Franz Schubert als Fixstern: Das Alinde Quartett verbindet kristalline Transparenz mit unbändiger Spielfreude

Beinahe eine italienische Familienangelegenheit: die vier aktuellen Mitglieder des Alinde Quartetts (v.l. Eugenia Ottaviano, Guglielmo Dandolo Marchesi, Gregor Hrabar, Bartolomeo Dandolo Marchesi. (Foto: Davide Cerati)

Die Sehnsucht nach dem großen Glück nimmt im Gedicht „Alinde“ von Friedrich Rochlitz die Gestalt einer jungen Frau an. Der lyrische Ich-Erzähler, der lang und bang auf seine Liebste wartet, ruft ungeduldig ihren Namen: „Alinde, Alinde!“ Franz Schubert, der die Verse 1827 als Strophenlied vertonte, lässt die Ersehnte wie ein Echo antworten: „Du suchtest so treu: nun finde!“

Das ist, in aphoristischer Kürze, ein Versprechen auf Erfüllung. Und nicht weniger als ein Omen für die vier Streicher, die sich 2011 als Alinde Quartett zusammenschlossen. Die Namenswahl gleicht einem Statement. Franz Schubert ist der Fixstern ihres Repertoires, das von der Renaissancemusik bis zu zeitgenössischen Werken reicht. Die geben sie auch gerne mal in Auftrag: als „treue Sucher“, die Schuberts Musik gerne in den Kontext anderer Epochen stellen, um sie auf diese Weise neu zu erkunden. Auf historischen Instrumenten spielen sie nicht weniger kompetent als auf modernen.

Was sie in den Partituren entdecken, versuchen sie für das Publikum möglichst transparent zu machen. „Es ist unmöglich, vier Stimmen mit der gleichen Aufmerksamkeit zu folgen. Wir müssen die Hörer führen, Klarheit schaffen, im Probenprozess immer wieder entscheiden, was wann wichtig ist“, sagt die aus dem italienischen Terni stammende Geigerin Eugenia Ottaviano, Gründungsmitglied und einst Schülerin des legendären Violinvirtuosen Salvatore Accardo.

Nicht nur die Musiker, sondern auch die Instrumente müssen im Streichquartett zueinander passen. (Foto: Davide Cerati)

Das in Köln ansässige Quartett ist beinahe eine italienische Familienangelegenheit. Eugenia Ottaviano ist die Ehefrau des zweiten Geigers Guglielmo Dandolo Marchesi, dessen Bruder Bartolomeo die Cellostimme spielt. Nach mehreren Wechseln kam 2017 der slowenische Bratschist Gregor Hrabar zu der Formation: „Er rutschte eher zufällig hinein, passte aber sofort perfekt zu uns. Das ist nicht selbstverständlich, das Quatuor Ebène zum Beispiel hat ewig nach einem neuen Cellisten gesucht“, erzählt Eugenia Ottaviano.

Lebhaft und offen erzählt die Geigerin, dass sie lange damit haderte, keinen großen Wettbewerb mit dem Quartett gewonnen zu haben. Aber auch ohne „Türöffner“ dieser Art weist die Karrierekurve für die Vier nach oben. Auftritte in der Hamburger Elbphilharmonie, im Konzerthaus Berlin, beim Verbier Festival und beim Schleswig-Holstein Musik Festival sind nur einige Wegmarken auf den zunehmend internationalen Pfaden. Prominente Mentoren gaben ihnen Schub: zum Beispiel Günther Pichler vom Alban Berg Quartett, Rainer Schmidt vom Hagen Quartett sowie der „Streichquartett-Guru“ Eberhard Feltz in Berlin.

Dem ehrgeizigen Projekt einer Gesamtaufnahme der Schubert-Streichquartette widmen sie sich seit 2019 in Koproduktion mit dem Label Hänssler Classic und dem Deutschlandfunk. Sie soll im Jahr 2028 zum Abschluss kommen, wenn sich der Todestag des Komponisten zum 200. Mal jährt. Jede CD wird durch eine Auftragskomposition ergänzt, die von Schuberts Tonsprache und seinem musikalischen Erbe inspiriert ist.

Unterstützung erfährt das Alinde Quartett durch die Althafen Foundation, aktuell aber auch stark durch die Kölner Philharmonie. Intendant Louwrens Langevoort widmet den vier Streichern einen Porträt-Zyklus von insgesamt sechs Konzerten, in denen sie ihre Kreativität auf sehr unterschiedliche Weise ausleben dürfen: mit dem Barockensemble „Verità Baroque“, im Klavierquintett (mit dem Pianisten Dmitry Ablogin), im Kinderkonzert (mit dem Schauspieler Alexander Wanat), mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen unter der Leitung von Duncan Ward und mit der berühmten Organistin Iveta Apkalna.

Auch zeitgenössische Kompositionen gibt das Alinde Quartett für seine Schubert-Gesamtaufnahme in Auftrag. (Foto: Davide Cerati)

Pur, also ohne Gäste oder Partner, war das Quartett im zweiten Konzert dieser Reihe zu erleben. Es nutzt die Gelegenheit für ein Programm mit Signatur-Charakter. Mit voller Absicht schalten sie dem berühmten „Rosamunde“-Quartett von Franz Schubert (D 804) einen kurzen Renaissance-Gesang von Josquin des Prez voran. Ohne Unterbrechung spielen sie die ätherisch reinen Harmonien des etwa zweiminütigen Stücks in Schuberts wehmütig gefärbtes Anfangsthema hinein. Der Übergang funktioniert nahtlos und wirkt stimmig, weil der kristalline Klang des Alinde Quartetts beide Stücke verbindet.

Nicht romantisch voluminös spielt dieses Quartett, sondern mit beseelter Präzision, einer Klarheit ohne Kälte. Die Tongebung vereint Schönheit mit Zerbrechlichkeit, mit feinem Sinn für das sublime Wechselspiel von Licht und Schatten. Das Quartett versteht sich präzise auf das, was sich hinter Schuberts melancholischen Stimmungen verbirgt. Wenn Eugenia Ottaviano das Hauptthema klingen lässt wie einen langen, schweren Seufzer, beginnen die Stimmen unterhalb der Melodie zu beben, dass es zum Schaudern ist.

Beim Konzert in der Kölner Philharmonie: das Alinde Quartett. (Foto: Thomas Brill)

Statt in einer kuscheligen Komfortzone zu verharren, wird der Kopfsatz zu einer Wanderung am Abgrund. Zuweilen reißen die Melodien abrupt ab, laufen gewissermaßen vor eine Wand aus Akkorden. Das klingt beim Alinde Quartett angemessen radikal, obwohl es im Trio des dritten Satzes und im Finalsatz zeigt, dass es sich auch auf fröhlichere, silberne Akzente versteht und punktierte Rhythmen ins Schweben bringen kann.

Kühn spielt der katalanische Komponist Marc Migó in seinem Streichquartett Nr. 2 („Sardana – Quodlibet“) mit Schubert-Zitaten. Das Alinde Quartett macht aus dem Auftragswerk einen musikalischen Spaß vom Feinsten. Es umspielt Zitate aus „Der Tod und das Mädchen“ mit fiependen Flageolett-Tönen, setzt durch Fußstampfen Akzente, turnt mit Lust am Schabernack und erheblicher Artistik durch die Partitur. Dass dann auch noch der zweite Satz aus Beethovens 7. Sinfonie anklingt, ist eine absurd-amüsante Pointe. Komponist und Interpreten erhielten danach Riesenbeifall.

Nach der Pause verlangt Beethovens 2. Rasumowsky-Quartett (e-Moll op. 59/2) eine andere, vehementere Energie. Das Alinde Quartett findet auch dafür den rechten Tonfall: energisch klopfende Achtel im eröffnenden Allegro und eine ruhevoll-abgeklärte Stimmung für das Molto Adagio, dessen Puls schließlich zu stocken scheint. Danach herrscht im Publikum absolute Stille. Das „russische Thema“ im dritten Satz steigert das Quartett vom Rustikalen ins Grandiose. Aus dem Presto-Finale tönt jauchzender Übermut. Beinahe verschwörerisch stecken die Musiker kurz vor Schluss die Köpfe zusammen. Dann preschen sie über die Ziellinie, mit ungezügeltem Temperament. Bravorufe, Ovationen.

(Informationen: www.alindequartett.com)




Ovationen vor dem Verstummen: Das Konzerthaus Dortmund ging mit einem Beethoven-Marathon in den erneuten Lockdown

Die Musiker des Belcea Quartetts: Krzysztof Chorzelski (Viola), Axel Schacher (Violine), Antoine Lederlin (Cello) und Corina Belcea (v.l. Foto: Marco Borggreve)

Beethoven hat das letzte Wort. Am Tag vor dem erneuten Lockdown, der auch die Kultur- und Veranstaltungsbranche zum Erliegen bringt, zeigen zwei führende Streichquartette unserer Zeit im Konzerthaus Dortmund, welchen Gipfel- und Endpunkt die Gattung durch den Jahresjubilar erreichte.

Das Belcea Quartet und das französische Quatuor Ébène wechseln sich bei einem musikalischen Marathon ab, der durch acht der insgesamt 16 Werke führt, die Beethoven zu dieser Königsdisziplin der Komponisten beitrug.

Gleichwohl mag Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech die Schließung des Betriebs nicht unkommentiert lassen. Er greift vor Beginn zum Mikrophon, um sich gegen das „undifferenzierte Vorgehen“ der Politik zu wehren: „Wir werden die Pandemie nicht durch die Schließung der Kultur in den Griff bekommen. Die Theater und Philharmonien sind keine Infektionsorte!“ Dass er Eigeninteressen vertritt, verhehlt er keineswegs („Ich bin vom Intendanten zum Lobbyisten geworden“). Stimmungsmache kann man ihm indessen nicht vorwerfen. Er erinnert an die Not der Solo-Selbständigen und verkündet, den Musikern Ausfall-Zahlungen leisten zu wollen.

Damit sind wir entlassen in den Kosmos der Beethoven-Streichquartette, der die Widrigkeiten dieser Welt auf Zwergenmaß schrumpfen lässt. Das Programm umfasst drei Beispiele aus der frühen Werkgruppe Opus 18, drei Stücke aus der mittleren Schaffensperiode und zwei Spätwerke. So lässt sich nachverfolgen, wie Beethoven sich mit zunehmend kühner Experimentierlust über alles hinaus schrieb, was seinen Zeitgenossen verständlich war.

Wie souverän er sich schon früh vom Vorbild Haydns und Mozarts absetzt, zeigt das Belcea Quartet zu Beginn mit Opus 18 Nr. 3 (aus dem Jahr 1799). Die helle, freundliche Grazie des Tonfalls findet eine wunderbare Entsprechung in den silbrig schimmernden Höhen von Corina Belceas Violinklang. Aber in den Ecksätzen künden Akzente bereits von einer typischen, robusten Energie. Auch das zunächst friedvolle Andante con moto hat es in sich: Es erreicht mit seinen Einzeltönen und Pausen einen erstaunlich modern wirkenden Minimalismus.

Im 1808 komponierten Opus 59 Nr. 1 hat diese Handschrift deutlich an Ausdruckskraft gewonnen. Mit einer Mischung aus Disziplin und Spielfreude fächert das Belcea Quartet eine Palette auf, die vom nahezu rhapsodischen Anfangsthema im Cello zu Tonwiederholungen führt, die mal ruppig klopfen, mal elfengleich trippeln wie in Mendelssohns Sommernachtstraum. Die langen Bögen des Adagio geraten seidig fein ins Schweben, wie von milder Melancholie durchleuchtet.

Das Quatuor Ébène: von links Raphaël Merlin (Cello), Pierre Colombet (Violine), Gabriel Le Magadure (Violine), Marie Chilemme (Bratsche. Foto: Julien Mignot)

Es erscheint nahezu unwirklich, wie locker das Quatuor Ébène diese hohe Interpretationskunst noch übertrifft. Die Franzosen musizieren mit entwaffnender Natürlichkeit und einem bezwingenden Willen zum Wesentlichen. Wie sehr sie sich auf Beethovens Rhetorik verstehen, zeigen nicht allein die raffinierten Gegenakzente im Trio von Opus 18 Nr. 5. Bestechend synchron artikulierend, rücken sie das Andante in die Nähe der „Szene am Bach“ aus der 6. Sinfonie („Pastorale“), erreichen gar einen rustikalen Vorgriff auf Schubert’sche Forellen-Munterkeit. Sie beherrschen ein Pianissimo mit Fernklang-Effekt, leuchten Abgründiges mit dunklem Feuer aus, bevor sie weiche, schneehelle Gefilde vor uns entfalten.

Das späte Streichquartett op. 131 aus Beethovens vorletztem Lebensjahr spielen die Franzosen vollends aus Zeit und Raum heraus. Was hier zusammentrifft, gleicht einer Quadratur des Kreises: abgeklärt und überhastet, grüblerisch und übermütig, bizarr und wild und witzig in einem. Wenn das Cello das letzte Adagio mit einer grimmigen Floskel beiseite fegt, ist der Gipfel der Kompromisslosigkeit erreicht. Das Quatuor Ébène feuert uns Pizzicati um die Ohren und spielt mit dem Bogen so nahe am Steg, dass sich ein eisiger Schauer in die Raserei mischt. Das Publikum spendet Ovationen, bevor es sich in den November des Verstummens zerstreut. Das letzte Wort aber hat Beethoven.




Ein warmer, tragender Klang: Der Kammermusiksaal des Musikforums Bochum ist ein Glücksfall

Das „Viktoria Quartett“ mit Philipp Willerding-Bach, Jiwon Kim, Aliaksandr Senazhenski und Esiona Stefani (v.l.n.r.). (Foto: Christoph Fein)

Streichquartett-Abende sind immer einen Besuch wert. Darf sich das geneigte Publikum doch gewissermaßen auf einem Olymp der Kunst wähnen. Hier wird die reine Vierstimmigkeit zelebriert, geht es mithin um nicht weniger als die Königsgattung der Kammermusik.

Kein Komponist, der was auf sich hielt oder hält, der nicht für Streichquartett schrieb oder schreibt. Von Haydn und Vorläufern bis hin zu Wolfgang Rihm und Jüngeren – kaum ein Kanon kommt ohne Werke für die Kombination von zwei Geigen, Bratsche und Cello aus.

Was Wunder: Der große Goethe hat dazu, ganz im Geiste der Aufklärung, seinen Segen gegeben. „Man hört vier vernünftige Leute sich untereinander unterhalten, glaubt ihren Diskursen etwas abzugewinnen und die Eigentümlichkeiten der Instrumente kennen zu lernen.“ Da ist es zudem wenig verwunderlich, dass bis heute immer wieder neue Streichquartett-Ensembles sich der Herausforderung des rationalen musikalischen Gesprächs stellen wollen.

Bei den Bochumer Symphonikern haben sich im Laufe der Zeit zwei entsprechende Formationen gebildet. Zunächst „Bermuda4“ und später, genauer gesagt vor etwa drei Jahren, das „Viktoria Quartett“. Beide haben für diese Saison eine eigene Reihe eingerichtet. Allein, aktuell gestaltet ausschließlich das „Viktoria Quartett“ die Konzerte, „Bermuda4“ befindet sich in einer Phase der Neuorientierung. Selbstreflexionen dieser Art sind beileibe nichts Ungewöhnliches, auch berühmte Ensembles sind davor nicht gefeit. Über Binnenspannungen im Quartettbetrieb wurden schon Bücher geschrieben – und es bleibt nur der Wunsch, dass sich am Ende alles wieder aufs Beste einrenkt.

Nun also: Das „Viktoria Quartett“ hat den dritten Abend der Reihe übernommen, das wohl kurzfristig zusammengestellte Programm weist Prokofjews 1. (op. 50) und Beethovens 4. Quartett (aus op. 18) aus. Für uns ist es im übrigen die erste Gelegenheit, den Kammermusiksaal des neuen Bochumer Musikforums zu testen. Und es sei gesagt: Das Hörerlebnis ist außerordentlich.

Der Klang umfängt das Publikum mit angenehmer Wärme, wer die Augen schließt, mag kaum glauben, dass alle Töne doch von vorn kommen. Dazu verhelfen die reflektierenden Flächen der Seitenwände, wie andererseits zwei raumhohe schwere Vorhänge die prinzipiell trockene Akustik abmildern. Gleichwohl wird jede noch so filigrane Klangnuance bis in die hinterste Reihe getragen. Selbst das leiseste Pianissimo findet in kristalliner Klarheit jedes Ohr. Andererseits: Dissonante Schärfen, wie sie Prokofjew oft genug vorschreibt, versagen sich in hoher Lage jedes Klirren. Diese kleine Schuhschachtel, maximal auf 325 Plätze ausgerichtet, ist für Kammermusiker ein Glücksfall.

Gleichzeitig jedoch eine Herausforderung. Wo nichts ungehört bleibt, ist Präzision gefragt. Das fängt bei der Intonation an, ist in Sachen Tongebung von Bedeutung, betrifft nicht zuletzt die Kunst des Zusammenspiels. Der rationale Diskurs ist das eine, das konzentrierte Hören aufeinander die andere Seite der musikalischen Medaille. Wie schön, dass sich das „Viktoria Quartett“ als Organismus präsentiert, dessen Solisten nie in den Vordergrund drängen. Interessant ist vielmehr, dass kaum eine Führungsrolle auszumachen ist. Esiona Stefani (1. Violine), Jiwon Kim (2. Violine), Aliaksandr Senazhenski (Viola) und Philipp Willerding-Bach (Violoncello) verstehen einander ziemlich gut, intonieren äußerst sauber, nur hier und da fehlt es an präziser Tonfokussierung.

Bei Prokofjew gelingt die Balance zwischen akzentuierter Motorik und stimmungsvollem Legato-Ton überzeugend. Das Spiel des Quartetts ist energiegeladen, zielt aber vor allem auf die expressive Ausgestaltung des Finales, einem Lamento von erheblicher Dramatik. Beethovens Werk wiederum hätte insgesamt mehr Biss verdient, andererseits wird die Modernität des Stückes (frühe Anklänge an die Romantik) fein herausgearbeitet. Ja, der Besuch dieses Konzerts hat sich gelohnt.