Der Krankenhausreport (Teil 2): „Wir sind die grünen Damen“

Heute sind zwei Veranstaltungen im Veranstaltungszentrum angesagt: Patientenberatung zum Thema Ernährung und ein katholischer Gottesdienst für alle Glaubensrichtungen. Ich muss zum EKG auf B1. Ich nehme Platz gegenüber dem Schreibzimmer B01.21. Hier gibt es Schreibzimmer. Das klingt nach Therapie. Sitzen hier diejenigen, die sich schreibend ihre Lasten von der Seele schreiben? Ist es etwa das Dichterzimmer?

Ich will hinein, aber es ist verschlossen. Vielleicht ein Geheimbund für alle Glaubensrichtungen. Neben meiner Bank ist das Patienten-WC, ein wunderbarer Hort für all die Bakterien, die hier ihr Unwesen treiben können. Das stille Rauschen wird plötzlich untermalt von einem anhaltenden Piepsen, das man bei Dr. House oder Emergency Room immer dann hörte, wenn die Spannung steigen sollte. Alarm. Exitus. Ich bin dran. Das Piepsen hört auf. Das EKG sagt: „Fit wie ein Turnschuh.“

Kunst im Spital

Kunst im Spital

Um 20.15 ist Nacht. Der Nachbar will den zweiten Teil eines Fernsehfilms sehen. „Okay“, sage ich verständnisvoll und schaue mir diese Wiederholung zum wiederholten Male an. Bereits nach Minuten vernehme ich Schlafgeräusche, die den Text in den Kopfhörern übertönen. Ich schließe die Augen und vor mir tut sich die Nacht auf in Form eines langen dunklen Ganges, in dem ich stundenlang auf- und abgehe.

Um 22.00 Uhr übernehme ich heimlich die Herrschaft über die Fernbedienung. Um 00.00 beschließe ich, Schlaf über mich kommen zu lassen, die Fernbedienung fest in meiner linken Hand. Um 2.15 Uhr habe ich das Gefühl, acht Stunden geschlummert zu haben. Um 3.20 Uhr bin ich sicher, dass schlummern nicht schlafen ist.

Disziplin wie im Luftschutzbunker

Um 5.50 Uhr kommt das erste von vielen Rollkommandos, die den Kranken an das erinnern, worum es im Leben geht: Disziplin und Gesundheit. „Guten Morgen!“ Das klingt so, als ob man direkt ohne Umwege sich in den Luftschutzbunker begeben soll. Es werden aber nur Papierkörbe geleert. Immerhin: Ordnung. Fünfzehn Minuten später wird die Tür erneut eingetreten. Dieses Mal wird ein Wagen hereingeschoben mit allerlei Gerät. Zwei starke Frauen schieben das Labor auf Rädern. Sie wollen messen. „Unter die Zunge“ lautet der freundliche Befehl für das Fiebermessen und „Arm freimachen“ für den Blutdruck, den man auf solche Weise um diese Uhrzeit krankenhausgemäß auf die notwendige Höhe treibt.

6.30 Uhr erneutes Rumpeln in den Gängen. Auf dem Flur ist offenbar der Bär los. Lautes Palavern, Geschirrgeklirre, als sei man bei der Frühschicht der Opelwerke zu besseren Zeiten. Frühstück – mit dem identischen Flashback wie beim Abendbrot. Bevor ich mich strafbar mache, nehme ich alles ein. Es sind immerhin Lebensmittel und darum geht es. Ich schiebe mir gerade das Brot mit Käse in den Mund, da hat mir eine neue Schwester schon die Armbinde umgeschnallt, um mir mein Blut abzunehmen. In der einen Hand das trostlose Käsebrot, aus dem anderen Arm wird zeitgleich gezapft. Ich solle noch etwas drücken. Also drücken mit der labbrigen Stulle in der Hand. Mein Gesicht ist beige wie der Streichkäse.

Ich gehe eine rauchen. Wo sich nachts noch die Krähen in den Bäumen versammelten nach lautem Getöse, ragen nun die leeren Äste unbewohnt vom Baum ab, als wären sie vereinsamt, blattfrei und winterlich. Taxis fahren vor. Selbsteinlieferer zuhauf. Zurück in meiner Kammer. Es erscheint eine Ernährungsfachfrau, die mich aufklärt über meine privaten Wahlmöglichkeiten. Also bestelle ich zum Frühstück am folgenden Tag Rührei mit Kräutern. Eine Schale Obst käme gleich sowieso. Sie wird gebracht wie die Medizin: Eine Banane, ein Apfel, eine Clementine und viel süßes Kekszeug. Um 10.00 Uhr liefert jemand die Tageszeitung, wahrscheinlich auch ein outgesourctes Unternehmen, zuständig für die Belieferung von Tageszeitungen in deutschen Krankenanstalten. Na also, geht doch.

Glaubensgemeinschaft der Liegenden

Kurze Zeit später – eine seltsame Begebenheit, eine dieser Situationen, mit denen man nicht rechnet. Eine ältere Dame mit grüner Bluse, gefolgt von einer jungen schwarzhaarigen Frau um die zwanzig. „Wir sind die grünen Damen“, sagt sie, „und dies ist unsere Neue.“ Grüne Damen? Sind sie an die Stelle des schwarzen Sensenmanns getreten? Gibt es eine neue Glaubensgemeinschaft für Liegende? Die ältere Dame fragt, ob ich Sorgen habe oder Probleme, über die ich sprechen möchte. „Ja“, denke ich, „endlich“. „Nein“, sage ich, „ich bin glücklich und zufrieden.“ Selten kam mir eine Lüge so schnell über die Lippen.

Sie verschwinden, wie sie gekommen sind, fast, als würden sie sich auflösen. Ich schaue bei Wikipedia nach. Vielleicht hätte ich sie herzen sollen oder in mein Bett einladen oder meine Hand zur Verfügung stellen. Ich weiß es nicht. Sie sind in der ökumenischen Krankenhaus- und Altenheim-Hilfe kirchenübergreifend tätig und christlich inspiriert. Meist übernehmen sie Vorlese-, Einkaufs- und andere Dienste. Das habe ich nicht gewusst. Vorlesen aus Kafkas „Verwandlung“ – das wäre eine Behandlung gewesen, der ich mich gerne untergeordnet hätte.

Zwölf Uhr mittags…

Das Mittagessen wird gebracht. Es ist knapp vor zwölf, eine Uhrzeit, die ich zuletzt als Zehnjähriger zu Hause mit Essen in Verbindung gebracht hatte. Zeitgleich kommt der Chefarzt und spricht mit mir. Ich warte ebenso auf Erkenntnisgewinne wie er. Wir sitzen in einem Boot. Er kündigt für heute und morgen weitere Untersuchungen an. Die Tage sind ausgefüllt. Die Brühe habe ich verschmäht, weil kalte Brühe eher etwas ist für die Sommerzeit unter Pinien in Andalusien. Draußen ist Winter im Ruhrgebiet. Der Rosenkohl und die Salzkartoffeln und das Stück Braten erhalten meine Aufmerksamkeit. Alles lauwarm, wie es die Griechen mögen. Ich muss also immer, wenn ein Essen bereitgestellt wird, damit rechnen, dass eine ärztliche Begleitung da ist, die mich zeitgleich untersucht.

Plötzlich gibt es Privat-Alarm. Der alte Herr neben mir muss raus. Man muss ihm die Fernbedienung aus der Hand operieren. „Aber…“, sagt seine treusorgende Frau. „Tut mir Leid“, sagt die Schwester, die für die Zimmervergabe zuständig ist.  „Sie hätten vorher bezahlen sollen“, diesen Liegeplatz bekäme nun ein richtig Privater. Der Pfleger, ein junger Bursche mit wirr auf dem Kopf verteiltem Haar, bestätigt der Gattin des alten Herrn, dass er im Dreier von ihm genauso behandelt würde wie im Zweier. Das Bett wird samt Hab und Gut des Nachbarn herausgefahren. Mit Blutschnüren verkabelt sehe ich ihn winken, aber das ist nur meine Vorstellungskraft im Zuge der Umzugsmaßnahmen. Mann und Frau wehren sich mit Händen und Füßen. Sie verschwinden in einem Dreier-Saal. Ich habe jetzt eine Tanzfläche.

Hier geht es nicht um Wellness

Krankheit ist nicht Wellness. Hier soll man sich nicht wohl fühlen. Man wäre falsch. Man stellt sich seiner Krankheit. Es ist ein Härtetest, nichts für Weicheier. Wer Ruhe will, geht gleich ins Grab. Hier gilt es, was auszuhalten, Gemeinschaft vor allem. Ich spüre es schon. Habe Magenschmerzen. Die Nase läuft plötzlich. Es juckt. Nachts schreit und stöhnt es auf den Gängen und aus den Zimmern. Hier lohnt es sich, Aufnahmen zu machen, die später für Splattermovies genutzt werden können. Das ist das Leben und darum geht es ja. Aber ich kann mir ja noch eine rauchen gehen.

Draußen stehen drei, vier Taxis mit laufendem Motor. Da trifft man sich zum Durchatmen und Rauchen.

Ein Neuer wird in mein temporäres Wohnzimmer eingeliefert. Ein großer Mann an die zwei Meter. Kopfschmerzattacken plagen ihn. Er braucht eine Bettverlängerung und ist Computerfachmann. Jetzt bin ich der ältere und habe die Fernbedienung schon auf mein Nachttischschränkchen gelegt. Wenn er etwas Bestimmtes schauen wolle, solle er ruhig Bescheid sagen, sage ich großzügig. Das sei okay. Er habe sein Notebook. Für mich ist das auch okay. Ich trinke meinen inzwischen obligatorischen „Cafeteria-Cappuccino für unterwegs.“ Es folgen zwei Untersuchungen auf A5. Elektronik. Impulse. Eine gelungene Abwechslung vor dem Mittagessen. In zehn Minuten solle ich mich auf B1 einfinden zum EEG. „Jawoll!“, sage ich, „ich laufe los“. „Nicht jetzt! In zehn Minuten!“, heißt es. Ich könne mir ja noch eine rauchen.

Der Rest des Tages ist Zeitvertreib zwischen Bettkante, Dieselgeruch und Fahrstuhlfahren.

Paris erkennt man am Eiffelturm

Krankenhausgänge sind kein kunstfreier Raum. Im Gegenteil. Hier wird den lokalen Künstlern Raum gegeben. Auf A5 beherrscht Mischtechnik auf Leinwand die Ausstellung. Impressionen in Pastell. Cities. Das Motiv „Paris“ irritiert mich. Es zeigt deutlich den Eiffelturm. Das ist subtile Direktheit. Auch „Pisa“ kommt ohne den schiefen Turm nicht aus. Wie solle man sonst Pisa erkennen? Ein Gesichtsausschlag macht auch ohne sichtbaren Ausschlag keinen Sinn – also für den Betrachter.

Im Wartebereich zum EEG zieren Landschaftsbilder die Wände, an die man wartend unweigerlich zu starren beginnt. Wo sonst, wenn nicht hier, hat das Kunstwerk uneingeschränkte Aufmerksamkeit? Wer geht in ein Museum, um sich stundenlang ein einziges Bild anzusehen? Leicht der japanischen Seidenmalerei angelehnt, ist hier Landschaft Landschaft. Im Foyer des Hauses gibt es Aquarelle und bunte Malerei, wegweisend für den weiteren Verlauf der Gänge und Abteilungen. Manche Bilder hängen schief. Niemand wird sie je gerade richten.

In allen Nachrichten liest und hört man heute Berichte über Zustände in deutschen Krankenhäusern. 19000 Tote durch Behandlungsfehler. Das ist prickelnd, wenn man gerade selbst einsitzt oder –liegt. Überhaupt ist Humor unerlässlich. An der Wand meines Zweierappartments hängt ein Gerät, aus dem Desinfektionsmittel sprühen, wenn man es betätigt. Es betätigt nur niemand. Ich mache einen Versuch und die Flüssigkeit sprüht aus einer Düse auf meine Hose, an eine Stelle, wo das Erklären von Flecken keinen glaubwürdigen Sinn macht.

Fortsetzung folgt




Der Krankenhausreport (Teil 1): „Ich nehme dann das Einzeldoppel“

„Ich brauche etwas Schleim von Ihnen!“ So beginnt der Besuch an meinem neuen Bett, die Befragung des Stationspersonals nach meiner Selbsteinlieferung ins Spital. Das hatte ich am Sonntag noch im Tatort gesehen.

Sie nimmt diesen langen Stab mit dem Watteköpfchen, schiebt ihn in meinen Mund, dreht ein wenig und schiebt ihn dann sofort in ein Nasenloch, dreht ihn wieder hinaus, den Stab. Um 13.40 Uhr melde ich mich zuvor auf Station B4. Ich müsse zuerst in die Patientenaufnahme unten links.

Ich lasse meinen Reisekoffer zurück, an dessen Tragegriff der noch den Gepäckaufkleber der Lufthansa baumelt. Dieser dunkelrote Koffer hatte bisher für mich nur eine einzige Bedeutung: Reisen. Dazu verfolge ich eine Packliste, die ich angefertigt hatte, um nichts zu vergessen. Es gibt die Varianten „2 Tage“, „3-5 Tage“, „bis zu 10 Tagen“. Daraus folgen die Anzahl der Socken, Unterwäsche, Hemden etc., die mir den Aufenthalt am jeweiligen Reiseort – zumindest was die Kleidungsvariationen betrifft – variabel gestalten soll. Ein bisschen Urlaubsgefühl ist dabei, wenn ich diesen Trolley durch die Gänge schiebe. Hier allerdings suche ich nicht den richtigen Terminal, sondern die richtige Station, ein Urlaub also zur Verhärtung weicher Lebensgefühle.

Einzeldoppel

Einzeldoppel

Ich melde mich an und erhalte eine Info-Mappe der Krankenanstalt mit einem kleinen Prospekt für Zusatzleistungen. Die Fotos haben etwas von einem Reiseprospekt. Man kann also Extras nachbuchen. Zum Beispiel Einzeldoppel. Das kenne ich von meinem ersten Urlaub, damals in den 70ern auf Mallorca. Damals hatte ich ein Einzeldoppel, wusste also vorher nicht, wer noch in meinem Bett wohnt. So ist das also auch hier. Ich fahre wieder hoch zur Station B4 und frage die Schwester in der Rezeption nach einer solchen Sonderleistung und deute auf das Foto im Prospekt. Vor einer bunten Wandtapete liegt eine fröhliche Einzelperson in einem opulenten Bett. Sie lächelt so wie auch die Schwester. Man habe ein solches Einzel nicht. Die Diensthabenden lächeln unisono. „Okay“, sage ich, „ich verstehe. Ich nehme dann das Einzeldoppel.“ Ich könne mir ruhig noch eine rauchen gehen.

Bitte im Voraus bezahlen

Das Zimmer, also das Einzeldoppel, soll ich im Voraus bezahlen. Die Dame in der Patientenanmeldung muss wieder ein paar Formulare ausfüllen. Ich kann per Karte bezahlen. Ist klar, wer hier bucht, dessen letztes Stündlein könnte geschlagen haben und dann ist es schwer, an die Kohle zu kommen, also vorab cash. Kein Sonderfall also. 59,00 Euro inklusive Tageszeitung, heißt es. Der Chefarzt sagte mir schon bei meinem Vor-Einlieferungsgespräch, dass ich nicht in einem Schlafanzug herumlaufen müsse. Von Dinnerkleidung hat er nicht gesprochen. Also sitze ich in zivil auf der Bettkante und schaue auf graue Dächer. So wie es die Wahnsinnigen tun, wenn es um Filmszenen geht. Die Kamera zeigt den Kranken von hinten auf der Bettkante sitzend, aus dem Fenster schauend. Unten draußen meist ein Park mit einer Bank. Dieses Zimmer ist ein Einzeldoppel mit einem Flachbildschirmfernseher. Keine bunte Tapete, aber ein geräumiges Bad.

Bettnachbar mit Fernbedienungshoheit

Der Zimmer- und Bettnachbar ist ein älterer Herr, der an Zu- und Ableitungen gefesselt ist. Er hat die Fernbedienungshoheit. Es läuft RTL2. Das deprimiert mich, gelinde gesagt. Ich sollte zur Rezeption flitzen und auf eine Reisepreisminderung von mindestens 20% pochen. Aber ich versuche stattdessen, mir etwas Niederträchtiges einfallen zu lassen, um an die Fernsehhoheit zu kommen. Nach circa 20-minütigem Bettkantensitzen fällt mir etwas ein, aber ich werde es nicht tun. Man würde mich in ein Zimmer verfrachten, welches nicht einmal über eine Bettkante verfügt.

Bei der Schleimentnahme kurze Zeit später meint die Schwester, sollte ich jenen Virus oder jenes Bakterium mitgebracht haben, müsste ich umgehend in ein Einzelzimmer, Aber es gelingt mir nicht, mir diese kleinen Biester schnell zu besorgen. Also Doppel-Einzel. Fertig. Immerhin gelte ich jetzt als „privat“, nur mit der gleichnamigen Sphäre ist nicht weit her. Scheinbar sieht man mir das Private an. An der Rezeption der Empfangshalle frage ich nach einem Kopfhörer. „Sie müssen nichts zahlen. Sie sind ja privat, “ sagt Frau Sommer. Vielleicht liegt es an meiner Stimmlage oder Haltung. Ich gebe ihr trotzdem zwei Euro. Das wirkt wie ein Strauß roter Rosen. „Schon gut“, sage ich in meiner Graf-Koks-Haltung. Und ich könne mir ja noch eine rauchen.

Draußenk in der fünfzig Meter vom Eingang entfernten Raucherbox für die Aussätzigen, aber immerhin Wind geschützt, stehe ich rum wie man nur rumstehen kann. „Ich bin privat“, denke ich. Dass man eines Tages für reine Privatheit extra zahlen muss, ist mir längst klar. Privatier innerhalb eines Massensystems – das können sich eines Tages nur die Reichen leisten.

Nach den Elektroschocks eine rauchen gehen

Es ist gut, dass sich die Türen ins Spital automatisch öffnen. Das hat etwas Erhabenes. Ich soll in den fünften Stock kommen zur ersten Untersuchung. Es gibt Elektroschocks. Ich weiß, was auf mich zukommt. Bereits im Vorfeld meiner neurologischen Laufbahn hatte ich diese Untersuchung über mich ergehen lassen. In einem stillen Raumschließt sie mich an ein Gerät an, die Mitarbeiterin, die für Elektroschocks ausgebildet wurde. Ich werde nicht als Ganzes angekabelt, sondern nur Beine, Füße und Hände. Und es zuckt und stößt. Das erinnert mich an Bilder aus einem Schlachthof. Dort vibrieren die Schweine und Rinder nach dem Elektroschlag noch etwas nach. Sie zucken, bevor sie zur Wurst werden. Auch ich zucke und es zeigt, dass Leben in mir tobt. Das ist gut. Und anschließend könne ich ja noch eine rauchen gehen.

Mein Zimmernachbar schaut jetzt irgendein Reality-Format. Ich versuche, Müdigkeit in Schlaf zu verwandeln. Ich stöpsele den Kopfhörer in mein iPhone und höre Radio. Es kommt zum ärztlichen Aufnahmegespräch.

Der Arzt hat etwas von einem Assistenz-Arztdarsteller in Arztfilmen. Er fragt Fragen, die ich bereits vorher sorgfältig schriftlich beantwortet hatte. Er füllt seinen Aufnahmearztbogen aus und sagt, er sei mit der Diagnose seines Chefs einverstanden. Auf Wiedersehen. Ich sitze auf der Bettkante und lese meine Emails auf dem iPhone. Kurz zuvor hatte ich dem Arzt noch meine Röntgenaufnahmen hintergeworfen. „Hier meine Röntgenbilder“, rief ich, „Füße, Hände, Hüfte. Falls das von Interesse ist.“ Ich hätte auch noch Lunge und Hals, auch den kompletten Kiefer. Fast widerwillig nahm er die großen Umschläge mit den Aufnahmen und verschwand mit wehendem Kittel.

Ich sehe mal unten im Foyer nach. Dort gibt es laufend Ankündigungen zum Veranstaltungsprogramm des Instituts. Es gibt Sprechstunden bei einem Patientenfürsprecher. Mh?

Dinner

Dinner

Seelsorge, Selbsthilfegruppen aller Art und ein Klavierkonzert. Alles Vorbereitungen auf den Ernstfall. Ich bekomme Besuch und das erste Abendbrot. Es ist 17.00 Uhr! Wir besuchen die Cafeteria, die ihre Öffnungszeiten bis 18.30 Uhr begrenzt. Vielleicht gibt es da ein Gesetz, denn nun wäre die Zeit für den großen Schnitzel- und Pommesumsatz.

Abendbrot als Zeitreise in die 1970er

Das Abendbrot war eine Zeitreise an den Anfang der 1970er, als ich meinen ersten Krankenhausaufenthalt absolvieren musste. Sechs Wochen stationär. Das Abendbrot war exakt dasjenige, welches ich soeben lieblos angeknabbert hatte. Eine Scheibe Graubrot, eine Scheibe Weißbrot, Marmelade und eine Packung billigster Streichkäse of the world, Pfefferminztee und ein Fruchtjoghurt ohne Löffel. Damit sind alle Erkenntnisse der letzten Jahre über Ernährung über den Haufen geworfen. Alles, was man über gute Ernährung seit den 70ern hat erkennen können, wird hier missachtet. Aber ich esse mein Brot und trinke meinen Pfefferminztee, weil ich mich den Gegebenheiten einer Krankenanstalt anpassen will. Das gehört hier zum Überlebenstraining und was ist gegen deutsches Brot einzuwenden? Gar nichts. Die Amerikaner fahren Meilenweit, um etwas graues Brot zu bekommen, anstelle der weißen Knetmasse, die man in Toaster drückt.

Fortsetzung folgt