Heldentenor, streichelweich: Klaus Florian Vogt in der Philharmonie Essen

Klaus Florian Vogt und die Staatskapelle Weimar unter Stefan Solyom (Foto: Sven Lorenz)

Klaus Florian Vogt und die Staatskapelle Weimar unter ihrem Chefdirigenten Stefan Solyom (Foto: Sven Lorenz)

Hach, diese Stimme. So heiter, so silberhell, fast wie ein nach unten oktavierter Knabensopran. Sie singt von Liebe und Lenz, schwärmt von süßer Empfindung und edler Ritterschaft. Das klingt so gutgläubig, so jugendlich optimistisch, als töne sie aus einem Märchenreich in unsere wirre Welt herüber.

Der diesen lichten Zauber ausübt, ist ein Mittvierziger aus Schleswig-Holstein: Klaus Florian Vogt, Sohn einer Medizinerfamilie, entwickelte sich vom Hornisten des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg zu einem der gefragtesten Heldentenöre unserer Tage. In der Konzertreihe „Große Stimmen“ stellt er sich in der Philharmonie Essen mit einem Programm vor, das sich liest wie ein gewagter Spagat: Führt es doch vom Schweren zum (vermeintlich) Leichten, von Wagners stimmgewaltigen Helden über die Bildnisarie aus Mozarts „Zauberflöte“ zu Operetten-Partien von Franz Lehár.

Aber die vermeintlichen Gegensätze sind gar keine, jedenfalls nicht bei Klaus Florian Vogt. Er vertraut fast durchweg auf einen nahezu liedhaften Schubert-Ton, auf die Kraft der Lyrik statt auf die des Fortissimo. Statt vor virilem Selbstvertrauen zu strotzen, sind Wagners Helden bei ihm verwundbare, vom Zweifel begleitete Wesen.

Vogt liebt das fragile Piano, aber das milde Leuchten seines Tenors klingt auf Dauer fast zu schmeichlerisch und nett. Die Arie des Siegmund aus Wagners „Walküre“ kommt so lieblich daher, als sei sie mit Kuschelweich gespült. Nichts erzählt da vom drohenden Kampf mit Hunding, von Siegmunds bedrängter Lage und vom Skandal einer inzestuösen Liebe. Walther von Stolzing klingt, als sei er aus Schuberts „Schöner Müllerin“ entlaufen. Schwer zu glauben, dass dieser schmalbrüstige Schwärmer eine Bedrohung für die gesamte Meistergilde darstellen soll.

Ein Heldentenor sei nicht nur ein Brüllaffe, sondern könne auch viel lyrischere Farben singen, sagt Vogt. In Essen folgt er diesem Credo so sehr, dass der Abend monochrom zu werden droht. Sein schimmernd helles Timbre ist verführerisch, aber gleichbleibend. Als charmanter Moderator führt der Sänger durch den Abend, erzählt von amüsanten Pannen auf der Opernbühne. Er bringt die Zuhörer zum Lächeln, treibt sie aber nie auf die Stuhlkante.

Nur selten lässt Vogt aufblitzen, welche Strahlkraft sein Tenor tatsächlich besitzt. Das erste Mal geschieht es in der Gralserzählung des „Lohengrin“, Vogts Paraderolle, in der er von der New Yorker Met bis zur Mailänder Scala gefragt ist. Bei der Erwähnung des Grals dreht Vogt die Dynamik auf: Jetzt singt er ein Fortissimo, das seiner Stimme plötzlich andere Farben verleiht. Sein Tenor rundet sich, gewinnt Tiefe und Wärme, nimmt rot und golden klingende Nuancen an. Das ist ein Erlebnis, vielleicht auch ein Versprechen für die Zukunft.

Schade, dass es nach der Pause sofort wieder harmlos wird. Bekannte Melodien von Lehár („Dein ist mein ganzes Herz“) und Hans May („Ein Lied geht um die Welt“) sind so recht dazu angetan, versonnen mit dem Kopf zu nicken. Alles schön, alles leicht, alles seicht.

Warum einige Gesangsfans die Staatskapelle Weimar gleich mit bejubeln, bleibt unverständlich. Chefdirigent Stefan Solyom kann das Orchester nicht zu einem Niveau animieren, das der Wagner-Tradition der Kulturstadt an der Ilm gerecht würde. Die Meistersinger-Ouvertüre klingt dumpf und verwaschen. Der Walkürenritt dümpelt dahin, als ritten da nicht kriegerische Amazonen, sondern Beamte auf Schaukelpferden. Im leichteren Genre schlägt Betulichkeit den Esprit: Selten klang ein Walzer so hüftsteif wie „Gold und Silber“ von Franz Léhar. Stefan Solyom muss sich fragen lassen, warum die künstlerische Ausbeute trotz versiert spielender Profimusiker so mager bleibt.

Die Reihe „Große Stimmen“ in der Philharmonie Essen setzt sich am 7. November 2014 mit Magdalena Kozená fort. Informationen: http://www.philharmonie-essen.de/abonnements/abo-4-grosse-stimmen.htm




Festspiel-Passagen III: Rossinis „Guillaume Tell“ in München – Rebellion der Spießer

München; Rossinis "Guillaume Tell". Foto: Wilfried Hösl

München; Rossinis „Guillaume Tell“. Foto: Wilfried Hösl

Das gilt es festzuhalten: Ein Haus wie die Münchner Staatsoper mit knapp sechzig Millionen Staatszuschuss kümmert sich – endlich einmal – um ein Schlüsselwerk der Oper, Gioacchino Rossinis „Guillaume Tell“. Und streicht und kürzt in der Partitur herum, als habe es in den letzten Jahrzehnten keine kritische Neuerschließung des Materials und keinen Wandel in den ästhetischen Anschauungen zu Rossinis Arbeitsweise und Werkgestalt gegeben.

Ein Jahr vorher stellte ein Festival mit nicht einmal einer Million mühsam erkämpftem Zuschuss einen „Tell“ auf die wacklige Bühne einer ehemaligen Trinkhalle im württembergischen Bad Wildbad, der alle Striche öffnet und dem staunenden Zuhörer erstmals in vier Stunden und zwanzig Minuten den ganzen musikalischen Kosmos Rossinis erschließt.

In Bad Wildbad hörte man nicht die durchlöcherten musikalischen Formen üblicher Strichfassungen, kam Rossinis subtile Kunst der Ensembles, der groß geschlagenen musikalischen Bögen, der spannungsvollen Entwicklung zum Tragen. Und in München, bei der „Festspiel“-Premiere dieses Jahres? Die handlungsbezogenen Tänze, die zum Besten gehören, was Rossini je aus der Feder geflossen ist: gestrichen. Die Großformen der Ensembles: zerstückt. Dazu ein Dirigent, dem das Gespür für Transparenz, Finesse und freies Ausströmen der Musik abgeht, der die Gewittermusik knallen und scheppern lässt, der in der Ouvertüre weder Konturen ausbildet noch die subtilen Stimmungen der Naturlyrik ausphrasiert. Und der es zulässt, dass diese grandiose Konzentration des musikalischen Dramas in den dritten Akt – nach dem Apfelschuss – versetzt wird.

Nun ist Oper keine akademisch-philologische Angelegenheit, das stimmt. Und ein Abend ohne Kürzungen muss nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Aber gerade von einem Haus wie München wäre zu erwarten, dass es sein Potenzial einsetzt, um ein seit jeher verstümmeltes opus magnum der Opernliteratur in ein ungefiltertes Licht zu setzen. Die Länge kann kein Gegenargument sein: Man kürzt auch die „Meistersinger“ nicht, nur weil das Festspielpublikum zu lange sitzen müsste.

Regie und Dramaturgie hätten, so war zu lesen, auf den Kürzungen bestanden. Hätten sie das Ergebnis dieser ersten Operninszenierung des erfolgreichen Schauspielregisseurs Antú Romero Nunes wenigstens gerechtfertigt oder einsichtig gemacht. Nichts dergleichen: Die Chöre drängen sich an der Rampe oder stehen in Appellplatzformation herum; Solisten agieren mit überdeutlicher Gestik am vorderen Bühnenrand. Gesler, ein netter, grauhaariger Uniformierter, spaziert zwischen Schweizern und Habsburger Soldaten einher. Arnold bejammert seinen inneren Zwiespalt im Spot an der Rampe.

Säulen, Stämme, Rohre: Florian Lösches Bühnenbild sorgt für bezwingende Bilder, aber seine Wirkung schleift sich im Laufe des Abends ab. Foto: Wilfried Hösl

Säulen, Stämme, Rohre: Florian Lösches Bühnenbild sorgt für bezwingende Bilder, aber seine Wirkung schleift sich im Laufe des Abends ab. Foto: Wilfried Hösl

Ein Fall für sich ist Florian Lösches Bühne: Wenn sich bleifarben schimmernde Röhren im dunstigen Licht Michael Bauers herabsenken und einen Wald abweisender, metallglänzender Stämme bilden, durch die sich die Schweizer in Hochzeitskleidern schieben, sieht man einen beklemmenden Raum, in dem Menschen ihre kleinen Freiheiten suchen. Wenn sich die Röhren dann heben und mit ihren schwarzen Öffnungen wie Kanonen von oben auf das Volk starren, stellt sich das Gefühl einer gewaltigen, unfassbaren Drohung ein. Wirkmächtige Bilder.

Doch Löscher lässt in den folgenden drei Stunden diese Röhren in den verschiedensten Formation rauf und runter fahren: Mal liegen ein paar Stämme quer, mal bilden sie das Dreieck eines Hausdachs. Nach einer halben Stunde geht diese Dauerdemonstration der Münchner Bühnentechnik auf die Nerven. Selbst dem innehaltenden Naturbild von Mathildes „Sombre forêt“ gönnt sie keine Ruhe. Der Fluss der Szenerie bleibt beliebig, die Wirkung schleift sich ab.

Anmerkungen zu Europa? Die "Aktualisierung" geht nicht auf. Foto: Wilfried Hösl

Anmerkungen zu Europa? Die „Aktualisierung“ geht nicht auf. Foto: Wilfried Hösl

In Nunes‘ Regie rebellieren die Spießer. Ein Tell, von Annabelle Witt in einen Strickpullover gesteckt, spuckt seine Freiheitsideen als ideologische Tiraden aus – Michael Volle poltert und röhrt, als habe er einen veristischen Reißer zu überstehen – und bringt den alten Melcthal (mit wenigen gestemmten Sätzen: Christoph Stephinger) um die Ecke, um Arnold zum Kampf zu gewinnen. Gesslers Mannen sind von einer dunkelblau uniformierten kleinen Mussolini-Ausgabe kommandiert (schneidend militärisch: Kevin Conners als Rodolphe), der Landvogt selbst wirkt wie ein unwilliger Aristokrat, der versehentlich in einen Volksauflauf geraten ist. Im dritten Akt darf er sich einen Stierkopf überstülpen – aber die Maskerade hat nichts mit dem Wappen des Kantons Uri zu tun, sondern mit einer apokryphen Europa-Symbolik, die sich auch im Schwenken einer grau-schwarzen Fahne mit dem europäischen Sternenkreis manifestiert. Die EU alias Habsburg, die das bieder-spießige Schweizervolk bedrängt?

Nunes will uns zeigen, dass die Welt nicht so eindeutig in Gut und Böse einzuteilen ist, wie es das Freiheitspathos der Rossini-Oper suggeriert. Aber er kann nicht klären, was das letztlich bedeutet. Die Erzählung des Münchner „Guillaume Tell“ endet mit der stumpf musizierten Verklärungsmusik und den „Liberté“-Rufen von Revoluzzern, die gerade einmal das Erregungsniveau von Wutbürgern erreichen. Emblematisch dafür kann Tells Frau Hedwige – die schönstimmige Jennifer Johnston – stehen, die sich entschlossen die Schürze vom Kostüm reißt. Immerhin lässt Nunes uns nicht im Unklaren, wie die Liebesgeschichte zwischen Arnold und Mathilde endet: Die „Liberté“ macht ihn unempfindlich gegen die zärtlich auffordernde Annäherung der Frau.

Würde das Bayerische Staatsorchester Wagner so spielen wie diese Grand Opéra, der Protest im Publikum wäre programmiert. Aber es ist ja „nur“ Rossini. Und so dürfen Flöte und Oboe abschmieren, braucht es weder ein sanglich-weich phrasierendes Cello noch transparente Violinen. Die Anfeuerungsarbeit leistet Dan Ettinger, Mannheimer GMD, der bisher nicht durch Großtaten im Belcanto- oder französischen Fach aufgefallen ist. Er nimmt Rossini im Geiste des mittleren Verdi mit viel Saft und Kraft.

Zwischen der bewusst primitiv-martialischen Aufmarschmusik Rossinis und den entrückten Lyrismen könnte die Skala expressiver Möglichkeiten weiter aufgespannt sein. Die Chöre Sören Eckhoffs schlagen sich tapfer; einige Wackler und abgeflachte Phrasen sind bei den derzeitigen Festspiel-Übungen in Ausdauer und stilistischem „Umschalten“ mehr als verständlich.

Vokales Niveau auf Weltspitze präsentiert Marina Rebeka als Mathilde: Ihr gelingt das ariose Naturidyll von Wald und Bergen als Fluchtort vor ihrer Realität mit geschmeidigem Legato ebenso wie die heroisch punktierte Höhe oder der dramatisch geladene Einsatz für Tells Sohn Jemmy gegen die brutale Willkür Geslers. Evgeniya Sotnikova singt mit flexibler Stimme die Rolle des vorpubertären Buben, der mit kindlicher Radikalität den Ideen des Freiheitskampfes folgt.

Bryan Hymel als Arnold überzeugt vornehmlich mit sicher gesetzten Spitzentönen, nicht so sehr mit der unflexiblen, einfarbigen Tongebung und einem gerne ins Gaumige rutschenden Timbre. Im vierten Akt hatte er sich für seine berühmte Szene „Asile héréditaire“ frei gesungen und brillierte mit einem überwältigenden Vortrag. Auch Enea Scala in der zweiten Tenorpartie des Fischers Ruodi beeindruckte mit brillanter Höhe und sicherer Position. Günther Groissböck ist ein eleganter Gesler mit einem warmen Timbre – fast zu schön für den sadistischen Tyrannen. In der Premiere wurde der Regisseur mit Buhrufen überzogen; auch am besuchten Abend waren entschiedene Missfallenskundgebungen zu hören, die diesmal den Dirigenten trafen.