Gelsenkirchen zeigt Leonard Bernsteins „Mass“ und bestätigt die Stellung als spannendstes Opernhaus der Region

Bernsteins "Mass": Das Tanzensemble des Musiktheaters im Revier. Foto: Radu

Leonard Bernsteins „Mass“: das Tanzensemble des Musiktheaters im Revier. (Foto: Radu)

Gelsenkirchen ist derzeit das spannendste im Dutzend der Opernhäuser des Rhein-Ruhr-Gebiets. Seit zehn Jahren ist Generalintendant Michael Schulz im Amt und bereichert das Musiktheater mit wichtigen, aber selten gezeigten Werken. Ein Signal dafür – über die Hommage zu Leonard Bernsteins 100. Geburtstag hinaus – ist die szenischen Aufführung von Bernsteins „Theaterstück für Sänger, Tänzer und Schauspieler“ mit dem Titel „Mass“, mit dem das Musiktheater im Revier die Serie der Neuinszenierungen der Spielzeit 2018/19 eröffnete.

Ein Riesenprojekt mit 180 Beteiligten und einem ungewöhnlichen Thema: Bernstein, obwohl kein Christ, holt die römisch-katholische Messliturgie aus dem Raum der Kirche heraus und stellt sie in einen säkularen, universellen Zusammenhang. „Mass“ ist geschrieben zur Eröffnung des John F. Kennedy Centers of the Performing Arts in Washington im Jahr 1971.

Neugieriger Blick auf die Möglichkeiten des Musiktheaters

Steampunk am Musiktheater im Revier: Klein Zaches, genannt Zinnober, nach E.T.A. Hoffmann, mit Rüdiger Frank (Klein Zaches) und der Band Coppelius. Foto aus der Premierenserie 2015: Pedro Malinowski

Steampunk am Musiktheater im Revier: Klein Zaches, genannt Zinnober, nach E.T.A. Hoffmann, mit Rüdiger Frank (Klein Zaches) und der Band Coppelius. (Foto aus der Premierenserie 2015: Pedro Malinowski)

Mit der szenischen Aufführung setzt das MiR die Reihe von Musiktheater-Produktionen fort, die sich mit Fragen der Transzendenz befassen. Dazu gehörten etwa Paul Hindemiths „Mathis der Maler“ oder Francis Poulencs „Dialogues des Carmélites“, aber auch – in einem weiteren Sinne – die fulminante Entdeckung eines neuen Genres: „Klein Zaches, genannt Zinnober“ ist die Umsetzung der gleichnamigen Erzählung E.T.A. Hoffmanns auf die Bühne in Form einer Steampunk-Oper mit der Gruppe „Coppelius“. Die Aufsehen erregende Inszenierung, die Steampunk-Fans aus ganz Deutschland nach Gelsenkirchen lockte, ist in dieser Spielzeit noch zwei Mal zu erleben: Ein szenisch faszinierendes Spektakel, das die Frage stellt, was denn an der wohlgeordneten bürgerlichen Welt überhaupt noch wirklich ist, oder nicht längst von einer geheimnisvoll-gespenstischen Sphäre zu Wahnbild, Imagination oder Täuschung verzerrt wurde.

Schulz hat einen offenen und neugierigen Blick auf die vielfältigen Möglichkeiten des Musiktheaters, der Mainstream wie „Das Rheingold“ oder „Nabucco“ kombiniert mit ausgefallenen Zugriffen auf altbekannte Werke wie in der letzten Spielzeit „Der Vetter aus Dingsda“ oder demnächst „Eugen Onegin“. Statt auf „Befragung“ sattsam bekannter Titel in bemühten Regiekonzepten setzt Schulz auf Werke, deren Namen zwar irgendwie bekannt sind, die auf der Bühne aber allzu selten auftauchen – in dieser Spielzeit etwa „Königskinder“ von Engelbert Humperdinck (Premiere am 24. November), „Die Perlenfischer“ von Georges Bizet und „Schwanda, der Dudelsackpfeifer“ von Jaromir Weinberger.

Verspricht 2018/19 wieder spannende Projekte:Das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen. Foto: Georg Lange

Verspricht 2018/19 wieder spannende Projekte: das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen. (Foto: Georg Lange)

180 Mitwirkende

Bernsteins „Mass“ stellt das gesamte Gelsenkirchener Ensemble auf die Bühne, dazu noch einen Projektchor und den Knabenchor der Chorakademie Dortmund. Richard Siegal hat sich von Stefan Mayer eine Konstruktion bauen lassen, die mit ihren hölzernen Lamellenflächen eine Halle, aber auch einen Kirchenraum bilden könnte. Er überwindet auch die „vierte Wand“ und bezieht Parkett und Ränge des Zuschauerraums mit ein. Mehr noch: Das Publikum wird aufgefordert, in einer Hymne („Almighty Father“) mitzusingen, was die Theaterbesucher dann doch spürbar überfordert. Gemeinsames Singen gehört nicht mehr zu den Gepflogenheiten unserer Gesellschaft. Aber der Versuch ist da, eine „Gemeinde“ über die Grenze von Bühne und Graben zu schaffen.

Fröhlicher „Gottesdienst“ auf der Bühne

Ganz amerikanisch, mit fröhlichen Begrüßungen und Umarmungen beginnt der „Gottesdienst“ auf der Bühne: rhythmisches Klatschen, Trommeln, Fanfaren wie von einer marching band, das alte Stufengebet („Ad Deum qui laetificat …“), das die katholischen Messdiener älterer Jahrgänge noch einpauken mussten. Das zwölftönige „Kyrie“ hebt sich aus der fröhlich feiernden Menge heraus; das „Hallelujah“ klingt jazzig und mit einem Anklang an das „scat-singing“ vor allem schwarz geprägter Gemeinden. Das Gebet an den Allmächtigen Vater, er möge gnädig das Ohr den Bitten neigen, wird dagegen intoniert wie eine der melodiösen Hymnen, wie wir sie etwa auch aus der anglikanischen Liturgie kennen: getragene, emotionale Musik zum Mitsingen.

Mit dem gemeinsamen Sündenbekenntnis („Confiteor“) beginnt der Zweifel, der sich zu einer fundamentalen, die Gemeinschaft sprengenden Krise auswachsen wird. Der Zelebrant – Henrik Wager, ein fulminanter und gleichzeitig sorgsam sensibler Darsteller, als Sänger allerdings weniger einprägsam – ist mit ersten Einwürfen eines Straßenchores konfrontiert. Es ist bezeichnend, dass Bernstein, der die kommentierenden Zwischentexte gemeinsam mit Stephen Schwartz verfasst hat, gerade beim Thema der Schuld, der Sünde und der Reue ansetzt.

Henrik Wager und das Ensemble. Foto: Karl Forster

Henrik Wager und das Ensemble. (Foto: Karl Forster)

Gerade noch hatte das Ballett dieses Ritual mit scharfem Rhythmus getanzt, da erhebt sich die Sinnfrage: „Was ich sage, fühle ich nicht; was ich fühle, weiß ich nicht … Was ist wirklich? Ich weiß es nicht.“ Genügt ein bisschen „Mea culpa“-Theater, seine Schuld loszuwerden? Bernstein richtet den Blick auf eine der Grundfragen heutiger Spiritualität und hat genau erkannt, wie wenig die katholische Beichtpraxis der sechziger Jahre der Erfahrung des Menschen in der Moderne und der komplexen Frage nach existenzieller Schuld gerecht wurde.

Bernstein war ein bewusster Eklektiker und hat jedweden musikalischen Stil souverän eingesetzt, ob Choral oder jüdische Musik, Avantgarde und Tradition europäischer Kunstmusik, Jazz, Broadway-Schlager oder die Songs der alten music halls. So findet er für jeden Teil der Messe und für die sich zuspitzenden Konflikte um grundsätzliche Fragen eine faszinierende Vielfalt musikalischer Ausdrucksmittel.

„Ich glaube an Gott, aber glaubt Gott auch an mich?“

Die Gelsenkirchener Chöre, das Solistenensemble, die Neue Philharmonie Westfalen unter Rasmus Baumann und eine Jazz-Combo auf der Bühne zeigen sich flexibel der Stilvielfalt gewachsen. Die Einwürfe der Sänger aus der Menge spiegeln die großen Fragen, die unverrückbaren Zweifel: Wie ist das mit der Güte Gottes, mit der Gerechtigkeit, wenn jeder ohne gefragt zu sein in sein Leben und dessen Umstände geworfen wird? Kann ein Gott, der über unendlichen Welten thront, sich überhaupt um diesen einen Planeten und jedes einzelne Lebewesen darauf kümmern? Der Chor auf den alten Klagepsalm „De profundis“ fasst die geistlich-existenzielle Not zusammen, während der „street choir“ provokant fragt: „Ich glaube an Gott, aber glaubt Gott auch an mich?“

Die Zweifel quälen auch den „Celebrant“, der in einem großen Solo unter der Last zusammenbricht. Zuvor hat das „Agnus Dei“ mit seiner Friedensbitte die zunehmend aggressive Stimmung zur Explosion gebracht: Frieden jetzt!, wird gefordert – sicher damals auch eine Anspielung auf den Vietnam-Krieg – und der Chor verliert die Geduld: Können wir die Welt nicht bekommen, die wir ersehnen, werden wir diese in Brand setzen. Der Vorsteher des Gottesdienstes wird selbst zum Opfer. In gelungenen Massen-Choreografien und in der detaillierten Durcharbeitung einzelner individueller Rollen findet Regisseur und Choreograf Richard Siegal für solche dynamische Szenen starke Bilder.

Am Schluss ein Zeichen großer Hoffnung

Das Ende überrascht: Eine einzelne Knabenstimme intoniert über dem Chaos ein einfaches Lied, ein „Lauda Deum“, in das nach und nach die Stimmen des Chores eintreten. Das gemeinsame Lob Gottes gibt den Menschen Leben und Gemeinschaft wieder. Eine billig-fromme Lösung? Ein Teil des „kitsch“, den der Kritiker Harold Schonberg bei der Uraufführung der „Mass“ gallig attestierte? Wohl kaum. Sondern eher ein Zeichen großer Hoffnung, ein Bekenntnis des großen Denkers und Künstlers Leonard Bernstein zur letztgültigen Verwiesenheit des Menschen auf Gott – welcher Religion oder Konfession auch immer er angehört. In Zeiten der Gottvergessenheit und fundamentalen Religionskritik ein unbequemes Resümee.

Weitere Vorstellungen von Leonard Bernsteins „Mass“ in Gelsenkirchen am 9. Dezember 2018, 13. und 20. Januar 2019 (jeweils 18 Uhr) sowie am 16. Februar 2019, 19.30 Uhr. Info: www.musiktheater-im-revier.de

Bernsteins aufwändiges Werk wird konzertant auch in Düsseldorf in der Tonhalle gespielt: Aufführungen am 7., 9. und 10. Dezember. Info: https://www.tonhalle.de/reihen/reihe/Sternzeichen1/Bernstein-Mass/

 




Verblüffung im Konzert und auf der Kirmes

Zwei kleine Vorfälle sind zu vermelden. Einfach so. Entnehmt und folgert daraus, was Ihr wollt. Ob sie an irgend einer Stelle zusammenhängen? Ich weiß es nicht. Vielleicht bloß durch meine subjektive Wahrnehmung?

Herrrreinspaziert... (Foto: BB)

Herrrreinspaziert… (Foto: BB)

Zum einen war ich dieser Tage in einem Chorkonzert, das ich wegen fachlicher Unzuständigkeit an dieser Stelle nicht rezensieren werde – und auch in keinem anderen Kontext.

Doch mir fiel eine Kleinigkeit auf. Alle Sängerinnen und Sänger hatten ihre Noten dabei, schlugen sie auf und blätterten an den passenden Stellen um, wie man das so kennt. Nur ein Sänger hatte keine Doppelseite vor sich, sondern lediglich eine einzige; und das auch noch in einem kleineren Format. Nanu?

Bei näherem Hinsehen erwies sich, dass er auch nicht umblätterte, sondern jeweils kurz mit einem Finger nach oben wischte. Richtig: Er hatte seine Noten auf einem Tablet dabei, vielleicht war’s auch ein iPad. Egal. Einstweilen kommt einem das im Bereich der E-Musik noch ziemlich ungewohnt vor, und ich habe mich gefragt, ob diese Art, eine Partitur zu lesen, nicht gar eine minimale Einbuße an „hochkultureller Würde“ mit sich bringt, wenn Ihr wisst, was ich meine. Ist nicht, wenn man derart ein Tablet in den Händen hält, buchstäblich auch die Haltung zur Musik eine andere? Aber vielleicht irre ich mich auch gründlich.

Nach dem alten (und bewährten) Goethe-Motto „Denn was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen“ (ersetze „nach Hause“ durch „auf die Bühne“) ist es außerdem wohl bedeutend sicherer, die Singvorlage auf Papier bei sich zu haben. Man denke nur, was geschieht, sollte der Akku schwächeln oder die vermaledeite Technik sonstwie haken. Dann kann man nur inständig hoffen, dass der Sänger seine Partie vollkommen „intus“ hat.

Solche Gedanken beschäftigen einen dann also. Hauptsache, sie lenken einen nicht vom Eigentlichen des Konzerts ab. (Im Comic stünde an dieser Stelle: „*Hüstel*“).

Unverhoffte Begegnung mit einer „kopflosen Frau“

Zweiter Vorfall, völlig anderes Milieu, ganz anderes Genre, nämlich ein nostalgischer Dortmunder Jahrmarkt im Zeichen der „Steampunk“-Szene. Es waren Schausteller dabei, die – wie in längst verflossenen Zeiten – nicht nur eine schwebende Jungfrau, sondern auch eine „Dame ohne Unterleib“ und eine „Frau ohne Kopf“ zu zeigen versprachen, und zwar nicht etwa als Präparate oder einbalsamierte Relikte, sondern als leibhaftig lebende Wesen. Die bizarre (Gratis)-Veranstaltung nahm also im wohlweislich abgedunkelten Raume ihren Lauf. Manchen Kindern war’s – angesichts der einigermaßen geschickt inszenierten Trugbilder besagter Monstrositäten – des Grusels mehr als genug.

Doch dann tritt man ins Freie und sitzt kurz darauf im hellsten Sonnenschein vor dem Ort des Geschehens. Aber wer stöckelt denn da stiekum aus dem Bühneneingang nach draußen, sich scheu und verstohlen umblickend? Unverkennbar die „Frau ohne Kopf“, und zwar selbstverständlich m i t Kopf. Oha!

Immerhin wusste das Kirmes-Trüppchen mit einer „mentalen Konzentrationsübung“ zu verblüffen, bei der eine Frau auf der Bühne beliebige Geburtsdaten aus dem Publikum erriet. Lag’s an der Art der Fragen ihres Bühnenpartners (Wortanzahl, Wortstellung, Betonung und dergleichen), der sich die Ausweise zeigen ließ und vielleicht versteckte Hinweise übermittelt hat? Oder hatte sie einen winzigen „Knopf im Ohr“? Aber wer hätte ihr vorsagen sollen? Im Vorfeld eingeweihte Besucher kann man wohl ebenfalls ausschließen. Wenn sich das herumspräche! Also hat man doch noch staunen dürfen.