Spröder Charme und Lockung des Geldes – Impressionen aus Europas Kulturhauptstadt Stockholm

Aus Stockholm berichtet
Bernd Berke

Man stelle sich vor: Ein Theater, das auf seinen sieben Bühnen bis zu 1400 Aufführungen im Jahr abliefert und von morgens 10 Uhr bis zum späten Abend in Betrieb ist. In dem Gebäude herrscht schon tagsüber ein Kommen und Gehen wie in einer deutschen Großstadt-Fußgängerzone am Samstag. So etwas gibt s vielleicht nur in Stockholm, der neuen „Kulturhauptstadt Europas“.

Stockholms „Stadsteater“, einst mit sozialistischer Zielsetzung städtisch gegründet und künstlerisch meist im Schatten des königlichen „Dramaten“, befindet sich im riesigen Glas- und Beton-Kasten „Kulturhuset“ am „Sergels Torg“ inmitten der Stadt.

Melancholie am Saum des Kontinents

Nein, schön ist dieses Zentrum der schwedischen Hauptstadt nicht. Man erschrickt über Architektursünden sonder Zahl. Eine Internationale Bauausstellung, die einige Scheußlichkeiten hatte mildern können, wäre im Kulturjahr keine üble Sache gewesen. Immerhin gibt’s eine Fachkonferenz zum Thema.

Es lastet zu dieser Jahreszeit immer noch eine fast durchgehende Dämmerung auf der Stadt. Derlei Düsternis hat wohl schon manchen Winter-Touristen mit sanfter Melancholie erfüllt. Die Schweden trösten sich mit der Vorfreude auf helle Mittsommerwochen.

Besucher der Euro-Kulturhauptstadt, die mit rund 1200 Veranstaltungen lockt, tun jedenfalls gut daran, sich vor allem die Altstadt rings ums königliche Schloß anzusehen. Hier spürt man den (spröden) Charme dieser Kapitale. In besagtem Schloß verrichtet König Carl XVI. Gustav nur noch seine Amtsgeschäfte, ansonsten residieren er und seine Gattin Silvia draußen vor den Toren der Stadt – im idyllischen Schloß Drottningsholm.

Bestens erhaltenes Barocktheater

Auf dem gleichen Areal erhebt sich auch das 1764-66 erbaute, wohl besterhaltene Barocktheater der Welt mit einer fabelhaften Illusionsbühne und funktionierender Maschinerie. Hier gibt es im Sommer Ballett und Musiktheater vor historischer Kulisse, in diesem Jahr z. B. Opern von Gluck. Für König und Königin sind zwei Zuschauersessel in der ersten Reihe reserviert.

Peter Wahlqvist, Intendant des Stadsteater, hofft mit allen Veranstaltern der „Kulturhauptstadt“, daß Schweden nun ein wenig aus seiner kulturellen Randlage in Europa herausfindet. Umgerechnet rund 120 Mio. Mark stehen zur Verfügung, mit rund 60 Ländern in aller Welt kooperiert man. Bereits der famose Auftakt war außereuropäisch: Ein japanisches Feuerwerk zauberte tausend Farben an den Himmel über Stockholm.

Robert Wilson, Peter Brook und Pina Bausch gastieren

Mit gutem Geld lassen sich Berühmtheiten des Welttheaters in die von Ostsee-Schären umsäumte Millionenstadt holen. Beispielsweise Robert Wilson, Robert Lepage, Peter Brook und – erstmals seit über 16 Jahren in Schweden – Wuppertals Tanztheaterchefin Pina Bausch. Wilson inszeniert August Strindbergs „Ein Traumspiel“, Lepage führt im Stockholmer E-Werk bei Fernando de Rojas „Celestina“ Regie, Brook zeigt Mozarts „Zauberflöte“, Pina Bausch unter anderem „Café Müller“.

Die bekanntesten Kulturschaffenden Schwedens steuern gleichfalls Neues bei: Film- und Theaterregisseur Ingmar Bergman sorgt für die Uraufführung von Per Olov Enquists Stück „Bildermacher“, der Dramatiker Lars Noren hat sein Drama „Personenkreis 3:1″ für die Bühne eingerichtet (zu neuesten Querelen zwisehen Noren und Bergman siehe Meldung auf dieser Seite).

Ein 69 Meter langer Mythos der Seefahrt

Das meistbesuchte Museum der Stadt heißt „Vasa Museet“. Hier kann man das erst 1961 geborgene, 69 Meter lange Kriegsschiff „Vasa“ fast im Originalzustand bestaunen. König Gustav II Adolf hatte es anno 1625 in Auftrag gegeben. Der Größenwahn des Monarchen, nachträglich eine weitere Kanonen-Etage obenauf setzen zu lassen, brachte die Dimensionen des Schiffs völlig aus der Balance. Schon bei der Jungfernfahrt im Jahre 1628 vor Tausenden von Zuschauern, kenterte und sank der „stolze“ Dreimaster – in Schweden ein Mythos von „Titanic“-Ausmaßen. Just vor diesem Schiff sollen im Rahmen des Kulturjahres die Berliner Philharmoniker spielen. Das werden erhabene Momente sein.

Programme der Euro-Kulturhauptstadt sind (in englischer Sprache) erhältlich über: Box 16398, SE-10327 Stockholm, Schweden (Tel.: 0046 8-698 1998).




Kunst-Spaziergang wie im dreidimensionalen Lexikon – Stockholms „Moderna Museet“ gastiert in Bonn

Von Bernd Berke

Bonn. Nein, es ist beileibe kein bloßer „Schwedenhappen“, den uns die Bundeskunsthalle serviert, sondern ein reichhaltiges Kunstmenü. Zum vierten Akt der Ausstellungs-Reihe „Die großen Sammlungen“ gastiert am Rhein diesmal das „Moderna Museet“ aus Stockholm. Die teilweise grandiose Kollektion ist derzeit heimatlos, weil das Stammhaus bis 1998 umgebaut wird. So viele Werke wie jetzt wird man dann nimmermehr abgeben.

Der Querschnitt durch die Moderne würde auch eine Reise in den Norden lohnen. Nun aber haben wir’s – bis Januar nächsten Jahres – ganz bequem. Von Picasso bis Mondrian, von Magritte bis Warhol wird alles in Bonn präsentiert, und zwar umfangreicher, als es bisher je in Stockholm möglich war. Zeichen der Bedeutsamkeit: Schwedens Königin Silvia kam eigens zur Bonner Eröffnung der Schau.

Neben den Klassikern der Moderne und Berühmtheiten der Gegenwart kann man etliche hierzulande unbekannte schwedische Künstler entdecken. Sie gehören freilich zum weniger wichtigen Teil der Schau. Einer der ausgestellten Schweden ist allerdings weltberühmt, nämlich der Schriftsteller August Strindberg. Wie man hier sieht, ist er auch als Maler nicht zu verachten. Das im gleißenden Licht flirrende, ins Über-Natürliche ausgreifende Natur-Bild „Das Wunderland“ (1894) könnte von einem hochkarätigen französischen Impressionisten stammen.

Am allerbesten sortiert ist das „Moderna Museet“ offensichtlich im Umkreis der Popart. Kein Wunder, denn das Haus wurde 1958 gegründet und verlegte sich vornehmlich aufs Zeitgenössische. Direktor war von 1959 bis 1973 jener Pontus Hulten, der – welch glückliche Fügung – 1990 „Intendant“ der Bonner Bundeskunsthalle ward. Daher die innige Verbindung beider Museen.

Pontus Hulten und das Gespür fürs Kommende

Hulten muß in seiner Stockholmer Zeit jedenfalls ein untrügliches Gespür fürs Kommende besessen haben, hat er doch – zu den günstigen Preisen der Entstehungszeit – eine der weltweit gehaltvollsten Sammlungen mit Kunst der 60er Jahre zusammengetragen. Andy Warhol, Robert Rauschenberg, Jasper Johns, Jean Tinguely, Yves Klein, Frank Stella, George Segal, Claes Oldenburg (gebürtiger Schwede), James Rosenquist und viele andere Größen jener Zeit sind mit markanten Arbeiten vertreten. Da spaziert der Besucher sozusagen durch ein dreidimensionales Lexikon.

Im Katalog kann man nachlesen, wie sehr die Genese einer solchen Sammlung oft von schieren Zufallen abhängt. Da gerieten die Stockholmer etwa an ein Bild von Piet Mondrian, weil der just eine schwedische Freundin hatte. Bemerkenswert ist übrigens ein 1908 entstandenes, zärtlich-realistisches Frauenporträt Mondrians, den man heute nur noch als Heros der geometrischen Abstraktion schätzt.

So viele Berühmtheiten – und ein Rennwagen

Bilder- und Objekt-Ensembles, die ihresgleichen suchen, haben die Skandinavier auch von Pablo Picasso und Marcel Duchamp angehäuft. Daß man „zwischendurch“ immer mal wieder auf den einen oder anderen Kurt Schwitters, Paul Klee, Max Ernst, Marc Chagall oder Joan Miró trifft, versteht sich bei diesem Niveau fast von selbst.

Auf historische Wegmarken eingestimmt, sucht man bei den schwedischen Künstlern nach Vergleichspunkten. Haben nicht die Bilder eines Eric Hallström manches mit denen des Belgiers James Ensor gemein? Weist nicht gar das „Zeitbild“ (1937) von Sven Erixson, das Passanten in Betrachtung eines Zeitungsaushangs zeigt, schon auf den Neo-Expressionismus eines Jörg Immendorff voraus? Man mag Spielchen mit derlei „Verwandtschaften“ treiben, darf aber den Eigenwert dieser Kunst nicht übersehen.

Das auffälligste Exponat ist übrigens kein Gemälde, sondern ein Real-Objekt: der Lotus-Rennwagen, in dem 1963 Jim Clark seine schnellen Formel-1-Runden drehte und der kurzerhand zum Kunstwerk im Grenzbereich von Technologie und Ästhetik erklärt wurde. Ganz im Sinne der Pop-art.

„Moderna Museet“ zu Gast in der Bundeskunsthalle Bonn (Friedrich-Ebert-Allee 4, „Museumsmeile“). Bis 12. Januar 1997. Öffnungszeiten: Di-So 10-19 Uhr. Eintritt 8 DM. Katalog 68 DM.