Mammutprojekt zum Abschluss der Ära von Steven Sloane: Richard Wagners „Ring“ konzertant in Bochum

Nachdem Richard Wagners Tetralogie an der Deutschen Oper am Rhein in der Regie von Dietrich Hilsdorf seine ersten kompletten Zyklen überstanden hat und sich in Dortmund Peter Konwitschny erneut an den „Ring“ machen wird, will auch Bochum nicht hintanstehen.

Sie stellten das Bochumer „Ring“-Projekt bei einer Pressekonferenz vor: Steven Sloane und Norman Faber. Foto: Werner Häußner

In der letzten Spielzeit, in der GMD Steven Sloane die Bochumer Symphoniker leitet, will er die 27-jährige Zusammenarbeit u.a. mit einem konzertanten Nibelungen-Ring krönen. Vorgesehen sind die vier Vorstellungen zwischen 25. September 2020 („Das Rheingold“) und 22. Mai 2021 („Götterdämmerung“). Für eine „Visualisierung“ im Anneliese Brost Musikforum Ruhr in Bochum wurde der Opernregisseur Keith Warner gewonnen. Unterstützt wird das Projekt von der Familie Norman Faber und die Faber Lotto-Service GmbH. Bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des Projekts war von einer „bedeutsamen sechsstelligen Summe“ die Rede.

Es soll „ganz, ganz anders klingen als sonst“

Steven Sloane nennt die geplante Umsetzung des „Rings“ mit seinem Orchester in Bochum „die Erfüllung eines Traums“. Er sieht in der Konzentration auf die musikalische Umsetzung der Tetralogie eine große Chance, viele Facetten herauszuarbeiten. Wagner wird nach Sloanes Worten in dem erst 2016 eingeweihten Bochumer Konzertsaal mit einer inzwischen oft gerühmten Akustik „ganz, ganz anders klingen als sonst“. Die Zuhörer hätten die Chance, Wagner als zentrale Figur des Musiktheaters nicht in der Distanz zwischen Bühne und Zuschauerraum, sondern „mittendrin“ in Kontakt mit dem Orchester auf dem Podium zu erleben. Auch Mäzen Norman Faber erhofft sich das Erlebnis eines „einzigartigen Klangs“.

Ergänzt wird der „Ring des Nibelungen“ durch einen „Kleinen Bochumer Ring“ für Menschen ab 10 Jahren. Dabei kooperieren die Bochumer Symphoniker mit Bochumer Schulen und Akteuren aus der freien Kulturszene. Von jeder „Ring“-Oper gibt es vier jeweils einstündige Vorstellungen, beginnend am 31. Oktober mit „Das gestohlene Rheingold“ und endend am 9. Mai 2021 mit „Die mächtige Götterdämmerung“.

Die Besetzung des Bochumer „Rings“ wird erst später bekanntgegeben; genannt wurden jedoch bereits Eva-Maria Westbroek (Sieglinde), Emily Magee (Brünnhilde), Claudia Mahnke (Fricka), Michael Weinius (Siegfried) und Simon Neal (Wotan).

Für den „Ring“ sind Abonnements erhältlich, die ab 3. Juni im Vorverkauf sind. Einzelkarten gibt es ab dem 17. Juni. Info: www.bochumer-symphoniker.de, Tel.: (0234) 910 86 66.




Mett-Igel statt Haifisch: In Bochum bringen Schauspiel und Symphoniker zum 100. Geburtstag wenig auf die Beine

Figuren aus der Vergangenheit: Jonathan Peachum (Martin Horn), Hauer-Hendrik (Dominik Dos-Reis), Jenny (Friederike Becht), Celia Peachum (Veronika Nickl), Polly (Romy Vreden) und der Kommissar a.D. Braun (Michael Lippold, v.l. Foto: Jörg Brüggemann)

Kinder, wie die Zeit vergeht. Der Haifisch trägt keine Zähne mehr im Gesicht, Mack the Knife ist nur mehr ein Mackie ohne Messer und verlebt sein Altenteil mit Frau Polly im Ruhrgebiet. Gemeinsam mit den Schwiegereltern Peachum hängen sie in Bochum in der Kneipe „Zur Ewigkeit“ ab. Sie warten auf den Beginn eines großen Festes, denn angeblich wird die Schenke 100 Jahre alt. Die Ewigkeit ist eben auch nicht mehr das, was sie mal war.

Mit dieser Kneipen-Kantate für Bettler, Bergleute und Betrunkene, die jetzt im Anneliese Brost Musikforum Premiere hatte, feiern das Bochumer Schauspielhaus und die Bochumer Symphoniker gemeinsam ihren 100. Geburtstag. Diesen bedeutenden Anlass hat es gebraucht, um nach vielen vergeblichen Anläufen endlich zu einer Koproduktion zusammen zu finden. Statt nun mit vereinten Kräften ein künstlerisches Großprojekt zu stemmen und beispielsweise Ibsens „Peer Gynt“ samt der Schauspielmusik von Edvard Grieg aufzuführen, gab man beim Komponisten Moritz Eggert ein neues Stück in Auftrag, das sich als inszenierte Ereignislosigkeit entpuppte.

Als Geschäftsführerin der Firma „Bergmanns Freund“ muss Polly (Romy Vreden) viel telefonieren (Foto: Jörg Brüggemann)

So wird „Ein Fest für Mackie“ zwar unentwegt angekündigt, kommt aber mangels Geld und Personal nicht in die Gänge. Der einst gefürchtete Gangster (Guy Clemens) will nicht von seinem Turm aus Kohle steigen, auf dem er in Bademantel und weißen Socken sitzt, als sei er ein Bruder der TV-Comedyfigur Dittsche. Da keift und wettert Romy Vreden als Polly Peachum ganz vergeblich.

Das Geld ist futsch, die Kneipe pleite und Pollys Firma „Bergmanns Freund“ findet keine Mitarbeiter mehr. Es ist Schicht im Schacht. Trotz virtuoser Betrunkenheits-Akrobatik, die Michael Lippold als Tiger Brown und Martin Horn als Jonathan Peachum auf ihren Barhockern vorführen, ist das von Schauspiel-Chef Johan Simons persönlich inszenierte Stück ungefähr so attraktiv wie der Mett-Igel, den Celia Peachum (Veronika Nickl) an der Bar zubereitet, die Simons und Oliver Kroll vor das Orchester gestellt haben.

Jonathan Peachum (Martin Horn,l.) und Kommissar Braun (Michael Lippold, r.) sind virtuos versoffen (Foto: Jörg Brüggemann)

Schmerzlich wenig reicht diese Anhäufung von Klischees an den Geist und das Genie von Brecht/Weill heran. Immerhin färbt die Vorlage ein wenig auf die Musik ab. Wo Moritz Eggert sich hörbar an berühmte Nummern wie den „Anstatt dass“-Song oder das Dreigroschen-Finale anlehnt, entwickeln die Bochumer Symphoniker unter der Leitung von Steven Sloane einigen Schmiss. Gekonnt auch die böse Ironie, mit der Eggert manche Musical-Süßlichkeit zentimeterdick aufträgt. Die Texte von Martin Becker passen sich hingegen ganz dem Niveau einer Ruhrgebiets-Spelunke an. „Wat is denn dat jetz für ne Scheiße?“, brüllen die Figuren gegen Ende zunehmend entnervt. Das wüssten wir in der Tat auch ganz gerne.

Aber mögen diese versoffenen Gestalten auch trostlos in das Jahr 5000 stieren: Der laue Beifall des Publikums brandet herzlich auf, sobald der Ruhrkohle-Chor das Steigerlied anstimmt. Die Frage, ob ein derart mageres Produktiönchen dem Ruf und der Bedeutung zweier kultureller Flaggschiffe wie dem Bochumer Schauspielhaus und den Bochumer Symphonikern gerecht wird, muss freilich gestellt werden dürfen.

Zwei weitere Aufführungen am 13. Oktober 2019. Karten/Infos:

https://www.schauspielhausbochum.de/de/stuecke/3114/ein-fest-fur-mackie

(Der Bericht ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Ein großer Tag dämmert den BoSys: Gustav Mahlers Neunte in Bochum lässt tief betroffen zurück

Abschied durchweht das Vierte Sinfoniekonzert der Bochumer Symphoniker (BoSys): Letzte Werke sind angesetzt. Richard Strauss‘ „Vier letzte Lieder“ eröffnen den Abend, Gustav Mahlers letzte vollendete Sinfonie krönt ihn. Zwei Werke, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Bei Strauss ein üppig glühender, langsam in zarten Farben erblassender Sonnenuntergang, harmonisch schwelgerisch, melodisch intensiv. Bei Mahler zerrissenes, drohendes Wetterleuchten und groteske Licht-und-Schatten-Tänze, dann ein fahles Ersterben, in dessen Erlöschen ein Hoffen auf Transzendenz aufscheint.

Steven Sloane profiliert sich als Mahler-Dirigent. Foto: Bochumer Symphoniker

Orchesterchef Steven Sloane profiliert sich als Mahler-Dirigent. (Foto: Bochumer Symphoniker)

Die Bochumer Symphoniker stellen dieses Konzert in den Verlauf ihres Mahler-Projekts, das in den nächsten Jahren „mit neuen Ansätzen auf die Reise durch den Mahler-Kosmos“ gehen soll. Marlis Petersen, gefeiert in Bellinis „La Straniera“ in Essen und als Alban Bergs „Lulu“ in München und New York, gehört zu den schlankstimmigen Strauss-Interpretinnen. Sie hat im „Frühling“ wie viele ihrer hochkarätigen Kolleginnen ein Problem mit der geradezu unverschämten Tiefe, aus der sie dann in blühende Höhen aufbrechen soll. Das geht nicht ohne steifen Glanz ab. Aber in „September“ fühlt sich Marlis Petersen viel wohler, führt die Stimme leicht und leuchtend. Und sie lässt in Hermann Hesses „Beim Schlafengehen“ die „Seele unbewacht“ in wundervollem Bogen „in freien Flügen schweben“. Die BoSys verschmelzen in weichem Streicherschimmer mit der Stimme, tragen sie in freiem Piano und umkleiden sie mit der herbstlichen Farbenpracht von Strauss‘ Instrumentation.

Von dieser güld’nen, melancholisch durchtränkten Stimmungsmalerei ist bei Gustav Mahler nichts zu hören: Steven Sloane macht in der Eröffnung des ersten Satzes radikal deutlich, wie sich diese Musik in fragmentierten Elementen zu sich selbst vortastet, auch in der scheinbaren D-Dur-Klarheit der Episode, die gerne als „Hauptthema“ tituliert worden ist, obwohl Mahlers Neunte mit den Kriterien der an Beethoven geschulten Analyse überhaupt nicht mehr zu fassen ist.

Das Anneliese Brost Musikforum Ruhr in Bochum. Foto: Werner Häußner

Das Anneliese Brost Musikforum Ruhr in Bochum. (Foto: Werner Häußner)

Sloane tut also folgerichtig nicht so, als sei im Geflecht der symphonischen Entwicklung irgendein Motiv „wichtiger“ als ein anderes. Er versöhnt nicht, sondern reißt auf. Dass er die Dynamik zügelt, macht die Geröllhalde auf diesem fernen Stern noch fremdartiger. Das Paukensolo, die harschen Harfenakkorde, versprengte, gedämpfte Horn- und Trompetensignale, der dumpfe Zusammenbruch von Celli, Kontrabässen und Fagott, das Seufzen der Bassklarinette: Die Symphoniker lassen in dieser zerrissenen Welt die Schönheit und die Hinfälligkeit, den Balsam und den Schmerz der Töne aufleuchten.

Andererseits wählt Sloane nicht den Weg einer Schärfung um jeden Preis. Die Violinen könnten ihre Linien schmerzhafter ziehen, das Blech könnte anti-brucknerisch grell und aufgepeitscht klingen, auch in den Holzbläsern hält sich schrille Exaltation die Waage mit samtiger Resignation. Mahler wird nicht geschunden und bloß vorgeführt, sondern in den Goldrand einer sanften Distanz gekleidet – wie ein Jugendstil-Gemälde, das Schreckliches in dekorativer Façon zeigt. Ein Weg, der manchen Mahler-Exegeten vielleicht zu wenig radikal erscheint, der aber seinen Sinn hat. Hoffen, Bangen und Verzweifeln werden so noch schmerzvoller.

Groß in Form sind Orchester und Dirigent auch in den Mittelsätzen. Michael Gielen, einer der profiliertesten Mahler-Deuter der letzten Jahrzehnte, hat sie als einen „Rückblick auf Gesellschaftliches, auf Volkstümlichkeit, auf Vulgarität der andern“ beschrieben. Diesen Blick schärft Sloane: Harmlose Ländler-Rhythmen werden zu skurrilen Veranstaltungen, die schroffen Wechsel von Takt und Haltung sind deutlich markiert, die Ironie, mit der Mahler musikalische Floskeln zitiert und zerlegt, entfaltet sich in ätzender Schärfe.

Der Sog zum hexerischen Finale der Rondo-Burleske steigert sich ins Groteske; die BoSys lassen derbe Töne knallen und scharren. Der weite Tonraum zwischen Violin-Flageolett und Kontrabass-Abgrund reißt seinen Schlund auf. Das abschließende riesige Adagio kennt dann noch einmal melancholisch weiche Phrasierungen, wundervolle Abstimmungen zwischen Horn und Blech und – trotz einsetzender Konzentrationsprobleme – idyllisch versöhnten Streicherklang. Im äußersten Pianissimo verfliegt der Ton in die quasi hinzukomponierte Stille. Ein großer Tag für Steven Sloane und sein Orchester.

Nächstes Sinfoniekonzert im Anneliese Brost Musikforum Ruhr in Bochum am 26./27./28. April mit Richard Wagners „Siegfried-Idyll“ und dem ersten Akt der „Walküre“.




Euphorie im Eigenheim: Die Bochumer Symphoniker beziehen das Musikforum Ruhr

Bochums neuer Konzertsaal: 960 Plätze, vier Jahre Bauzeit, 38 Mio Euro. (Foto: Lutz Leitman)

Bochums neuer Konzertsaal: 960 Plätze, vier Jahre Bauzeit, 38 Mio Euro. (Foto: Lutz Leitman)

Viktoria! Es ist vollbracht. Die Horngruppe der Bochumer Symphoniker erhebt sich von den Stühlen und schmettert das erlösende D-Dur-Finale in alle Himmelsrichtungen. Unter unsäglichen Mühen wurde dieser siegreiche Schluss errungen, nach einer langen und stürmischen Schlacht widerstreitender Kräfte.

Jetzt aber gibt es kein Halten mehr. Gustav Mahlers 1. Sinfonie mündet in einen Triumph, der das Herz wanken und den Verstand stillstehen lässt. Vergessen sind die vergeblichen Anläufe, die bis zum glücklichen Durchbruch nötig waren. Vergangen sind die schmerzlichen Dissonanzen, die enttäuschten Erwartungen und die Momente tiefer Mutlosigkeit. Der hymnische Choral der Blechbläser fegt alles hinweg.

Für einen Moment steht Dirigent Steven Sloane nach dem krachenden Schluss erschöpft da, während das Bochumer Publikum in Jubel ausbricht. Es feiert die Eröffnung des Anneliese Brost Musikforums, für dessen Bau der Dirigent, das Orchester, seine Freunde und Förderer sowie eine engagierte Bürgerschaft mehr als 15 Jahre lang tapfer gestritten haben.

Die Symbolkraft von Mahlers Musik, die den neuen Konzertsaal (an der Viktoriastraße!) mit Klang und Leben füllt, dürfte selten sinnreicher geklungen haben als an diesem Abend. Zum ersten Mal in ihrer fast 100-jährigen Geschichte haben die Bochumer Symphoniker ein eigenes Zuhause, trotz knapper Kassen und kontroverser Debatten. Das Nomadentum zwischen fremden, oft nicht verfügbaren und akustisch unbefriedigenden Spielstätten hat endlich ein Ende.

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Steven Sloane hat mehr als 15 Jahre für das neue Musikzentrum gekämpft (Foto: Christoph Fein)

Steven Sloane dirigiert Mahlers sinfonischen Erstling auswendig. Er präsentiert eine optimistische Lesart, die viel von Österreichs lieblichen Seiten erzählt: von Naturlauten, Vogelstimmen, frohen Wanderliedern, rustikalen Ländlern und schmeichlerisch wiegenden Walzern. Kraftvoll marschiert das robuste Scherzo voran. Wo Trompetensignale aus sphärischer Ferne zu uns dringen, tut sich die unergründliche Dunkelheit des Weltalls auf.

Oft sind es quäkende, nachgerade spöttisch meckernde Einwürfe der Holzbläser, die das vermeintliche Idyll bei Mahler zerfetzen. In Bochum kommt „der Titan“, so der Beiname von Mahlers 1. Sinfonie, freilich recht samtpfötig daher. Er kennt zwar Abgründe, aber wenig schneidenden Schmerzenslaut, wirkt zuweilen sogar gefallsüchtig. Das schadet vor allem dem langsamen dritten Satz, dessen grotesker Trauermarsch unter dem Dirigat von Steven Sloane mehr harmlos-hübsche Collage ist als beißende Parodie. Statt das nach Moll gewendete Bruder-Jakob-Thema von einem Solo-Kontrabassisten vortragen zu lassen, was absichtsvoll jämmerlich klingt, lässt Bochums GMD es von der gesamten Bassgruppe klangschön intonieren.

Die finale Apotheose aber gelingt, wenn auch unter der Aufbietung aller Kräfte, die das Orchester nach dem viertägigen Eröffnungstrubel und zwei weiteren Sinfoniekonzerten noch zu mobilisieren vermag. Zum Prüfstein wird Mahlers Sinfonie auch für den Konzertsaal, der nun zeigen muss, was er akustisch zu bieten hat.

Im Hochparkett fällt das Resultat höchst erfreulich aus. Jedes leise Zischen des Beckens, jeder Ton der Harfe, jeder dumpfe Pianissimo-Schlag auf den großen Metallgong ist deutlich zu vernehmen. Die Streicher klingen warm, die Pauken punktgenau und trennscharf, die Holzbläser sonor und edel. Nichts ist vermatscht oder knallig, auch nicht im druckvollen Fortissimo-Getümmel.

Der Weg in den Konzertsaal führt durch die ehemalige Marienkirche (Foto: Lutz Leitman)

Der Weg in den Konzertsaal führt durch die ehemalige Marienkirche (Foto: Lutz Leitman)

Zurücklehnen und genießen lautet da die Devise, zumal ein kluger Kopf für diesen Abend eine ungemein beziehungsreiche Werkfolge ersonnen hat. Das Programm gleicht einer Gratwanderung zwischen Spätromantik und musikalischer Moderne. Es bietet zudem ein großes Spektrum von Klangfarben und – mit György Ligetis Orchesterwerk „Lontano“ – einen roten thematischen Faden. Es sind schließlich die fernen, aus anderen Sphären zu uns herüber wehenden Klänge, die diesen Abend über das Normalmaß heben.

Richard Wagners „Lohengrin“-Ouvertüre, ein Orchesterstück von Arnold Schönberg, zwei Teile aus dem „Himmelfahrt“-Zyklus von Olivier Messiaen und schließlich György Ligetis Geniestreich „Lontano“ führen exemplarisch vor, wie der neue Konzertsaal klingt. Zunächst sind die Bläser an der Reihe: In Messiaens „Majesté du Christ demandant sa gloire à son Père“ führt die Trompete sehr dominant, während die anderen Bläserstimmen sich darunter auffächern wie das Register einer Orgel.

Wagners „Lohengrin“-Ouvertüre strömt vom ätherisch-zarten Pianissimo der Geigen bruchlos und balsamisch bis zum majestätischen Fortissimo-Höhepunkt. Das dritte von Arnold Schönbergs Fünf Orchesterstücken op. 17, vor allem aber György Ligetis „Lontano“ eröffnen wahre Klangfarbenwunder. Es ist schlicht zum Staunen, welche Körperlichkeit Ligetis Musik im Raum gewinnt. Wie sie sich zu Wolken ballt, die mal gleißendes Licht, dann wieder mysteriöses Dunkel verströmen. Der Saal bildet dieses feine Ton-Gewebe ab wie eine Skulptur, die ganz allmählich ihre Form verändert. Wir hören eine hochexpressive Musik, die wie aus dem Nichts kommt und nach einem langen Decrescendo ins Unhörbare zurück gleitet.

Momente reiner, ja kristalliner Schönheit schenkt uns Olivier Messiaens „Prière du Christ montant vers son Père“. Die Streicher der Bochumer Symphoniker erfüllen das Werk mit einer Leuchtkraft, als fiele Licht durch Kirchenfenster. Für Bochums neuen Konzertsaal, der über die ehemalige Marienkirche zugänglich ist, lässt sich ein passenderes Programm schwerlich denken.

(Informationen zum Programm der Bochumer Symphoniker unter http://www.bochumer-symphoniker.de/konzerte/)




Das neue Zuhause der Bochumer Symphoniker ist ein spektakuläres Bau-Ensemble

Blick auf die Außenseite des Musikforums. In dem länglichen Gebäude findet sich der große Saal. Foto: -n

Blick auf die Außenseite des Musikforums. In dem länglichen Gebäude findet sich der große Saal. Foto: -n

Das Erstaunen ist groß, schon der erste Eindruck nimmt uns gefangen. Denn dieses dreiteilige Bauensemble, wie es sich aneinanderschmiegt im Herzen der Bochumer Innenstadt, ganz nah am Bermuda3Eck, ist so außergewöhnlich wie wohl einzigartig. Weil hier das geneigte Publikum den großen Konzertsaal links oder den multifunktionalen Kammermusiksaal rechts durch eine mittig gelegene Kirche erreicht. Willkommen also im nigelnagelneuen Anneliese Brost Musikforum Ruhr, der ersten eigenen Spielstätte der Bochumer Symphoniker.

Die Kombination mit der Kirche, St. Marien, ist ein Coup. Bereits 2002 wurde sie profaniert, sie dämmerte vor sich hin, verkam, es drohte der Abriss. Doch die nun realisierte Lösung, durchgesetzt nach zähem Ringen, entpuppt sich als der pure Glücksfall. Die Bauten strahlen Harmonie aus, in ihrer Länge bilden sie, parallel zur Viktoriastraße, eine Linie, denn die neuen Gebäude reichen nicht höher als die Traufe des einstmaligen Gotteshauses. Nur der Kirchturm überragt alles. In seinem Innern hängt noch eine der alten Gussstahlglocken, auf b gestimmt. Ein herrlich warm klingender Pausengong – die Blicke wandern anerkennend nach oben.

Die Kirchenglocke als Pausengong. Foto: -n

Die Kirchenglocke als Pausengong. Foto: -n

Dabei gibt sich der Kirchenraum selbst in strahlendem Weiß, und mancher mag damit im ersten Moment Kälte assoziieren. Doch weit gefehlt: Das helle Licht blendet an keiner Stelle, die kirschbaumfarbenen Möbel von Garderobe, Bar und Kartenverkaufsstand fangen das Weiß geschickt auf. Große Türen links und rechts führen schließlich über ein Zwischenfoyer zur jeweiligen Spielstätte. Und auch hier: ein Gefühl von Wärme und Behaglichkeit macht sich breit.

Der große Saal: Prinzip Schuhschachtel, aber durch einige Rundungen ist die Kastenform geschickt aufgelockert. Exakt 964 Menschen finden hier Platz, auf cremefarbenen Sitzen im Parkett und Hochparkett, auf zwei Emporen sowie auf zwei Galerien, die sich links und rechts längs des Raumes befinden. Wieder dominiert das Holz der amerikanischen Kirsche den Blick, oben fallen fünf helle, geschwungene Akustiksegel ebenso auf wie eine luftig konstruierte Mikadodecke, über der sich indes noch allerlei Technik verbirgt. Nett wirken einige „Gardinen“ an den Saalwänden, sie dienen allerdings der Akustik und versagen sich damit jeder ästhetischen Debatte.

Zum kleinen Saal sei gesagt, dass er maximal 324 Plätze fasst, aber auch in mehrere kompakte Raummodule umgewandelt werden kann. Hier soll vor allem die Bochumer Musikschule eine weitere Wirkungsstätte finden, die mit mehr als 10.000 Studierenden eine der größten Deutschlands ist. Die Bochumer Symphoniker wiederum geben hier Kammermusikabende oder Kinder-, Jugend- und Familienkonzerte. Nicht zuletzt ist der Kirchenraum selbst Spielstätte, etwa für kleine Jazzkonzerte oder Lesungen.

Steven Sloane, seit 1994 Chef der Bochumer Symphoniker. Auch sein beharrlicher Einsatz war Garant für die Realisierung der neuen Spielstätte. Foto: Christopher Fein

Steven Sloane, seit 1994 Chef der Bochumer Symphoniker. Auch sein beharrlicher Einsatz war Garant für die Realisierung der neuen Spielstätte. Foto: Christopher Fein

So ist es also geschafft. Die Bochumer Symphoniker, die 2019 ihren 100. Geburtstag feiern können, haben endlich ein eigenes Zuhause. Und es ist nur gut, dass sich dieses Heim mitten in der Stadt befindet. Die zeitweilig ernsthaft diskutierte Alternative, ein Neubau nahe der Jahrhunderthalle, wirkt rückblickend geradezu bizarr. Hier ins Zentrum gehört dieses „Musikforum“, das den Namen der einstigen Verlegerin Anneliese Brost trägt, deren Stiftung das Haus mitfinanziert hat. Wozu zu sagen ist: Ohne die unermüdliche Kärrnerarbeit von Steven Sloane – Chef des Orchesters seit 1994 und bis mindestens 2020 – und ohne das breite finanzielle Engagement von mehr als 20 000 Spendern, zumeist Bochumer Bürgern, wäre das Projekt wohl kaum geglückt.

Das Haus mit Leben zu füllen, über den euphorischen Beginn der Eröffnungswoche hinaus, ist nun die nächste Herausforderung. Immerhin: Der Run auf die Abos dieser Saison ist groß. Und nach 17 Jahren einer teils hitzigen, teils sich im Kreis drehenden Debatte über Pläne, Standorte, Kosten und Nutzen scheint alles Kommende eine Kleinigkeit. Nun gilt’s der Kunst.




Fieberfrei in Dortmund: Skrjabin mit Joseph Moog und den Bochumer Symphonikern

Der Pianist Joseph Moog. Foto: Paul Marc Mitchell

Der Pianist Joseph Moog. Foto: Paul Marc Mitchell

Vor zehn Jahren, da war er gerade mal 17 Jahre alt, spielte Joseph Moog in einem Konzert Franz Liszts „Totentanz“ – und seine Zurückhaltung bekam Liszts abundanten Klangfantasien außerordentlich gut. Vor zwei Jahren debütierte er in Moers beim Klavier-Festival Ruhr – und überzeugte mit klug ausbalancierten Klavier-Versionen von Opernschlagern Verdis und Wagners. Nun kehrt Moog zum Tastenfeste zurück, stürzt sich im Konzerthaus Dortmund in Alexander Skrjabins mystisch-fantastisch-rauschhafte Musikwelten. Und lässt diesmal spüren, dass er an Grenzen stößt. Nicht an pianistische, aber an musikalische.

Sein Zugang zur Skrjabins fis-Moll-Klavierkonzert op. 20 ist zunächst durchaus logisch. Moog macht aus Skrjabins vermeintlich formvergessen schweifender, selbstversponnener Kunstmystik keine esoterische Meditation. Er formt seine Soli klar durch, gibt ihnen kühle Fasslichkeit, vernebelt nichts in dampfendem Klang. Auch im Andante-Satz träumt er nicht vor sich hin.

Moog vergisst nicht, dass Skrjabin einen Variationensatz und keine Fantasie konzipiert hat. In fein poliertem Porzellanton modelliert er die melodischen Motive, lyrisch gelöst reiht er Figurationen und absichtslos wirkendes Spielwerk. In der unterschiedlichen Gewichtung der Phrasen, in der Differenzierung des Anschlags macht er die Struktur des Satzes deutlich. Und die Bochumer Symphoniker lassen es unter ihrem Chef Steven Sloane nicht an Piano-Delikatesse, an lichten Streicherlinien, an einer aparten Klarinette fehlen.

Was zum glückhaften Gelingen fehlt, ist bei einem so bewussten und ästhetisch präsenten Pianisten wie Joseph Moog nicht einfach zu beschreiben. Vielleicht geht er zu ernst mit den emotionalen Schichten in Skrjabins Musik um. Vielleicht geht er in den Noten auf statt über den Noten zu fliegen. Vielleicht äußert sich eine Befangenheit, die den spontanen und durchaus einmal riskanten Zugriff hemmt.

Das dynamisch variable Spiel mit dem Orchester gelingt nicht durchgängig. Wo sich der Klavierpart mal wie eine zusätzliche Farbe in den Klang integriert, sind die Symphoniker zu dominant; wo er mal selbstbewusst und klangfroh aufleuchten soll, bleibt Moog zu diskret; wo das Piano in kostbar stillen Tönen singen sollte, lässt er die metrischen Fesseln nicht fahren.

Auch das Poème „Vers la flamme“, eines der letzten Werke Skrjabins aus dem Jahr 1914, hat zwar die Steigerungsdynamik, nicht aber das raffinierte Flair. Moog beginnt mit dem schattigen Pianissimo und intensiviert es bis zum „Forte crescendo“. Aber sein Ton bleibt kalt, das „éclatant, lumineux“ hat statt der Hitze einer Flamme die fröstelnde Grelle einer Leuchtstofflampe. Moog fast dieses Werk in den Ton der Moderne: nicht strahlend, sondern gleißend.

Das Farbenspiel, die züngelnden Nuancen einer Flamme liefern die Bochumer Symphoniker. Sloane exhibitioniert Skrjabins frei dem Rausch und dem erotisch geladenen Klang huldigende Werk von 1908 nicht; er lässt die Musik nicht schwitzen, den Klang nicht dampfen. Sondern er betont die Nähe zu den französischen Impressionisten und zu Claude Debussy. Der Duft der flirrenden Streicher, das feine Parfüm der Harfen, die sehnsuchtsvoll verklingenden Flöten: das ist eher die Ahnung „ekstatischer“ Ausbrüche als ihre klangprächtige Vergegenwärtigung. So hält Sloane die allzu direkte und schnell banal wirkende Effekt-Dramaturgie zurück. Und die Finesse ist bei den präsent und farbenfroh agierenden Philharmonikern in guten Händen. Nur in den finalen Entladungen trägt das Konzept nicht ganz: Lautstärke ist nicht Intensität, die entsteht durch Hingabe und Risiko – und da waren die Bochumer noch zu fest auf der Erde verankert.

Dass Sloanes zurückhaltender, ins Lyrische neigender Ansatz seine Probleme hat, wurde im „Tristan“-Vorspiel zu Beginn des Konzertes deutlich. Vermutlich wollte der Dirigent die Bezüge demonstrieren, die zwischen der vor 150 Jahren uraufgeführten Oper Wagners – einem Meilenstein in der historischen Entwicklung der europäischen Musik – und ihrem Echo im Werk des vor 100 Jahren gestorbenen russischen Komponisten feststellbar sind. Entsprechend legte er Wagners Musik nicht im Sinne des Drängens und Sehrens aus, das die wellenförmige Dynamik ihrer Entwicklung hin zur Ekstase der sich lösenden harmonischen Spannung bestimmt. Sondern er leuchtet die Statik der Klänge aus, lässt sie fast lyrisch verharren, nimmt ihr die innere Unruhe. Auch den „Tristan“ prägt das milde Licht Debussys statt der Fieberschübe Wagners.




Markus Becker beim Klavier-Festival in Essen: Für links geht nicht „mit links“

Der Pianist Markus Becker. Foto: KFR/Roland Schmidt

Der Pianist Markus Becker. Foto: KFR/Roland Schmidt

Verlässt das Klavier-Festival Ruhr die breite Straße, um sich auf verschlungenen Wegen in abgelegene Regionen der Klaviermusik zu begeben, eröffnen sich oft reizvolle Ausblicke. So im Konzert mit Markus Becker und den Bochumer Symphonikern unter Steven Sloane. Becker spielte zwei kaum gehörte Werke für die linke Hand.

Das eine hat Alexandre Tansman für den berühmten einarmigen Pianisten Paul Wittgenstein 1943 skizziert, aber nicht vollendet. In Polen geboren, im Paris der Zwischenkriegszeit sozialisiert, als Emigrant in den USA geschätzt, nach dem Krieg bis ins hohe Alter in Paris aktiv, gehört Tansman zu den erfolgreichen, heute weitgehend vergessenen Komponisten des wechselvollen 20. Jahrhunderts. Die „Pièce concertante“ für die linke Hand und Orchester hat – wie in vielen anderen Fällen – der einarmige Pianist Paul Wittgenstein bestellt. Ausgeführt wurde das einsätzige Werk jedoch nicht. Es lag lange im Nachlass Tansmans, bis es sein polnischer Landsmann Piotr Moss 2008 vollendete.

Die Bochumer Symphoniker unter ihrem Chef Steven Sloane stellten sich brillant der farbenprächtigen Instrumentation von Moss: Strawinsky-Anklänge und Tanzrhythmen, üppige Filmmusik und virtuose Einwürfe fordern ihren Klangsinn; Schellen, Glöckchen und allerlei anderes unterhaltsames Schlagwerk zünden Mini-Eruptionen.

Der Rhythmus klingt manchmal nach Jazzband, manchmal nach gezähmtem Schostakowitsch. Becker nimmt Skalen, Figuren und Sprünge als sportliche Herausforderung für seine Treffsicherheit. Eine schräge Fuge mit drei Blasinstrumenten, Klavier und Xylophon wirkt wie ein ironischer Kommentar auf deutsche Gelehrsamkeit – oder auf das Wiederentdecken alter musikalischer Formen, das damals von Ravel bis Respighi sehr en vogue war.

Auch das andere Werk für links lässt sich nicht „mit links“ nehmen: Franz Schmidt – im Klassik-Betrieb ebenso ungerecht wie Tansman an den Rand gedrängt – hat mehr als den glühenden Zwischenspiel-Hit aus seiner Oper „Notre Dame“ geschrieben. Seine Variationen über ein Thema von Beethoven verorten sich in bester Spätromantik: süffige Harmonik, Bruckner’sches Leuchten und die Eleganz Korngold’scher Klanglust.

Für Becker sind die wasserfallartigen Kaskaden, groß bemessenen Arpeggien und die gestochene Präzision der Finger ebenso wenig ein Problem wie die apart rhythmisierten Tanzmusik-Variationen. Wenn ihm da die Holzbläser der Bochumer folgen, zeigen sie die nötige Präzision und den Sinn für die Balance im Klang, die das Orchester an anderen Stellen recht burschikos rüberkommen lässt.

Schmidts süße Harmonien und der leuchtende, an Antonín Dvořák erinnernde Klangschmelz bleiben streckenweise unerfüllt. Vor allem die Hörner fanden sich diesmal im Klang nicht zusammen; auch das Blech intonierte eher schrill als pastos-samtig.

Was Steven Sloane getrieben hat, die „Eroica“ in zwei Teile zu reißen und je zwei Sätze an den Beginn und das Ende des Konzerts zu stellen, weiß wohl niemand außer ihm. Der Sinn erschließt sich nicht; eher wirkt Beethovens Musik nach der Präsentation spätromantischer Üppigkeit karg. Wenn dann noch die Konzentrationslücken der Symphoniker dazukommen, wirkt Beethovens Dritte umso deutlicher fehlplatziert. Zumal sich Steven Sloane im gestaltenden Zugriff zurückhält, unentschlossen wirkt und im letzten Satz das Tempo schleppt. Zeit wird’s, dass die Ferien kommen …




Antikriegslyrik und Totenmesse – Bochums Symphoniker deuten Brittens „War Requiem“

Der Lyriker Wilfred Owen schuf sprachmächtige Gedichte, um vom Elend des Krieges zu zeugen.

Der Lyriker Wilfred Owen schuf sprachmächtige Gedichte, um vom Elend des Krieges zu zeugen. Britten fügte manche in sein War Requiem ein.

1914 – der Kulturbetrieb läuft auf Hochtouren. Zum Zwecke des Erinnerns und Gedenkens, des Forschens, Debattierens und Mahnens. Gewichtige Bücher sind erschienen, um die „Urkatastrophe“ zu schildern und zu erklären. Ausstellungen illustrieren oder dokumentieren die Gräuel jener Zeit, richten den Fokus auf Künstlerschicksale. Und in den Medien vergeht kaum ein Tag, an dem der 1. Weltkrieg kein Thema ist.

Bei alledem ist erstaunlich, dass die Orchester der Region in ihrem Konzertangebot eher wenig Notiz von den Ereignissen nehmen und lieber die übliche Wald-und-Wiesen-Programmatik pflegen. Anders die Bochumer Symphoniker: Sie haben für die nun bald endende Saison eigens eine Reihe erkoren, die Musik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Mittelpunkt stellt. „Endspiel“ lautet der treffende Titel, denn manche Werke jener Zeit haben durchaus einen katastrophischen Charakter.

Den Schlusspunkt der Reihe hat das Orchester nun aber mit der wirkmächtigen Interpretation einer Komposition gesetzt, die scharfe Antikriegslyrik vereint mit den Worten der lateinischen Totenmesse. In der Bochumer Jahrhunderthalle erklingt Benjamin Brittens „War Requiem“, in Dauer und Besetzung durchaus auf die Requiem-Tradition von Mozart bis Verdi verweisend, in seiner Faktur aber weniger monumental, bisweilen gar kammermusikalisch fragil.

Britten, ein überzeugter Pazifist, schrieb das Werk für die Einweihung der neu erbauten Cathedral Church of Saint Michael in Coventry. Die westenglische Industriestadt steht als trauriges Symbol für die totale Zerstörung durch deutsche Kampfflieger im 2. Weltkrieg (1940). Auch die Kathedrale ging in Flammen auf – die Trümmer sind noch heute zu sehen. Die Uraufführung des Requiems war indes Mahnung und Geste der Versöhnung zugleich.

Winston Churchill besichtigt die im 2. Weltkrieg zerstörte Kathedrale von Coventry.

Winston Churchill besichtigt die im 2. Weltkrieg zerstörte Kathedrale von Coventry.

Brittens Kunstgriff, sowohl den Requiemtext als auch Gedichte des englischen Lyrikers Wilfred Owen zu vertonen, gibt dem Werk eine besondere Note. Den Dichter umgibt die Tragik, dass er wenige Tage vor Waffenstillstand dem Krieg (1918) zum Opfer fiel. Bis zuletzt sah er seine Aufgabe darin, als Literat Zeugnis abzulegen vom Schießen und Sterben. Mit Sätzen wie „Nur der Gewehre hastig rasches Knattern, Sie stoßen aus ihr flüchtig Requiem“. Oder: „Ich bin der Feind, den Du erschlugst, mein Freund … Lasst uns schlafen nun“.

In Bochums Jahrhunderthalle erklingt diese Lyrik so leidenschaftlich wie erschütternd. John Mark Ainsley (Tenor) und Peter Schöne (Bariton) setzen vor allem fahle Farbgebung ein, um die melodischen Linien, die von Verzweiflung oder Wut künden, zu gestalten. Einen überdramatischen Tonfall versagen sie sich wohl schon deshalb, weil Britten hier zur Instrumentierung auf ein 12köpfiges Kammerensemble zurückgreift, das mehr farbliche und rhythmische denn auftrumpfende Akzente setzt.

Und selbst die Instrumentation des Messtextes geht über den Umfang eines großen romantischen Symphonieorchesters nicht hinaus. Sogar im „Dies irae“ versagt sich Britten eines knalligen, mehrchörigen Blechbläserapparats. Und wenn die Staccato-Stöße von vier Trompeten eben wie Gewehrknattern ertönen, die dumpfen Markierungen der großen Trommel wie Kanonenschläge, dann reicht das zur Illustration des Zornestages völlig aus. Hinzu kommt das gehetzte, abgehackte Sprechsingen der beiden Chöre – wirkend wie pures Erschrecken. Rhythmisch orientiert sich Britten bisweilen an Orff, getragen ist alles von großer Expressivität.

Luba Orgonásová liefert dazu so aufgewühlte wie anrührende Sopranspitzentöne. Bewegend die Einwürfe der vorzüglich singenden Knaben der Chorakademie Dortmund. Auch die Philharmonischen Chöre aus Bochum und Essen sind punktgenau bei der Sache. Das Dirigat wiederum ist geteilt: Steven Sloane leitet die Symphoniker, Svetoslav Borisov das seitlich platzierte Kammerorchester – wunderbar aufeinander abgestimmt. Beide Ensembles künden präzis und pointiert von Schrecken, Verzweiflung – und spenden ein wenig Trost.

 

 




Reges Konzertleben in Bochum: Anton Bruckner als Urvater des Minimalismus

Steven Sloane, GMD der Bochumer Symphoniker

Stets sucht das Team um Bochums Generalmusikdirektor Steven Sloane nach kreativen Ideen, um die Jahreshefte der „BoSys“ auch optisch zu etwas Besonderem zu machen. Auf Überraschungen müssen Musikfreunde dabei immer gefasst sein: Die Programmübersicht kam in vergangenen Jahren schon im Gewand einer Kochrezept-Sammlung daher, in Einzelheften wie die Unterlagen zu einer Fernreise oder auch als Buch mit ehrwürdigem Leineneinband.

Die Nachricht vom Bau des Musikzentrums in der Innenstadt, am 9. März 2011 vom Rat der Stadt Bochum beschlossen, gab jetzt den Anstoß für ein Jahresprogramm in Form einer Zeitung. Zwischen graue Pappdeckel gefasst, informiert die 80-seitige „Bosy Times“ im ersten Teil über die Konzerte der Saison 2011/2012. Der zweite Teil zeichnet in einer „Sonderausgabe“ den langen Weg zum Musikzentrum nach. Was an der Victoriastraße entstehen soll, ist mehr als „nur“ eine längst verdiente Heimat für das renommierte Bochumer Orchester. In der Marienkirche wird ein Multifunktionssaal errichtet, der eine bauliche Einheit mit dem neuen Konzertsaal (mit rund 1000 Plätzen) bilden soll. Die Politik bezeichnet das als „KreativQuartier“, unter dessen Dach die freie Szene ebenso Platz finden soll wie Musikschul-Aktivitäten und musikalische Bildungsangebote für Kinder und Erwachsene.

Viele Musikfreunde, das zeigt diese Sonderausgabe, setzten sich kaum minder unermüdlich ein als Steven Sloane selbst: darunter der Förderkreis der Bochumer Symphoniker, die „Stiftung Bochumer Symphonie“ und namhafte Bürger der Stadt. Handschriftlich bekunden NRW-Kulturministerin Ute Schäfer, Bochums Kulturdezernent Michael Townsend und die Konzerthaus-Intendanten der Nachbarstädte Sympathie und Unterstützung. Im Umkehrschluss zeugt die Zeitung aber auch davon, dass noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten ist. So ungemein treu das Publikum der „BoSys“ auch zum Orchester steht, so groß scheint die Bevölkerungsgruppe jener, die Kunst und Kultur nicht als Notwendigkeit begreifen, sondern ihr mit dem Verweis auf bröckelnden Straßenbelag und verrottende Schulgebäude die verbale Keule übers Haupt ziehen.

In der „Bosy Times“ aber steht die Kunst an erster Stelle. Die kommende Konzertsaison der Bochumer Symphoniker stellt Anton Bruckner von einer überraschenden Seite vor, nämlich als „Urvater des Minimalismus“. In der Gegenüberstellung von Bruckner-Werken mit Kompositionen typischer Minimalisten wie Steve Reich, Philip Glass und John Tavener wollen Steven Sloane und sein Orchester verwandte Kompositionsschemata aufzeigen. Weil diesen Komponisten zudem ein starkes Interesse an Fragen geistlicher Natur gemein ist, trägt der Themenschwerpunkt der neuen „BoSy“-Saison den Namen „Spiritual Loops“: ein Begriff, der sich in dieser Kürze und Prägnanz nicht ins Deutsche übertragen lässt. Stehen „Loops“ in der Musikwelt doch für kleine, immer wiederkehrende Strukturen, die obsessiv um sich selbst zu kreisen scheinen. Der Sogkraft, die von den Wiederholungen ausgeht, spürt das Orchester unter anderem in nächtlichen Konzerten in einer Synagoge, einer Moschee und einer Kirche nach.

Prominentes Zugpferd für einen weiteren Themenschwerpunkt ist der Schauspieler und Moderator Harald Schmidt, den Steven Sloane für vier verschiedene Projekte gewinnen konnte. So kommt es im November zunächst zu einer „BosySchmidt Show“, in der das Orchester zur Big Band wird und der RuhrCongress zum Studio. Einer szenischen Einrichtung von Mozarts „Le nozze di Figaro“ im AudiMax der Ruhr Universität folgt im März 2012 eine Text-Musik-Collage zum Thema „Faust“. Und in einem Familienkonzert übernimmt Harald Schmidt Moderation und Klavierpart zu Benjamin Brittens berühmtem „Young Person’s Guide to the Orchestra“.

Bekannte Sänger und Solisten verleihen der Saison weiteren Glanz. Der Tenor Christoph Prégardien ist mit Orchesterliedern von Gustav Mahler zu erleben. Die Sopranistin Simone Kermes singt virtuose Arien von Vivaldi bis Bernstein, und in einem Gastspiel in der Philharmonie Essen begleiten die „BoSys“ im Oktober den derzeit stark gefragten Tenor Jonas Kaufmann durch einen Arienabend. Unter den Instrumentalisten ragen zum Beispiel die Pianisten Jonathan Gilad, Nikolai Tokarev und Alexander Lonquich hervor. John Adams’ Konzert „Dharma at Big Sur“ für elektrische Violine und Orchester wird Tracy Silverman interpretieren. Solist im Violinkonzert von Erich Wolfgang Korngold ist der in Moskau und der New Yorker Juilliard School ausgebildete Wahl-Amerikaner Philippe Quint. Kammerkonzerte und die an die Jugend gerichteten Angebote des „Ohrenkneifers“ vervollständigen das Angebot.

Wie sich das Musikzentrum auf die Arbeit der Bochumer Symphoniker und die oft beklagte Verödung der Bochumer Innenstadt auswirkt, wird noch zu beobachten sein. Steven Sloane, der seinen Wohnsitz in Bochum trotz seines Umzugs nach Berlin behalten hat, formuliert selbstbewusst: „Die Musik steht im Zentrum unseres Tuns – und bald auch im Zentrum unserer Stadt.“

(Informationen im Internet: www.bochumer-symphoniker.de, Kartenbestellung: 0234/ 33 33 55 55.)

 




Kulturhauptstadt Ruhr 2010: Im Dickicht der Projekte

Essen. Rund um die Kulturhauptstadt Ruhr 2010 scheint sich eine eigene Designer-Sprache zu entwickeln. Bei einer Programmvorstellung war von „Hochpunkten” (nicht Höhepunkten), „kreativen Erlebnisraum-Arealen” sowie „Adern und Passagen” des Verkehrs die Rede. Es soll wohl dynamisch klingen.

Auch mit Slogans geizt man nicht: „Wo das geht, geht alles!” lautet ein Merkspruch der Macher, der die Fülle der Kultur als Zukunftsmotor des Ruhrgebiets preist. Eine weitere Sentenz geht so: „ So haben Sie Ihre Metropole noch nie gesehen.” Man will also manches umpflügen – mit sage und schreibe rund 1500 Veranstaltungen im Kulturhauptstadt-Jahr 2010. Da soll noch einer durchblicken.

Seit Montag gibt’s ein erstes, 150 Seiten starkes Programmbuch, das Schneisen durchs Dickicht schlagen soll, doch für sich genommen schon prall wirkt. Zwei weitere Leitfäden sollen folgen. Und überhaupt: Die eigentliche Publikums- und Tourismus-Werbung wird erst 2009 einsetzen. Die Ruhr2010-Geschäftsführer Fritz Pleitgen und Oliver Scheytt werden mithin noch etliche Stufen der Rakete zünden. Am Montag ließen sie den vier künstlerischen Spartenleitern den Vortritt. Die schickten sich allen Ernstes an, binnen 90 Minuten erste Grundzüge von rund 150 Projekten zu skizzieren. Das war selbst im Parforceritt kaum zu schaffen.

Die meisten Punkte waren ja auch bereits bekannt. Gestern wurden sie atemlos addiert, so dass es mächtig Eindruck machen sollte. Hier Kernprojekte der vier Sparten:

Prof. Karl-Heinz Petzinka skizzierte die übergreifenden Vorhaben in Sachen Verkehr und Architektur (Schlagwort „Stadt der Möglichkeiten”). Die Sperrung der Autobahn A 40 (18. Juli 2010) für ein gigantisches Kulturvolksfest gehört ebenso hierher wie ein breites Band der Lichtkunst zwischen Duisburg und Unna/Schwerte. Eine neue „Route der Wohnkultur” soll Lebensformen des Reviers erschließen. Außerdem zählen Bauvorhaben zu dieser Sparte; auch solche, die keine reinen Kulturhauptstadt-Gewächse sind: so etwa das „Dortmunder U” (Ex-Brauerei als Museum und Kreativzentrum), das Hagener Schumacher-Museum, ein künftiges Landesarchiv im Duisburger Hafen und sogar die neue Moschee in Duisburg-Marxloh.

Die Deutsch-Türkin Asli Sevindim betreut Projekte des sozialen Zusammenhalts (Losung: „Stadt der Kulturen”). Das Spektrum reicht hier vom bereits etablierten „Melez”-Festival der multikulturellen Mischformen über jugendliche Straßenkunst (Graffiti, Breakdance & Co.) einschließlich der kurzerhand eingemeindeten „Loveparade” bis zur großen Reihe, die das Erbe der Aufklärung beleuchten soll.

Prof. Dieter Gorny ist zuständig für Varianten der Musik- und Kreativwirtschaft. Dabei geht es speziell um die freie Szene. Gornys Vortrag sprudelte geradezu vor digitalen Zukunftslaboren, Kreativ-Quartieren (wiederum mit „Dortmunder U”), internationaler Medienkunst und Kompetenz-Zentren für Computerspiel-Entwickler. Diverse Pop- und Jazz-Festivals bilden (mit neuer Förderstruktur) ein weiteres Gerüst. Uff!

Schließlich noch Steven Sloane als Koordinator der vielfältigen Musik- und Theateraufführungen. Er kündigte unter anderem einen „Day of Song” (Tag des Gesangs) für den 5. Juni 2010 an. Dann soll landauf landab im ganzen Revier gesungen werden – an welchem Ort auch immer. Das Ganze kulminiert abends mit einem 65.000 Stimmen starken Chor in der Arena „auf Schalke”. Just dort und auf der Essener Zeche Zollverein wird das Kulturhauptstadt-Jahr am 9. Januar 2010 festlich eröffnet.

Ist damit alles gesagt? Nein. Bestenfalls ein Bruchteil. Doch manches ist auch noch nicht ganz spruchreif oder erweist sich als knifflige Kostenfrage. Klare Faustregel: Je mehr Sponsoren, umso mehr kann man stemmen. Bliebe zu hoffen, dass keine Finanzkrise in die Quere kommt.

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Rasanter Image-Film

  • Auch ein neuer Image-Film über die Kulturhauptstadt Ruhrgebiet wurde in Essen präsentiert. Er beginnt mit fulminanten Zahlen: 120 Theater, 200 Museen – weltstadtwürdig!
  • Das äußerst flott und dicht geschnittene Werk überblendet alte und neue Kultur(en) im Revier. Gern verwendete Kulisse sind dramatische Wolkengebirge hinter Zechentürmen.
  • Rasante Bildwechsel: Auf den Bergmannschor („Glückauf”) folgt direkt eine HipHop-Passage, auf ein Tor von Borussia Dortmund unmittelbar der Schalker (!) Jubelschrei.
  • Gedreht hat den Film die Firma „Zeitsprung”, die auch Adolf Winkelmanns „Contergan”-Zweiteiler produzierte.
  • Es gibt den Streifen in verschiedenen Fassungen und Längen.
  • Die Deutsche Welle und die Goethe-Institute sollen die Werbung weltweit verbreiten.

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KOMMENTAR:

Es klang schon imposant, was die Kulturhauptstadt-Macher gestern in Essen vorlegten. Im rasenden Stakkato, ja geradezu in einem Rausch der Vorfreude nannten sie Projekt um Projekt, Vorhaben um Vorhaben für 2010. Und das soll noch längst nicht alles gewesen sein. 1500 kulturträchtige Veranstaltungen stehen in einem einzigen Jahr zu Buche. Beinahe schon beängstigend.

Es ist der lang ersehnte Griff nach den Sternen. Endlich will es das Ruhrgebiet allen zeigen: Wir sind eine Metropole, wir sind eine Weltstadt – nicht zuletzt in Sachen Kultur.

Doch halt! Die Euphorie mag bereits hie und da berechtigt sein und als Antrieb zu weiteren Großtaten taugen. Aber es sind noch etliche Aufgaben zu erledigen – und Gemüter zu besänftigen.

Nur ein Beispiel: Das erzürnte Echo der Sponsoren auf die Entlassung des Essener Philharmonie-Chefs Michael Kaufmann sollte ein Warnzeichen sein. Die doch so dringend benötigten Geldgeber möchten sich nirgendwo düpieren lassen. Sonst müsste „Ruhr 2010“ vielleicht einige stolz verkündete Projekte wieder streichen.

Bernd Berke




Wer die Kulturhauptstadt beflügelt – Leitende Akteure der Ruhr 2010 GmbH stellten sich erstmals gemeinsam vor

Von Bernd Berke

Essen. Allzu viel Konkretes können sie naturgemäß noch nicht verraten – die frisch berufenen Leute vom Direktorium der Kulturhauptstadt 2010. Erst ab 1. April walten sie ihrer Ämter. Doch gestern, als sie sich erstmals gemeinsam öffentlich zeigten, konnte man schon mal Atmosphäre schnuppern: Und wenn nicht alles täuscht, so riecht es nach Aufbruch.

Derzeit noch WDR-Intendant, bald schon Vorsitzender Geschäftsführer der Kulturhauptstadt-GmbH: Angesichts dieser neuen Lebenslage bekennt Fritz Pleitgen: „Ich fühle mich, als wäre ich auf einen fahrenden Zug aufgesprungen. Aber ich bin noch gelenkig.“ Er habe überdies bereits gemerkt, „dass die Chemie zwischen uns allen stimmt“ – und blickt als wohlwollender Patriarch in die Runde seiner Mitstreiter bei der Ruhr 2010 GmbH. Der zweite Geschäftsführer, Essens zuletzt etwas beiseite gerückter Kulturdezernent Oliver Scheytt, pflichtet bei: „Seit Anfang Januar bin ich ein glücklicherer Mensch.“

Dieter Gorny stößt mächtig ins Horn

Überhaupt macht sich Euphorie breit. Einmütig und mit leuchtenden Augen versichern die vier neuen Sparten-Direktor(inn)en, die gleich unterhalb der Geschäftsführer angesiedelt sind, wie leidenschaftlich sie ihre neuen Aufgaben ansteuern wollen. Die (just wie Fritz Pleitgen) in Duisburg-Meiderich geborene Deutsch-Türkin Asli Sevindim (Spezialthema: Kultur und Migration) fühlt sich in erster Linie als „Ruhri“. Aus ihrem Munde klingt es nach neuen Horizonten.

Bochums Orchesterchef Steven Sloane (zuständig für die „Stadt der Künste“) kommt direkt aus Chicago und versprüht geradezu amerikanischen Optimismus im Hinblick auf die Kulturhauptstadt Ruhrgebiet. Der Musikmanager Dieter Gorny (Fachgebiet: „Kreativwirtschaft“) trifft verspätet aus Cannes ein und stößt mächtig ins Horn: „Das Ruhrgebiet ist schon jetzt eine einzigartige Metropole. Es gibt in ganz Europa keinen besseren Ort. Deshalb wohne ich immer noch hier.“

Keine „Aufmerksamkeits-Erregungs-Anstalt“

Es scheint, als hätte die Kulturhauptstadt, die Ende 2006 ein wenig kraftlos zu dümpeln schien, gleichsam über Nacht vielfache Flügel bekommen. Man hat das Gefühl: Das jetzige Team, zu dem bald noch weitere Experten stoßen werden, könnte es tatsächlich packen. Falls das Arbeitsklima auch hinter den Kulissen entspannt und begeistert bleibt wie der gestrige Kollektiv-Auftritt vor der Presse, so muss einem darum wohl nicht bange sein.

Fritz Pleitgen („Ich komme nicht als Missionar hierher“) benennt das hehre Ziel: Das Revier müsse im Zuge des Hauptstadt-Jahres 2010 als Kulturregion weltbekannt werden. Nicht mit Getöse, sondern mit Qualität und Substanz: „Wir verstehen uns nicht als Aufmerksamkeits-Erregungs-Anstalt.“ Und: „Unser Kollegium ist keine geschlossene Gesellschaft. Wir wollen alle mitnehmen auf dem Weg nach 2010.“

A April dürften sich die Programme der Kulturhauptstadt nach und nach präziser abzeichnen. Rund 400 Projektvorschläge sind bereits vorsortiert, etwa 30 davon werden bald näher unter die Lupe genommen. Fritz Pleitgen macht Tempo: „Mitte 2008 sollen die wesentlichen Programmpunkte stehen.“

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PROFILE

Ein Team mit vielen Erfahrungen

  • Geschäftsführer derKulturhauptstadt-GmbH Ruhr 2010 sind Fritz Pleitgen und Oliver Scheytt.
  • Die vier Spartenchefs:
  • Dieter Gorny, geboren 1953 in Soest. 1985-1989 Leiter des Rockbüros NRW. 1989-1991 Geschäftsführer der Popkomm-Messe. 1993-2005 Geschäftsführer des Musiksenders Viva.
  • Steven Sloane, geboren 1958 in Los Angeles. Nach vielen Jahren in Israel ab 1988 Kapellmeister an der Oper Frankfurt. Seit 1994 Orchesterchef in Bochum. Zahlreiche Gastauftritte in aller Welt.
  • Karl-Heinz Petzinka, geboren 1956 in Bocholt. 1982 Architekt im Büro O. M. Ungers, Köln. 1994 Gründung des eigenen Architektur-Büros. Bauten: CDU-Bundesgeschäftsstelle (Berlin), Stadttor (Düsseldorf), Hauptverwaltung Deutsche Telekom.
  • Asli Sevindim, geboren 1973 in Duisburg. Moderatorin beim WDR, u. a.„Funkhaus Europa“, „Aktuelle Stunde“, „Cosmo TV“.



Auch Bochum will ein Konzerthaus bauen – Finanzielle Vorbehalte / „Konkurrenz“ reagiert gelassen

Von Bernd Berke

Bochum. Auch Bochum möchte ein Konzerthaus bauen – für 21,4 Mio. Euro. Dies hat gestern der städtische Kulturausschuss im Grundsatz bekräftigt.

Allerdings wurde auf die im November 2006 anstehenden Haushaltsberatungen verwiesen. Falls das Projekt dann bejaht wird: Würde eine neue Konkurrenz für die Philharmonien in Dortmund und Essen drohen?

Die WR fragte nach und vernahm betont gelassene Stimmen. Dortmunds Konzerthaus-Chef Benedikt Stampa findet den Vorgang undramatisch und sagt sogar: „Das wäre eine Supersache. Die Bochumer Symphoniker hätten es verdient.“

Bisher muss das Orchester (Leitung: Steven Sloane) zwischen diversen Bochumer Spielstätten „tingeln“. Mit dem Neubau neben der Jahrhunderthalle bekäme es endlich eine feste Bleibe. Das Bochumer Haus mit rund 1100 Plätzen (Dortmund: fast 1600, Essen: 1800) würde zudem in einer anderen Liga spielen, meint Stampa: „Da dürfte es keine großen Publikums-Bewegungen geben.“

Ähnlich unaufgeregt sind die Erwartungen bei der Essener Philharmonie. Und Prof. Franz Xaver Ohnesorg, Chef des Klavierfestivals Ruhr, findet: „Die Entscheidung wäre längst überfällig. Wenn man es intelligent anfängt und eigene Profile findet, so ergänzen sich die Häuser.“

Bochums Kulturdezernent Hans-Georg Küppers stellt klar: „Wir wollen kein Konzerthaus im eigentlichen Sinne, sondern in erster Linie eine feste Spielstätte für unsere Symphoniker.“ Gewiss könne es auch Fremdveranstaltungen geben, doch eher im Jazz- oder Kammermusik-Bereich.

Hat es im Vorfeld Absprachen zwischen den Revier-Kommunen gegeben, die sich gemeinsam anschicken, Europäische Kulturhauptstadt 2010 zu werden? Offenbar ja. Mit seinen Dezernenten-Kollegen Jörg Stüdemann (Dortmund) und Oliver Scheytt (Essen) ziehe er auch in der Angelegenheit „an einem Strang – und zwar in dieselbe Richtung“, versichert Bochums Küppers. Auch mit den Chefs der Philharmonien in Essen und Dortmund herrsche Einvernehmen.

Das Problem ist Bochums prekäre Haushaltslage. Das Konzerthaus soll von der Stadt-Tochter „Entwicklungsgesellschaft Ruhr“ gebaut werden. Ab 2009 würden jährlich 1,3 Mio. Euro Mietkosten zu Lasten der Stadt anfallen. Spätestens bis dahin, so Küppers, müsse man den Etat so weit konsolidieren, dass sich Bochum diese Ausgabe erlauben kann. Unter solchen Vorbehalten wurde denn auch gestern im Kulturausschuss beraten. Denn die Bezirksregierung in Arnsberg überwacht die Bochumer Haushaltsführung genau.

 




Fußball im edlen Frack – Experiment der RuhrTriennale: Oratorium „Die Tiefe des Raumes“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Wer wollte bestreiten, dass der Fußball rituelle und mythische, ja quasi religiöse und liturgische Anteile hat? Da liegt es vielleicht doch nahe, diesem phänomenalen Sport ein ehrwürdiges Oratorium zu widmen. Die RuhrTriennale probiert’s mit der in Bochum uraufgeführten Kreation „Die Tiefe des Raumes“.

Wenn hier die Mannschaftsaufstellung verkündet wird, klingt es fast, als riefen Posaunen zum Jüngsten Gericht. Der mit blauweißen bzw. schwarzgelben Schals angetretene, zuweilen ausgelassen tobende TriennaleChor (48 Damen und Herren verkörpern 60 000 Fans) antwortet auf die Vorgabe „Oliver“ mit Donnerhall: „Kaaaaahn“! Dazu lässt Dirigent Steven Sloane die sturmstarken Bochumer Symphoniker zu apokalyptischer Klangmacht anwachsen.

Das Spiel mit der komischen Fallhöhe

Es darf gefeixt werden. Derlei komische Fallhöhe zwischen Thema und Instrumentierung wird sich an diesem Abend häufig ergeben. Es ist ja ein Heidenspaß. Doch irgendwann fragt man sich, ob dem Fußball dieser edle Frack überhaupt passt. Soll das Kicken nachhaltig nobilitiert werden? Oder lässt man sich gnädig-gönnerhaft dazu herab? Ist diese Schöpfung gar blasphemisch, weil sie eine religiös geprägte Form profan ausbeutet? Nun, so päpstlich sollte man nicht denken.

Erzählt wird die Geschichte eines 17-jährigen Spielertalents (Corby Welch, Tenor): Er schwankt zwischen „Tugend“ (Claudia Barainsky, Sopran) und „Laster“ (Ursula Hesse von den Steinen, Mezzosopran). Wird er nach ersten Erfolgen nur noch hinterhältig nach Geld und Weibern gieren, oder wird er dem wunderbar zweckfreien Spiel huldigen, wie es dem Menschen seit Anbeginn der Zeiten gemäß ist? Ein paar Lebensjahre hinzu gerechnet, denkt man dabei jetzt vor allem an Kölns Nationalstürmer Lukas Podolski. Er soll bei der Genese dieses Oratoriums gleichsam Pate gestanden haben: Tonsetzer und Textautor haben angeblich diskutiert, ob es sich bei ihm um eine „Erlöserfigur“ im biblischen Sinne handele…

Doch ein erzählerischer Kern schält sich nicht so klar heraus in dieser Aufführung, die fußballgerecht zweimal 45 Minuten plus 8 Minuten (!) Nachspielzeit dauert und mit dem legendären Resultat 3:2 endet. Es fehlt ein kräftiger roter Faden. Ohne Programmheft (mit komplettem Libretto-Text) haben Zuschauer bei dieser gestisch nur sparsam akzentuierten Nummernfolge kaum eine Chance. Die überfrachtete Story (Autor: Schalke-Fan Michael Klaus) verirrt sich auf ebenso viele Nebenwege wie die Musik (Komponist: Bayern-Anhänger Moritz Eggert).

Wenn die Abseitsregel gesungen wird

Der Text sammelt allerlei Vorfälle aus dem Umkreis eines Fußballspiels ein – bis hin zur gesungenen Erläuterung der Abseitsregel. Zudem wollen drei prominente Rezitatoren als Trainer, Radioreporter und Alt-Internationaler mitmischen: Doch Joachim Król, Christoph Bantzer und Peter Lohmever (Film „Das Wunder von Bern“) dringen mit ihren Sprechstimmen manchmal kaum durch.

Die Musik ist vollends eklektisch. Sie nimmt – mit imponierendem Kunstverstand – ihre Impulse von überall her und begreift alles als Spielmaterial, beileibe nicht nur Schlachtgesänge aus der Stadionkurve. Der hehre Duktus eines barocken Oratoriums (Gipfel ist eine „Hymne an den Ball“) wird in dieser Collage vielfach (post)modernistisch und ironisch gebrochen. Es gellen die Schiri-Pfeifen und Siegesfanfaren à la Verdi dazwischen, oder man wiegt sich auch schon mal in schlagerseligen Rhythmen undskandiert feinsinnige Weisheiten: „Nichts ist scheißer als Platz zwei.“

Meist steigert sich das Orchester aus lyrisch leisen Kapitel-Anfängen in ein anschwellendes Breitwand-Pathos, das freilich immer wieder in den tonalen Zusammensturz getrieben wird. Man ist schließlich avanciert.

Innenminister Otto Schily hat’s kürzlich bei der Vorstellung der WM-Kulturprojekte geahnt: „Die Tiefe des Raumes“ werde sich dem durchschnittlichen Fußballfan nicht leicht erschließen. Tatsächlich behält dieses interessante Experiment eine Zwittergestalt. Auf dem grünen Rasen geht’s drauf und dran. Auf kulturellem Spielfeld aber zählen Zwischentöne. Insofern ist es ein exemplarisches Projekt, das solche Distanzen spürbar werden lässt. Doch damit wird bestimmt keine neue Gattung begründet.

• Weitere Aufführung in der Bochumer Jahrhunderthalle: 18. Sept. (20 Uhr). Karten  0700/2002 3456. www.ruhrtriennale.de