Leben im Wildwuchs der Lektüren: Ulrich Raulff blickt in die 1970er Jahre zurück

Leicht kommen einem die eigenen Jugendjahre mitsamt den Zwanzigern wie die allerbesten Abschnitte der Geschichte vor. Das waren noch Zeiten. Da fühlte man sich noch (gelegentlich) kraftvoll und schier unverwundbar. Und wie man von Tag zu Tag immer klüger wurde, wie man allen die Stirn bieten wollte…

In solchem Sinne, wenn auch mit nachträglicher Skepsis ausbalanciert, hat Ulrich Raulff jetzt Bruchstücke seiner intellektuellen Autobiographie vorgelegt. Ein weiteres Beispiel fürs Genre „Wenn Großvater erzählt“?

Der 1950 in Meinerzhagen geborene Raulff hat seine historischen und philosophischen Studien vornehmlich in Marburg, Frankfurt und Paris betrieben, sich aber auch in Berlin, England, Italien und den USA umgetan. Man darf da wohl einen gutbürgerlichen Familienhintergrund mit entsprechendem Selbstbewusstsein vermuten.

Raulff

Jedenfalls hat Raulff etwas aus sich gemacht: Er war zeitweise Feuilletonchef der FAZ sowie leitender Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“ und ist schließlich 2004 Direktor des Deutschen Literaturarchivs in Marbach geworden. Alles vom Feinsten.

In dem Buch „Wiedersehen mit den Siebzigern“ erzählt er nun vornehmlich von seinen studentischen Lehr- und Wanderjahren. Der „Nach-68er“ Raulff, der somit an der vermeintlich großen Rebellion nicht beteiligt war, schildert die frühen 70er Jahre als Zeit des überaus heiligen Ernstes aus dem allmählich versiegenden Geiste marxistischer Strömungen und Grüppchen. Welch eine Rechthaberei herrschte da! Wie war man im Gehege des Zeitgeistes gefangen! In so mancher festgefahrenen Debatte ward den Sensibleren unbehaglich zumute. Hier drohte der Absturz ins Kleinbürgerliche, dort das Elend der Polit- und Psychosekten.

Ulrich Raulff beschreibt die vielen, vielen langen Tage, die er in den schönsten und ergiebigsten Bibliotheken verbracht hat. Er selbst baute an der Uni regelmäßig einen Büchertisch auf. Auch die erotische Neigung zu zartsinnigen Mädchen scheint sich allemal durch gehabte oder ersehnte Lektüren angebahnt zu haben. Büchereien, so lernen wir abermals, sind nicht zuletzt Stätten eines im weitesten Sinne erotischen Begehrens. Das Leben und das Lesen waren also nahezu eins.

Als große Befreiung hat der junge Mann es erlebt, im Paris der mittleren und späten 70er Jahre in ein ganz anderes intellektuelles Klima einzutauchen als vormals in Marburg, wo etwa Wolfgang Abendroth das Sagen hatte. In Frankreich waren es die großen Zeiten von Roland Barthes und Michel Foucault. Glückhafter Umstand für die weiteren Jahre: Von Foucault hielt Raulff alsbald ein Empfehlungsschreiben in den Händen, das seinerzeit in Paris und eigentlich weltweit alle Türen der Geisteswelt öffnete. Er und ein Freund hatten sich einfach getraut, den großen Meister anzusprechen…

Der Strukturalismus und seine Vernunftkritik, die etwas später als Import in Deutschland anlangten, erwiesen sich für Raulff als Vademecum gegen den bis dato stramm links dominierten Diskurs. Ideologische Spurwechsel wurden damals vielfach vollzogen. Vom „Auszug aus der Suhrkamp-Kultur“ ist bei Raulff die frohe Rede. Als weiterer Zweig des Bedenkenswerten kam u. a. Aby Warburgs und Erwin Panofskys Ikonologie (Lehre von den Bildern) hinzu, deren Impulse im deutschen Sprachraum von Denkern wie Klaus Theweleit und Ausstellungsmachern wie Harald Szeemann aufgenommen wurden.

Noch heute zeigt sich Raulff so beseelt von jener Zeit, dass er sich vielfach in Einzelheiten verliert. Der Punk kam damals auf und Raulff war Mitbegründer einer eher randständigen Zeitschrift namens „Tumult“. Man vernimmt hie und da Gestus und Duktus eines weltläufigen „Ich war dabei“, doch behält all das einen gewissen Charme und gerät nirgendwo zum Auftrumpfen. Gegen die Gefahren eines Bildungsphilistertums ist Raulff offenbar gefeit.

Auch kann man wahrlich die Wehmut nachvollziehen, mit der Raulff die schweifenden, wildwüchsigen Lektüren beschwört, deren Früchte sich in Zettel- und Karteikästen statt in Computer-Dateien ergossen haben. Jeder Lesende war sozusagen seine eigene Suchmaschine.

Wer damals (wenngleich begrenzter und glanzloser) ebenfalls studiert hat, kann zudem einigen geistigen Signaturen jener Jahre nachspüren, die einen selbst – so oder so – berührt haben. Auch in diesem Sinne sind Raulffs Erinnerungen ein aufschlussreiches Dokument der „Jahre, die ihr kennt“.

Ulrich Raulff: „Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens“. Klett-Cotta. 170 Seiten. 17,95 Euro.




Zwischen Wehmut und Wäschekörben – Glückauf für die Erstsemester

Wenn ich bisher dachte, das amtlich anerkannte Synonym für „Zimmer aufräumen“ bei Jugendlichen wäre „alles-in-den-Wäschekorb-stopfen“, kenne ich nun auch die zweite Variante: „Alles-in-Kisten-stopfen“. Die justament angemietete Studentenbude will gefüllt sein. Das neue Semester beginnt, erstmalig auch für meinen Sohn.

Meine Güte, hatte er schon immer so ein großes Zimmer und wieso ist das in den letzten 10 Jahren niemandem aufgefallen? Da stand er also, das große Kind, inmitten seiner Kisten, seiner neuen Matratze, die des studentischen Hochbettes harrte und freute sich. Auf das, was kommen wird. Und ich versteckte meine Wehmut hinter platten Wäschekorb-Synonymen. Doch bei aller Wehmut freue ich mich auch. Für ihn und mit ihm.

Die Bedenken waren ja groß gewesen. Ich hatte mehrfach berichtet und gewettert. Der doppelte Abi-Jahrgang, das Bildungssystem im Allgemeinen, mit heißer Nadel gestrickte Reformen und so weiter. Sie wissen schon. Gleichwohl – das große Chaos blieb aus. In unserem Haus und in den Häusern der hier bis dato ein- und ausgehenden Freunde auch. Alle sind untergebracht. Gut, einige hatten sich von vornherein für ein freiwilliges soziales Jahr oder ähnliches entschieden. Doch die anderen haben alle ihre Studienplätze bekommen. Weitestgehend auch die gewünschten. Somit kann ich zumindest aus nächster Nähe nichts zum Studienplatz-Chaos beitragen. Zum Glück.

Im Zuge der Bewerbungsverfahren habe ich mitbekommen, dass die Uni Bochum ihr Bewerbungsverfahren dieses Jahr gestrafft hat – bis zum 11. August mussten sich dort schon alle erklären, die in der ersten Runde ihren Studienplatz zugeteilt bekommen hatten, so dass etliche Nachrücker schon Ende August Bescheid wussten. Das hat wohl entscheidend entzerrt, zumindest hier im Ruhrgebiet. Wie es dann demnächst an den Unis aussieht mit der stark gestiegenen Zahl der Studenten, muss sich natürlich noch weisen.

vor der Uni  Schloß BonnUnser Sohn hatte sich an mit einem klaren persönlichen Ranking an verschiedenen Unis beworben und konnte – sehr zur allseitigen Freude – frei wählen. Nun wird er sich der Kunst der Juristerei widmen. In der Stadt, in der Muttern in seinem Alter im Hofgarten gegen den Nato-Doppelbeschluß demonstrierte. Sie wissen schon, was gemeint sein könnte.

Eine andere Nummer ist in der Tat die mit den Unterkünften. Haarsträubend. Was da für Preise aufgerufen werden, es rollen sich einem die Fußnägel hoch. Und so leicht nicht wieder runter. WG’s gründen geht auch nicht mehr so einfach wie früher. Ganze Wohnungen werden höchst selten noch vermietet. Heutzutage werden die Zimmer alle einzeln auf den Markt geworfen und von Maklern angeboten. Mit wem man dann demnächst eine Zweckgemeinschaft bildet, hängt ganz vom Würfelgeschick der Makler ab. Hätte man Mut, wäre jetzt der Zeitpunkt, an dem man eine Hypothek aufnehmen und eine Wohnung in einer Studentenstadt kaufen sollte.

Den Mut habe ich leider nicht, muss ich mich einstweilen mit der Wehmut begnügen. Und stolz auf mein Kind sein, das nun vonne Ruhe annen Rhein zieht. Glückauf, mein Kind. Datt machste schon. Und erzähl schön, wie et so iss mit dem Doppeljahrgang inne Unis. Damit ich das hier auch berichten kann.