Reisen durch ein fantastisches Universum: Vor 100 Jahren wurde Stanislaw Lem geboren

Als Science-Fiction-Autor wollte er sich nicht gerne bezeichnen lassen, aber auf diesem Feld hat sich Stanislaw Lem einen unsterblichen Namen gemacht. Vor 100 Jahren, am 12. September 1921, im damals noch polnischen Lemberg geboren, hat er originelle Werke voll Humor und visionärer Kraft geschrieben, die laut Wikipedia in 57 Sprachen übersetzt und über 45 Millionen Mal verkauft wurden.

Die Werke von Stanislaw Lem erscheinen im Suhrkamp-Verlag, so auch der Roman „Die Stimme des Herrn“. (Cover: Suhrkamp Verlag)

Zu seinen bekanntesten Büchern zählt der Roman „Solaris“, der drei Mal verfilmt und von Michael Obst, Detlev Glanert und Dai Fujikura auch zum Opernstoff erkoren wurde. Stanislaw Lem hatte gerade begonnen, Medizin zu studieren, als die Deutschen in Lemberg einmarschierten. Während des Krieges gelingt es ihm, seine jüdische Herkunft zu verschleiern; er arbeitet als Mechaniker und Schweißer für eine deutsche Firma. Bis auf Vater und Mutter wurde seine Familie Opfer des Holocausts. Wehrmacht und Rote Armee, Sowjets und Deutsche: Die Erfahrung willkürlicher Gewalt und der zerstörerischen Katastrophe der Besatzungszeit in Polen prägten ihn.

1946 zieht er aus seiner nun sowjetisch besetzten Heimat nach Krakau und studiert weiter. Da er sich weigert, im Abschlussexamen Antworten im Sinne der stalinistischen Ideologie zu geben, fällt er durch und geht, da er nicht als Arzt arbeiten kann, in die Forschung.

In dieser Zeit beginnt seine schriftstellerische Arbeit. 1946 erscheint in einer Zeitschrift „Der Mensch vom Mars“. Lem spricht darin bereits Themen an, die in späteren Werken bedeutsam werden sollten: Das Wesen vom Mars ist eine Kombination aus einem organischen Gehirn und einer atomgetriebenen Maschine, ungeheuer fremdartig, ohne Gefühl und Empathie, aber nicht bösartig. Die Menschen, die es untersuchen, haben jedoch kein Interesse an der Persönlichkeit des Außerirdischen; es gelingt ihnen keine dauerhafte Kontaktaufnahme.

Unbegreiflich andersartige Intelligenz

Diese Unfähigkeit, mit unbegreiflich andersartigem Leben, mit unverständlicher Intelligenz umzugehen, ist auch in „Solaris“ ein bestimmendes Thema. Dort umfließt ein riesiges Wesen wie ein Ozean einen ganzen Planeten. Ewig alleine, versucht es, mit den Menschen in Kontakt zu treten, die es entdeckt haben und die seit Generationen versuchen, das offenbar denkende Plasmameer zu erforschen. Lem verweigert sich in diesem wie in anderen Romanen einfachen Lösungen, aber die offen bleibende, dennoch sehr bewegende Begegnung des Psychologen Kelvin mit dem Wesen deutet den utopischen Moment eines Kontakts an.

Mit dem in viele Sprachen übersetzten Roman „Die Astronauten“ gelingt Lem 1951 ein Erfolg, der es ihm ermöglicht, als freischaffender Autor zu leben. Das Buch erschien drei Jahre später in der DDR auf Deutsch als „Der Planet des Todes“. Eine Expedition zur Venus entdeckt dort die Reste einer aggressiven Zivilisation, die sich selbst vernichtet hat, bevor sie ihren Plan, alles Leben auf der Erde auszulöschen, in die Tat umsetzen konnte. „Wesen […], die sich die Vernichtung anderer zum Ziel setzten, tragen den Keim des eigenen Verderbens in sich – und wenn sie noch so mächtig sind“, schreibt Lem über sein Buch, das er später selbst als „naiv“ bezeichnet hat.

Nachdenken über technologischen Fortschritt

Aber die gesellschaftlichen Probleme und Visionen, die Lem auch in Romanen wie „Eden“ (1959) oder dem Zukunfts-Szenario „Fiasko“ (1986) in fantastische Welten überträgt, fesseln den Leser und lassen über die Folgen unseres zivilisatorischen und technischen Fortschritts nachdenken. Lem nimmt schon früh etwa mögliche Folgen neuer Kommunikationstechnologien in den Blick. Über die Epoche der Neuro- und Gentechnologie und die Verbindung von Mensch und Maschine sagt er in einem Interview kurz vor seinem Tod 2006: „Wir stehen am Anfang einer Epoche, vor der mir ein bisschen graut.“

Stanislaw Lem hat es virtuos verstanden, ungewöhnliche philosophische Fragen, Probleme der technologischen Entwicklung und kühne Gedankenexperimente in seine Art von „Science Fiction“ einzubeziehen. Doch er ist auch Autor von geradezu prophetischer Sachliteratur wie der „Dialoge“ (1957) oder der „Summa technologiae“ von 1964, in der er sich bereits mit „virtual reality“ und Nanotechnik beschäftigt.

Zwischen 1982 und 1988 lebt Lem nicht im krisengeschüttelten Polen, sondern als hochgeachteter Autor in Berlin und Wien. Seine Kurzgeschichten, Anthologien und Romane finden in den siebziger und achtziger Jahren in beiden Teilen Deutschlands breite Resonanz, so etwa die „Robotermärchen“, der „Futurologische Kongress“ oder „Der Unbesiegbare“. Figuren wie der Raumfahrer Ijon Tichy, der Pilot Pirx oder die beiden skurrilen Robot-Konstrukteure Trurl und Klapaucius bevölkern sein Universum, in dem Humor und Satire nicht zu kurz kommen, aber auch – wie in der Erzählung „Terminus“ – bisweilen eine kaum zu fassende, unheimliche Atmosphäre entsteht, die Lem selbst so beschreibt: „Obwohl in dieser Erzählung keine Gespenster vorkommen, sind sie dennoch da.“

Persönliche Empfehlungen? Unheimlich und faszinierend zugleich, wie in „Der Unbesiegbare“ unscheinbare, harmlose Maschinenteilchen zu einer unüberwindlichen Macht zusammenwachsen. Höchst amüsant und geistreich, wie in den „Robotermärchen“ ein Elektrodrachen besiegt wird. Wen heute bei „Alexa“ oder „Siri“ im smart durchdigitalisierten Home leises Unbehagen befällt, sollte unbedingt mit der dümmsten vernunftbegabten Waschmaschine der Welt Bekanntschaft schließen. Immer wieder ins Nachdenken führend, wie fremdartig Lem außerirdisches (intelligentes) Leben erfindet und beschreibt, etwa in „Solaris“. Und eine bittere Abrechnung mit der menschlichen Fähigkeit zum Guten wie zum Bösen ist „Die Stimme des Herrn“, spröde zu lesen, aber ein Buch, das den Verstand fliegen lässt.




Reise ins Innere: Detlev Glanerts „Solaris“ nach Stanislaw Lem an der Oper Köln

Detlev Glanerts "Solaris" im atmosphärisch dichten Bühnenbild von Darko Petrovic. Foto: Bernd Uhlig

Detlev Glanerts „Solaris“ im atmosphärisch dichten Bühnenbild von Darko Petrovic. Foto: Bernd Uhlig

Spannende Zeiten in Köln. Während etwa in Düsseldorf an der Deutschen Oper am Rhein eine sichere Nummer nach der anderen abgearbeitet wird, zeigt der Opern-Herbst in der Domstadt, wie erfindungsreich Repertoirepolitik sein kann.

Auf Johann Adolph Hasses in Schwetzingen wieder ausgegrabene Oper „Leucippo“ folgte nun die deutsche Erstaufführung von „Solaris“, mittlerweile die dritte in Köln gespielte Oper Detlev Glanerts. Bleibt Intendantin Brigit Meyer bei diesem Kurs, wird einem um die künftige Vielfalt nicht bange.

„Solaris“ nach einem erfolgreichen Roman des polnischen Autors Stanislaw Lem wurde 2012 in Bregenz uraufgeführt. Die Inszenierung von Moshe Leiser und Patrice Caurier sollte an die Komische Oper Berlin übernommen werden, was – laut Glanerts Aussage in einem Interview – ohne Nennung von Gründen unterblieb. Man kann sich vorstellen, dass die illustrative, an Raumschiff-Enterprise-Ästhetik gemahnende Bilderfindung des Duos bei Barrie Kosky keine Gegenliebe entzündete: Er kündigte für 2015/16 eine eigene Neuinszenierung an.

Nun hat Köln zugegriffen und sich die deutsche Erstaufführung gesichert. Mit Patrick Kinmonth (Gesamtkonzept und Regie), Darico Petrovic (Bühne), Annina von Pfuel (Kostüme) und Andreas Grüter (Licht) wurde ein Team verpflichtet, das mit starken, differenziert ausgeleuchteten Bildern den Blick von der Science-Fiction-Oper weglenkt. Das entspricht der These, nach der Lems „Solaris“ weniger eine Reise in die unendlichen Weiten des Alls beabsichtigt, sondern tief ins Innere des Menschen mit seinen uneingestandenen Wünschen und seinen einsamen Verletzungen führt.

Aoife Miskelly als Harey in Glanerts "Solaris" in Köln. Foto: Bernd Uhlig

Aoife Miskelly als Harey in Glanerts „Solaris“ in Köln. Foto: Bernd Uhlig

Die Raumstation über dem Forschungsobjekt, einem planetenumspannenden, rätselhaften Plasma-Ozean, steht auf stählernen Gitterträgern und zeigt mit zerbröselnd rostigem Stahlbeton das Stadium finalen Zerfalls. Ähnlich ruinös sind die Verhältnisse an Bord: Der Wissenschaftler Gibarian hat sich selbst getötet, sein Kollege Sartorius verschanzt sich in seinem Labor, der dritte, Snaut, irrt scheinbar halb wahnsinnig durch die Station.

Das Solaris-Plasmawesen liest die traumatischen, „abgekapselten“ Erinnerungen der Forscher aus den Gehirnen heraus und lässt sie materialisiert als menschliche Wesen auf der Station erscheinen. Das Entsetzliche ist, dass diese „Gäste“ aus den verborgensten Winkeln der Psyche stammen: „….unsere eigene monströse Hässlichkeit, unsere Albernheit und unsere Schande“, wie der Forscher Snaut formuliert. Dem neu eingetroffenen Psychologen Kris Kelvin begegnet seine junge Frau Harey. Sie beging Jahre vorher Selbstmord – an dem sich Kelvin mitschuldig fühlt.

Metapher absoluter Fremdheit

Lem und mit ihm Glanerts anfangs des Jahres verstorbener Librettist Reinhard Palm setzen den einsamen Ozean als Metapher absoluter Fremdheit ein. Es wird nicht einmal klar, ob die Plasma-Manifestationen, gebildet nach den Traumata der Forscher, Versuche der Kommunikation einer Intelligenz, spielerische Ausformungen eines kindlichen Wesens oder Schöpfungsversuche eines unvollkommenen Gottes sind. Aber am Beispiel von Kelvins Frau Harey erweist sich, dass sich die Wesen aus dem Plasma nach und nach von den Gedanken-Matrizen ihrer Verursacher emanzipieren, selbständig werden, eine eigene Persönlichkeit entwickeln.

Ein anderer, wichtigerer Aspekt von „Solaris“ ist der einer Selbsterkenntnis: „Menschen suchen wir, niemanden sonst. Wir brauchen keine anderen Welten, wir brauchen Spiegel“, resümiert Kelvin. So wird die Reise zu den Sternen zu einer Reise zu sich selbst. Dass Kelvin am Ende den Ozean aufsucht, spricht freilich dafür, dass der auf sich selbst zurückgeworfene Mensch trotz allem das große „Andere“ sucht: Ohne Hoffnung, aber in Erwartung, und mit einem Glauben. Solaris als großes Gegenüber, das dem einsamen Einzelnen in der absoluten Verschiedenheit sich selbst offenbart. Vielleicht der „Gott“, den der Mensch – so meint Glanert – in aller Erforschung des Jenseitigen und des Weltraums sucht?

Der Inszenierung Kinmonths fehlen bei aller szenischen Sorgfalt, bei aller Intensität, mit der er die Personen führt und charakterisiert, der Aspekt der Fremdheit und das Element der Überraschung. Die „Gäste“ schleichen sich unspektakulär ein, ohne dass ihre verstörende Präsenz spürbar wird. Der Chor, der den Ozean repräsentiert, agiert sichtbar in Alltagskleidern auf der wasserbedeckten Bühne, bewegt sich in fließenden, ritualartigen Choreografien: das Fremde bleibt gleichwohl unausgedeutet. Den Reiz des Geheimnisvollen, Uneindeutigen will Kinmonth allein mit der Interaktion der Personen gewinnen. Doch die Verweigerung der Metaphysik führt ins Alltägliche, Lems Kritik an einem platten Empirismus bleibt stumpf.

Vordringen in die Tiefenschichten der Partitur

Umso faszinierender dringt Lothar Zagrosek in die Tiefenschichten von Glanerts Partitur vor. Mit dem erfahrenen Dirigenten am Pult vollbringt das Gürzenich-Orchester Wunder klanglicher Differenzierungen. Optimal auf die akustischen Verhältnisse des Opernzelts am Dom eingerichtet, werden die atmosphärischen Qualitäten von Glanerts Musik ausgeschöpft: das Spiel mit minimalen klanglichen Verschiebungen wie bei Ligeti, der Mut zum expressiven gesanglichen Bogen wie in der zeitgenössischen amerikanischen Oper, aber auch die Schärfe der Kontraste wie bei Glanerts Lehrer Henze.

Die Disziplin der Musiker ist beispielhaft, die Klangentwicklung in jedem Moment beherrscht. Glanert bezieht sich auf musikalische Traditionen – etwa auf Wagners „Rheingold“ in dem emblematischen Viertonmotiv des Beginns und in seinen raunenden liegenden Akkorden –, verwendet vertraute Formen etwa in Final-Ensembles. Das wirkt in keinem Moment imitierend oder epigonal, sondern ist kreativ ins Heute transferiert.

Gesungen wird in Köln mit hohem Einsatz und ausgefeilter Charakterisierungskunst: Nikolay Borchev gestaltet einen Kris Kelvin zwischen Schock und Zärtlichkeit, Martin Koch gibt Snaut die Züge eines weisen Hysterikers, Bjarni Thor Kristinssons Bass versucht in klangüppiger Deklamation, die Reste seiner Wissenschaftler-Fassade zu sichern. Unter den „Gästen“ singt Qiulin Zhang mit strömendem Alt eine fast zu schöne, dann aber auch abgründig düstere Baboon – ein rätselhaftes Wesen, halb Frau, halb Äffin. Der Mutter Snauts, mit der er offenbar ein inzestuös fäkalophiles Verhältnis pflegte, gibt Dalia Schaechter schneidend-schmeichelnde Kommandotöne. Hanna Herfurtner fegt mit obszönen Sätzen als „Zwerg“ über die Szene – das Gespenst, das Sartorius peinigt. Und die tragende Rolle der Harey wird von Aoife Miskelly sehr zart, glaubwürdig und sensibel gestaltet – auch wenn das kopfige Stimmchen schon beim Orchester-Mezzoforte keine Chance mehr hat.

Szene aus Hasses "Leucippo" mit Regina Richter als Dafne und Valer Sabadus als Leucippo. Foto: Paul Leclaire

Szene aus Hasses „Leucippo“ mit Regina Richter als Dafne und Valer Sabadus als Leucippo. Foto: Paul Leclaire

Glanerts Oper bietet noch einiges an Deutungspotenzial; die Vorfreude auf die Berliner Produktion – und vielleicht weitere an anderen Häusern – konnte die beachtliche Kölner Inszenierung auf jeden Fall fördern.

Bei Hasses „Leucippo“ bleibt der Wunsch nach einem Wiedersehen auf der Bühne verhaltener. Auch wenn Tatjana Gürbaca den Mythos aus dem Arkadien des Daphne-Apoll-Mythenzyklus intelligent als eine Geschichte unter der Gegenwart nahe gerückten Teenagern erzählt, auch wenn die Zerstörung einer kindlich ungebrochenen Welt durch das verstörende Aufbrechen sexuellen Begehrens kein Thema von Gestern ist, auch wenn Gianluca Capuano mit den feurigen Musikern des Concerto Köln die prächtige, manchmal aber auch einförmige Musik Hasses aufregend zum Klingen bringt: Rettung verheißt dem langatmigen Stück auch dieser ambitionierte Versuch nicht. Immerhin: Mit Valer Sabadus als Leucippo stand einer der Counter-Stars der Gegenwart auf der Bühne; von Clara Ek als Climene war kluge, technisch versierte Stilistik zu hören. Und die Momente, in denen aufblitzt, was Hasses Musik auch heute noch wertvoll macht, waren den Besuch im Palladium allemal wert.




Festspiel-Passagen V: Metapher absoluter Fremdheit – „Solaris“ in Bregenz

Stanislaw Lems Roman „Solaris“ hat seit seinem Erscheinen 1961 – auf Deutsch erst 1972 – nichts von seiner Tiefe und Faszination eingebüßt. Andrej Tarkowski (1972) und Steven Soderbergh (2003) haben Filme gedreht; es gibt einige Adaptionen für die Bühne – zuletzt am Münchner Volkstheater, am Burgtheater Wien und am Schauspiel Zürich. Nun hatte bei den Bregenzer Festspielen eine „Solaris“-Oper Premiere – die zweite nach der Kammeroper von Michael Obst (München, 1996). Der Henze-Schüler Detlev Glanert hat auf ein Libretto von Reinhard Palm komponiert, das sich eng an den Roman Lems anlehnt.

„Solaris“ ist vielschichtig: Auf der Science-Fiction-Ebene dreht es sich um den Versuch, Kontakt mit einem Wesen aufzunehmen, das einen ganzen Planeten umspannt; ein Plasma-Ozean, der seit Urzeiten alleine um seine beiden Sonnen kreist. Eine Lebensform, die schon von ihrer bloßen Existenz her keinen Begriff vom „Anderen“ hat. Wie kann Kommunikation mit einem solchen Fremden überhaupt möglich sein?

Auf der psychologischen Ebene konfrontiert „Solaris“ mit den Folgen der Interaktion. Auf der Forschungsstation, die das Planeten-Wesen umkreist, kommt es zu seltsamen Erscheinungen: „Gäste“ tauchen auf, Materialisationen verdrängter Träume und Erinnerungen. Solaris liest die traumatischen, „abgekapselten“ Erinnerungen der Forscher auf der Station aus den Gehirnen heraus und lässt sie als reale Personen auf der Station erscheinen. Das Entsetzliche ist, dass diese „Gäste“ aus den verborgensten Winkeln der Psyche stammen: „….unsere eigene monströse Hässlichkeit, unsere Albernheit und unsere Schande“, wie der Forscher Snaut formuliert. Dem neu eingetroffenen Psychologen Kris Kelvin erscheint seine junge Frau Harey. Sie beging Jahre vorher Selbstmord – an dem sich Kelvin mitschuldig fühlt.

Keine Rolle in der Oper spielt Lems satirische Auseinandersetzung mit der Wissenschaft: Die „Solaristik“ ist in seinem Roman eine seit hundert Jahren etablierte Forschungsrichtung mit zahllosen Schulen, Thesen, Dogmen; ein Lehr- und Literaturgebäude, das genüsslich ausgebreitet wird, in dem sich die wirklich wichtigen Erkenntnisse jedoch in entlegenen Anhängen, trivialwissenschaftlichen Sammlungen oder fachfremdem Material finden. Lem formuliert seinen Skepsis gegenüber der menschlichen Erkenntnisfähigkeit und einem das Gegenteil postulierenden Forschungs-Betrieb. Die „Solaristik“ mutet an wie eine Ersatz-Religion, flankiert von einer Ersatz-Theologie, die das „Wesen“ des unfassbaren Ozeans ergründen will.

Denn „Solaris“ hat in seiner einsamen Einmaligkeit etwas Göttliches. Er setzt mit seiner stabilen Umlaufbahn – die es in einem Doppelsonnensystem nicht geben dürfte – die Gesetze der kosmischen Physik außer Kraft. Auf seiner Oberfläche ereignen sich ständig Neuschöpfung und Verfall. Souverän erschafft er die Erscheinungen aus dem Gehirn-Inhalt der Menschen; ihre Materie existiert allein durch seine Energie. Sein In-Sich-Ruhen, seine unberührbare Majestät erinnern an die jenseitige, aller menschlichen Erkenntnisfähigkeit entzogene Natur Gottes.

Aber die Solaris ist auch ein „unvollkommener Gott“, dem Kommunikation offenbar nicht gelingt. Seine Selbstäußerungen scheinen hilflose Versuche eines kosmischen Kindes. Oder experimentiert das Wesen mit den Menschen statt sie mit ihm? Keine Offenbarung erschließt die Solaris, wie sie wirklich ist – nicht einmal, wie sie erscheinen möchte. Lems Metapher der absoluten Fremdheit ist perfekt.

Für die Menschen in der Station wird die Bahn um den Planeten zum Ort ihres eigenen Fegefeuers. Der alte katholische Begriff meint die Konfrontation mit dem Verdrängten, das erschreckt, peinigt, beschämt. Das, was wir nicht „wahr haben wollen“. Die Seiten unserer Persönlichkeit, die wir selbst nicht in unser Selbstbild integrieren können oder wollen: „Man liebt es und es ekelt uns vor dem Gegenstand unserer Begierde und ist zugleich verrückt danach…“, beschreibt der Wissenschaftler Snaut, was sich auf der Station materialisiert, ihre Bewohner beherrscht und bis zum Suizid treibt. Unzerstörbare Vergangenheit, unbestechlich. „Wir brauchen keine anderen Welten. Wir brauchen Spiegel“, resümiert Kelvin. Wirklich? Denn Kelvin sucht am Ende, auf der Oberfläche Solaris‘, das Eingehen in das gigantische „Andere“. Doch Erlösung ist das nicht: „Die Zeit der grausamen Wunder ist noch nicht vorbei“, sind seine letzten Worte.

Glanert und Palm akzentuieren in ihrer Oper die Frage nach den Traumata, denen wir nicht entfliehen können: Alle Erforschung des Jenseitigen und des Weltraums beruht nach Glanerts Worten auf dem Wunsch, „einen Gott oder zumindest einen großen Bruder zu finden, der uns einen Teil unserer Schuld abnimmt“. Die „Gäste“ erhalten in der Oper ein ausgeprägteres Profil als im Roman: die „Negerin“, die Stationschef Gibarian zum Selbstmord treibt; der „Zwerg“, der den stets um Kontrolle ringenden Intellektuellen Sartorius peinigt; die „Alte Frau“, die Snaut halb als Mutter, halb als Domina demütigt. Im christlichen Verständnis braucht der Mensch einen Anderen, der ihm die Befreiung von seinen Schatten zusagt. Nicht umsonst dürfte Andrej Tarkowski seinem „Solaris“-Film Bachs Choral „Ich ruf zu Dir, Herr Jesu Christ“ unterlegt haben.

In der Inszenierung von Moshe Leiser und Patrice Caurier blieb die Bregenzer Uraufführung von „Solaris“ allerdings zwischen Raumschiff Enterprise und interstellarer Beziehungskiste stecken. Christian Fenouillat hat eine dem Klischee einer Raumstation entsprechende Bühne gebaut, mit von Bullaugen durchbrochenen weißen Wänden, auf denen die farbigen Projektionen von Tommi Brem ein Versuch sind, Lems uneinholbare Beschreibungen der fremdartig faszinierenden Atmosphäre der Solaris wenigstens ansatzweise zu visualisieren. Aber die blinkenden bunten Dioden an irgendwelchen Geräten werfen uns wieder zurück in Sci-Fi-Kitsch.

Im Licht des lebenden Ozeans: Kelvin (Dietrich Henschel) und Harey (Marie Arnet). Foto: Forster/Bregenzer Festspiele

Im Licht des lebenden Ozeans: Kelvin (Dietrich Henschel) und Harey (Marie Arnet). Foto: Forster/Bregenzer Festspiele

Wenn dann die „Negerin“ (Benita Hyman) als monströser Fleischberg über die Szene watschelt, lässt das zwar das Publikum staunen, holt aber den unheimlichen Augenblick der ersten Erscheinung eines „Gastes“ nicht ein. Ihre Stärke hat die Inszenierung in den Momenten, in denen Kris Kelvin und die Erscheinung seiner Frau Harey immer deutlicher realisieren, dass sich die bloße materialisierte Erinnerung verselbständigt. Dass sie Selbstbewusstsein entwickelt und über die körperliche Montage einer Toten aus dem Abbild einer Erinnerung hinaus zu einer eigenen Persönlichkeit wächst. Dietrich Henschel und Marie Arnet erfüllen diese Szenen mit vokaler Poesie.

Martin Koch und Martin Winkler zeichnen scharfe Porträts der Forscher: Der eine spricht als Snaut die Wahrheit in der ironischen Leichtigkeit eines Kurt-Weill-Songs aus; der andere versucht als Sartorius in schnarrender Deklamation, die Reste der wissenschaftlichen Fassade zu retten. Christiane Oertel (Alte Frau) und Mirka Wagner (Zwerg) verlieren nach und nach alle Hemmungen, sich kreischend und belfernd als Quälerinnen ihrer Opfer zu übertreffen.

Mit Markus Stenz, Noch-GMD in Köln, stand ein wissender Sachwalter für Glanert am Pult der Wiener Symphoniker. Er hat 2006 bereits die Uraufführung der Oper „Caligula“ in Frankfurt geleitet und sich – unter anderem mit dem Bundesjugendorchester – immer wieder für die Musik des Komponisten eingesetzt. In Bregenz dirigierte er im ersten Orchesterkonzert auch Glanerts Fassung der Schubert-Ballade „Einsamkeit“. Mit dem traditionell besetzten Orchester – plus Bassklarinette, Kontrafagott, Celesta – erweist sich Glanert in „Solaris“ wieder einmal als Klanggestalter ersten Ranges. Er meidet naheliegende psychedelische Klangnebel, setzt Tonfolgen ein, die im Lauf des Stücks thematisches Gewicht gewinnen, schreibt frei tonale sangliche Linien und ermöglicht Sängern und Orchestersolisten mitunter belcantistische Entfaltung.

Stenz realisiert die dramatische Attacke ebenso wie die bohrende Repetition, das weiträumige Auffliegen orchestraler Melodik ebenso wie Klanggebilde an der Grenze der Unhörbarkeit. Der Prager Philharmonische Chor unter Lukáš Vasilek repräsentiert unsichtbar das Solaris-Wesen, das sich – anders als im Roman – in der Oper in den vier „Interludien“ immer klarer artikuliert, allerdings in kryptischem Wortsalat, der wohl eher Fremdheit als eine beginnenden kommunikative Kompetenz ausdrücken will.

Die Bregenzer Inszenierung wird am 19. Mai 2013 von der Komischen Oper Berlin übernommen. Dass sich andere Bühnen des tiefgründigen Werks annehmen, wäre dringend zu wünschen: das szenische Potenzial harrt noch darauf, umgesetzt zu werden.