prozess“ ja nicht zwingend einen solchen vor Gericht bedeutet, sondern auch als Synonym für eine undurchschaubare innere Entwicklung stehen kann. Sonderbare Entwicklungen sind, man denke nur an den armen Käfermann Samsa, ja geradezu ein Markenzeichen für Franz Kafkas Werk. Aber das wäre dann Psychologie, vielleicht gar Psychoanalyse, wie sie in etwa zeitgleich zur Entstehung des Romans von Siegmund Freud in Wien formuliert wurde. So etwas bleibt hier außen vor.

Den Schauspielern ist es zu danken, daß dieser Theaterabend anregend und streckenweise durchaus auch unterhaltsam gerät. Der massige Andreas Beck und der zierliche Uwe Rohbeck geben schon rein äußerlich ein komisches Aufseherpaar ab, Sebastian Graf weiß den obrigkeitlichen Anteil seiner verschiedenen Rollen überzeugend auszuspielen. Björn Gabriel in der Titelrolle schließlich kommt dem literarischen Vorbild eines Dreißigjährigen sehr nahe. Mit seinem leichtem Unterspielen akzentuiert er geradezu die ungeheuerliche Situation, in der er sich plötzlich befindet.

Dem Personal auf der Bühne galt am Premierenabend der größte Applaus.

Die nächsten Termine 23. Februar und 8. März sind ausverkauft. Weitere Termine werden noch bekanntgegeben. Theaterkasse: 0231 / 50 27 222

www.theaterdo.de




Programm vorgestellt: Ruhrfestspiele 2014 entdecken die Inselreiche

Shakespeares „Sturm“ wird die Ruhrfestspiele 2014 eröffnen, Pirandellos „Heinrich IV“, Sean O’Caseys „Purpurstaub“ und Becketts „Warten auf Godot“ werden auf der Bühne des Großen Hauses folgen. Auch andere Spielstätten wie das Kleine Theater im Festspielhaus, das Theater Marl oder das Theaterzelt werden Leben zeigen. Intendant Frank Hoffmann hat den Spielplan der diesjährigen Ruhrfestspiele bekanntgegeben.

Der_Sturm_Andreas_Pohlmann

Szene aus Shakespeares „Sturm“, mit dem die Ruhrfestspiele in diesem Jahr eröffnet werden (Foto: Andreas Pohlmann/Ruhrfestspiele)

„Inselreiche. Land in Sicht – Entdeckungen“ lautet das diesjährige Motto, wie wir jetzt wissen, und da ist ein Eröffnungsstück wie „Der Sturm“ natürlich naheliegend, bläst der Namentliche doch in Shakespeares spätem Meisterwerk eine illustre Gesellschaft auf eine unbewohnte Insel, wo sie sich sozial neu sortieren muß und das auch recht lustvoll tut. In Gisli Örn Gardarssons Einrichtung für Ruhrfestspiele und Residenztheater München allerdings ist die urwüchsige Vegetation des Eilands einem gefängnishaften Gebilde aus Gitterstäben gewichen, wie erste Probenvideos zeigen. Nun gut, es gibt ja auch Gefängnisinseln, man bleibt gespannt, wohin die Irrfahrt ging. Jedenfalls spielt Manfred Zapatka den Prospero.

Irische Kaltgetränke in der frühen Pause

„Inselreiche“ ist natürlich ein Allerweltsmotiv mit universaler Tauglichkeit. Und wenn die Stoffe es nicht spontan hergeben, dann muß wenigstens der Autor von einer Insel stammen, einer britischen oder der irischen bevorzugt. An solchen war im Heer der Stückeschreiber bekanntlich nie ein Mangel, und auch in Recklinghausen finden sie sich, wenn man einmal so sagen darf, reichlich ein: Samuel Beckett of course, von dem neben „Warten auf Godot“ ein mit Wolfram Koch und Ulrich Matthes exzellent besetztes „Endspiel“ (Regie: Jan Bosse) ebenso zu sehen sein wird wie der extrem kompakte Zweiteiler „Eh Joe/I’ll Go On“, in dem ein Sterbender mit Namen Malone Abschied von Muttern und der Welt nimmt. Erste Pause ist nach 29 Minuten, Intendant Hoffmann verspricht für die Pause die Bereitstellung irischer Kaltgetränke. „Eh Joe…“ ist ein Gastspiel des Gate Theatres Dublin mit Barry McGovern und anderen.

Weitere Autoren von westlichen Inselreichen sind Owen Mc Cafferty mit „Quietly“, Brian Friel mit „Molly Sweeney“, Harold Pinter mit „Verrat“, James Joyce mit „Penelope“.

Angesichts der Fülle von höchst passablen Theaterproduktionen könnte man sich sowieso auf einer Insel der Seligen wähnen. Doch da geht es dem Publikum deutlich besser als dem Personal auf der Bühne, das sich hin und wieder intensiv mit den Unerfreulichkeiten dieser Welt beschäftigen muß, mit Gewalt und Terror zumal. So erzählt Owen McCaffertys Stück „Quietly“ von der Begegnung eines Attentäters mit einem Überlebenden, der bei dem Attentat einen Angehörigen verlor. Und in Dennis Kellys „Waisen“ entpuppt sich ein desolates Familienmitglied als übler Rassist, der einen Moslem gefangenhält und foltert. Das Stück steht übrigens auch in Dortmund auf dem Spielplan, wo es oben im Harenberg Citycenter gezeigt wird, von wo aus man mit großer Geste auf die Nordstadt zeigen kann, wo es Probleme dieser Art (vermeintlich) ganz bestimmt gibt. Übrigens führt bei der Produktion des Hamburger St. Pauli Theaters der Altmeister Wilfried Minks Regie, und auf der Bühne stehen Uwe Bohm, Judith Rosmair und Johann von Bülow.

Prominente Namen zuhauf

Ein_Abend_f_r_Otto_Sander_Momme_R_hrbein

„Das letzte Band“ in Recklinghausen war eine seiner letzten Rollen. Ein Themenabend mit Meret und Ben Becker erinnert an den großen Otto Sander (Foto: Momme Röhrbein/Ruhrfestspiele)

Bekannten Künstlern wie Hannelore Elsner, Katja Riemann, Thomas Thieme oder auch Sophie Rois traut man zu, daß sie mit Lesungen das Große Haus füllen werden. Im Theaterzelt gibt sich die Nomenklatura des deutschen Comedy- und Kabarettwesens – wer kann das immer so genau unterscheiden – ein Stelldichein, von Tina Teubner über Ingo Oschmann und Georg Ringswandl bis Wigald Boning. Meret Becker singt Lieder in Begleitung von Buddy Sacher, Jasmin Tabatabai tut Gleiches in Begleitung des Quartetts David Klein. Es gibt Tanz, Jazz, Zirkus und Artistik, Straßenkunst (was nichts Schlechtes ist!) unter der Überschrift „Fringe“ für ein jüngeres Publikum – 192 Aufführungen, 78 Produktionen, 20 Koproduktionen, wie wir dem Waschzettel entnehmen können.

Unmöglich ist es, alles aufzuzählen. Ab Donnerstag, 23. Januar, findet sich das komplette Programm auch im Netz. Besondere Erwähnung muss auf jeden Fall aber noch der Bochumer Komponist Stefan Heucke finden. Er hat „Iokaste“ komponiert, ein Musikdrama nach Motiven von Homer und Sophokles, das mit einer einzigen Person auskommt, die alle Personen der Tragödie spielt resp. singt. „Sie werden große Oper erleben“, kündigt Heucke freudig an.

Nach Zeiten der Irritation ist auch die Recklinghäuser Kunsthalle wider mit von der Partie. In dem von Ferdinand Ullrich geleiteten Haus ist Kunst aus Island zu sehen, die nicht Vulkane noch Bankenkrisen ausschließt, wie man hört.

Also alles paletti? Eigentlich schon, in den Jahren seiner Intendanz hat Frank Hoffmann die Ruhrfestspiele perfektioniert, hat sie zu einer ersten Adresse für deutsches Theater und darüber hinaus ganz generell für deutsche und internationale Bühnenkunst gemacht. Vielleicht täte dem Programm etwas mehr Reibung, Provokation, Polarisierung gut, doch dürfte sich solches nicht in Mätzchen erschöpfen. Wie auch immer. Die Ruhrfestspiele geben auch in diesem Jahr wieder einen guten Grund, sich auf den Mai zu freuen.

www.ruhrfestspiele.de

 




Spaß macht Spaß – „Drama Queens“ und „Das goldene Zeitalter“ in Dortmund

Da sitzt man gut gelaunt im Theater und weiß: Unterhaltung ist angesagt.

Es gibt einen Abend der Cover-Versionen aus der Geschichte der Popmusik, eingepackt in ein Bühnenbild, das einer Theaterkantine nachempfunden ist, in eine Handlung gepresst, die eigentlich keine ist. Da kann es schon mal im Tanzbein jucken. Da soll das Publikum doch kräftig Anteil nehmen, auch wenn keine Tanzfläche vorhanden ist. Und eine Nachbarin in meiner Sitzreihe stößt mich an und beschwert sich darüber, dass mein Sprechen sie stören würde.

Drama Queens

„Drama Queens“ (Foto: Birgit Hupfeld)

Dabei hatte ich meiner Begleitung nur schlaumeierisch mitgeteilt, von wem die Originalversion des Songs ist, dem wir gerade lauschten. Ich blieb danach ruhig, konnte aber nicht verhindern, dass ich die Sitzreihe ab und an zum wackeln brachte, immer, wenn es mich rhythmisch gepackt hatte. Einer weiteren Beschwerde wäre ich massiv entgegengetreten, indem ich laut mitgesungen hätte. Es kam nicht dazu.

„Drama Queens“ im Schauspielhaus ist ein Abend, der den Mitwirkenden offenbar Spaß macht. Und das steckt im besten Falle an. Da kann man schon mal über sinnfreie Gänge und stolpernde inhaltliche Vernetzungen hinwegsehen. Da wird gesungen und gewitzelt, als sei es die Kopie eines tatsächlich stattgefundenen Jekami-Abends. Inspizient „Ralle“ ist mit seiner Echtstimme der Zwischenmoderator des Abends auf dem Off. Er ruft zur Probe und weiß „Alles wird gut.“

Da hört man Abba und eine ganze Reihe Evergreens von Simon and Garfunkel. Es geht nicht um Sangeskunst, sondern um einen erholsamen Abend für Sprechtheaterhöchstleister, die hier mal die Hose runter lassen dürfen. Und es gab diese fünf Minuten, in denen ich in meinem Sitz dahin schmolz. Eva Verena Müller, auf einem Tisch sitzend, hat mich umgehauen. Sie sang sich in die Seele, hindurch durch den Abstand eines sachverständigen Zuschauers.  „Neue Songs aus der Kantine“ – eingerichtet von Andreas Beck, unterstützt durch die Kantinenmusik von Paul Wallfisch, weicht nicht von der Ankündigung ab: „Ein Liederabend mit Live-Musik“.

Vergebliche Welterkärung

Eine ganz andere Art der Unterhaltung beinhaltet „Das goldene Zeitalter“, die bestandene Reifeprüfung zur Überwindung der Realität. Alexander Kerlin und Kay Voges kreieren etwas, das – umstritten und gefeiert – im Gedächtnis bleiben wird.  Treppauf, treppab geht es durch die Kopfwelt: Blonde Figuren in blauen Röckchen, Computerstimmen, Fahrstühle ins oben und unten. Die Showtreppe des Absurden wird zum Hauptspielort der seriellen Wiederholung.

Das goldene Zeitalter

„Das goldene Zeitalter“ (Bild: Birgit Hupfeld)

Nach kurzer Zeit nervt das, aber dann scheint es wie ein genialer Kunstgriff. Es zieht uns hinein in einen Abend, der uns eine Fließbandunterhaltung serviert, an der wir uns abarbeiten können. Kurz vor Weihnachten dominieren hier das westliche Fest und seine Wiederholungen. „Alle Jahre wieder“  – immer wieder. Das insgesamt musikalische Stück in zig Akten verfertigt etwas, das nicht fassbar ist. Zwischenrufe aus dem Off suggerieren „live im Hier und Jetzt“, Videobilder aus  dem Draußen und Drinnen ziehen uns heraus aus dem Bühnenmuff. Die roboterhaften Bewegungen der menschlichen Maschinen – man kann sie bald liebhaben.  Und Zeit vergeht, bis der Klokäfer ins Spiel kommt, ein Spielverderber. Und auch der süße Wurm ist ein Störenfried, der vor dem Schmetterlingsdasein, sich mühsam die Treppe hoch robbt, um „The winner takes it all“ zu singen. Köstlich  – wie für den Wurm der frische Salat aus der Vitrine.

Trotzdem hat es dieses Werk nicht nötig, so lang zu sein, dass man nach 150 Minuten meinen könnte, man könne jetzt gehen. Was Neues wird es nicht mehr zu sehen geben. 37 Minuten weniger und es wäre Provokation genug für die einen, Genuss, der nach mehr ruft, für die anderen – und eine Nominierung zu den Berliner Theatertagen wert. Aber vielleicht war es auch richtig, den Abgang offen zu lassen. Fröhliche Weihnachten.

Infos: http://www.theaterdo.de/startseite/

____________________________________________

Zum Vergleich: Auch Anke Demirsoy hat „Das goldene Zeitalter“ bei den Revierpassagen besprochen: http://www.revierpassagen.de/21271/im-aufzug-zur-ewigkeit-kai-voges-beschwort-in-dortmund-das-goldene-zeitalter/20131103_1918″




Thema „Lügen“ – Theatergegensätze zwischen norwegischer Saga und nahöstlicher Realität

Das Dortmunder Schauspielhaus, längst überregional „auf der Liste“, bietet fürwahr ein abwechslungsreiches Programm auf seinen Bühnen.

Die Abonnenten können aus dem Vollen schöpfen. Da kann man sich die Gegensätze um die Ohren und Augen fliegen lassen. Das ist sicher ein Paket, das nicht leicht zu handeln ist und die SchauspielerInnen haben zahlreiche schwierige Aufgaben zu bewältigen.  Zwei gegensätzliche Stücke werden im Folgenden als Beispiele herangezogen. Beide handeln vom Lügen.

Nawals Schicksal  – brutal und real

Foto: Theater Dortmund

Foto: „Verbrennungen“ Theater Dortmund/Birgit Hupfeld

Gewalt und Krieg sind Themen, die das Theater von jeher bearbeitet. Je näher sie am Jetzt und Hier sind, desto schwieriger scheint der theatrale Weg, das Publikum aufzurütteln, es zu bewegen. Der kanadische Autor Wajdi Mouawad – im Libanon geboren – hat ein viel gespieltes Stück verfasst, das eigentlich ein Erzählstoff ist. Basis ist eine Lebenslüge, die im Angesicht des Todes aufgelöst werden soll. „Verbrennungen“ heißt das Schauspiel auf der weiß ausgeschlagenen Bühne, einem Labor, das immer wieder wechselnde Spielorte hervorbringt. Die Orte werden nie klar benannt.

Irgendwo im Nahen Osten herrscht Krieg – für uns inzwischen ein Normalzustand. Fast täglich hören wir nur noch halb hin, wenn derartige Meldungen durch die Nachrichten rauschen. Es gibt Vergewaltigung und Folter. So auch in diesem Stück – als szenische Erzählung. Das tragische Geschehen: Die Kinder der gestorbenen Mutter erfahren von der Wahrheit ihrer Identität über Umwege. Das ist furchtbar und dennoch will uns das kaum nahe gehen, da die Figuren nur angerissen werden. Konflikte werden auf die Bühne verteilt und in 90 Minuten erzählt. Es ist schwer, ein derartiges Stück „zu verpacken“, auch für die niederländische Regisseurin Liesbeth Coltof.

Peer Gynts Leben – weltfremd und verblendet

Auf der Suche nach allem und nichts, der Seelenlügner und notorische Verdränger Peer Gynt, Bühnenfigur des Welttheaters, wird gedoppelt und vervielfacht. Er ist die Hauptfigur, der mit Lügengeschichten versucht, der Realität zu entfliehen.

Foto: Theater Dortmund

Foto: „Peer Gynt“ Theater Dortmund/Birgit Hupfeld

In Dortmund wälzen sich die Figuren im Wasser, wechseln ihre Farbe wie die Personenhüllen. Das ist anschaulich, gar etwas wild und vor allem interpretierend. Der Zuschauer erhält eine Deutung des Stoffes. Wer das Original kennt, wird sich anschließen oder auch nicht. Die Inszenierung ist eine kompakte Show ohne großes Tableau mit ausgezeichneter Ensembleleistung.  Die große Musik, die zu dieser Figur von Edvard Grieg geschrieben wurde, findet hier nur als kurzes Zitat statt. Ansonsten wird das Ganze beherrscht von der Musik des Thomas Truax zwischen schleppenden und scheppernden Sounds. Ein guter Griff, nicht nur auf den Gitarrensaiten. Henrik Ibsen hätte die Musik mutmaßlich gefallen.




„Nach dem Applaus“ – ein Krimi aus dem Theatermilieu in Berlin und Wien

Es ist bitterkalt. Schnee und Eis haben die Mitte Europas fest im Griff. Eigentlich möchte man sich es sich nur noch mit einem heißen Getränk und einem guten Buch in der gut geheizten Wohnung gemütlich machen. Doch dann müssen der Berliner Kommissar Thomas Bernhardt und seine Wiener Kollegin Anna Habel doch vor die Tür und hinaus ins Frostige.

In den Hauptstädten Deutschlands und Österreichs geschehen Morde, die offensichtlich enger zusammenhängen, als es auf den ersten Blick scheint. In Berlin wird eine junge Schauspielerin grausam zerstückelt, die noch vor gar nicht langer Zeit in Wien große Bühnentriumphe feierte. Und war sie nicht mit jener Frau näher befreundet, deren kopflose Leiche man in Wien auf den Gleisen eines Rangierbahnhofs findet?

978-3-257-60344-6

„Nach dem Applaus“ heißt der neue, nunmehr dritte „Fall für Berlin und Wien“, den das Autoren-Duo Bielefeld & Hartlieb mit liebevoll-zynischer Lust geschrieben hat. Nachdem der Berliner Literaturkritiker Claus-Ulrich Bielefeld und die Wiener Buchhändlerin Petra Hartlieb ihr unterhaltsames Spiel mit den blutigen Machenschaften unter Schriftstellern und Verlegern („Auf der Strecke“) und mit den politischen Irrungen und Wirkungen unter ehemaligen RAF-Terroristen („Bis zur Neige“) geführt haben, wagen sie diesmal einen Ausflug ins Theatermilieu. Das ist schon deshalb nicht ohne Hintersinn und Humor, weil Berlin und Wien seit jeher um die Theaterkrone im deutschsprachigen Raum kämpfen.

Natürlich war die in Berlin ermordete Schauspielerin eine Lieblings-Diva von Claus Peymann, dem ehemaligen Chef des Wiener Burgtheaters, der seit einigen Jahren das Berliner Ensemble leitet und immer wieder vollmundig verkündet, sein Theater solle Reißzahn im Hinterteil der Herrschenden sein. Peymann wird im Krimi zwar nicht direkt beim Namen genannt, aber auch so ist jedem Leser klar, wer da seine aufbrausenden Bühnenweisheiten und arroganten Kunstsentenzen von sich gibt.

Dass der Theaterdirektor ausgerechnet von einem Kommissar namens Thomas Bernhardt (mit „dt“) verhört wird, raubt dem ehemaligen Weggefährten des (fast) gleichnamigen österreichischen Schriftstellers (mit „d“) beinahe den Verstand. Auch als Kommissar Bernhardt in eine Schauspielprobe platzt, bei der „Peymann“ sich an einer Bühnenversion von Georg Büchners „Lenz“-Erzählung abarbeitet und sich – ausgerechnet! – vom prolligen Volksbühnen-Kollegen Frank Castorf ein paar Ratschläge erbittet, ist der Humorfaktor groß.

Aber bei allen komischen Seitenhieben auf die Theaterszene kommt das bizarre mörderische Treiben nicht zu kurz. Ein zum Eisklotz gefroren toter Schriftsteller im See, ein in luftiger Höhe an die Flügel eines Windrades gebundener Schauspieler, ein Kunst-Mäzen, der gern Gutes tut, aber selbst nicht ohne Makel ist: Es wird Zeit, dass Bernhardt und Habel, die nicht miteinander, aber auch nicht ohne einander können, gemeinsam am komplizierte Fall bosseln.

Ob die beiden bei ihren Recherchen in Szene-Cafés oder Theater-Kantinen Station machen, immer spürt man, dass jedes Detail stimmt und jede Anspielung bis aufs I-Tüpfelchen durchdacht ist. Zwar versichern Bielfeld&Hartlieb, dass alle Personen und Ereignisse frei erfunden sind. Trotzdem ist es ein kriminalistischer Spaß, die Fantasie mit der Realität abzugleichen.

Bielefeld & Hartlieb: „Nach dem Applaus“. Kriminalroman. Diogenes Verlag, Zürich. 390 Seiten, 14,90 Euro.




Im Zeichen der immerwährenden Krise: Die Theaterwelt traf sich unter der Akropolis

Ausgerechnet in Athen fand das jährliche Treffen des IETM (International network for contemporary performing arts), des größten Theaternetzwerkes Europas mit Sitz in Brüssel, statt.

Rund 500 Delegierte aus allen Bereichen der darstellenden Kunst orakelten über die Zukunft des Theaters in Europa – Künstler, Manager, Festivalleiter, Kulturpolitiker.  Drei Tage lang wurde diskutiert, verhandelt und geforscht. Die Tagungsorte waren ehemalige Orte des Business: eine stillgelegte Gasfabrik und die alte Börse, beides nun (ähnlich wie an vielen Orten Europas) kulturell genutzte Räume, die nach Aufbruch riechen.

Aber der Geruch täuscht. Geld für freie Kunst gibt es in Athen so gut wie keines. Man sucht europäische Partner und kulturpolitische Unterstützung. Naturgemäß wurden die Fragen nach Zukunft der Kunst und Kultur nicht endgültig beantwortet. Und es gab auch keinen Ausflug nach Delphi, um das Orakel zu befragen.

Die Unterschiede sind zu groß. In jedem Land gibt es unterschiedliche Bedingungen. Für die zahlreich teilnehmenden Griechen stellt sich die Lage sehr anders dar als zum Beispiel in Deutschland oder Frankreich. Das Programm des Kongresses wurde ausschließlich ehrenamtlich zusammengestellt.

Die Vorstellungen, die einen Überblick über die griechische, bzw. Athener Theater- und Tanzszene geben sollten, waren auf Eintrittsgelder angewiesen. Und hier spürte man einen Aufbruch, den es in Griechenland Jahrzehnte nicht so gegeben hatte. Es gibt zwar kein Geld, aber die Aktivitäten sind groß. Fast alle Produktionen versuchen, sich an der Krise abzuarbeiten.

Es gab „Lecture-Demonstrations“, die dokumentarisch und per Spaziergang dem restlichen Europa klarzumachen versuchten, wie es derzeit im Lande aussieht und das ist nicht vielversprechend. Aber diese Sichtweisen und theatralen Befindlichkeitswerke finden in den Medien keine Beachtung. Trotzdem gab es kein allgemeines Klagen, sondern Aufklärung und Austausch. So beschrieb der Künstler Alexandros Mistriotis in seiner Rede zur Eröffnung des Kongresses Athen als eine „unsichtbare Stadt“ und Griechenland als ein Land mit einer seit 200 Jahren andauernden Krise. Die Krise sei das Unverzichtbare in der Tragödie und diese dauere an und sie sei immer noch Leitbild für alle Theater der Welt.

Letztlich war das Treffen ein wichtiges Moment in der neuen griechischen freien Szene und hat viele neue Kontakte geschaffen. Aus Deutschland waren 16 VertreterInnen aus der Kulturszene in Athen, unter anderem der Autor dieser Zeilen.




Theater Oberhausen: Im Bett mit Brecht

Ist Theater wie Sex: Die Schauspieler stimulieren die Zuschauer? Oder ist Theater ein Hospiz, in dem man der Kultur beim Sterben zuschauen kann? Das Theater Oberhausen lädt sein Publikum ein zum Nachdenken über Theater. „Brecht“ ist ein Mixed-Media-Abend auf der Meta-Ebene – eine Mischung aus Puppenspiel und Schauspiel, Improvisation und Quatsch.

Im Zentrum steht Brecht, eine wundervoll gestaltete Puppe der renommierten Puppenspielerin Suse Wächter, die an diesem Abend auch Regie führt. Ihr Brecht misst etwa einen Meter und hat einen sensationell gönnerhaft-selbstgefälligen Gesichtsausdruck: Wenn er mit halb geschlossenen Lidern pastoral um sich blickt, an seiner kalten Zigarre saugt und mit Augsburger Zungenschlag krächzt: „Nach uns wird kommen – nichts Nennenswertes“ – dann tut das eigentlich seine Schöpferin Suse Wächter neben ihm. Doch das hat der Zuschauer schnell vergessen.

Brecht liegt in einem riesigen Bett mit allerlei technischem Schnickschnack (Bühne: Constanze Kümmel), inmitten hübscher Schauspielerinnen. Sie kommen aus dem Hier und Jetzt, surfen nebenbei im Internet, telefonieren via Skype – und wollen mit Brecht proben, weshalb sie ihm in einer Prüfung demonstrieren, dass sie sein Konzept des epischen Theaters samt Verfremdungseffekt verstanden haben. Mit Wisch-Bewegungen zaubern sie übereifrig immer neue Infografiken auf die Leinwand und präsentieren ihre Lektionen: Der Einfühlungsakt muss unterbunden werden! Jede Geste muss als theatralisch erkennbar sein!

Foto: Brigitte Kraemer

Foto: Brigitte Kraemer

So richtig warm werden die Akteure mit dieser Spiel-Art jedoch nicht, das wird schnell klar: Brechts Theaterkonzept ist Schulstoff, ist Geschichte und weit weg von dem Theater-Verständnis der Schauspieler (Susanne Burkhard, Angela Falkenhan, Puppenspielerin Tine Hagemann und Publikumsliebling Torsten Bauer in Frauenrolle).

Der Fortgang der Proben wird auch dadurch erschwert, dass ein Text fehlt: Brecht muss zugeben, dass er leider „die Rechte nicht hat“ – eine Anspielung auf das Gebaren der Erben des Dichters, die nur werkgetreue Inszenierungen zulassen.

Im Laufe des Abends emanzipiert sich das Ensemble vom Übervater,  und Brecht katapultiert sich mit einem Videospiel selbst auf den Mond, während die Schauspieler unter Einsatz von Theaternebel und Drehbühne ins von Brecht so verhasste Reich der Illusionen entschwinden.

Die Frage, die über dem Abend schwebt – was hat Brechts Theater uns heute noch zu sagen? – bleibt offen, was nicht weiter schlimm ist. Ärgerlich ist, dass eine Antwort gar nicht ernsthaft gesucht wird. Es bleibt bei der Versuchsanordnung, den alten Brecht auf die moderne Welt treffen zu lassen. Und was da passiert, ist allzu banal: Brecht findet den via Skype zugeschalteten Helge Schneider als Bruder im Geiste „phantastisch“; wundert sich über Spock und versagt beim virtuellen Autorennen auf ganzer Linie.

Was würde Brecht dazu sagen, dass das heutige Publikum Theater nicht mehr braucht, um aus der Realität zu flüchten, weil man dies mit jedem Fernseher und Computer kann? Ist Brechts Technik der Verfremdung heute endgültig sinnlos – oder wird sie im Gegenteil wieder wichtig? Man hätte vom alten Brecht gerne mehr gehört, streckenweise wurde er von seinem Ensemble in den Hintergrund gespielt bzw. in einer an René Pollesch erinnernden Szene zusammengeschrien: Schauspieler Bauer rechnet darin mit den Bedingungen für Schauspieler am Theater ab.

„Brecht“ hat viele unterhaltsame, mitunter alberne Momente; etwa, wenn Klassiker verulkt werden: „Edel sei der Mensch, Milchreis schmeckt gut“. Insgesamt wirkt die Produktion noch ein wenig unfertig, gut einstudierte Szenen wechseln ab mit arg improvisiert wirkenden. Auch für ein Theaterlaboratorium fehlt es an Stringenz.




Jung sein war für sie keine Frage des Alters: Zum Tod der Schauspielerin Helga Uthmann

Für viele war sie der „Inbegriff von einer Schauspielerin“ und so mancher schaute sich ein Stück nur an, um sie zu erleben: Die Kammerschauspielerin Helga Uthmann ist gestorben.

Als Journalistin hat man Termine, auf die man sich freut und solche, zu denen man sich schleppt. Helga Uthmann zu treffen, war jedes Mal wie ein Lichtstrahl. Stets sorgsam gekleidet, die Haare hoch gesteckt, so zuvorkommend, so freundlich, so lebensfroh und interessiert an ihrer Umwelt, an ihrem Gegenüber. Und so aufgeregt.

Das Theater Dortmund trauert um Helga Uthmann. (Screenshot www.theaterdo.de)

Das Theater Dortmund trauert um Helga Uthmann. (Screenshot www.theaterdo.de)

Jahrzehnte auf der Bühne waren wie weggewischt, wenn Helga Uthmann plötzlich selbst im Zentrum des Interesses stand. Kein Regisseur, kein Text, keine Vorgaben. „So privat zu sein! Grauenhaft! Ich möchte weglaufen“, rief sie einmal an einem Theaterabend, der ihr gewidmet war. Und das von einer Frau, die allein am Schauspiel Dortmund 30 Jahre lang zum Ensemble gehörte.

Niemals eine Diva

Doch Helga Uthmann wollte nie Diva oder Grande Dame sein. „Theatermama“ nannten sie manch jüngere Kollegen liebevoll. Sie selbst sprach gern von sich als der „komischen Alten“. Und komisch sein, das konnte Helga Uthmann. Wenn sie lachte, dann mit dem ganzen Gesicht, dem ganzen Körper, der ganzen Seele. Ein Lachen, dem sich keiner entziehen konnte.

Es passte zu ihr, diesem so sympathischen Menschen, dass ihr Werdegang buchstäblich auf der Straße anfing, beim Theaterspiel unter Freunden. „Ich war die böse Schwiegermutter. Die Prinzessin fand ich ungeheuer langweilig“, erzählte sie mir einmal in einem Interview. Glamour, Allüren – Fremdworte für sie.

„Ich komm‘ schon noch“

Helga Uthmann legte keine aalglatte Karriere hin. Nach der Folkwangschule blieben viele ihrer Kollegen in Essen – sie ging an das Kleine Theater in Mülheim. Und erlebte eine anstrengende, eine prägende Zeit, in der vom Soufflieren bis zum Wände anmalen alles dazu gehörte – fast wie in einer freien Gruppe. Selbst die ersten Auftritte vor dem Publikum fand sie abschreckend: so fremd, so ausgeliefert. Und doch dachte sie bei sich: „Ich komm‘ schon noch“.

Bemerkenswert an Helga Uthmanns Weg ist, dass er immer auch einer jenseits der Zeit war: Am Anfang lagen ihr die jungen Rollen nicht und sie freute sich über jedes Jahr des Älterwerdens – später ab schien sich ihre Lebensspirale andersherum zu drehen. „Ich werde innerlich immer jünger. Ich bin noch 30″, sagte sie mir, als sie vom Papier her 75 war.

Diese unbändige Spiellust

Wer sie in Mathias Franks Inszenierung von Peter Turrinis „Josef und Maria” mit Claus Dieter Clausnitzer erlebt hat, weiß, was das für die Bühne bedeutete: so voller Lebenslust, so kraftvoll und bezaubernd das Sein umarmend war sie da zu sehen, dass die Zuschauer nur so in das Stück pilgerten. Sie wollten erleben, wie diese beiden vermeintlich Alten plötzlich Tango tanzten, Wange an Wange, jede Widrigkeit des Lebens verlachend. Jung sein ist keine Frage des Alters.

Man konnte sich regelrecht vorstellen, dass Helga Uthmann auch schon mal vor einer Vorstellungen laut brüllte: „Ich hab‘ Lust! Ich hab‘ Lust!“

Und doch sagte Helga Uthmann vor fünf Jahren, ihre Kraft lasse nach, sie wolle kürzer treten. Jürgen Kruses Ruf ans Schauspiel Köln ist sie trotzdem noch einmal gefolgt, als der sie anbrüllte: „Und wenn Du 130 wärst – Du spielst!”

Sie ist leider nicht 130 geworden.

Was bleibt, ist die Erinnerung an einen Menschen, der so wundervoll warmherzig war, so groß im Leben und auf der Bühne. Für Helga Uthmann war es ein Kompliment, wenn jemand sie bodenständig nannte. Oder, wie sie es sagte: „Ich muss auch mal dreckige Hände haben und in der Erde wühlen.“




Gedanken zum Tod von Otto Sander

Otto Sander ist tot. Ein Schlag in die Magengrube, als ich das gelesen habe. Otto Sander, dieses Gesicht, diese Stimme.

Otto Sander hat mir bewiesen, dass man sich auch in eine Stimme verlieben kann. Als ich damals Oscar Wildes „Das Gespenst von Canterville“ hörte, da wusste ich zunächst nicht, dass ich Otto Sander lauschte. Ich war einfach verzaubert, von dem Kratzen, der Tiefe, diesem einzigartigen Klang, der die Geschichte zu Bildern formte. Otto Sander war schon mit seiner Stimme ein Schauspieler. „Das Gespenst von Canterville“ gehört seitdem für mich zu den Klängen, die Weihnachten einläuten.

Wirkung

Ich will hier nichts schreiben von Otto Sanders Biographie, seinen vielen Auftritten, mit wem und wann er gearbeitet hat – das können andere viel besser, das wäre anmaßend von mir. Ich kann nur schreiben über die Wirkung, die Otto Sander auf mich hatte.

Da gibt es zwei Worte, die für mich unbedingt zu ihm gehören: Tiefe und Authentizität. Otto Sander konnte selbst den kleinsten Dingen Bedeutung geben, nichts an ihm erschien banal oder oberflächlich. Das Gesicht, so voller Furchen, jede einzelne die Verheißung einer Geschichte, die Augen, so bodenlos. Das ist es, was ich nicht vergessen werde, die Stimme, das Gesicht.

An der Bar

Dann gab es noch diesen Abend, eine Lesung mit Benjamin von Stuckrad-Barre im Schauspielhaus Bochum. Er habe, erzählte der Autor, Otto Sander gerade an der Bar gesehen – vielleicht käme er ja später noch dazu. Immer wieder an diesem Abend erwähnte Stuckrad-Barre Otto Sander. Ich weiß gar nicht, ob er schlussendlich wirklich in den Saal, auf die Bühne kam, so lange ist das schon her. Aber im Grunde war das auch unnötig. Es war einfach dieses Bild, das blieb: Otto Sander, an der Bar, vielleicht rauchend, vielleicht ein Glas vor sich, vielleicht allein.

Danke für viele unvergessliche Momente.




RuhrTriennale: Tanz-Skulptur auf der Halde

Levée des conflits / Ruhrtriennale

Levée des conflits / Ruhrtriennale

Das Stück beginnt, und nach wenigen Minuten haben die Zuschauer oben im Amphitheater auf der Halde Haniel in Bottrop alles gesehen. Das können sie zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht wissen. Erst mit zunehmender Dauer von Boris Charmatz‘ Choreografie „Levée des conflits“ (Die Aufhebung der Konflikte) erahnt man das Prinzip, begreift die Struktur im vermeintlichen Chaos.

Der französische Tänzer und Choreograf, der schon vor einem Jahr bei der Ruhrtriennale mit seinem Mensch-Maschine-Stück „enfant“ für Aufsehen sorgte, lässt die 24 Tänzer diesmal kein Stück in klassischem Sinne aufführen. Es gibt weder Thema noch Handlung, keine Entwicklung und kaum tänzerische Interaktion. Vielmehr bildet Boris Charmatz eine kinetische Skulptur. Er schafft mit tänzerischen Mitteln ein Stück bildender Kunst auf der Bühne – ein Perpetuum Mobile aus einem festgelegten Bewegungskanon, der von den Tänzern zeitversetzt ausgeführt wird.

Es beginnt mit einer Tänzerin. Sie setzt sich auf das mit Rasen ausgelegte Bühnenrund und streicht weit ausholend übers Gras, als würde sie sich einen Schlafplatz zurechtmachen. Etwa eine Minute später die nächste Figur: Sie streckt den Hintern gen Luft und schiebt ihn nach links und rechts wie eine Katze. Eine Minute später steht sie und schlägt, beide Armen vor- und rückschleudernd, auf Brust und Rücken zugleich. Eine Minute, dann folgt ein maschinenähnliches Hantieren mit unsichtbaren Geräten, das einem nicht zu durchschauenden Ziel folgt.

Minütlich folgen weitere Bewegungsabläufe, und längst sind weitere Tänzer in Straßen- oder Sportkleidung auf die Bühne gekommen. Ohne erkennbar Notiz voneinander zu nehmen, führen sie die gleiche Abfolge aus, jeder in seinem Tempo, jeder in seinem Stil – bis zwei Dutzend Tänzer gleichzeitig auf der Bühne sind. Sie rollen und winden sich über den Boden, hüpfen und springen, drehen sich um die eigene Achse, lassen sich zu Boden werfen und wieder aufhelfen, fließen weich wie eine Welle durch den Bühnenraum und scheinen alle Möglichkeiten auszukosten, ihn mit dem eigenen Körper zu erkunden. Dazu läuft eine Sound-Collage: Mal sind es HipHop-Fetzen, mal avantgardistische Neue Musik, mal industrielle Geräusche, mal alles zugleich.

Irgendwann scheinen sich die Tänzer wie zufällig zu formieren: Es zentriert sich ein strudelartiges Knäuel in der Mitte, dann am Rand. Obwohl jeder für sich arbeitet, bilden sie doch erkennbar ein Ganzes. Es braucht seine Zeit, diesen irgendwann sogar meditativen Rhythmus zu erkennen und es letztlich zu genießen, seine Augen in dem Strudel treiben zu lassen, der ständig wiederkehrende und doch neue Bilder produziert.

Die nötige Muße dazu kam allerdings wetterbedingt nur schwerlich auf. „Das Stück ist sowieso chaotisch, aber heute Nacht ganz sicher“, hatte Charmatz vor Beginn mit Blick auf das Wetter angekündigt. Der leichte Regen wurde im Laufe des Stücks immer heftiger, so dass die Compagnie des „Musée de la Danse“ aus Rennes sich am Ende entschloss, die Aufführung etwas abzukürzen. Dankbarer, dennoch begeisterter Applaus.




Zeitgeist auf der Bühne: „Kinder der Revolution“ in Bochum

logoSie hätten ganz einfach Büchner wählen können. Dantons Tod – auch ein Revolutionsdrama. Aber die Studierenden der Folkwang Universität der Künste wollten für ihren Abend an den Bochumer Kammerspielen selbst ein Stück Revolution schreiben.

Gemeinsam mit dem vielfach ausgezeichneten Regisseur Nuran David Calis suchten sie einen eigenen Zugang dazu, was in der Welt passiert, fanden Kontakt zu jungen Menschen aus neun Ländern und versuchten, ihnen via E-Mail, Skype oder persönliche Treffen nahe genug zu kommen, um sie auf der Bühne zu verkörpern.

Die „Geschichten der Menschen ohne die Medien“ wollten sie, rufen sie im Chor, und kündigen an: „Was jetzt kommt, sind keine Nachrichten, keine Ideologien, keine Theorien.“ Sondern? Ja, was ist „Kinder der Revolution“ geworden? Ein aufwändiges, spannendes Theater-Experiment, das auch von der Schwierigkeit handelt, ein Theater-Experiment auf die Bühne zu bringen.

Denn es ist ein sehr schmaler Grat zwischen einem Theaterexperiment mit authentischem Material und sozialkritischem Betroffenheitstheater. Regisseur Calis hat genau damit Erfahrung, man denke an seine  „Homestories – Geschichten aus der Heimat“ mit Jugendlichen aus Essen-Katernberg am Schauspiel Essen.  Die Schauspielschüler in Bochum versuchen die Balance zu meistern, indem sie immer wieder Brüche einbauen. Niemandem wird gestattet, zu tief in das Schicksal seiner Figur einzutauchen – die Kollegen holen einander dann spielerisch, ironisch oder auch unter Einsatz einer Wasserdusche in die Theater-Gegenwart zurück. Wie sehr lässt man sich auf „seine“ Figur ein, wie nahe soll man ihr kommen – das sind für Schauspieler existenzielle Fragen, auf die die jungen Akteure in diesem Stück ebenfalls Antworten suchen.

Phillip Henry Brehl etwa erzählt von Mohamed genannt „Bibi“, dem Tunesier, der sich aus Perspektivlosigkeit selbst anzündete und damit die arabische Revolution entfachte. Maximilian Schmidt schrieb sich mit der New Yorker Occupy-Aktivistin Cecilie, deren persönliche Krise ähnliche Dimensionen hat wie die Banken-Krise. Sandra Schreiber bringt uns Julia aus Spanien nahe, die durch die al-Qaida-Anschläge in Madrid politisiert wurde, und Mirja Fajfer spielt einen jungen Palästinenser, der noch nie etwas anderes als den Gaza-Streifen sah. Auf der Bühne aus grauen Kuben verwandeln sich die Akteure nie vollständig in ihre „Kontakte“, sie deuten an, wechseln zwischen Erzählen und Spielen.

Es gibt aber auch Geschichten des Scheiterns am selbst gesetzten Anspruch: Raphael Dwinger fand keinen Draht nach Russland, und Leander Gerdes suchte in London-Tottenham erwartbar ergebnislos nach Beteiligten an den Riots. Doch auch diese Geschichten sind spannend erzählt und bildstark inszeniert.

Insgesamt hatte der Abend etwas zu viele Ausrufezeichen, zu viele in die Luft gereckte Arme und Fäuste, letztlich auch zu viele Worte. Der Erkenntnisgewinn bleibt mager, viele bunte Puzzle-Teilchen ergeben zwar Motive, aber noch kein Bild. So ist das vermutlich, wenn man echte Menschen und Krisen auf der Bühne behandelt. Trotzdem: Ein gelungener Ansatz und ein sehenswertes Experiment.

Nähere Informationen: http://www.schauspielhausbochum.de/de_DE/calendar/detail/11470298

_________________________________________________________

(Der Text erschien zuerst im Westfälischen Anzeiger, Hamm)




Endzeitstimmung in der Tanzschule: „Skin Deep Song“ in Essen uraufgeführt

Kann es einen trostloseren Ort geben als eine ehemalige Tanzschule? Eine vergessene Disco-Kugel hängt zwischen kaputten Deckenplatten, aus denen lose Kabel baumeln. Eine verstaubte Theke, ein Klavier, ein Glittervorhang. Das Arrangement gehört freilich zum Bühnenbild (Andreas Jander) – doch für die Uraufführung von „Skin Deep Song“ hätte das Theater Essen trotzdem keinen passenderen Ort finden können als diese ehemalige Tanzschule hinterm Bahnhof, die vom Theater eigentlich nur als Probebühne genutzt wird.

Floriane Kleinpaß, Heiner Stadelmann. Foto: Thilo Beu

Floriane Kleinpaß, Heiner Stadelmann. Foto: Thilo Beu

Passend deshalb, weil das Stück des US-Dramatikers Noah Haidle in einem Tanzsaal spielt. Thomas Krupa übertrug es ins Deutsche und setzte es in Essen zum ersten Mal überhaupt in Szene.

Als „Endzeit-Stück“ wurde es vorab bezeichnet, es wurden Verbindungen zu den Stücken Becketts und zu Cormac McCarthys „Die Straße“ nahe gelegt – dieser Vergleich ist bis auf das Katastrophen-Motiv jedoch weit hergeholt.

Floriane Kleinpaß, Silvia Weiskopf (Foto: Tilo Beu)

Floriane Kleinpaß, Silvia Weiskopf (Foto: Thilo Beu)

„Skin Deep Song“ erzählt vordergründig vom Trauma zweier Schwestern, die das Attentat auf ihre Eltern, ein Königspaar, mit Rollenspielen und Witze-Erzählen zu verarbeiten versuchen. Haltlos irren sie in Kriegszeiten durch einen unbestimmten Raum, schleppen ihre toten, in Säcke verschnürten Eltern mühsam hinter sich her und ergehen sich in Erinnerungen, die sie mal zum Lachen, mal zum Weinen bringen.

In Rückblicken erfährt der Zuschauer mehr über die Familie, die da zerstört wurde: Eine furchtbar unsympathische Bande mit einem ordinären, despotischen Vater (Tom Gerber), einer hysterischen Mutter (Bettina Schmidt) und zwei albernen, kichernden Prinzessinnen. Mitten im vom König selbst angezettelten Krieg wollen sie ein rauschendes Fest feiern. Bis der Attentäter kommt und die Eltern hinrichtet – vor den Augen der Schwestern, von denen eine soeben zum ersten Mal mit einem Jungen getanzt und ihn geküsst hat.

Hintergründig ist dies also eine Geschichte vom Erwachsenwerden, vom mitunter brutalen Abschiednehmen – Abschied von der Kindheit, von den Eltern, von der exklusiven Innigkeit der Beziehung zur Schwester, die durch neue Beziehungen abgelöst werden wird. Das Attentat markiert jenen Punkt im Leben der Mädchen, an dem sich einfach alles ändert, irgendwo zwischen Pubertät und Erwachsensein. Die Vergangenheit? War zwar mit dieser Familie auch eine ziemliche Katastrophe, aber immerhin vertraut und berechenbar. Die Zukunft? Höchst unsicher, weshalb die Mädchen sich in ihren Rollenspielen lieber eigene verbindliche Regeln geben.

Silvia Weiskopf und Floriane Kleinpaß spielen diese gestörten, verstörten Schwestern höchst anrührend und überzeugen ebenso in den Rückblenden als niedlich-naive, behütete Dummchen mit wallendem Langhaar wie als glatzköpfige, in eine neue Welt gespuckte Girlie-Frauen.

Am Ende schenkt das Stück dem Zuschauer ein tröstliches Ende, wie es typisch ist für die Absolventen amerikanischer Schreibschulen: Die Schwestern begraben endlich ihre Eltern und erklimmen so eine nächste Stufe der Trauer. In ihrem dementen Opa (Heiner Stadelmann) haben sie zudem ein versöhnendes Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart gefunden.

____________________________________________

Nähere Infomationen hier

(Der Beitrag erschien zuerst im Westfälischen Anzeiger, Hamm)




Wer heiratet, darf gratis ins Theater

Schauspielhäuser, Opern und Tageszeitungen haben oft ein ähnliches Problem: Junge Menschen wenden sich ab, das Publikum oder die Abonnenten werden immer älter und sterben dann natürlicherweise aus. Im Theater Hagen will man ein Verjüngungsmittel gefunden haben.

Schön ist es ja, das Hagener Haus. (Foto: Stadt Hagen)

Die architektonisch so schöne Spielstätte leidet besonders unter der Annähernd-Pleite ihrer Mutter, der Stadt Hagen. Aber es gibt einen rührigen Theater-Förderverein, und der geht nun mit einer neuen Idee ans Werk: Ab Januar des nächsten Jahres erhalten alle Paare, die sich vor einer Hagener Standesbeamtin oder einem -beamten das Ja-Wort geben, einen Gutschein für den Besuch einer Aufführung ihrer Wahl im Theater Hagen. „Sie trauen sich – wir laden sie ein“ heißt der eher wenig originelle Leitspruch der Aktion. Und der Förderverein schickt in der Pressemitteilung seine eigenen Bedenken gleich hinterher: „Bleibt zu hoffen, dass die Wahl der Aufführung nicht gleich zu einer ersten Ehekrise führt.“

Man denke nur an „Die Hochzeit des Figaro“ oder die „Geschichten aus dem Wienerwald“, und bei Romeo und Julia sind am Ende sogar alle tot, von Wagners Ring ganz zu schweigen. Nun wird der Ring in Hagen eher selten gespielt, und ob die Ehepaare jung sind, ist ja auch nicht gesagt. Mancher heiratet zum zweiten oder dritten Mal und ist in einem Alter, in dem er schon die Silbernadel für 25 Jahre Theaterabo trägt. Dann kann er oder sie den Gutschein immer noch verschenken, an die Enkel aus der früheren Eheschließung, als es noch nicht solche Prämien gab.




Vom Hauen und Stechen im Theater: Kampftrainer Klaus Figge im Porträt

Foto: Markus Feger

Foto: Markus Feger

Der Essener Klaus Figge war Geschichtslehrer, jetzt schreibt er selbst Geschichte – am Theater. Als Choreograph für Kampf- und Fechtszenen ist er im deutschsprachigen Theaterraum die erste Wahl. Auch noch mit 70 Jahren.

Peter Zadek und Peter Stein. Dieter Dorn und David Bösch. Karin Beier und Karin Henkel. Jürgen Kruse und Jürgen Hartmann. Regisseure, die, von ihrer Bekanntheit einmal abgesehen, nicht viel gemein haben. In einem jedoch gleichen sie sich: Sie alle setz(t)en auf Klaus Figge.

So sieht er also aus: der Mann, der mindestens 30 finale Kämpfe zwischen Hamlet und Laertes ersann, der Tybalt mit allen denkbaren Waffen auf Mercutio hetzte. Der Mann, dessen Name kaum je im Programmheft fehlt, wenn auf einer größeren deutschen Bühne gekämpft wird und der seit vier Jahrzehnten Schauspielschülern an der Folkwang Hochschule das Kämpfen lehrt – seit 41 geschlagenen Jahren, sozusagen: Überraschend klein ist er, sehr weiß seine Haare. Klaus Figge trägt Cowboystiefel und graue Cargo-Hosen. Sein verwaschener Kapuzenpulli ist weit und schlabberig, doch darunter erahnt man die Körperspannung, die den ehemaligen Sportler ausweist.

Figges stahlblaue Augen saugen sich gerade an dem Kampf fest, der auf einer schiefen, nur etwa sechs Quadratmeter großen Ebene ausgefochten wird. In der Mitte der kleinen Spielfläche steht auch noch ein Pfeiler, an den eine Schauspielerin gefesselt ist. Die schiefe Ebene wird später zum Schiff, der Pfeiler zum Mast, die Akteurin zu Wendy. Und die Kämpfenden, sie werden sich in Kapitän Hook und Peter Pan verwandeln. „Tak. Tak. Hoch. Und rum. Die müsste schneller sein, die Drehung“, murmelt er. Dann laut: „Stop! Bitte noch mal!“

Jeder Ausfallschritt muss stimmen

Andreas Grothgar lässt Haken und Degen sinken, Silvia Weiskopf dreht sich herum. Es ist der Schlusskampf, in dem Peter Pan den Hook besiegt und Wendy befreit. Bis zur Premiere ist es noch ein Monat. Die Schritte sitzen, doch erst seit drei Tagen proben die Schauspieler auf der Schräge. Für Improvisation ist kein Platz, jeder Ausfallschritt, jede Gewichtsverlagerung muss exakt sitzen, bevor das Tempo angezogen werden kann. Klaus Figge klettert etwas umständlich auf die Bühne – die Knie! – und nimmt den Degen, um die Drehung vorzumachen. Der nächste Durchgang. „Gut! Gut!“, ruft er. „Mal’n bisschen loben“, brummt er dann.

In seinem ersten Leben war Klaus Figge Sport- und Geschichtslehrer an einem Gymnasium in Essen: Referendar, Studienrat, Oberstudienrat. Doch die Schule hatte ihn nie ganz. Schon 1971, kurz nach seinem Examen, nimmt Figge auch einen Lehrauftrag der Folkwang Hochschule an. Dort wird ein Lehrer für Bühnenkampf gesucht. Zufällig erfährt Figge von der Stelle und bewirbt sich, denn zufällig kann er fechten, sehr gut sogar – schon als Gymnasiast hatte er damit begonnen und das Fach an der Sporthochschule Köln sogar studiert. Der Fecht- und Kampf-Unterricht macht ihm Spaß, und schon bald kommt die erste Anfrage des Essener Schauspiels für eine Kampf-Choreografie. Mit dem Theater hat er bis dato kaum Berührung. Figge und das Theater, es war keine Liebe auf den ersten Blick.

Entscheidung gegen die Beamtenlaufbahn

Doch jede Produktion band ihn stärker an diese kleine verschworene Gemeinde, jedes Engagement zog weitere nach sich: Wer einmal mit ihm gearbeitet hatte, wurde zum Fürsprecher. Figges Schulleiter liebte das Theater, er ermöglichte die Seitensprünge seines Lehrers, der immer weiter Stunden reduzierte – und sich schließlich komplett gegen die Beamtenlaufbahn und für die Bühne entschied. Theater, das geht auf die Dauer nur ganz oder gar nicht.

Der Start in die große Bühnenwelt ist mit Uwe Ochsenknecht und Peter Simonischek verbunden. Klaus Figge hatte in Wuppertal die Fechtszenen für „Romeo und Julia“ choreografiert. In der Rolle des Romeo: der junge Uwe Ochsenknecht. „Er war gerade dabei, bekannt zu werden, deswegen saßen wohl Leute von der Schaubühne im Publikum. Sie fanden die Fechtszenen gut und luden mich nach Berlin ein, wo ebenfalls ,Romeo und Julia’ anstand“, erzählt Figge. „Den Tybalt sollte Peter Simonischek geben. Mit ihm hatte ich bereits in Düsseldorf gearbeitet, und als er hörte, dass ich engagiert werden sollte, empfahl er mich zusätzlich bei der Regie“, erzählt Figge. Kleine Anekdoten mit großen Namen – Figge könnte hunderte davon erzählen.

Heute hat Klaus Figge einen Luxus-Job. Wenn eine Theater-Produktion gut wird, dann ist der Erfolg auch sein Erfolg. Wenn sie scheitert, wird er – manchmal als einziger – lobend erwähnt. Zuletzt in Bochum, als die Kritik Katharina Thalbachs „Cyrano de Bergerac“ in seltener Einmütigkeit verriss. Über Klaus Figge hingegen hieß es, er habe „mit den Schauspielern wie immer Beachtliches erarbeitet“. Zu David Böschs „Romeo und Julia“ in Wien schrieb der „Standard“, die Fechtszenen seien „mustergültig choreografiert“ – ansonsten war der Rezensent wenig begeistert. Und über die Stockkämpfe in Sebastian Nüblings Ruhrtriennale-Produktion „Next Level Parzival“ hieß es, sie seien „von einer Präzision und Heftigkeit, wie man sie auf dem Theater selten sieht.“ Man kann sagen, Klaus Figge ist ein Liebling der Kritik. „Kampfchoreograph Nummer eins des deutschsprachigen Theaters“ nennt ihn das Deutschlandradio, die Mitteldeutsche Zeitung verstieg sich sogar zu der Formulierung, er sei der „renommierteste Meister der Kampfchoreografie“. Bühnenkampf-Legende ist die gängige Beschreibung.

Was macht diesen Mann zur Legende? Diesen 70-Jährigen, der zwar noch immer aus dem Stand vorwärts über die Schulter abrollen kann, dessen kaputte Knie ihn jedoch inzwischen daran hindern, die Bühnenrampe schwungvoll zu nehmen? Bühnenkampf-Lehrer gibt es schließlich an jeder Schauspielschule. Doch viele Regisseure wollen eben nur Figge. Christina Paulhofer etwa engagierte ihn zeitweise für fast jede Produktion. „Sie fühlte sich einfach sicherer, wenn er dabei war“, sagt ihr langjähriger Assistent Henner Kallmeyer.

Kallmeyer ist der Regisseur des Essener „Peter Pan“, und auch für ihn stand außer Frage, dass er für die Kämpfe Figge holt. „Er holt aus den Schauspielern einfach mehr raus. Und es sieht am Ende geil aus“, sagt er, „ich kann eine Menge Figge-Kämpfe nacherzählen. Der Tollste war der Schlusskampf in Jürgen Kruses ,Trying Macbeth’. Die Schwerter wurden immer größer, bis zu zwei Meter lang.“

Auf seinem Gebiet einfach der Beste

Foto: Markus Feger

Foto: Markus Feger

Man kann noch so viele Theaterleute fragen, die Antwort lautet stets ähnlich: Figge ist einfach der Beste. Und das hat nicht nur mit Techniken zu tun, und auch nicht nur mit der Ruhe und Souveränität, die er während der Proben ausstrahlt. Figge hat offenbar das Theater-Gen – szenische Phantasie, kombiniert mit einem Gespür für starke Bilder und dem Talent, mit wenig Aufwand große Wirkung zu erzielen. Er hat nicht nur Ahnung von Ring- oder Box-, von Karate-, Kung Fu- oder Schwerterkämpfen – er weiß auch, wie man sie auf die Bühne bringt. Und zwar so, dass die Zuschauer den Atem anhalten, die Schauspieler sich nicht verletzen und auch im dritten Rang noch etwas zu sehen ist. Figge weiß, aus welcher Perspektive man den tödlichen Stich zeigt. Er weiß, wie man zur Musik boxt und wie man Kampfgeschehen akustisch untermalt. Er weiß, dass ausgespuckte weiße Bohnen am besten Zahnverlust simulieren. Er weiß, dass Tybalt laut Shakespeare die Doppelte Finte und den Punto Reverso wie aus dem Lehrbuch beherrscht, während Mercutio eher der unkonventionelle Fechter ist.

Als Peter Zadek Angela Winkler als Hamlet wollte, brachte Klaus Figge ihr das Fechten bei, und als jüngst beim „Cyrano de Bergerac“ in Bochum ein Schauspieler kurzfristig ausfiel, da duellierte sich Klaus Figge höchstselbst mit Armin Rohde. „Den Ablauf kannte ich ja“, sagt er trocken. Das Publikum dankte mit mehrfachem Szenenapplaus.

Das Geheimnis des Klaus Figge ist vielleicht, dass er sich jeder Produktion, an der er mitarbeitet, mit Haut und Haar verschreibt. Er wird Teil des Ganzen, so wie alle am Theater. „Was machen Sie, wenn Sie mit einem Regiekonzept mal nicht einverstanden sind?“ – diese Frage kann Figge nicht beantworten, sie stellt sich einfach nicht. „Manchmal denke ich schon, so würde ich es nicht machen“, antwortet er dann vorsichtig. Aber wenn der Regisseur es so entscheidet, dann übt er mit zwei Schauspielerinnen auch das Fechten im Minirock und auf High Heels ein – obwohl in T.S. Eliots „Die Cocktailparty“ gar keine Fechtszene vorkommt. Dann choreographiert er in Bochum einen Kampf mit brennenden Äxten oder setzt in Hannover einen Ringkampf halbnackter Frauen im Sand in Szene.

Als Peter Zadek es sich anders überlegte

Oder er wirft das Ergebnis von vier Wochen Arbeit einfach weg, weil der Regisseur es sich anders überlegt hat. Noch so eine Anekdote: „Am Burgtheater inszenierte Zadek ,Der Jude von Malta’ mit August Diehl. Wir probten vier Wochen lang mit Offizierssäbeln. Die Szene war quasi perfekt, Zadek hatte sie aber noch nicht gesehen. Eines Tages sagte der Regisseur: Ich habe mir überlegt, wir machen den Kampf lieber mit Messern.“ Nicht einmal anschauen wollte Zadek die fertige Szene. „So etwas ist mir gottseidank nur ein Mal passiert“, sagt Figge, er lacht darüber.

Ein untypisches Erlebnis. Meist kennt Figge das Regiekonzept, dann erarbeitet der Bühnenkampf-Experte „seine“ Szenen autonom. So auch beim Essener „Peter Pan“: Wenn’s ums Hauen und Stechen geht, gibt Regisseur Kallmeyer die Hoheit an Figge ab und hält sich raus. Der Rahmen ist klar: Ein Stück für Kinder ab 6 Jahren – da braucht es actionreiche Szenen mit Witz und Pfiff, die nicht zu brutal werden. Klaus Figge kombiniert einen Fechtkampf mit einem Backpfeifen-Duell à la Bud Spencer, er lässt einen Piraten über Bord kitzeln und ersinnt Kaugummi-Blasen als Ablenkungsmanöver. Ein großer Kampf-Spaß, hinter dem wochenlange Arbeit an winzigen Stellungsdetails steckt.

Auf die Frage, mit welchen großen Regisseuren er noch nicht zusammengearbeitet hat, muss Figge lange überlegen. „Frank Castorf“, sagt er schließlich, „und Roger Vontobel.“ Allerdings: Es sind nicht die große Namen, die ihn an seiner Arbeit interessieren. „Klaus macht keinen Unterschied zwischen Burgtheater und freier Bühne“, weiß Regisseur Kallmeyer. Und erzählt, dass Klaus Figge neulich einen Stockkampf am Rottstraße 5 Theater einstudiert habe, einer kleinen freien Bühne in Bochum. „Es war zufällig eine Woche, in der ich Zeit hatte“, sagt Figge, „ich wollte eigentlich nur ein Mal hingehen, aber es hat mir Spaß gemacht.“ Er hätte es eigentlich vorher wissen müssen: Theater, das geht nur ganz oder gar nicht.

(Das Porträt wurde zuerst in der November-Ausgabe des Kulturmagazins K.West veröffentlicht).




Wir sind alle Kafka: Saisonauftakt im Düsseldorfer Schauspielhaus

70 „Kafka“-Figuren im charakteristischen schwarzen Anzug, Hut und Mantel strömen aus den ersten Sitzreihen des Zuschauerraums auf die Bühne und nehmen an der Rampe Aufstellung. Unter ihnen Josef K. „Ich bin Josef K., Prokurist“, sagt er – diesen Satz wird man in den nächsten drei Stunden noch öfter von ihm hören. Denn viel mehr weiß er nicht über sein Leben…

Zum Auftakt der Saison zeigt das Düsseldorfer Schauspielhaus eine Adaption von Kafkas Romanfragment „Der Prozess“ in der Inszenierung des russischen Regisseurs Andrej Mogutschi, der sich offenbar in Dreh- und Hebebühne verliebt hat. In einem wilden Reigen wirbeln die Kafka-Statisten (im Programmheft ausgewiesen als Chor) herum, fahren hinauf und hinab, wobei Josef K. (weltentrückt gespielt von Carl Alm) gleichzeitig noch das Kunststück zu bewältigen hat, sich mehrmals umzukleiden. Das erzeugt Stress, das erzeugt Zeitdruck. „Zu spät“, ruft Josef K., „ich komme zu spät.“ Das stimmt: Denn seine Verhaftung ist schon erfolgt, die Gerichtsbarkeit hat ihn in den Klauen. Doch was ihm vorgeworfen wird, weiß er nicht.

Dafür finden Mogutschi und seine Bühnenbildnerin Maria Tregubova seltsame, beinahe surrealistische Bilder: Auf schiefer Ebene ist Josef K.s Kammer mit in den Proportionen verzerrtem Mobiliar aufgebaut, es könnte auch das Zimmer von Gregor Samsa sein. Verzweifelt klammern sich die Schauspieler an die spärlichen Möbel, doch es hilft nichts: Sie stürzen buchstäblich in den Abgrund. In einer anderen Szene sitzt Josef K. leblos, gestützt von seinen Wächtern (Moritz Löwe und Jonas Anders), in einem schwarzen Oldtimer, die Statisten streuen rote Rosen und unversehens wird die Szenerie zum Leichenzug. Am Bühnenhimmel hängen Wattewölkchen und zum Advokaten (Sven Walser) rudert man im weißen Bötchen durch im Raum schwebende Türen. Die Musik (Alexander Monotskov) verstärkt die varietéhafte Anmutung des Ganzen. So bebildert die Inszenierung zwar ausführlich, manchmal witzig und leider auch etwas langatmig den Alptraum, in dem sich Josef K. befindet. Doch ihr Zentrum findet sie nicht. Sie kreiert eher ein Kafka-Abziehbild.

„Zum letztenmal Psychologie“ skandiert der Chor, obwohl am ehesten noch eine psychologische Deutung angeboten wird: Besteht Josef Ks. Schuld etwa in uneingestandener sexueller Begierde? Der nackte Advokat und seine Gespielin Leni (Betty Freudenberg) im monströsen Ganzkörpernacktanzug sowie die hohen Herren der Gerichtsbarkeit allesamt unten ohne sprächen dafür. Ebenso Fräulein Bürstners (Patrizia Wapinska) durcheinandergewirbelte Blusen. Doch nimmt man dem somnabulen Josef K. den Tausendsassa gar nicht ab. Soll er etwa das Riesenbaby gezeugt haben, das plötzlich über die Bühne geistert? Am Ende gar mit seiner Mutter?

Antworten gibt es naturgemäß nicht. Im Grunde ist Josef K. gesamtes Leben ein Prozess, den er nicht gewinnen kann, denn der unglückliche Ausgang ist vorprogrammiert. Da kann er sich noch so viele Advokaten auf dieser Lebensreise nehmen, irgendwann endet sie. In diesem Sinne sind wir wohl alle ein bisschen Kafka.

„Der Prozess“ nach Franz Kafka
Karten und Termine: www.duesseldorfer-schauspielhaus.de




Im Oktober gibt es wieder Mozarts „Don Giovanni“ in Hagen

Bald ist die Sommerpause nicht nur in der 1. Fußball-Bundesliga, sondern auch in den Stadt- und sonstigen Theatern vorbei. Aus Hagen liegt bereits das Programm für September vor. Mit „Cabaret“ geht es gleich am 1.9. los. Hier soll es nun einen kurzen Vorgeschmack über die weiteren Aufführungen geben.

Mit "Cabaret" geht es im Theater Hagen wieder los . (Foto Stadt Hagen)

Eigentlich beginnt die Hagener Saison ja schon am 25. August, aber nicht im Haus selbst, sondern davor: Bei Beginn der Dämmerung zeigt das Haus bei freiem Eintritt auf dem „FilmSchauPlatz“  den Streifen „Moulin Rouge“ mit Nicole Kidman und Ewan McGregor.

„Cabaret“ wird dann ab 1. September an vier Tagen aufeinander gegeben, es folgt am 8. September die Premiere des Kinder-Musicals „Zorro jagt den Carmen-Schatz“.. Danach am Abend und am Folgeabend wieder  „Cabaret“, am 11. und 12. Zorro,  abends „Cabaret“, am 16. September morgens das 1. Kammerkonzert, am 25 das 1. Sinfoniekonzert und dazwischen immer wieder „Cabaret“. Die zweite Premiere ist wieder ein Kinderstück: „Nur ein Tag“ am 30. September.

Man sieht, dass man wenig sieht im ersten Monat, zumindest wenig Unterschiedliches. Freuen kann man sich aber auf den 7. Oktober: Da wird der sehr positiv besprochene „Don Giovanni“ von Mozart wieder aufgenommen, und ab 25. Oktober tritt Guildo Horn wieder in „The Rocky Horro Picture Show“ auf.




Die Ästhetik des Widerstands – Peter Weiss‘ Jahrhundertroman auf der Bühne

Immer häufiger bereichern Roman-Bearbeitungen die Spielpläne der Theater, auch die dicksten Wälzer finden ihren Weg auf die Bühnen. Denn freilich: Der Stoff lässt sich schon verdichten, wenn es nur gelingt, mit den Mitteln des Theaters eine eigene, vielleicht gar neue Sicht aufs Werk zu bekommen. Regisseur Thomas Krupa und Dramaturg Tilman Neuffer formulieren noch einen anderen Anspruch: Sie wollen Peter Weiss’ in den 1980er Jahren viel diskutiertes Hauptwerk „Die Ästhetik des Widerstands“, den „deutschen Ulysses“, erst einmal schlicht vor dem Vergessen bewahren. Denn, so die These: Das dreibändige Werk, das die Strömungen, Entwicklungen und Widersprüche des antifaschistischen Widerstands am Vorabend des Zweiten Weltkriegs reflektiert, hat uns noch etwas zu sagen. Die dreieinhalbstündige Uraufführung im Essener Grillo-Theater hinterließ ein nachdenkliches Publikum.

Im Roman wie im Stück führt ein junger Arbeiter als Erzähler durch die Erfahrungen und Gedankenwelt der Widerstandskämpfer; Stationen seiner Reise sind Berlin, Spanien, Paris und das schwedische Exil. Nicht nur der Umfang des Werkes erschwert eine Dramatisierung: Der Erzähler ist kein klassischer Held, er bekommt nicht einmal einen Namen und kaum eine Geschichte. Die Entwicklung fokussiert mehr auf die Zeitgeschichte denn auf einzelne Figuren. Charakteristisch für den Roman sind außerdem lange, essayistische Kunstbetrachtungen – Peter Weiss ließ seine Figuren große Hoffnung in die Wirkung der Kunst setzen und Kraft aus ihr schöpfen. Die Besprechung von Werken wie Picassos „Guernica“ oder Géricaults „Das Floß der Medusa“ nehmen im Roman viel Raum ein.

Gleich zu Beginn steht eine Schilderung des Pergamonaltars – im Roman ebenso wie im Stück. Auf der mit weißem Plastik verkleideten, wie ein Gefängnis-Innenhof anmutenden Bühne verrenken sich die Museumsbesucher, um den Altar zu betrachten; später diskutiert der Erzähler mit seinen kommunistischen Freunden. „Wir müssen solche Werke wie den Pergamonaltar immer wieder neu auslegen, bis wir eine Umkehrung gewinnen“, resümiert Heilmann (Jannik Nowak). Ein Schlüsselsatz, in dem sich auch der Wunsch des Autorenteams verbirgt: So wie die uralte, in Stein gemeißelte Darstellung des Götter-Sieges über die Giganten die Berliner Kommunisten inspirierte, so möge sich das Essener Publikum von der „Ästhetik des Widerstands“ gefangen nehmen lassen und herausholen, was es für brauchbar hält.

Doch das ist ein schwieriges Unterfangen. Auch nach dem vermutlich gigantischem Kraftakt des Kürzens und Verdichtens wird aus der Vorlage kein fesselndes Bühnenstück, dazu fehlen schlicht Spannungsbogen und Identifikationsfiguren. Krupa, Neuffer und das Bühnen-, Kostüm- und Videoteam (Jana Findeklee, Joki Tewes, Andreas Jander) haben gleichwohl einige starke, eindringliche Bilder geschaffen – etwa, wenn des Erzählers Mutter langsam zuschneit, während sie unbewegt von einem Alptraum berichtet, in dem sie traumatischen Erfahrungen auf der Flucht verarbeitet (bleibt in Erinnerung: Melanie Lünighöner). Oder wenn die Spannungen zwischen Arbeitern und Intellektuellen sichtbar werden, indem sich die Widerstandskämpfer bürgerlicher Herkunft unters Publikum mischen. In Tempo und Dynamik gibt es wohltuende Wechsel.

Dennoch: Es dominiert die Rede, nicht die Handlung oder Aktion; es gibt mehr zu hören als zu sehen; es gibt viel zu denken und wenig zu fühlen. Elf Darsteller spielen 22 Personen – eine enorme Herausforderung nicht nur für das Ensemble, sondern auch für den Geist der Zuschauer. Nicht umsonst beschreibt das Programmheft unter der Überschrift „Erste Hilfe“ in ungewohnter Direktheit und Ausführlichkeit Inhalt, Regieansatz, Personen und Schlüsselbegriffe. Wer unvorbereitet in das Stück ginge, zöge kaum Gewinn daraus.

Die Produktion leistet Großartiges, indem sie das Werk überhaupt neu zugänglich macht – wenn auch in der Art eines lebendigen Geschichtsbuchs. Peter Weiss erzählte in seinem Roman die Geschichte des Scheiterns und setzte den gescheiterten, teils ermordeten Widerstandskämpfern ein Denkmal. Das und nicht mehr gelingt der Bühnenfassung auch.

(Der Text erschien zuerst im Westfälischen Anzeiger, Hamm)




„Das Leben der Bohème“ in Bochum – Freundschaft in Zeiten der Krise

Logo des Bochumer Schauspielhauses

Logo des Bochumer Schauspielhauses

Das kann nur das Theater: Eine Duschkabine wird zum Hauseingang und dann zur Pariser Metro, aus einem Schauspieler werden fünf Charaktere, aus dem Lachen der Zuschauer wird Nachdenklichkeit und Staunen. Melancholisch, witzig, phantastisch, chaotisch, dramatisch, traurig, all das ist „Das Leben der Bohème“. Das Stück feierte Premiere im „Theater Unten“ des Bochumer Schauspiels.

Ein bemerkenswertes Werk: Die junge Regisseurin Barbara Hauck inszenierte es nach einem 20 Jahre alten Film des Finnen Aki Kaurismäki, der in jedem seiner Filme lakonisch vom großen Scheitern der kleinen Leute erzählt. Kaurismäkis „Leben der Bohème“ bezieht sich mehr auf die Romanvorlage von Henri Murger als auf die Oper „La Bohème“. Erst durch Pucchini jedoch wurden die Szenen des Künstlerlebens und der Lebenskunst im Paris des 19. Jahrhunderts bekannt – und kleben seitdem als Klischees in den Köpfen.

In Bochum kommt eine schräge Mischung aus Pucchini/Murger und Kaurismäki auf die Bühne: Klischees ja, aber gern ironisch gebrochen. Die Künstler-WG ist weniger eine romantisch-ärmliche Mansardenwohnung denn veritable Messi-Bude, statt am Klavier klimpert der Komponist auf einem Papier-Instrument.

Was Barbara Hauck eigentlich inszeniert, ist neben dem prekären Künstlerleben der große Wert der Freundschaft. In Zeiten der Not – und in einer solchen befinden sich die ebenso engagierten wie erfolglosen Künstler – lebt und leidet es sich doch besser im Kollektiv. Wer hat, der gibt aus; ansonsten schmeißen die Besitzlosen zusammen. Maler Rodolfo, Schriftsteller Marcel Marx und Komponist Schaunard feiern und frieren, saufen und träumen miteinander. Die Liebesgeschichte zwischen Rodolfo und der schließlich sterbenden Mimi nimmt zwar einen großen Teil der Handlung ein, doch das Schlüsselwort auch dieser Liebesgeschichte lautet letztlich Treue – in guten wie in schlechten Zeiten.

Die Figuren sind herrlich angelegt, die Schauspieler herrlich anzusehen: Manfred Böll als charmant-unverschämter Schriftsteller, der sein Jahrhundert-Drama in 21 Teilen am Ende in einer Modezeitschrift abdruckt. Daniel Stock als krankhaft schüchterner, ebenso liebenswerter wie liebeskranker Maler Rodolfo. Roland Riebling, der es als Schaunard versteht, den Leuten das Geld aus der Tasche zu quatschen: „Es ist zwar etwas teurer im Restaurant, aber wir holen das Geld ja wieder rein, indem wir Zeit zum Kochen sparen.“ Katharina Bach, die als gar nicht so naive Mimi die Wahl hat – und sich aus vollem Herzen für die Liebe und die Armut entscheidet. Und Klaus Weiss, der teils im Minutentakt in neue Nebenrollen schlüpft. Mal wird dialogisch gespielt, mal wird die Handlung zeitraffend von einem der Protagonisten erzählt. Am Ende verzichtet die Inszenierung auf ein versöhnliches Abschlussbild: Mimi ist tot, Rodolfo weist seine Freunde zurück: Er will allein bleiben. Ein nicht ganz runder Abschluss eines gelungenen Abends.

(Der Artikel erschien zuerst im Westfälischen Anzeiger, Hamm)




Schauspielhaus Bochum: Folkwang-Schüler präsentieren sich im „Spiel des Lebens“

 

Theaterrezension in exakt 150 Wörtern, Teil III:

„Spiel des Lebens“, Schauspielhaus Bochum, von Schauspielschülern der Folkwang-Universität der Künste

Text: Lutz Hübner, Uraufführung: 16.3.2012

 

Jeder hat 9 Minuten. Für Zauberei, Rampentricks oder den großen dramatischen Monolog. Für Tragik, Komik, tragische Komik. Und die Frage: Was – verdammt noch mal – wollen die Zuschauer eigentlich im Theater sehen?

Die Abschlussklasse der Folkwang-Universität spielt 2012 keinen Klassiker im Bochumer Schauspielhaus. Sie hat sich vom Star-Dramaturgen Lutz Hübner etwas auf die Leiber schreiben lassen.

 

Über der Bühne tickt die Uhr. Von „1:30:00“ bis zum Nullpunkt. Die Schauspielschüler spielen Schauspielschüler. Sind nervös, neidisch, notorisch übersehen oder auf der Suche nach sich selbst.

Wer sind sie heute? Wer in 20, 30 Jahren? Wer macht den Anfang, wenn das Kollektiv stockt und haspelt?

 

Und dann doch Antworten: Alles, was Theater ausmacht, auf vier Szenen reduziert. Coming of age. Boy meets girl. Who dunnit? Achievement.

Jeder präsentiert sich. Genial.

BÜHNENBILD Showtreppe. Nachbildung der Schauspielhaus-Kantine. Weniger = mehr.

SCHAUSPIELER Zehn. Zwischen herausragend und hinterdenohrennochetwasgrün.

KOSTÜME Charakterisieren die Typen. Karikieren die Klassiker.

TEXT Entlarvend. Humorvoll.

 

weitere Termine




Radikale Rebellin

Tische und Stühle sind von einer Staubschicht bedeckt, die vor Beginn abgefegt wird – merke: ein Klassiker wird entstaubt. Das Arrangement der kargen, mit Plastikblumen geschmückten Tische erinnert an eine Podiumsdiskussion (Bühne: Kathrine von Hellermann). Merke: Hier wird etwas verhandelt. Charlotte Zilm bringt im Dortmunder Studio Sophokles’ Antigone auf die Bühne. Sie zeigt ein Stück mit einigen Knall-Effekten – spannend, kurzweilig, bilderstark. Ein wenig auf der Strecke bleibt dabei die psychologische Feinzeichnung.

Antigone (Uta Holst-Ziegeler) beweint den Bruder (Sebastian Graf). Foto: Birgit Hupfeld

Der tote Ödipus-Sohn Polyneikes darf nach dem Willen seines Onkels Kreon nicht bestattet werden. Halbnackt und blutig liegt er auf der Bühne, und mit blutigen Händen setzt sich Kreon (Uwe Schmieder) als neuer König von Theben die Krone auf. Antigone (Uta Holst-Ziegeler) leistet als einzige Widerstand: Sie bestattet den Bruder und nimmt dafür den Tod in Kauf. Diese Antigone ist eine Rebellin voller Wut und Aggression. Als sie das Bestattungsverbot vernimmt, ballt sie die Faust und zerdrückt dabei die Flasche in ihrer Hand wie ein Blatt Papier – diese Frau steht unter Strom. Nicht einen Moment der Schwäche erleben wir bei ihr: Aufrecht und angstfrei ist ihre Haltung bis zum Schluss, unbeugsam blickt sie ihrem Onkel und ihrem Tod ins Gesicht. „Nicht zu hassen, zu lieben bin ich da“ – ihre berühmten Worte spricht sie langsam und voller Zorn, mit dem Zeigefinger gegen Kreon gerichtet. Der Monolog vor ihrem Selbstmord – Antigone schießt sich in den Kopf – ist dann auch kein Klagelied, sondern eine brüllend vorgetragene Anklage, aufrührerisch und aggressiv. Eine Gotteskriegerin, deren Haltung weniger auf eine gefestigte innere Moral denn auf militanten Fundamentalismus schließen lässt.

Kreon (Uwe Schmieder) setzt sich vor Antigone (Uta Holst-Ziegeler) die Krone auf. Foto: Birgit Hupfeld

Kreon ist ihr machtbesoffener, leicht sadistischer Widerpart. Was ihm im Vergleich zu Antigone an Körpergröße fehlt, kompensiert er durch sein übergroßes Ego. In breitbeiniger Macho-Pose sitzt er auf dem Thron, leer sein Bier auf Ex und sucht vergeblich Männerbünde gegen „diese Weiber, die man in Fesseln legen muss“. Mit Auftritt des Sehers, der Kreon warnen will, wird des Königs Wahn offenbar. In der Dortmunder Inszenierung ist der tote Polyneikes (Sebastian Graf) der Seher: Die Leiche wird in Kreons Armen lebendig, nimmt den König auf den Arm und scheint als Über-Ich zu Kreon zu sprechen. Das Ende bleibt offen: Während bei Sophokles der Tod seines Sohnes und seiner Frau Kreon zum Umdenken bewegen, gibt es in Dortmund nach Antigone keine weiteren Toten. Am Ende steht Kreon vor einer Entscheidung.

Der Diktator mit Realitätsverlust und die radikale Rebellin – zwei gut gespielte Figuren, deren Zeichnung zwar keineswegs abwegig, jedoch etwas eindimensional ist. Ein Überraschungscoup gelingt der Inszenierung mit dem neuen, 30-köpfigen Dortmunder Sprechchor, der sich plötzlich aus den Reihen des Publikums erhebt und dem Volk eine gut einstudierte Stimme gibt (Christoph Jöde, Mirjam Schmuck). Ein Überraschungscoup gelingt der Inszenierung mit dem neuen, 30-köpfigen Dortmunder Sprechchor, der sich plötzlich aus den Reihen des Publikums erhebt und dem Volk eine gut einstudierte Stimme gibt (Christoph Jöde, Mirjam Schmuck).

Weitere Termine: 10. Februar, 22. Februar, 10. März

(Der Text erschien zuerst im Westfälischen Anzeiger, Hamm)




Flache Kost aus der Burger-Bude

Vor 250 Jahren verfasste der Vielschreiber Carlo Goldoni seine Komödie „Streit in Chiozza“, in der der venezianische Theater-Neuerer Kabale und Liebe in einem Fischerdorf zelebriert. In Bochum zeigt nun Nuran David Calis das Stück in seiner eigenen Neubearbeitung: „Zoff in Chioggia“. Der 35-Jährige arbeitet dabei wie häufig auch mit jungen Laien zusammen. Auch Tänzerinnen und Tänzer des Herner Tanztheaters Pottporus/Renegade sind eingebunden.

Was sieht Calis, der als Experte für die Befindlichkeiten der Jugend gilt, in diesem für heutige Verhältnisse konventionellen Lustspiel? Die Antwort wird im Laufe des zweieinhalbstündigen Abends recht schnell deutlich: Er sieht eine Gesellschaft im Aufbruch, eine Jugend, die sich entscheiden muss: abhauen, bleiben und zugrunde gehen – oder bleiben und es besser machen. Wer dabei nicht freiwillig an den arabischen Frühling denkt, dem hilft das Bühnenbild (Irina Schicketanz) später am Abend nach: „Tunis“ und „Kairo“ sind als Parolen an die Wand geschmiert. Doch der Reihe nach.

Nuran David Calis’ Version spielt in einer kurz vor der Pleite stehenden Burger-Bude am Hafen von Chioggia. Besitzer Isodoro (Jürgen Hartmann) nimmt einen letzten Anlauf: Werbefilme im Internet und Social Media-Präsenz sollen dem Laden neue Gäste bescheren, außerdem hält er eine Brandrede vor seinen Angestellten: Binnen zwei Tagen sollen sie neue Ideen präsentieren, sonst gehe man zusammen unter. Allerdings ist die Belegschaft hoffnungslos zerstritten: Für Lucietta (Constanze Wächter) ist Chioggia ein Sumpf, aus dem sie nichts wie weg will, für ihren Freund Titta Nane (Krunoslav Šebrek) ist es der „Schoß, der dich auffängt“. Beppo (Matthias Eberle) will Checca (Barbara Hirt) heiraten, doch die hört ihn nicht einmal an.

Die Generation der Eltern ist nicht besser: Die zänkische Pasqa (Bettina Engelhard) streitet abwechselnd mit ihrem Mann Toni (Werner Strenger) und seiner Geliebten (Veronika Nickl), hat aber zugleich eine Affäre mit Isidoro. Der neue Barrista (Ismail Deniz), sorgt für weitere Eifersüchteleien. Nahezu jede Zusammenkunft führt in jeder Konstellation unweigerlich zur Eskalation, bis schließlich das Mobiliar des Bistros und die Beziehungen ein Trümmerhaufen sind – aus dem im Dämmerlicht des nächsten Tages Neues erwachsen kann. Und zwar, indem der zerstrittene Haufen die Kraft der Gemeinsamkeit erkennt. Merke: Wer Rücken an Rücken steht, der kann nicht fallen. Gemeinsam beseitigt man das Chaos, zieht neuen Teamgeist aus einem Rap-Song, und siehe da: Das virale Marketing hat gewirkt, die Gäste stehen vor der Tür.

Das klingt allzu platt? Das ist es auch, und zwar auf beinah jeder Ebene. Die Texte bestehen aus sträflich vielen Gemeinplätzen („Liebe ist doch nicht nur ein Wort!“) und sind häufig, nach Art der Vorlage, ans Publikum adressierte Monologe am Bühnenrand. Sie verbalisieren, was gespielt werden könnte. Die Kostüme zeigen Typen-Klischees (die Rocker-Lady in Leder, die blondierte Bauchfrei-Tussi, der bärtige Philosoph, der rassige Italiener). Und die Moral von der Geschicht’ besteht tatsächlich aus nicht viel mehr als „Zusammen sind wir stark“. Zurück bleibt das Gefühl, lange 180 Minuten einem mit großem Aufwand produzierten Nichts zugeschaut zu haben.

Schöne Momente bieten die Szenen, in denen das Ensemble wie von unsichtbarer Hand choreographiert agiert – in solchen Momenten blitzen schon von Anfang an die Möglichkeiten der Gemeinschaft auf. Die Atmosphäre des bevorstehenden Aus- und Zusammenbruchs transportieren trefflich die Renegade-Tänzer, die sich zwischen einzelnen Szenen wie Schatten in einer Zwischenwelt winden, auszubrechen versuchen, aber seltsam gefesselt scheinen.

Termine: 2., 10., 16. Februar 2012




„Heimat ist auch keine Lösung“ – das Schauspielhaus Bochum hat Recht

Karte Schauspielhaus BO Heimat

Theater-Rezension in exakt 150 Wörtern, Teil II:

Schauspielhaus Bochum „Heimat ist auch keine Lösung“, musikalischer Abend, Premiere 21.1.2012

Nebel wabert. Zieht ins Publikum. Fließt um die Schultern und in die Lungen.

Auf der Bühne: ein Vollmond. Ein Mann, der vom Leierkastenmann singt.

Ein Hafen ist das also. Ein Ort des Aufbruchs. Des Verlassens. Der Hoffnung. Der Wehmut. Des Fernwehs. Ein Ort, an dem die alten Lieder von daheim plötzlich wichtig werden.

„Heimat ist auch keine Lösung“, so hat Thomas Anzenhofer den musikalischen Abend genannt. Recht hat er. Die erste Szene zeigt schon, wohin der Abend führt.

In aller Herren Länder. In alle Gefühle. In schwermütigen kubanischen Jazz, in afrikanische Trommelfreude, in dröhnenden New Wave. Zu Nietzsche, Udo Jürgens, Ton Steine Scherben. Zu Idylle, Fremdsein und Schnaps.

Italienische Mandolinen-Sehnsucht trifft auf jiddische Fiddel-Wut, türkisches Wehklagen auf Hans Albers. Und in „Sweet Home Alabama“ wird gejodelt.

karte schauspiel bo heimat rückseite

SOUND Wispernd. Dröhnend. Verständlich. Je nachdem.

BÜHNENBILD Roh. Video-Leinwand, Bühne, Theke.

VIDEO Live. Abwechslungsreich.

KOSTÜME Tramp-inspiriert. Neuzeit-Stereotypen.

SCHAUSPIELER Alle drei grandios.

HUMOR Aber holla!




Ruhrfestspiele 2011 – ein Rückblick

Noch bevor die Abschlusskonzerte auf dem Recklinghäuser Hügel gespielt waren, verkündete Intendant Frank Hoffmann die frohe Pfingstbotschaft: Die Ruhrfestspiele haben sich selbst und ihren eigenen Besucherrekord von 2009 übertroffen. 212 Aufführungen, mehr als 81.000 Besucher und eine Auslastung von über 91 % zählte das diesjährige Festival. Einmal mehr bewies der Luxemburger Hoffmann damit, dass er der Tradition und dem Anspruch der Ruhrfestpsiele gerecht wird und ihm gelingt, was auf dem Hügel nicht immer selbstverständlich war: Mit einem anspruchsvollen Programm auch in der Breite erfolgreich zu sein. Folgerichtig wurde auch bereits am vergangenen Donnerstag bekannt gegeben: der Vertrag des Luxemburgers Hoffmann ist bis 2015 verlängert.

Was bleibt aus diesem Jahr, Jahr eins nach der Kulturhauptstadt? Stürmische Begeisterung ebenso wie kontroverse Diskussion. Große Namen neben unbekannteren Ensembles, Experimente von provokant gelungen bis arrogant daneben. Der erbrachte Beweis, dass das Werk Schillers – diesjährig im Mittelpunkt stehend – „Brücken in unsere Zeit schlägt“ und Schillers „Nachdenken über die Zunkunft…auch unsere Gegenwart erschließt“. Die Schiller-Adaptionen – u.a. Don Carlos, Kabale und Liebe und als würdiges Finale der radikal gekürzte Klassiker Maria Stuart – wurden durchweg mit Begeisterung aufgenommen. Einzig die Räuber stellten so manchen Zuschauer vor die Frage, ob die Inszenierung eher drastisch oder doch genial furios zu nennen war. Leserbriefschlachten in der Lokalzeitung gaben davon beredte Kunde. Worauf blicken wir noch zurück?

Auf einen grandiosen John Malkovich in einer eher behäbigen Inszenierung der Giacomo Variations. Auf einen experimentellen Ben Becker, der die vor Jahren mit Endstation Sehnsucht geschlagene Scharte auswetzte und düster melancholisch sein Publikum mit dem Todesduell von John Donne und den Elegien von Joseph Brodsky bannte und begeisterte. Becker, der nur eine Woche später gemeinsam mit David Bennent und der großartigen Angela Schmid in „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ einen weiteren Erfolg verbuchte. Nicht wenige feierten diese Inszenierung als die beste der Festspiele.

Kontroversen und Ablehnung dagegen bei „Paris, Texas“. Eine sehr frei assozierte Adaption nach dem Film von Wim Wenders. Comics und Pin-Ups auf der Bühne, schrill, laut und disharmonisch. Bis heute fragt sich so mancher, ob er nun eine Parodie verkannt oder doch einer Aneinanderreihung der Untugenden modernen Regietheaters beigewohnt habe.

Nicht unerwähnt bleiben sollten kleinere Juwelen wie der Chansonabend von Angela Winkler, die sich als Bühne für die Premiere ihres ersten Studio-Albums ausdrücklich die Recklinghäuser gewünscht hatte. Sowie die Lesungen, welche eine eigene, gute neue Tradition bilden. Weniger Resonanz hatte diesjährig das Fringe Festival. Je mehr es sich zum eigenständigen Festival entwickelt, desto mehr gerät es aber auch zum Nischenprogramm als zur gewünschten Einrahmung.

Fest steht, die Recklinghäuser lieben ihr Festival. Zu Recht sind sie nicht nur stolz auf das Programm, sondern auch auf die einzigartige Stimmung auf und um den Hügel. Die mit den Jahren sehr stimmungsvoll entwickelte Gastronomie trägt das Ihrige dazu bei, die rechte „A world stage“ Festival-Atmosphäre zu entwickeln.

Es war Frank Hoffmanns Anspruch, die Ruhrfestspiele 2011 mögen „in die Zeit gefallen“ wie „Schiller der Wirklichkeit ins Gesicht sehen“. Er selber sprach in abschließenden Worten leicht euphemistisch von „der neuen Recklinghäuser Diskussionskultur“, die Resonanz und die Kritiken gleichwohl gaben ihm Recht: Hoffmann ist seinem Anspruch gerecht geworden. Recklinghausen freut sich auf die Festspiele 2012.

( Zitate aus Frank Hoffmanns Vorwort im Booklet zu den Festspielen )




Kunst mit Trauerflor

Theatermacher tragen gerne schwarz. Wie Hohepriester im Dienste der Ästhetik. Manchmal wie Trauernde, weil das Haus oder eine Sparte kurz vor der Beerdigung steht. Wenn nun aber eine Bühne frohen Mutes den Blick auf die neue Spielzeit richtet, ein frisch inthronisierter Opernintendant Aufschwung, also in Zukunft einen vollen Saal verspricht, wo bisher oft erschreckend die Leere gähnte, sollten wir dann nicht ein buntes, Vorfreude weckendes Programmbuch erwarten dürfen?

In Dortmund ist mal wieder alles anders. Viel Schwarz, viel Weiß im 186 Seiten starken Konvolut der Premieren und Wiederaufnahmen. Purismus in sperriger Schrift, als ginge es um die Bilanz eines Buchhalters, nicht um farbige kulturelle Vielfalt. Porträtfotos des Leitungsteams, jedes für sich mau grau, mit Unschärfe spielend. Diese Macher wirken wie fahle Gestalten, die so neutral wie irgend möglich in die Kamera schauen.

Nichts gegen schwarz-weiße Optik. Manche Szenenfotos oder die Stillleben aus dem Organismus namens Orchester, im Innern des Buches, lassen geradezu aufatmen ob ihrer Lebendigkeit. Die Verwirrung aber bleibt. Was soll uns Trauerflor, wenn es um Kunst geht? Ist das, was mancher abschätzig als Hochkultur bezeichnet, am Ende?

Ach ja. Orange-Rot unterlegt sind die Namen der Sponsoren. Die Ritter (und Retter?) der vornehmen Gestalt im leuchtenden Spendiermantel – ein winziger Lichtblick im Reiche grafischer Tristesse. Geschaffen von xhoch4 design, München. So morbid veranlagt hätten wir uns die Bajuwaren gar nicht vorgestellt.

 




Meerjungfrauen und mongoloide Kinder: Eine postdramatische Theaterparodie

"Die Schauspielerin (Katharina Ley) reißt Josef Ackermann engagiert die Maske vom Gesicht. Foto: Thomas M. Jauk

"Die Schauspielerin (Katharina Ley) reißt Josef Ackermann engagiert die Maske vom Gesicht. Foto: Thomas M. Jauk

Auch wenn man als Dramatiker gerade einmal 30 Jahre alt ist, kann man dem Theaterbetrieb einmal so richtig den Zerrspiegel vorhalten. Genau das tut Autor Wolfram Lotz in seinem bereits mit dem Kleist-Förderpreis gekrönten Stück „Der große Marsch“, das nun bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen seine Uraufführung erlebte. Seine Thesen sind zwar nicht unbedingt originell, aber unterhaltsam und durchaus ungewöhnlich verpackt. Leider haben sie in der lahmen Inszenierung des Saarländischen Staatstheaters keine Chance.

Die Bühne (Florian Barth) ist eine Showbühne samt Treppe, gegeben wird Theater im Theater: Eine Schauspielerin (Katharina Ley) moderiert eine Revue, mit der das Theater beweisen will, wie kritisch und politisch es doch ist. Allzu schnell zeigt sich jedoch die ideologische Verbohrtheit der Theatermacher, die echte Sozialhilfeempfänger auf die Bühne zerren („Sie sind die Opfer der Gesellschaft!“) und in pseudokritischen Interviews Josef Ackermann und Arbeitgeberpräsident Hundt auf den Zahn fühlen. („Armut findet konkret statt in unserer Wirklichkeit!). Der erste Teil handelt also vom Scheitern dieses Ansatzes – am Ende liegt das Theater, wie die Regieanweisungen genussvoll schildern, in Trümmern, der Regisseur flieht, das Publikum verlangt sein Geld zurück.

Das tat das Recklinghäuser Publikum nun nicht, was vielleicht an der schönsten Szene des Abends liegt: Das üppige, für die Sozialhilfeempfänger gedachte Buffet („Sie armen Leute, jetzt nimmt jeder einen Gemüsebratling“) wurde vor der Pause für das Publikum freigegeben. Während „der Autor“ (Gertrud Kohl) aus seinen Regieanweisungen vorliest, dass sich das Publikum zögernd an die Buletten wagt, tut das Publikum eben dies. Regieanweisungen und Realität werden eins.

"Die Sozialhilfeempfänger" stehen schüchtern am Buffet, von dem sich am Ende das Publikum bedienen darf. Foto: Thomas M. Jauk

"Die Sozialhilfeempfänger" stehen schüchtern am Buffet, von dem sich am Ende das Publikum bedienen darf. Foto: Thomas M. Jauk

Und so erschien das Publikum zum dritten Teil nahezu vollzählig wieder und verfolgte nun von der Bühne aus, wie Lotz das Theater gerne hätte. Der Zerrspiegel war verschwunden, es ging nun um Visionen. Als Kronzeugen lässt Lotz unter anderen Prometheus und Anarchie-Theoretiker Bakunin auftreten sowie einen gelähmten Dichter und seine eigene Mutter. Nach Lotz’ romantischem Ideal agiert das Theater komplett autonom, befreit sogar von den Gesetzen der Schwerkraft oder der Sterblichkeit: Theater hat sich gefälligst nicht an der Realität zu orientieren. Fiktion muss die Wirklichkeit verändern!

In der zweitschönsten Szene des Abends erklärt ein engagiert-entrückter Prometheus (Klaus Meininger) der verzweifelten Moderatorin, wie man die Sterblichkeit abschaffen kann: „Wir müssen nur die Seegurke fragen!“ Das ist schön irre, das ist interessant – schließlich ist der Meeresbewohner tatsächlich potentiell unsterblich, doch die Schauspielerin dreht durch und stellt ihre Rolle in Frage, ganz im Stil von René Pollesch: „Ich muss hier einstehen für irgendwas, für das Theater muss ich hier immer einstehen!“

"Der Regisseur" (Georg Mitterstieler) im Kampf mit der Schlange, Symbol des Kapitalismus (Nina Schopka). Foto: Thomas M. Jauk

"Der Regisseur" (Georg Mitterstieler) im Kampf mit der Schlange, Symbol des Kapitalismus (Nina Schopka). Foto: Thomas M. Jauk

Schon die Liste der handelnden Personen macht klar: Dieses Stück kann nicht einfach abgespielt werden, es verlangt nach einer Regie, die sich alle Freiheiten nimmt. Lotz hat ein Stück postdramatisches Theater geschrieben und beim Schreiben wohl an Regisseure wie Frank Castorf (oder Pollesch) gedacht. Was er mit Regisseur Christoph Diem bekommen hat, ist das Gegenteil: Eine mutlose Inszenierung, die sich fast sklavisch an die Vorgaben hält und dort, wo es nicht geht, ins Theatralisch-Platte ausweicht. Statt der geforderten 50 singenden Meeres-Nymphen tritt stellvertretend eine attraktive Schauspielerin im Meerjungfrau-Kostüm auf, und wenn Lotz „21 mongoloide Kinder“ fordert, lässt Regisseur Diem tatsächlich das gesamte Ensemble samt Technikern dümmlich lächelnd herumlaufen. Am wenigsten bekommt dem Stück aber die unerträgliche Langsamkeit. Vor allem in den Dialogen fehlt Tempo, ganzen Szenen mangelt der Schwung.

Das alles ist fatal. Denn Lotz’ wichtigste Botschaft – das Theater erschaffe seine eigene Welt – ist nicht so tiefschürfend und kompliziert, dass man sie dem Zuschauer einhämmern müsste (was die Inszenierung mit einem Chor im Epilog tatsächlich tut!). Am Ende entsteht also genau die Art von Theater, gegen die Wolfram Lotz mit „Der große Marsch“ angeschrieben hat.

(Der Artikel ist aus dem Westfälischen Anzeiger).




Theater fressen Texte auf – eine Polemik

Besser wär’s vielleicht, man ließe die Finger vom Thema. Denn hierbei gerät man ganz leicht in die Nähe der rituell ratternden Empörungs- und Skandalisierungs-Mechanismen der Boulevardpresse. Aber sei’s drum:

Beruflich bedingt, bin ich früher öfter ins Theater gegangen, meist in NRW, gelegentlich darüber hinaus. Jetzt muss ich dieser Pflicht nicht mehr nachkommen, sondern darf aus freien Stücken wählen. Und was soll ich sagen? Ich gehe kaum noch hin. Mir fehlt wenig. Ich vermisse das landesübliche Treiben auf den Bühnen nicht allzu sehr. Nur selten stellt sich ein kleiner Phantomschmerz des Verlustes ein. Alle anderen Kultursparten liegen mir inzwischen näher, fürchte ich.

Warum ist das wohl so?

Ich zitiere: „…was ich am langweiligsten finde: dass sich die jungen Regisseure heute so als Erfinder aufspielen. Die schreiben ihre eigenen schlechten Texte in die Stücke hinein. Das ist so blöde und eigentlich eine Frechheit. Wir sind, jedenfalls im Theater, in einem kulturellen Tief…“

Die vorigen Sätze stammen aus André Müllers Interview mit den Theaterregisseur Luc Bondy, das die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung kürzlich (am 4. Juli) abgedruckt hat. Bondy, dieser wundervolle Theatermann, spricht mir aus dem Herzen, auch mit diesem Nachsatz: „…weil die Regisseure, um die Kritiker zu beeindrucken, dauernd interpretieren und irgendwelche Ideen haben, was ich grauenvoll finde.“

Die Welt in Blut
und Sperma tauchen

Gewiss: Man hat im Laufe der Jahre etliche, durchaus beglückende Inszenierungen mit grandiosen Menschendarstellern sehen dürfen, so auch just von Bondy oder von Andrea Breth und einigen anderen.

Doch allzu oft musste man wahren Orgien beiwohnen, die mit den jeweiligen Stücken kaum noch zu tun hatten, sondern nur mit den weit überschießenden, elend selbstgefälligen Kopfgeburten der jeweiligen Regisseure. Das „Überschießen“ war häufig recht wörtlich zu nehmen, handelte es sich doch vielfach um weltverachtendes „Spritztheater“ mit allerlei sexuellen Abweichungen, mit Blut, Schweiß, Tränen, Kotze, Kot, Pisse und Sperma. Menschen, die sich jederzeit wohlfeil übers Ekelfernsehen der Privatstationen aufregen würden, produzieren haufenweise Ekeldramaturgie.

Denn eins gilt ja gemeinhin als ausgemacht: Der ekle Zustand von Welt und Gesellschaft lässt sich längst nicht mehr beschönigen. Und also wird man als Zuschauer ins Wechselbad getaucht: Mal werden Stücke haltlos verjuxt oder – noch weitaus häufiger – in ausweglose Depression getrieben. Immer aber: gründlichst „umgedeutet“ und (oh, Hasswort!) „entstaubt“; ganz so, als wären etwa Schiller und Kleist nur noch staubige Gesellen.

Die Texte, ob nun klassischer oder neuerer Machart, werden (falls nicht ohnehin rabiat gekürzt) gern nur noch achtlos genuschelt, ja vor die Kartenkäufer hingerotzt. Mögliches Motto der permanenten Publikumsverachtung: „Da habt’er euern Scheißtext. Seht doch zu, was ihr damit anfangt, ihr ***“ Dabei haben sich solche „Provokationen“ doch längst erledigt. Es gibt keine Tabus mehr.

Selbstverwirklichung
der Regisseure

Wie viele hundert Stunden hat man damit verbracht, der rücksichtslosen Selbstverwirklichung halbgarer Regie-„Talente“ zuzuschauen; quälend langwierig mitunter schon an einem Abend, auf Dauer besehen ein ruchloser Raub an Lebenszeit. Häufig hat man diese kulturförmigen Maßnahmen nur noch „abgesessen“. Saison für Saison ein anschwellender Verdruss.

Irgendwann war‘s dann so weit: Man hat verschämt dem vormals als naiv belächelten und in der Theaterszene flugs „erledigten“ Hamburger Ex-Bürgermeister Klaus von Dohnányi beipflichten können, der „seine“ Klassiker hat wiedererkennen wollen. Es ist stets problematisch, wenn sich Politiker in solche Belange einmischen. Auch mag der Hanseat seinen Einwurf ungeschickt und schon gar nicht szenekompatibel formuliert haben, doch hatte er deswegen völlig unrecht?

Außerdem ist er keineswegs allein geblieben mit seiner Auffassung – und wir reden hier nicht von so genannten „Spießern“. Luc Bondy habe ich bereits erwähnt. Doch auch sonst mehren sich die gewichtigen, sachkundigen Stimmen, die mit allfälligen Auswüchsen des so genannten „Regietheaters“ harsch ins Gericht gehen – aus wechselnden Motiven und Perspektiven, doch letztlich mit ähnlicher Stoßrichtung.

Seit etlichen Jahren führt beispielsweise der FAZ-Theaterkritiker Gerhard Stadelmaier scharfzüngige Gefechte wider die vermeintlichen „Tabubrüche“ auf deutschen Bühnen. In letzter Zeit haben Schriftsteller wie Daniel Kehlmann (zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 2009) und Sibylle Lewitscharoff (im Rahmen der „Hamburger Begegnung, Mai 2010) gegen die Anmaßungen so mancher Theaterleute gewettert.

Statt Wilhelm Tell ein
Onanist in Nazi-Uniform

Im Magazin der Süddeutschen Zeitung schrieb der Journalist und Autor Rudolph Chimelli, er hätte gern einige Jahrzehnte früher gelebt, denn dann hätte er „Opern sehen können, wie deren Komponisten sie sich gedacht hatten, nicht so, wie Regisseure, die auf Originalität versessen sind, sie heute inszenieren. Im Theater hätte ich nicht erleben müssen, dass, wenn ich eigentlich den Reden Wilhelm Tells oder Hamlets lauschen wollte, der Herausgeber der Wochenzeitung ,Der Stürmer‘ Julius Streicher auf der Bühne onaniert.“

Dass solche Äußerungen des Unmuts und Überdrusses ebenso angreifbar sind wie dieser Beitrag, steht außer Zweifel. Aber sie sollten diskussionswürdig sein und nicht einfach mit Abwehrreflexen abgetan werden. Damit, dass Theaterleute immer gleich ihre Freiheit(en) bedroht sehen, ist es nicht getan.

Das „Regietheater“, das sich mit zuweilen zerstörerischer Lust und Gier über Texte (und deren Autoren) hermacht, ist vorwiegend eine deutsche Spezialität. Die Ausarbeitung der Frage, ob dies auch mit den (im internationalen Vergleich) immer noch ordentlichen Subventionen zu tun haben könnte, schenken wir uns hier. Wer kaum finanzielle Risiken eingeht, kann ja inhaltlich ganz anders zulangen (was im Gegensatz zum reinen Kommerz auch zu preisen ist).

Holzschnitthaft gesagt: Nach allem, was man so weiß, wird Theater weltweit meistens texttreuer, braver, oft auch gravitätischer und ehrfürchtiger gespielt. Natürlich hat der beherzte, unkonventionelle Zugriff des Regietheaters unendlich viel zutage gefördert, den Texten verborgene Reichtümer bzw. Geheimnisse entrissen oder (in den schönsten Fällen) abgelauscht. Wer das bestritte, der wäre nicht im Bilde.

Doch wer zählt die Fälle, in denen minder begabte Theaterkräfte die Textvorlagen sinnlos zerfetzt und zertrümmert haben? Mit gelindem Schrecken sei’s geflüstert: Da wünscht man sich sogar hie und da, es möge wieder mehr „vom Blatt“ gespielt werden.




Den Unmut erst am Schluss bekunden – Benimm-Experte Uwe Fenner über richtiges Verhalten in Oper, Theater und Konzert

Von Bernd Berke

Dortmund. Einen „Knigge“ für Theater und Oper – gibt es das überhaupt noch? Oder darf man sich heutzutage in allen Bühnenhäusern ganz leger betragen? Nicht schrankenlos, sagt der Benimm-Experte Uwe Fenner (65), mit dem die WR gesprochen hat. Wir protokollieren seine Ratschläge:

Wie sieht die „Kleiderordnung“ für die Oper aus?

Fenner unterscheidet nach Ort und Anlass. In der Münchner Staatsoper beispielsweise, „wo 90 Prozent der Männer Smoking tragen“, solle man sich möglichst anpassen. „Ein dunkler Anzug mit Krawatte ist das Mindeste.“ In anderen Opernhäusern, etwa in Berlin, seien die Sitten nicht ganz so streng. Doch auch hier sei ein Anzug ratsam. Faustregel: „Der wahre Gentleman bewegt sich immer etwas oberhalb des Durchschnitts – aber auch nicht zu sehr.“ Gleiches gelte für die Dame von Welt.

Und was darf man im Sprechtheater anziehen?

Hier sind die Stil-Maßstäbe sehr viel lockerer. Das Publikum ist meist jünger als in der Oper, Jeans können statthaft sein. Aber: „Der Banker in mittleren Jahren, der abends ins Theater geht, sollte dort den Anzug beibehalten – gelegentlich auch einmal ohne Krawatte.“

Was ist von tiefen Dekolletés zu halten?

Besonders in der großen Oper sind derlei Einblicke laut Fenner „durchaus in Ordnung“. Die Grenze liege dort, wo es schamlos und obszön werde. Angela Merkels seinerzeit viel beredeter tiefer Ausschnitt in der Oper von Oslo sei durchaus schicklich gewesen.

Wie verhält es sich mit der Parfümierung?

Die Dame, so Fenner, dürfe getrost mehr auflegen, der Herr solle dezent vorgehen.

Wie pünktlich sollte man zur Vorstellung erscheinen?

Nicht zu früh im Zuschauerraum sein, sonst muss man nachher ständig für die Anderen aufstehen – und das könnte denen womöglich peinlich sein. Fenner: „Das ist überhaupt eine Grundregel: Man sollte anderen Menschen Peinlichkeiten ersparen.“ Erst recht aber soll man nicht zu spät kommen. Falls man einen Platz in der Mitte hat, müssen dann viele Leute aufstehen. Allgemein gilt: Wer durch eine weitgehend besetzte Zuschauerreihe geht, soll seinen Mitmenschen dabei das Gesicht zuwenden. Anders herum betrachtet: „Den Po zur Bühne.“

Und wenn die Vorstellung schon begonnen hat?

Wer erst eintrifft, wenn die Aufführung läuft, sollte möglichst bis zur ersten Pause im Foyer warten oder (wenn die Logenschließer es zulassen) allenfalls den Zuschauerraum leise betreten und an der Seite stehen bleiben – sich aber nicht durch die Reihe quälen.

Wie sieht’s mit Speisen und Getränken aus?

Grundsätzlich nicht im Zuschauerraum. Zum Essen und Trinken sind die Pausen vorgesehen. Auch Kaugummi sei tabu. Erlaubt und manchmal sogar wünschenswert: Hustenbonbons.

Was ist vom Tuscheln in der Vorstellung zu halten?

Gar nichts. Fenner: „Meine Meinungen und Mitteilungen sollte ich bis zur Pause für mich behalten.“ Und wenn man Bekannte hinten in Reihe 18 grüßen will? Nur vor der Vorstellung: Nicht rufen, sondern winken – und mit Handzeichen zur Pause verabreden.

Sind Beifall oder Buhrufe auf offener Szene erlaubt?

Im klassischen Konzert gar nicht. Da sollte man warten, bis das Stück vorüber ist. Also: Nicht zwischen zwei Sätzen einer Sinfonie jubeln! Anders in der Oper: Dort ist es üblich, nach einer bravourösen Arie Beifall zu spenden. Etwaigen Unmut sollte man immer erst nach Schluss der Aufführung äußern. Wenn der Vorhang gefallen ist, darf auch gebuht werden. Fenners extremste Erfahrung: „Einmal hat im Theater eine ältere Dame neben mir gesessen, die hatte eine Trillerpfeife dabei – und hat sie benutzt.“

Wann darf man das Theater verlassen?

Nicht bevor der letzte Beifall verklungen ist, meint Uwe Fenner. Es sei eine Unart, sich vorzeitig durch die Reihen hinauszuzwängen, um rasch die Garderobe oder den Parkplatz zu erreichen.

Wie geht man im Theater mit Handys um?

Überhaupt nicht! Unbedingt ausschalten! „Kluge Intendanten blenden vor der Aufführung ein Dia oder eine Durchsage ein, damit niemand das Abschalten vergisst.“

________________________________________________

ZUR PERSON

Stil-Fachmann in Dortmund aufgewachsen

  • Der Benimm-Experte Uwe Fenner wurde 1943 in Waren/Müritz (Mecklenburg) geboren.
  • Er ist Mitinhaber einer Firma für Karriereberatung in Potsdam, die sich u. a. auch mit Stil- und Benimmfragen befasst.
  • Fenner ist in Dortmund aufgewachsen und hat hier sein Abitur gemacht. In München, Bochum und Münster studierte er Jura. Zeitweise war er später als Personalberater in Dortmund tätig.
  • Internet: www.institut-fuer-stil-und-etikette.de



Mozart, Goethe – und was noch? Die Statistik des Deutschen Bühnenvereins

Wie oft hebt sich in Deutschland jährlich ein Theatervorhang? Wie viele einzelne Vorstellungen stehen wohl auf dem Programm? Fünftausend? Oder gar zehntausend? Doch nicht etwa zwanzigtausend?

Immer noch weit gefehlt: Es sind über hunderttausend Vorstellungen, in Ziffern: 100 000. Diese wahrhaft imposante Zahl geht aus der Statistik hervor, die der Deutsche Bühnenverein (Köln) in jeder Spielzeit getreulich führt.

Für die Saison 2006/2007 (neuere Zahlen liegen nicht vor) heißt das exakt: 98 712 Vorstellungen in Oper und Sprechtheater, dazu 3961 Aufführungen im Tanztheater. Macht insgesamt 102 673 und hört sich nach Kulturnation an. Inbegriffen sind übrigens alle Staats-, Stadt- und Landestheater sowie die meisten Privat- und Tourneebühnen mit eigenen Produktionen. Und tatsächlich gibt es ja kein anderes Land auf der Welt, das sich so viele Spielstätten leistet. Immer noch – trotz aller etwaigen Sparmaßnahmen.

Der Eindruck einer immensen Vielfalt relativiert sich allerdings ein wenig, wenn man sich anschaut, welche Stücke und Autoren am häufigsten gespielt werden. Es sind sozusagen stets die „üblichen Verdächtigen“. Im Musiktheater liegt demnach erwartungsgemäß Mozarts „Zauberflöte“ vorn (55 Inszenierungen mit fast 350 000 Zuschauern), im Sprechtheater Goethes „Faust“ (46 Inszenierungen mit etwas über 215 000 Zuschauern). Keine Experimente also. Das gute alte „Bildungsgut“ rangiert dauerhaft ganz oben. Es schmückt ja auch seit Generationen ungemein.

Gerade in der Oper ist das Publikum eher gediegen und nicht mehr so jung an Jahren. Das begünstigt offenbar vorsichtig abgewogene, geradezu konservative Spielpläne. So kommen gleich hinter der „Zauberflöte“ diese allzeit gängigen Werke auf die höchsten Ränge: Humperdincks „Hänsel und Gretel“, Mozarts „Hochzeit des Figaro“, Bizets „Carmen“, Puccinis „La Bohème“, Mozarts „Don Giovanni“, Webers „Freischütz“, Puccinis „Tosca“, Mozarts „Cosi fan tutte“ und Verdis „La Traviata“. Mozart ist mithin Meister aller Klassen. Er tut ja auch niemandem weh.

Die Tendenz verwundert nicht: Bevorzugt wird das Leichtere, das Schwungvolle bis Schmissige, gemieden hingegen das Schwerblütige oder gar Experimentelle. Übrigens taucht auch ein Gigant wie Richard Wagner (mit „Das Rheingold“) erst auf Platz 14 auf. Da kann man sich ungefähr vorstellen, welch ein schwieriger Balanceakt es ist, mit dem Spielplan das beharrliche Publikums-Interesse zu bedienen und dennoch gelegentlich Neues zu wagen.

Im Schauspiel ist das Publikum tendenziell jünger und wahrscheinlich etwas aufgeschlossener. Dennoch halten sich auch hier die erprobten Klassiker. Hinter dem „Faust“ folgen Shakespeares „Sommernachtstraum“ und Schillers Ränkespiele in „Kabale und Liebe“. Die Reihenfolge hätte vor 20 oder 40 Jahren ähnlich lauten können. Sie schmeckt etwas nach althergebrachtem Schulpensum.

Immerhin verzeichnet die Bühnen-Statistik einen spürbaren Anstieg der Ur- und Erstaufführungen. Auch davon zehren die Theater, es verschafft ihnen zumindest in der Branche einen guten Ruf, wenn auch meist keine sonderlich hohen Zuschauerzahlen. 534 bis dato nicht in Deutschland aufgeführte Werke kamen jedenfalls neu heraus. Das waren fast 16 Prozent mehr als in der Spielzeit zuvor. Und vielleicht gibt es ja irgendwann ein paar Gegenwartsstücke, die in die Spitzengruppe vorstoßen.




Die Minute, da wir explodierten – Ein Fußball-Länderspiel zwischen religiöser Erwartung, Königsdrama und Farce

Von Bernd Berke

Dortmund. Die Kollegen der Sportredaktion haben ihre Teil getan, nun darf auch noch das Feuilleton ‚ran. Denn natürlich ist ein Fußball-Länderspiel, wie jetzt Deutschland – USA in Dortmund, letztlich auch ein geballtes Kulturereignis. Bei der WM werden wir’s sogar multi-kulturell erleben.

Man denke nur ans ganze Drumherum, an die vielen Rituale: vom eher pflichtschuldigen Absingen der Nationalhymnen bis zur permanenten chorischen Begleitung durch die Fans; von der mitunter opernhaften Arena-Situation (mit Vorläufern wie dem griechischen Amphitheater oder dem römischen Colosseum) bis hin zur sprachlichen Bewältigung des Geschehens durch Spieler, Trainer und Journalisten.

Sodann die Spielchen mit den historisch überkommenen National-Klischees („Die Amis“, „Die Urus“ usw.), stets frisch aktualisiert durch die Typengalerie der jetzigen Mannschaften.

Überdies wabert ein ständiges Krisengerede, welches Theater und Literatur seit Hunderten von Jahren begleitet – warum also nicht auch den vergleichsweise blutjungen Fußball? Vom Glauben an Mythos und Magie (wieder weiße statt rote Hemden = erhöhte Siegchance) ganz zu schweigen. Das Spektrum großer Spiele liegt denn auch irgendwo zwischen quasi-religiösen Erwartungen, Shakespeares schroffen Königsdramen und einer grotesken Farce.

In Dortmund gibt’s fürs Nationalteam offenbar kein Verlieren. 4:1 ging es bekanntlich aus, rein rechnerisch also die exakte „Wiedergutmachung“ fürs Florentiner Italien-Debakel. Lange blieb’s freilich abermals ideenlos und uninspiriert, so ganz und gar nicht künstlerisch. Schmerzlich yermisste man die Leichtigkeit des Seins, die ein Fußball-Ensemble hervorbringen kann und die Deutschlands Sache oft nicht ist, was wiederum gern mit der gesamten Befindlichkeit des Landes kurzgeschlossen wird. Fußball als Staatsaffäre, deren Akteure sich oft furchtbar ernst nehmen.

Kein Wunder, wenn die Jungs auf dem Spielfeld verkrampfen. Doch diesmal, vor allem aber der 73. Minute, „sind wir explodiert“ (O-Ton Oliver Kahn), und es gab auf einmal die gute alte Katharsis, sprich: die befreiende Reinigung vom Übel. Das waren endlich ein paar schöne, ästhetisch befriedigende Momente.

Wie sonnig geht’s doch in derlei Erfolgsfällen beim ZDF zu: „Analysen“, wie sie Franz Beckenbauer und Johannes B. Kerner liefern, brächte wohl jeder bessere Stammtisch zu- stande. Doch es ist nahezu pervers: Irgendwie giert man ja selbst masochistisch nach dem öligen Palaver von „Kaiser Franz“ oder auch nach den eher barschen Urteilen von Günter Netzer bei der ARD. Selbst ein „Literaturpapst“ wie Marcel Reich-Ranicki dürfte seine Freude daran haben. Und Harald Schmidt sowieso.

Zum Ritus gehört auch das Erscheinen des Bundestrainers, der traditionell Rede und Antwort stehen muss. Jetzt lacht er wieder, der „Klinsi“. War es etwa nicht amüsant, wie beflissen der Regisseur Klinsmann neben dem Generalintendanten (Beckenbauer) stand; wie er diesmal „die Herren Medien“ geißelte oder wie er den „Abnutzungskampf“ beschwor? Goldig auch sein Satz über die der letzten Tage vor dem Match: „Wer mich kennt, hat mich nach wie vor lächeln gesehen.“ Wahrscheinlich war’s daheim im Keller.




Heilige in einer Gesellschaft der Eitelkeiten – Schillers „Jungfrau von Orleans“ in Essen

Von Bernd Berke

Ein paar Luftschlangen liegen noch herum, und manche Leute tragen noch Pappnasen. Doch jetzt ist erst mal Schluss mit lustig. Vorläufiges Ende der Spaßgesellschaft. Der übermächtige Feind steht vor den Toren der Stadt. Und so lange diese Bedrohung währt, müssen für eine gewisse Zeit wieder mal eherne Werte und Wunderglaube her. Dies ist die Stunde der „Johanna von Orleans“.

Volker Schmalöer inszeniert Friedrich Schillers Drama im Essener Schauspielhaus textnah und dennoch zeitgemäß. Geschickt hat er gekürzt und zugespitzt, doch nicht verfälscht. Der Regisseur hat einen seltsamen Datums-Zufall erkannt: Das Stück wurde am 11. September 1801 uraufgeführt, auf den Tag genau 200 Jahre vor den Terroranschlägen in den USA. Ist es bloße Zahlen-Mystik?

Manche Menschen glauben ja, es gebe keine Zufälle, sondern nur Fügungen. Und sieht sich jene Johanna etwa nicht als (christliche) „Gotteskriegerin“ im vermeintlich geheiligten Kampfe? Neuerdings hören wir ja, dass Selbstmordattentäter wähnen, im Jenseits von Jungfrauen empfangen zu werden…

Johanna dient nur noch als Maskottchen

„Gott und die Jungfrau!“ rufen die Höflinge des verzärtelten Franzosenkönigs Karl VII. (Maximilian Giermann) immer wieder. Das Hirtenmädchen Johanna, beseelt von „höherer-Sendung“, hat das Schlachtengeschick gewendet und Orleans vor englischer Besatzung bewahrt. Nun feiert man sie im Lorbeerkranze.

Die Festtafel für den satten und so faulen Frieden ist gedeckt. Die höfische Gesellschaft sonnt sich im gleißenden Blitzlichtgewitter. Mit hohl tönenden Phrasen und gravitätischen Posen wie fürs Geschichtsbuch spielen sie sich allesamt als Sieger auf. Johanna dient ihnen nur noch als Emblem, ja als Maskottchen. Diese Gesellschaft pfeift auf jede „Heiligkeit“. Selbst die scheinbar weihevollen Momente gleiten alsbald in süßliche Schlagerseligkeit („Ganz Paris träumt von der Liebe“) hinüber. Schon singen sie, als sei nichts geschehen.

Die Bagage, über der schon der Pleitegeier kreist, will rasch zurück zu ihren frivolen Späßen, zurück zum bodenlosen Luxus. Als wär’s ein Stück von heute. Sehr prägnant zeigt sich, wie Johanna (Strahlpunkt eines fast durchweg beachtlichen Ensembles: Sabine Osthoff) an dieser profanen, taktierenden und lavierenden Welt der kurzlebigen Zweckbündnisse zerbricht. Sie bleibt dabei eine durchaus zwiespältige Figur: Sichtbar wird ihre Größe, aber auch ihre tragische Lächerlichkeit in diesem Umfeld. Und auch sie selbst scheint ein wenig angekränkelt von Eitelkeit. Zumindest zeitweise gibt sie der Versuchung nach, sich auf den Glorienschild heben zu lassen. Da klingen manche ihrer martialischen Sätze nicht mehr inbrünstig, sondern nur noch blechern.

Der eigene Vater denunziert die Tochter als „Hexe“

Doch dann berührt es einen zutiefst, wenn Johanna dem Liebesblick von Lionel (Steffen Gangloff) erliegt, gleichsam ihre jungfräuliche Engelskraft verliert und ihr kämpferisches Aufstampfen danach zur trotzigen Groteske gerät. Ganz so, als sei mit der himmlischen Erleuchtung denn doch eine entscheidende Sinnquelle verlorenen gegangen.

Als „Hexe“ denunziert wird Johanna vom eigenen Vater (Volkert Matzen). Er kann offenbar nicht ertragen, dass sie sich der patriarchalen Verfügungsgewalt entziehen wollte. Zum Schluss legt er, anders, als im Original, selbst Hand an und schminkt ihr Gesicht weiß. Ein leiser, fast unmerklicher Tod, fernab von den Schlachtfeldern. Dann die Verklärung: Auf einem Podest fährt die sterbende Johanna aufwärts. Doch diese Erhebung ist nur ein Produkt der Mechanik. Woran sollen wir noch glauben?

Termine: 19. April, 5., 30. Mai. Karten: 0201/81 22-200




Wie das Theater das Leben abgrast – Pirandellos „Sechs Personen suchen einen Autor“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Wundersamer Raum: Eine Treppe führt bis in die tiefste Bühnentiefe. Und nicht nur der eine übliche rote Vorhang öffnet sich zum Zuschauerraum hin, sondern es wallen drei weitere: vorn, in der Mitte und ganz hinten. In Dimiter Gotscheffs Bochumer Inszenierung ist dies der sinnfällige Illusions-Ort für Luigi Pirandellos Stück „Sechs Personen suchen einen Autor“; ein Ort, der den irritierend vielen Ebenen des Textes ideal entspricht.

Das 1921 entstandene Stück, von heute aus betrachtet gleichsam ein Leitfossil avantgardistischer Dramatik, stellt die Mittel des Theaters infrage, allerdings nicht trocken theoretisch, sondern eben durchaus „theatralisch“ und handlungssatt.

Besagte sechs Personen (Vater. Mutter, Stieftochter und drei weitere Kinder) platzen aus dem vermeintlich „realen“ Leben, das ja vom schmerzlich vermissten Autor erfunden wurde, mitten in eine Theaterprobe hinein. Der Vater (Heiner Stadelmann) verlangt, dass sich ihrer aller Schicksal (der böse Bann eines inzestuösen Familien-Skandals) auf der Bühne verwirklichen und klärend vollziehen soll.

Der Regisseur und die Schauspieler schwanken zwischen Hohn und Verwirrung. Dann aber versuchen sie, das Leben nachzuahmen – ein unmögliches Unterfangen, wie sich zeigt. Am Ende weiß man, wie zeichen- und skizzenhaft Theater die Realität notgedrungen abbildet. Doch auch dem sogenannten wirklichen Leben und seinen Maskierungen traut man nicht mehr so recht. Ist denn alles nur Trug?

Bemerkenswertes Gefühl für den Raum

Diese Schauspieler-Schar ist aber auch gar verkünstelt, verzärtelt, überaus geziert und lebensfern ins eigene Metier eingesponnen. Wie wollen sie das Leben begreifen? Lächerlich eifrig sind sie ihrem Regisseur (vom „Betrieb“ genervt: Matthias Leja) allzeit zu Diensten. Wie groteske Figurinen stolzieren und staksen sie einher. Obgleich grundsätzlich von Ernst getragen, hat die Aufführung nicht nur hier ihre komischen Momente.

Im eingangs erwähnten Bühnenbild von Achim Römer entwickelt die Inszenierung zudem ein bemerkenswert differenziertes Raum-Gefühl. Bestimmt kann Dimiter Gotscheff für jede Sequenz, ja für jede jede Sekunde schlüssig begründen, warum die Figuren-Gruppen so und nicht anders stehen, warum sie sich hier miteinander mischen, dort aber auf Distanz zueinander gehen. Schon dies, für sich genommen, ist ein ästhetischer Genuss. Und man erlebt eine durchweg lobenswerte Ensemble-Leistung, aus der – mit ihrer unerhörten Präsenz – allenfalls Henriette Thieme als Mutter noch ein Stückchen heraus ragt.

Ein Kitzel in der Magengrube

Ein Abend, der zum Nachdenken übers Theater zwingt: Er handelt davon, wie die Bühne das Leben aussaugt oder sozusagen restlos abgrast; wie sie das Chaos der oft schmutzigen Realität in ach so reine Kunstanstrengung überführt, ja, wie sie sich am Leiden weidet. „Großartig“, ruft der sonst so übersättigte Regisseur immer dann ganz verzückt, wenn besonders bühnenträchtig gelitten wird. Was zählt da noch die Wahrheit, wenn man den grellen Effekt haben kann?

In einer grandiosen Szene holt Gotscheff das Chaos des ungestalteten Lebens auf die Bühne. Tatsächlich: Plötzlich gerät die ganze Szenerie gleichsam ins Rutschen und stürzt in eine kakophon untermalte, allgemeine Verwirrung hinein. Der Zusammenprall von Kunst und Leben erzeugt einen irren, ratlosen Taumel. Diese Idee überzeugt ebenso wie die fragilen, geradezu gläsernen Momente der Inszenierung, in denen man all die Untiefen zwischen Sein und Schein als Kitzel in der Magengrube zu spüren meint.

Termine: 15. April, 8., 9., 17. bis 21. Mai tägl. Karten: 0234/ 3333-111.




Zum Tod von Ulrich Wildgruber: Ein Berserker, der uns sprachlos machte

Welch ein tragisches, nahezu theatralisches Ende: Einsam aufgefunden am Strand von Westerland auf Sylt, mit verwehtem Sand bedeckt. Nur einen Rucksack hatte er bei sich, darin steckten Geld und persönliche Papiere. Höchstwahrscheinlich hat der seit langem herzkranke Schauspieler Ulrich Wildgruber den Freitod gewählt.

Der Flensburger Staatsanwalt Helmut Kanzler kleidete es gestern in die Sprache der Behörden: „Wir wissen, dass er suizidale Absichten hatte“. Später bestätigte er die Existenz eines Abschiedsbriefes, den Wildgruber seiner Lebensgefährtin, der Schauspielerin Martina Gedeck, in Berlin hinterlassen habe.

Die Berliner Schaubühne ließ verlauten, man habe keine Depressionen bei dem 62jährigen bemerkt. Seine Bühnenpartnerin Eva Mattes meinte, Wildgruber sei zuletzt sehr erschöpft gewesen.

Über die Hintergründe wissen wir also nichts Genaues. Aber eins ist wahr: Wir sind traurig. Der Kritiker Gerhard Stadelmaier hat Wildgruber den einzigen wirklich revolutionären Darsteller genannt, den dieses Land nach dem Kriege hervorgebracht habe.

In der Tat ist er ein Berserker, ein machtvoller Anti-Schauspieler gewesen. Die Bühne betrat er nicht einfach, sondern er stürmte, fegte, watschelte fahrig darüber hinweg, offenbar ziellos gegen imaginäre Begrenzungen anrennend, mit wirrem Haar und glühendem Blick, so dass man erschrak. Er schien geistig so abwesend und war doch grellwach, war sofort leibhaftig ganz und gar da.

Nach herkömmlichem Verständnis konnte er weder artikuliert sprechen noch differenziert spielen. Viele Figuren überwältigte er auf gleiche Weise, das übliche Handwerk verweigernd: feist, schwitzend, nuschelnd, die Worte achtlos hinwerfend. Doch er zerbröselte Rollen und Texte so, dass in der Asche oft etwas Tieferes aufglomm: dunkelste Triebkräfte des Seins und Handelns. Dieses Wunder bewirkt man nicht mit traditioneller Deklamation. Das Brecht-Wort „Glotzt nicht so romantisch!“ hätte als Motto zu Wildgrubers Tun gepasst. Was er anfasste, wusste er zu verfremden. In seine Charaktere konnte man sich nicht „einfühlen“, man sah sich ihnen sprachlos gegenüber.

Wildgruber hat auch mit Regisseuren wie Hans Neuenfels, Claus Peymann und Peter Stein gearbeitet. Doch auf einen solch monströsen, in den 70er Jahren bitter notwendigen Stückezerstäuber hatte vor allem Peter Zadek gewartet: 1974 spielte Wildgruber bei ihm Shakespeares König Lear, 1977 den „Hamlet“ – beides in Bochum, beides unvergessen. 1976 war er der Hamburger „Othello“, ein „Mohr“, dessen schwarze Schminke nach und nach zerfloss und auf andere Figuren abfärbte.

Enzensbergers „Menschenfeind“ (nach Molière, 1979), Bernhards „Theatermacher“ (1990) Becketts Krapp in und „Das letzte Band“ (1997) waren weitere prägende Rollen. Jüngst spielte er in Zadeks „Hamlet“ an der Berliner Schaubühne (Titelrolle: Angela Winkler) den Polonius.

Seine wüste, tapsige, gelegentlich unsagbar komisch wirkende Körperlichkeit (ein „Riesenkind“ nannten ihn viele) trieb unverhofft gläsern zarte Nuancen hervor. Dann konnte er schwerelos über die Bretter tänzeln und geradezu durchsichtig wirken.

Der am 18. November 1937 in Bielefeld geborene Wildgruber lief auch biographisch kreuz und quer. Kurz vor dem Abi verließ er die Schule, hernach wich er von vorgezeichneten Wegen ab – bis er ans Wiener Reinhardt-Seminar kam. Seine Mitstudenten hießen Franz Xaver Kroetz, Hans Neuenfels, Elisabeth Trissenaar und Libgart Schwarz. Ein legendärer Jahrgang.

                                                                                                                           Bernd Berke

 




Die Unlust der Theatermacher am eigenen Handwerk – Regisseure Langhoff, Castorf und Haußmann schimpfen drauflos

Von Bernd Berke

Was ist nur mit den Regisseuren los? In den letzten Tagen schimpfen sie wie die Rohrspatzen aufs Theater.

Den Anfang machte Matthias Langhoff, der nach Jahren in Paris für eine Gastinszenierung nach Berlin zurückkehrte und dort offenbar einen Kulturschock erlitt. Im deutschen Theater langweile er sich fast immer, barmt Langhoff im „Zeit“-Interview. ?

Erstarrte Strukturen, Cliquenwirtschaft, überzogene Kunstansprüche, unter denen jede Lebendigkeit verschüttet werde. So lautet, in den Grundzügen, seine Diagnose. Überhaupt muss man das ganze Bühnenelend offenbar eher medizinisch betrachten. „Im Grunde ist Theatermachen ja eine Krankheit“, meint Langhoff. Und das Zuschauen? Erst recht. „Ich glaube, dass jeder, der mehr als zweimal im Jahr ins Theater geht, irgendwie einen Defekt hat.“

Gleich morgen werden wir uns in Behandlung begeben. Doch zuvor lassen wir uns noch einmal aufs wilde Denken von Leander Haußmann und Frank Castorf ein, die jüngst bei einer Diskussion in Bochum (die WR berichtete) ins gleiche Horn stießen. Der Berliner Volksbühnen-Chef Castorf geht nicht mehr ins Theater, „weil ich mich dort nur noch langweile“, und Bochums Noch-Intendant Haußmann findet, „dass nur noch Idioten Theater machen dürfen“. Ähnlich wie Langhoff fühlt er sich im Kino weitaus wohler.

Nun gut. Die Theaterkrise dauert eh seit über 2000 Jahren an, immer wieder wurde sie herbeigeredet, es hat wohl schon bei den alten Griechen begonnen. Außerdem gibt’s derlei Überdruss in jedem Beruf. Der Arbeiter mosert über die Fabrik, der Angestellte übers Büro, der Lehrer über die Schule, der Journalist übers Rundfunk- oder Zeitungswesen. Doch meist tun sie’s unter sich und behelligen nicht gleich die Öffentlichkeit damit.

Dass die üble Laune einiger Theatermacher sich zudem in pauschaler Medien- und Publikumsschelte entlädt, macht die Sache gewiss nicht besser. Man stelle sich einmal vor, die Bosse von VW, Opel, BMW oder Daimler hielten ihre Produkte für langweilig und würden dies auch lauthals hinausposaunen. Überhaupt: Autos zu bauen und zu fahren sei sowieso krankhaft, deshalb solle man doch lieber gleich die Bahn nehmen.

Was würden wir denen noch abkaufen? Genau!

 




Die Posen des jungen Werther – Joachim Meyerhoff im Einpersonen-Stück nach Goethe

Von Bernd Berke

Dortmund. Leuchtenden Blicks betritt der junge Mann die Bühne. Er schaut aus dem Fenster, labt sich am Anblick der Natur. Später wird die Liebe noch mehr Glanz in seine Augen bringen. Doch am Ende flackert der Wahn in den Pupillen. So sind „Die Leiden des jungen Werther“. Aber sind sie es wirklich?

Ist es wirklich noch Goethes Briefroman, der im Studio des Dortmunder Theaters in einer Ein-Mann-Produktion verkörpert wird? Joachim Meyerhoff firmiert als Regisseur, Bühnenbildner und Solodarsteller. Respekt vor seinem Mut! Er hat wohl weitgehend ohne Widerhall gearbeitet. Oh, einsames Spiel, passend zum Liebesweh…

Werthers unerfüllte Sehnsucht nach der schönen Lotte, die bereits dem braven Albert versprochen ist, hat nicht nur literarisch Epoche gemacht. Damals, im „Sturm und Drang“, wurden seine Stulpenstiefel, die blaue Jacke mit gelber Weste Mode – und auch sein Selbstmord wurde vielfach nachgeahmt.

Betrifft einen das noch? Wenn man je heftig verliebt gewesen ist: Ja. Und wie! Denn es ist ein reicher, ein unerschöpflicher Text. Meyerhoff“ traut Goethe offenbar nicht ganz über den Weg. Tatsächlich kann man den „Werther“ ja nicht mehr bruchlos spielen. Seine Briefe an den fernen Freund Wilhelm gerinnen hier – in sinnvoll gekürzter Form – zu Selbstgesprächen. Per Dia-Projektion wird jeweils ein Kernsatz des kommenden Abschnitts angezeigt. Dann flammt das zuvor erstorbene Licht wieder auf. Es bewirkt ein stetiges Auf- und Abtauchen der Figur.

Ein Herz pulsiert elektrisch

Und so sehen wir diesen „Werther“, wie er sich behutsam (und manchmal mit einem Anflug von Ironie) an die wunderschöne Sprache herantastet, wie er die Worte wägt, Stuhl und Tisch versuchsweise hin und her rückt. Es ist, als überlege er noch, wie er sich zum Text stellen soll. Mal nimmt er probehalber den Gestus eines Kongreßredners ein, mal hängt er sich an die Wand wie gekreuzigt, oder er reitet zitternd auf dem Stuhle. Solche gesuchten Haltungen erstarren leicht zu Posen. Und manchmal wird es seltsam komisch. Wenn Werther sagt, er habe Lottens Auge gesucht, so wühlt er in den Jackentaschen. Doch es gibt auch gelungene Szenen: Der anfangs glückliche Werther etwa, im beseelten Umgang mit den Requisiten, die er spielerisch leicht handhabt.

Man darf sich aber den „Werther“ leidenschaftlicher vorstellen, drängender, fiebriger. Gewiß: Auch der Dortmunder Werther zeigt eine Leidensmiene vor, windet und krampft sich in sich selbst hinein, spricht verzweifelt dem Rotwein zu. Doch das meiste scheint eher vom kühlen Hirn gesteuert zu sein, nicht so sehr vom heißen Herzen. Ein solches hängt nur als knallrotes Dekorationsstück in der Luft und pulsiert elektrisch.

Weitere Termine: 30. und 31. Januar. 3., 4., 16. und 17. Februar, jeweils 20 Uhr. Karten: 0231 / 16 30 41.




Das Theater muß rigoros abspecken: „Letzte Vorstellung“ von Gerhard Stadelmaier – das passende Buch zur Krise

Von Bernd Berke

Das Berliner Schiller-Theater schließt in wenigen Tagen. weitere Häuser stehen gewiß „auf der Kippe“. Was tun? Wann, wenn nicht jetzt: Nachdenken über unsere Theater-Landschaft, und zwar ohne Tabus. Daß derlei gründliche Revision in Zeiten der finanziellen Nöte noch unterhaltsam sein kann, beweist Gerhard Stadelmaier mit seinem Buch „Letzte Vorstellung“.

Stadelmaier ist Theaterkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ). In ihre Diensten hat er so viele Vorstellungen erlebt, daß sein Urteil nicht so sehr aus Anmaßung, sondern aus Anschauung hervorgeht. Und man ist nicht ganz abgeneigt, ihm zu glauben, wenn er behauptet: Deutsches Theater, das ist furchtbar oft eine un-sinnliche, weil kopf- und apparatelastige Veranstaltung.

Blecheimer auf schräggestellter Bühne

Fast möchte man meinen, Stadelmaier habe im Laufe der Jahre einen Haß aufs Theater entwickelt, so fulminant zieht er über seine Macher her, durchleuchtet er seine diversen Köpfe: beispielsweise die mittlerweile etwas angegraute Crew der stilprägenden Regisseure („Machtköpfe“), die denkwütigen Dramaturgen („Schwellköpfe“), die vom Regietheater gebeutelten Schauspieler („Geisterköpfe“), die aus dem Theater verbannten Gegenwartsautoren („Papierköpfe“) – und jene grandiosen Geldverpulverer namens Bühnenbildner, bei denen es immer noch ein bißchen Goldauflage mehr sein darf und die doch als Hauptrequisit in den letzten Jahren nicht viel mehr ersonnen hätten als jenen notorischen Blecheimer auf schräggestellter Bühne mit Wassergraben…

Der landläufige Abonnent, der eine Art neurotische Ehe mit „seinem“ Theater führe, kommt gleichfalls zur Sprache. Stadelmaier schont jedoch auch das eigene Metier nicht. Der Kritiker, so Stadelmaier, sei jenes seltsam ratlose Wesen mit dem Leuchtkugelschreiber, das im Theater aus Prinzip niemals lacht. Ein Typus sehe so aus: „Er sitzt, meist schon ein älterer Herr, oft mit grauem Bart, in Reihe vier auf Platz achtzig und notiert Adjektive, die in seinen Kritiken in Klammern nach einem Doppelpunkt wieder auftauchen.“ Etwa so: „(Renate-Yolinde Müller-Frauenschuh: ein reizendes Kammerkätzchen)“.

Gewerkschaften aus dem Hause jagen

Und noch nicht genug der Schelte. Stadelmaier treibt sich auch in deutschen Foyers herum. Er findet dort (im Gegensatz zu anderen Ländern) ebenso fade wie maßlos überteuerte Pausen-Büffets; dazu langweilige Büchertische und gähnende Garderobe-Frauen, die jedoch draußen vor der Saaltür selten etwas Nennenswertes versäumen. Wohin man auch blickt: Genuß vergällt!

Die ganze Misere, so befindet Stadelmaier, hänge letztlich mit dem „Wasserkopf“ (sprich: Verwaltung und Technik) zusammen. Er plädiert zwar gegen besinnungslose Bühnen-Privatisierung, aber für den rigorosen Abbau aller Dinge und Verhältnisse, die nicht unmittelbar mit dem Spiel zu tun haben: „Das ganze Theatersystem müßte mit leichterem Gepäck marschieren.“ Und weiter: Weg vom teuren Gemischtwarenladen eines lustlos ständig präsent gehaltenen Repertoires, hin zum durchgängigen Spiel weniger, dafür sorgfältig einstudierter Produktionen.

Sein letztes Rezept wird bestimmt nicht jedermann gefallen und mag auch mit Stadelmaiers großbürgerlich orientierter Zeitung zusammenhängen. Es müsse der heimliche Traum aller Theaterleute erfüllt werden: „die Gewerkschaften aus dem Theater zu schmeißen“. Die komplizierten Tarif-Regelungen erstickten jede Phantasie, weil es z.B. „dem Regieassistenten verboten ist, als Stuhlabräumer einzuspringen, auch wenn das dem Fortgang der Probe nützlich wäre, man aber so lange warten muß, bis der zuständige Bühnenarbeiter seinen Pausenzeit beendet hat.“

Sicher, dieser Autor ist polemisch. Für eine witzige Formulierung biegt er notfalls die Wahrheit auch schon mal etwas zurecht. Doch das ist als Denkanstoß legitim, spricht er doch vom Theater wie ein Liebhaber – wenn auch ein enttäuschter, etliche Male um sein Vergnügen betrogener. Und so einer darf gelegentlich zürnen. Zumal, wenn der Schimpf die Szene so schlagartîg erhellt.

Gerhard Stadelmaier: „Letzte Vorstellung“. Eichborn Verlag, Frankfurt/Main (Reihe „Die andere Bibliothek“). 299 Seiten, 44DM.




Nur den Staatsanwalt will niemand gerne spielen – Therapie-Projekt in Eickelborn: Drogensüchtige stellen ihre Lebensgeschichte auf der Theaterbühne dar

Von Bernd Berke

Lippstadt/Eickelborn. „Rolltreppe abwärts“, „Nullouvert“. Schon solche Stücktitel deuten an, daß Theater sich in die Niederungen begibt; nach ganz unten – dorthin, wo z. B. Drogen-Karrieren enden.

Jetzt hat die Gruppe mit dem Namen „Stoffwechsel“ bereits ihr drittes Stück einstudiert. Es heißt „Popshop“. Besonderheit: Die Schauspieler sind 14 Drogenpatienten der psychiatrischen Landesklinik in Lippstadt-Eickelborn. Sie gehen in diesen Tagen sogar erstmals auf eine kleine Tournee, spielen vor Schülern und Jugendlichen. Damit die nicht eines Tages auch an irgendein schlimmes Zeug geraten.

Der Titel „Popshop“ stammt aus dem Szene-Jargon und bedeutet so viel wie „Endstation“ oder „Nichts mehr zu sagen/machen“. Die jungen Leute haben das Stück (mit Hilfe ihrer Therapeuten Günter Seidenberg und Caroline Happe) selbst verfaßt und auch das Bühnenbild erstellt. Viele Stunden haben sie dafür geopfert.

Die meisten sind Männer zwischen 20 und 30, allesamt erst seit wenigen Monaten „clean“, also noch lange nicht über den Berg der Sucht hinweg. Das Theaterspielen wurde zum Teil der Therapie. Einer sagt’s für alle: „Wir hatten endlich in unserem Leben das Gefühl, selbst mal was Sinnvolles auf die Beine zu stellen.“ Klar, „etwas zäh und mühsam“ sei die Sache anfangs gewesen. Man hatte nicht nur mit dem Text zu kämpfen, sondern auch mit sich selbst. Und mancher konnte sich zunächst mit seiner Rolle nicht anfreunden. Welcher Drogensüchtige mag schon gern einen Staatsanwalt spielen?

Der Text handelt von jenem Uwe, der aus Berlin nach Dortmund zieht und wegen eines Beschaffungsdiebstahls in den Knast kommt. In Rückblenden werden Stationen seiner Drogenkarriere beleuchtet. Dabei kommen Justiz und Sozialarbeiter nicht gerade gut weg. Essenz des Stückes: Drogensüchtige sind weniger kriminell als krank und waren vor ihren Taten selbst Opfer. So weit das Pflichtprogramm im Sinne einer liberalen Sozialpädagogik.

Doch natürlich geht es um mehr. Zum einen lernen die Drogenpatienten auf der Bühne, sich offen und ehrlich vor Publikum zu ihrer Sucht zu bekennen. Zum anderen wirken sie als Darsteller auf das junge Publikum viel glaubhafter als Profi-Schauspieler. Sie haben selbst durchlitten, was sie da spielen. Sie machen einem nichts vor. Und sie stellen sich nach jeder Aufführung der Diskussion.

Kann sein, daß sie den einen oder anderen labilen Zuschauer vom Einstieg in harte Drogen abhalten. Dies allein würde das vom Land bezuschußte Projekt rechtfertigen. Die Produktion ist jedenfalls weit entfernt vom läppischen Laienspiel. Dazu ist sie zu nah an der Wirklichkeit.

Aufführungen: 13.-16. September in Werl, Soest, Lippstadt, Beleke (vermutlich ausverkauft). 20., 24. Sept. und 27. Sept.-l. Okt. in Lippstadt-Eickelborn. jeweils 19 Uhr.




Prag zwischen „Tutti Frutti“ und ambitioniertem Theater

Von Bernd Berke

Prag. Die Theater in Prag kämpfen, ähnlich wie jene in den neuen Bundesländern, mit Zuschauerschwund. Manche Vorstellungen werden gar mangels Masse kurz vor Beginn abgesagt – wiederum eine Anti-Werbung, die die letzten Getreuen vergrault. Seit die Tschechen unbeschränkt reisen und fast wie im Westen einkaufen können, aber auch härter arbeiten müssen, herrscht im Theaterparkett oft gähnende Leere.

Zudem bannt der TV-Kanal „OK 3″, der einen Verschnitt gratis überlassener westlicher Produkte (auch „Tutti Frutti“ von RTL) sendet, viele Leute in den heimischen Fernsehsessel. „OK 3″ ist Vorhut und Schnupperware für das demnächst startende Privatfernsehen.

Noch haben sogar die Theaterleute, die jetzt auf Einladung der Ruhrfestspiele in Prag deutschen Journalisten ihre Situation schilderten, eine Illusion: Das Privat-TV werde zwar anfangs seicht sein, nach einer gewissen Frist aber auch Kultur bringen. Wenn man sieht, was „OK 3″ schon jetzt an sexuellen Gewagtheiten anbietet, beschleichen einen da arge Zweifel.

Händeringend Sponsoren suchen

Früher hat der sozialistische Staat die Theaterschulden stillschweigend beglichen. Nun sucht man händeringend Sponsoren. Denn nun müssen die Bühnen (wie bei uns) mit Subventionen auskommen, die nicht mehr steigen. Ganz im Gegensatz zu den Preisen. In den Geschäften am Prachtboulevard Wenzelsplatz muß man inzwischen nahezu soviel Geld auf den Tisch legen wie in Deutschland – und das bei einem monatlichen Durchschnittseinkommen von rund 4200 Kronen (etwa 250 DM) in der Hauptstadt.

Nur Theater, die ganz besondere Qualität bieten oder sich gekonnt auf „Marktlücken“ spezialisieren, halten sich in diesem Umfeld gut. Die berühmte „Laterna Magika“ etwa hat keine Probleme, ihr Haus zu füllen. Freilich sind die Besucher zum großen Teil Touristen, vor allem aus Deutschland.

Wo man alles darf, wird es schnell beliebig

Bis zur sanften Revolution anno 1989 war es in der damaligen CSSR verboten, „dekadente“ Dramen von Beckett oder lonesco zu spielen, für den Erwerb der Aufführungsrechte an anderen West-Stücken fehlten Devisen. Jetzt kann man schier alles auf die Bühne bringen. Und da liegt das Problem. Denn wo man alles darf, wird vieles unverbindlich. Dafür hat das Publikum eine feine Antenne.

Da hilft es gar nichts, sich an die tschechische Tradition des psychologischen Theaters (Tschechow-Pflege bis zum Überdruß) zu klammern. Doch mit allzu wilden Experimenten darf man den Tschechen auch noch nicht kommen, sind sie doch durch die jahrzehntelange Isolation auf ästhetische Wagnisse kaum vorbereitet. Und eine kompetente Theaterkritik, die an Neuerungen heranführen könnte, entwickelt sich erst jetzt ganz allmählich.

Die Opern verzeichnen zwar einen etwas besseren Besuch als die Sprechtheater, doch man steckt auch hier noch tief in Konventionen. Außerdem können die Tschechen ihre besten Sänger nie im eigenen Lande erleben. Die Gagen, die diese Stars verlangen, werden nur in Westeuropa, Japan und Amerika bezahlt.

Und so spielt man tapfer nach dem Prinzip Hoffnung. Oder man trauert jener Hoch-Zeit des Theaters im Jahre 1989 nach. Damals gehörten die Bühnen zu den Zentren des Aufbegehrens. Es ist, als sei das schon Jahrzehnte her.

 




Mit dem KVR ins Revier-Theater

„Klappern gehört zum Handwerk“, heißt es. Wenn der „Kommunalverband Ruhrgebiet“ (KVR) jetzt in doppelseitigen Farbanzeigen – zum Beispiel im „Spiegel“ – das Theaterleben des Reviers anpreisen läßt, vernimmt man allerdings eher Poltern als Klappern.

Neben sanft violett unterlegten Spielplanauszügen des Monats September hat da ein profunder Kulturkenner machtvolle Zeilen gemeißelt. Da ist vom Ruhrgebiet als einer Theaterlandschaft die Rede, „die mehr Bühnen zählt als beispielsweise der Broadway“. Da haben wir ihn wieder, den beliebten Vergleich mit New York. Ob es nicht unfreiwillig komisch wirkt, zu behaupten, eine ganze Region habe mehr Theater als ein Straßenzug, ist Ansichtssache. Jedenfalls legt man uns nahe, daß „mehr“ automatisch auch „besser“ und „glanzvoller“ heißt, was wiederum eine gewisse Vergleichbarkeit voraussetzen würde. Nur: Im Uberschwang hat der KVR wohl die „kleinen“ Unterschiede zum Theatersystem des Broadway vergessen.

Eine richtig „dicke Lippe“ riskieren der Verband und die von ihm beauftragte Werbeagentur aber erst mit folgender Passage, da trägt es die Texter einfach aus der Kurve: Im Revier, so wörtlich, „haben Sie die Wahl zwischen aufsehenerregenden Inszenierungen, bei denen selbst die verwöhntesten Kritiker das Kritisieren vergessen“. Da schnappen wir erst einmal nach Luft und machen einen Absatz.

Mal ehrlich: Kein Theatermacher im Revier, der bei Trost ist, würde eine solch vollmundige Behauptung unterschreiben. Man tut den hiesigen Bühnen auch keinen Gefallen mit solcher Angeberei. Ihre Arbeit ist mal gut, mal besser, mal schlecht – wie überall.

Indes: Ein Körnchen Wahrheit ist sogar drin. Wenn wir mit Fug annehmen, daß „die verwöhntesten Kritiker“ in Hamburg, Frankfurt und München sitzen, stimmt es tatsächlich, daß sie das Kritisieren im Revier manchmal vergessen. Weil sie oft gar nicht erst herkommen.

                                                                                                                      Bernd Berke




Kulturfestival baut am „europäischen Haus“ mit – Programmschwerpunkt der Duisburger „Akzente“

Eigener Bericht

Duisburg. (bke) Das Bild vom „gemeinsamen Haus Europa“ erfreut sich großer Beliebtheit. Man kann es ja auch herrlich und fast endlos ausschmücken – notfalls bis hin zur Türklinke. „Unser Haus Europa“ lautet denn auch das Motto der 14. Duisburger „Akzente“. Zielvorgabe durch Duisburgs Kulturdezernenten Dr. Konrad Schilling: Man wolle politische Visionen mit kulturellem Sinn füllen.

Hochkarätige Politiker werden das Kulturfestival am 22. April eröffnen: der Präsident des Europäischen Parlaments und einer der Kammervorsitzenden des Obersten Sowjet. Die Schirmherren heißen Hans Dietrich Genscher und Johannes Rau – und sozusagen als „guter Geist“ über allem schwebt Michail Gorbatschow, der die Formel vom „gemeinsamen Haus“ ersann.

Nachgezeichnet werden soll das – so Kulturdezernent Schilling – „unverwechselbare Eigenprofil“ eines Kontinents, der (zumindest geistesgeschichtlich) auf den Vorrang der Ratio setzte. Zurück zu den Wurzeln dieser abendländischen Vernunft wird eine Aufstellung im Duisburger Niedenheinischen Museum führen: „Kreta – das Erwachen Europas“ werde, so die Veranstalter, mit raren Exponaten glänzen, die zum Teil noch nie außerhalb Griechenlands gezeigt wurden. Es sei überhaupt die erste deutsche Ausstellung zur Hochkultar der Minoer, die gleichsam den Grundstein zum europäischen Hause gelegt haben.

Das Theaterprogramm der „Akzente“, die bis zum 25. Mai dauern werden, umfaßt elf Inszenierungen, darunter allerdings keine Novität, sondern lauter Gastspiele erprobter Aufführungen. Hier sind allenfalls eineinhalb Stockwerke des Europa-Hauses erkennbar, drehen sich doch sämtliche Inszenierungen um die alten Griechen (Sophokles, Aristophanes, Euripides) sowie um Adaptionen griechischer Stoffe in Deutschland (Kleist, Hölderlin, Hans Henny Jahnn). U. a. werden Aristophanes‘ „Lysistrate“ in Henri Hohenemsers Augsburger Einrichtung, Jahnns „Medea“ in Manfred Karges Kölner und Werner Schroeters Düsseldorfer Ausdeutung sowie Sophokles‘ „Aias“ in Frank Castorfs Basler Version zu sehen sein. Aus Mülheim kommt Roberto Ciullis Regiearbeit „Die Bakchen“ nach Euripides. Auch ein DDR-Theater ist dabei: Das Staatsschauspiel Dresden zeigt Kleists „Penthesilea“.

Neben Vorträgen und Kongressen, in deren Verlauf europäische Visionen entwickelt werden sollen, zählt ein Tanzfestival der europäischen Jugend zum „Akzente“-Programrn. Rund 110 Jugendliche aus zehn Ländern werden gemeinsam die mittelalterliche Liedersammlung „Carmina Burana“ tänzerisch einstudieren. Außerdem wird das Heldenepos „Beowulf“ Grundlage einer Choreographie sein – gleichfalls als Beispiel fürs europäische Mittelalter. Schließlich kündigt der „Förderverein Deutscher Kinderfilm“ eine mit 30 Streifen bestückte „Kinderfilmreise durch Europa“ an.