Das Böse schürt Panik im Bilderbuch-London: Gothic-Musical „Jekyll & Hyde“ begeistert sein Publikum in Dortmund

Dr. Jekyll (David Jakobs, Mitte) präsentiert den Spitzen der Gesellschaft seine Pläne. Leider vergebens.  (Bild: Theater Dortmund / Björn Hickmann)

Sein Vortrag ist beherzt, sein Anliegen, gelinde gesagt, ambitioniert. Dr. Jekyll will nichts weniger als das Böse in den Menschen tilgen, ein für allemal. Die Welt wäre dann eine andere, alles Leiden Vergangenheit. Doch das Krankenhaus-Gremium, dem er seine Pläne mit so viel Leidenschaft präsentiert, winkt ab.

Keine Experimente in der Klinik, viel zu teuer, viel zu riskant. Und die Welt ist so, wie sie ist, doch ganz erträglich. Jedenfalls für die Spitzen der Gesellschaft, die hier versammelt sind – für den Bischof, den Offizier, den Richter, die wohlhabende Dame aus dem Großbürgertum und so fort.

Beim Arzt: Lucy Harris (Bettina Mönch) aus dem Rotlichtmilieu, Dr. Jekyll (David Jakobs)  (Bild: Theater Dortmund / Björn Hickmann)

Selbstversuch

Ihre Ignoranz zwingt Dr. Jekyll in den desaströs verlaufenden Selbstversuch. Er wird zum üblen Mr. Hyde, zu einem Schläger, Vergewaltiger und Mörder. Und er hat keinen Einfluss darauf, wann Gut und Böse wechseln. David Jakobs, ein hoch geschätzter alter Bekannter auf der Dortmunder Opernhausbühne, gibt Jekyll wie Hyde eindrucksvoll Stimme und Präsenz.

Zwei starke Frauenrollen

Vor knapp 30 Jahren, die Welle der Musicalbegeisterung war auf dem Höhepunkt, erlebte „Jekyll & Hyde“ die Uraufführung in Houston, Texas. Der Weg ins Verderben verläuft im Musical etwas anders als in Robert Louis Stevensons Novelle, wo es viel Nebel, Ahnen und Raunen, dafür aber, abgesehen von den Opfern, kaum eine Frauenrolle gibt. Die Amerikaner Leslie Bricusse (Buch und Liedtexte) und Frank Wildhorn (Musik) ergänzten das Personaltableau. Lisa ist die Braut des unglückseligen Dr. Henry Jekyll, Lucy das Mädchen aus dem Rotlichtmilieu, das sich in ihn verliebt und das ihn, wenn sie ihm ihre Wunden zeigt, sein zerstörerisches Alter Ego erkennen lässt.

Dr. Jekyll (David Jakobs, rechts) grüblerisch  (Bild: Theater Dortmund / Björn Hickmann)

Begeisterungsfähig

Eine veritable Dreiecksgeschichte wird allerdings nicht aus dieser Konstellation, Dr. Jekyll bleibt der Seinen treu. Aber die Songs der Frauen – Milica Jovanovic als Lisa Carew und Bettina Mönch als Lucy Harris – hinterließen in dieser Dortmunder Produktion unter der Regie von Gil Mehmert den stärksten Eindruck und begeisterten das sowieso schon äußerst begeisterungsfähige Publikum im ausverkauften Haus restlos.

Grandiose Bühnentechnik

Düster-schöne Kulissen auf der Drehbühne (Bühne: Jens Kilian) lassen ein tadelloses Musical-London des 19. Jahrhunderts aufleben. Nichts Wichtiges fehlt, nicht die (feuchten?) Backsteinmauern, nicht die schummerige Rotlichtkneipe, nicht die wuchtigen Ledersessel. Und auch nicht die zahlreichen Treppen und Treppchen, die man braucht, um die Künstler trefflich zu positionieren. Wenn aber im Keller gespielt werden soll, wo der Doktor sein Laboratorium hat, fährt sehr eindrucksvoll die gesamte Bühnentechnik nach oben.

Die schöne Braut Lisa Carew (Milica Jovanovic) und ihr problematischer Gatte Henry Jekyll (David Jakobs) (Bild: Theater Dortmund / Björn Hickmann)

Märchenhaft

Auch die Kostüme (Falk Bauer) sind zeitgemäß, gemessen an der historischen Wirklichkeit ist die Ausstattung wahrscheinlich hemmungslos übertrieben. Aber das tut dem Ganzen gut und hilft, die blutige Handlung märchenhaft zu halten

In diese Inszenierung kann man sich entspannt hineinfallen lassen, ohne Angst vor unliebsamen Wendungen und Brechungen. Und sich dem glatten Pathos der Melodien hingeben, den kräftig sich reimenden Texten.

Suboptimaler Ton

Leider haperte es aber bei der Textverständlichkeit, was nicht zuletzt – kleines Wermutströpfchen – der Klangmischung anzulasten ist. Sie stieß an ihre Grenzen, wenn mehrere Darsteller sangen, gar noch der Chor beteiligt war. Da wurde es undifferenziert und lästig laut, was der Kunst nicht guttat und in folgenden Veranstaltungen vielleicht zu korrigieren wäre. Die lockere Hand am Lautstärkeregler ging ein wenig auch zu Lasten der untadelig aufspielenden Dortmunder Philharmoniker unter Leitung von Philipp Armbruster, die unter hohen Gesangspegeln mitunter nur eingeschränkt vernehmlich waren.

Mit der Dortmunder Statisterie gelingen eindrucksvolle Bühnenbilder. (Bild: Theater Dortmund / Björn Hickmann)

Massenszenen

Bemerkenswert ist übrigens, dass der Böse bei Bricusse/Wildhorn gar nicht ganz so böse ist. Gewiss, er mordet und wird dafür mit seinem Leben bezahlen müssen; doch er ermordet hochstehende Persönlichkeiten, die es nicht besser verdient haben, wie den Bischof, der sich regelmäßig an Messdienern vergreift.

Auf die Morde reagiert das Musical-Volk hysterisch, was der Dortmunder Inszenierung zu einigen schönen Massenszenen verhilft, mit Zeitungsjungen, einfachen Leuten, Honoratioren, Polizisten und Prostituierten. Das Programmheft erwähnt ausdrücklich die „Statisterie Theater Dortmund“, die ihre Sache hier wirklich gut macht.

Nicht endenwollender Applaus

Stehende Ovationen von allen Rängen und nicht enden wollender Applaus. Es ist ein bewegendes Erlebnis, wenn eine Inszenierung die Erwartungen des Publikums so restlos erfüllt wie jetzt „Jekyll & Hyde“ in Dortmund.

  • Termine: 18., 20., 23., 26. Oktober. 3., 16., 22., 29. November. 18., 19., 28., 29. Dezember.
  • www.theaterdo.de



„Manapouri“ – Marcel Schwobs Briefe von einer Reise nach Samoa am Beginn des 20. Jahrhunderts

In den Jahren 1901/1902 unternahm der französische Schriftsteller Marcel Schwob (1867–1905) auf den Spuren des von ihm verehrten Robert Louis Stevenson eine Reise in die Südsee. Die Briefe, die er von dieser Seereise an seine geliebte Frau, die erfolgreiche Schauspielerin Marguerite Moreno, schrieb, wurden nun erstmals in deutscher Übersetzung im Elfenbein Verlag veröffentlicht.

In den Pariser Schriftstellerzirkeln der 1890er-Jahre um Stéphane Mallarmé, André Gide, Paul Valéry, Alfred Jarry, Paul Claudel, Colette und Jules Renard galt Marcel Schwob wegen seiner außergewöhnlichen Sprachbegabung, stilistischen Brillanz und enormen Belesenheit als eine große Hoffnung der französischen Literatur.

In der kurzen Zeit zwischen 1891 und 1896 veröffentlichte Schwob jährlich mindestens einen Band mit Erzählungen, die meisten im Verlag Mercure de France; er übersetzte Shakespeare, Defoe, De Quincey und auch die Erzählung „Will o‘ the Mill“ von Robert Louis Stevenson. Seine Entdeckerfreude erstreckte sich ebenso auf englischsprachige Literatur wie auf ältere französische Dichtung. Mit seinem Korrespondenzpartner Robert Louis Stevenson verband ihn unter anderem ein starkes biographisches Interesse an François Villon. Ab 1896 aber wurde Schwob zunehmend zum Opfer einer nicht eindeutig diagnostizierten Krankheit, die ihn in die Abhängigkeit von Morphium brachte. Viele, vor allem wissenschaftliche, Arbeiten blieben Fragmente.

Auf den Spuren von Robert Louis Stevenson

Einer seiner Ärzte riet ihm zu einer längeren Seereise. Wie Stevenson, der eingangs seines 1896 posthum veröffentlichten Werks In der Südsee große Erwartungen an das der Gesundheit zuträgliche Klima der pazifischen Inselwelt formulierte, setzte auch Schwob alle Hoffnung in die Heilkraft einer längeren Südseereise.

Im Oktober 1901 schiffte er sich in Marseille ein; die Reise führte über Port Said durch den Sueskanal nach Dschibuti und weiter über Ceylon, wo Schwob bei einem vierzehntägigen Aufenthalt Gelegenheit hatte, die von Henry Cave beschriebenen Ruinenstädte zu besichtigen, nach Australien. Sein chinesischer Begleiter Ting durfte den Kontinent erst nach Zahlung einer sehr hohen Kaution betreten, die Schwob nur mit Mühe auftreiben konnte, wodurch die Weiterreise hier bereits zu scheitern drohte. Die Begegnung mit dem eigenwilligen Kapitän Crawshaw ermöglicht schließlich, dass er mit dessen Schiff „Manapouri“ die Insel Upolu erreicht, den letzten Wohnsitz des bereits 1894 gestorbenen Robert Louis Stevenson in Samoa.

Mit Worten malen

Schwobs Briefe legen Zeugnis ab, welch einen elaborierten Stil er auch in der privaten Form pflegte. Sie waren nicht zur Veröffentlichung vorgesehen, eventuell aber vom Autor als Vorarbeiten zu einem noch zu schreibenden Werk gedacht, das dann jedoch nicht mehr zustande kam.

Die sich bei einer langen Seefahrt wiederholenden Motive – Meer, Horizont, Wolken, gelegentlich die Silhouette eines entfernt gelegenen Landes oder einer Insel – beschreibt Schwob nuanciert und ohne sich zu wiederholen. Seine Sprachmalereien dürften auch beim Übersetzen ins Deutsche eine Herausforderung dargestellt, dem guten Ergebnis nach zu urteilen aber auch den besonderen Reiz einer solchen Aufgabe ausgemacht haben.

„Die fliegenden Fische um uns herum“

Ein Beispiel: „Das flüssige Himmelsufer aus düsterem Blau wird da und dort von Grisailleflächen unterbrochen, finsteren Dunstklippen, bei denen es sich um äquatorialen Regen handelt. Wo kein Wind weht, weint der Himmel lautlos auf die Erde. Die nördliche und die südliche Welt vermischen sich in der Trauer ihrer Sterne. Am Äquator ist das Meer auf ewig traurig und von Regen zerfurcht.“

Das Wenige, was abgesehen vom gesellschaftlichen Leben an Bord passiert, wird zum Ereignis: „Und dabei schwirren die fliegenden Fische um uns herum wie Schmetterlinge. Ein feuchter und silbriger Strich schnellt hoch, gleitet in einem langen Kuss knapp übers Wasser. Zehn, zwanzig, dreißig springen auf, stechen winzige Strudel ins glatte Meer. Arme kleine Fische mit so schweren Flügeln, die einem freudlosen Himmel entgegenstreben. Und der Regen prasselt; und das Meer erschauert von seinem unzählbaren Lachen hinter schweren Tränen.“

Verehrung und Krankheit

In Apia, der Hauptstadt Samoas, wird Schwob freundlich aufgenommen. Er beginnt, Samoanisch zu lernen, erhält eine Einladung des alten Königs Mataafa, der von Robert Louis Stevenson in Eine Fußnote zur Geschichte. Acht Jahre Unruhen aus Samoa (1892; deutsch: Achilla Presse, Hamburg, 2001) unter Samoas zerstrittenen Herrscherfamilien mit besonderer Sympathie bedacht worden war; eine Kava-Zeremonie wird ausführlich beschrieben.

Wie Stevenson erhielt auch Schwob von den Einheimischen den Namen Tusitala – der Geschichtenerzähler. Doch statt der erwarteten Genesung von seiner Krankheit verschlimmert sich sein Zustand. Eine Lungenentzündung überlebt er, in einer Hütte der hingebungsvollen Pflege durch einen jungen Einheimischen überlassen, nur knapp.

Sorgfältige Edition

Stevensons letztes Wohnhaus und sein Grab auf dem nahe der Hauptstadt Apia gelegenen Mont Veae konnte Marcel Schwob wohl nicht mehr besuchen. Erneut ist es Kapitän Crawshaw mit seiner „Manapouri“, der ihm weiterhilft und seine Rückreise ermöglicht. Im März 1902 erreicht Marcel Schwob Marseille, knapp drei Jahre später starb er im Alter von 37 Jahren.

Die eindrucksvolle Reisebeschreibung wird in der deutschen Ausgabe durch Schwobs 1894 erstmals erschienenen Essay zu Robert Louis Stevenson und durch vier Briefe Stevensons an Schwob aus den Jahren 1889–1894 bereichert. Der Übersetzer und profunde Schwob-Kenner Gernot Krämer, der zuvor im selben Verlag zwei andere Werke des Autors veröffentlicht hat (Das gespaltene Herz, 2005, und Der Kinderkreuzzug, 2012) steuerte wertvolle Anmerkungen und ein informatives Nachwort bei. Zahlreiche zeitgenössische Foto-Dokumente der beschriebenen Schauplätze illustrieren die Briefe anschaulich. Das sorgfältig gestaltete Buch ist ein wertvolles Dokument über die Brieffreundschaft und Geistesverwandtschaft zweier besonderer Schriftsteller und ein weiteres Zeugnis über die literarische Meisterschaft Marcel Schwobs.

Marcel Schwob: „Manapouri“. Reise nach Samoa 1901/1902. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Gernot Krämer. Elfenbein Verlag, Berlin. Gebunden, 216 Seiten, 22 €.