Überraschung in Mülheim: Dramatikerpreis an Volker Ludwig für „Linie 1″ – Jury und Publikum votierten für Revue des Grips-Theaters

Von Bernd Berke

Mülheim. Die Überraschung ist perfekt, doch sie konnte bei Licht besehen gar nicht ausbleiben. So paradox könnte man den Beigeschmack der Jury-Entscheidung bei den Mülheimer Theatertagen „stücke ’87“ umschreiben. Der mit 20.000 DM dotierte Dramatikerpreis geht an Volker Ludwig. Mit diesem Votum für „Linie 1″ (Rock-Revue des Grips-Theaters), wolle man, so die Jury-Begründung, „eine auf deutschsprachigen Bühnen seltene Form des kritischen Unterhaltungstheaters“ fördern.

Das U-Bahn-Stationenstück, so die Jury weiter, verbinde Elemente der musikalischen Revue und des  Sprechtheaters, um „Probleme großstädtischer Lebenswirklichkeit und der Jugendkultur“ zu thematisieren. Gewürdigt werde mit dieser Entscheidung auch „die Kontinuität der Theaterarbeit des Autors Volker Ludwig und des Grips-Theaters“.

Fünf von acht Jury-Experten – drei stimmten für Elfriede Jelineks Vampir-Stück „Krankheit“ – haben damit dem Geschmack der Publikumsmehrheit entsprochen (was in den vergangenen Jahren längst nicht immer der Fall war). „Linie 1″ war der eindeutige Favorit bei den Zuschauern, sowohl, was die Besucherzahlen in Mülheim, als auch, was die Stimmzettel anging.

In der mitternächtlichen Diskussion nach Bekanntgabe des Jury-Entscheids erhoben sich einige Stimmen, die das Urteil für unseriös erklärten, von einem „Wende-Signal“ sprachen oder polemisierten, hier zeige sich eine Tendenz zur flachen Unterhaltung wie im Privatfernsehen.

Es ließen sich tatsächlich stichhaltige Einwände gegen „Linie 1″ erheben, etwa der, daß gesellschaftliche Randgruppen hier auch zum Objekt der Unterhaltung werden. Andererseits stecken in der kalkuliert kitschigen und witzigen Verpackung des Stücks auch kritische Inhalte.

Von einem „Signal“ der Jury kann man tatsächlich sprechen. Ausformuliert und an die Adresse der Theaterautoren gerichtet, könnte es in etwa lauten: „Entfernt euch nicht zu sehr vom Publikum!“ Ein Appell, der mit Blick auf die Gesamtheit der Mülheimer Wettbewerbsbeiträge einiges für sich hat, kam doch vielfach sprachlich überladene, stockdüstere Endzeit-Prosa auf die Bühne, die allenfalls unter dem Aspekt „publikumswirksam“ war, daß sie für Unklarheit in den Köpfen sorgte, was – wie sich in den Mülheimer Diskussionen nach den Aufführungen zeigte – von einigen Theatermachern bereits als das Nonplusultra ihrer Arbeit angesehen wird. Motto: „Was ich verstehe, damit bin ich fertig.“

Als letztes der sechs Stücke wurde am Donnerstag Abend Horst Wolf Müllers „Komarek“ in der Karlsruher Inszenierung von Hagen Mueller-Stahl gezeigt. Die Geschichte eines Arbeitslosen spielt 1932 und soll die Durchdringung des Privaten durch das Politische (Aufkommen des Nationalsozialismus) vorführen. Ob der Text dies leisten kann, ist nach dieser Inszenierung nur sehr schwer zu sagen. In der beinahe naturalistischen Darbietung, die in Mülheim zu sehen war, wird eher eine Vernebelung des Politischen durchs Private daraus. Die Frage bleibt, ob das sprachlich sehr zurückhaltende Stück mit feinem Instrumentarium unterschwellige Vorgänge erfaßt oder ob es einfach nur halbherzig und harmlos ist. Das Stück, dessen Autor übrigens als Angestellter im Bundespresseamt arbeitet, konnte in der gezeigten Darbietung noch nicht den Verdacht ausräumen, daß es eher eine entlastende und versöhnliche Tendenz à la Kempowski als die Schärfe eines Horváth hat.




Die Bühne als Forum für sperrige Prosatexte – „Totenfloß“ und „Die Seidels“ bei „stücke ’87“

Von Bernd Berke

Mülheim. Die Jury der Mülheimer Theatertage „stücke ’87“ ist wahrlich nicht zu beneiden. Nach fünf von sechs Wettbewerbs-Beiträgen hat sich noch immer kein Text als „Stück des Jahres“ aufgedrängt.

Gewisse Aussichten auf den Dramatikerpreis hat Harald Mueller – allerdings eher wegen der hervorragenden Inszenierung seines Stücks „Totenfloß“ durch George Tabori, die einer wunderbaren Rettung des Textes gleichkommt. Das Mülheimer Publikum war in zwei Lager gespalten: Herzhafte „Buhs“ wurden mit lauten „Bravos“ vergolten.

Das Stück spielt im Jahr 2050, in einem chemisch und atomar verseuchten Endzeit-Deutschland. Mueller montierte eine auf brutale Kernbestände reduzierte „Zukunftssprache“: eine Mischung aus knappstem Techno-Idiom, Amerikanismen und Slang – etwas Orwell, etwas Anthony Burgess („Uhrwerk Orange“), etwas Arno Schmidt („Gelehrtenrepublik“).

Das entseelte „Neusprech“ und sein Kontrast zu lyrischen Sprachresten aus unverseuchter Zeit sind aber schon die deutlichsten Vorzüge – abgesehen davon, daß Mueller als wohl einziger Stückeschreiber das Thema so direkt aufgegriffen hat. Viele Bühnen spielten das Stück denn auch, vor allem „nach Tschernobyl“. Sie taten dies, so muß vermutet werden, mangels Alternativen (ein Armutszeugnis für die deutschsprachige Gegenwartsdramatik). Jedes Beckett’sche Endzeit-Szenario ist, obwohl dort nicht von Cadmium und Fallout die Rede ist, bedrückender als „Totenfloß“.

Inhaltlich ergibt sich nämlich bei Harald Mueller größtenteils eine simpel ausgemalte „Hochrechnung“ heutiger Katastrophen, wie sie nahezu täglich von den Medien vermeldet werden, also eine auf die Spitze getriebene Fortschreibung, die aus durchschnittlicher Science-fiction geläufig ist. Die gespenstische Flußfahrt der vier verstrahlten und vergifteten „Untoten“, die aufeinem Floß das angeblich „cleane“ (saubere) Xanten ansteuern wollen, mündet schließlich gar in einen unbedarften moralischen Appell.

Regisseur Tabori hat sich gar nich eerst auf die manchmal platten Beschreibungsversuche des Textes, der zu vieles ausspricht und zu viel Unvorstellbares vorstellen will, eingelassen, sondern das Stück in einen reinen Kunst- und Spielraum verlegt. Dabei zeigt sich dann doch, daß der Text, ohne daß man ihm Gewalt antun müßte, Ansätze zu theatergemäßer Umsetzung bietet, was längst nicht von allen Beiträgen bei „stücke ’87“ behauptet werden kann.

Hatte man zunächst gemeint, Georg Seidels „Jochen Schanotta“ sei das Anti-Stück des Wettbewerbs, so hatte man eben nur noch nicht Stefan Schütz‘ „Die Seidels (Groß & Gross)“ in der lnszenierung der Städtischen Bühnen Osnabrück durchlitten.Auch Schütz (aus der DDR kommend, in Hannover lebend) operiert mit einer künstlichen Sprache aus klassizistischen und expressionistischen Anklängen sowie Kraftworten. Geradezu berserkerhaft düster, wirft er den Zuschauern (viele gingen in Mülheim vorzeitig) einen allgemeinen Weltekel hin, den er nur notdürftig aus dem gesellschaftlichen Elend nach dem Scheitem der deutschen Revolution von 1918/19 herleitet. Der tiefschürfend-sperrige Text, oft „um drei Ecken herum“ formuliert, könnte als Prosa bestehen. Sein Erscheinen auf dem Theater ist alles andere als zwingend, es ist Zufall.




Rock-Revue „Linie 1″ Favorit beim Publikum – Halbzeit des Mülheimer Wettbewerbs „stücke ’87“

Von Bernd Berke

Mülheim. Man könnte es wagen, schon zur „Halbzeit“ den Hauptanwärter auf den Mülheimer Dramatikerpreis ’87 vorherzusagen, wenn es nur nach dem Willen des Publikums ginge: er hieße mit ziemlicher Sicherheit Volker Ludwig.

Seine Rock-Revue von der U-Bahn „Linie l“, eine Stationen-Geschichten aus dem Berliner Untergrund zwischen Bahnhof-Zoo und Kreuzberg, mobilisierte am Wochenende zahlreiche Fans des Grips-Theaters, und deren frenetischer Beifall ließ kaum einen Zweifel daran, daß die Stimmzettel in den Wahlurnen der Stadthalle vielfach auf „gut“ oder „sehr gut“ lauteten.

Doch das gesamte Publikum hat auch bei ..Stücke ’87“ wieder nur eine einzige Stimme, die Theaterexperten der Jury werfen hingegen acht Voten in die Waagschale. Es ist kaum anzunehmen, daß dieses Gremium sich dazu durchringen wird, ein Rock-Musical zum Stück des Jahres zu erklären, das die Szene zwischen Punks, Pennern und Wilmersdorfer Witwen mit Elementen der Typenkomödie sowie einem Schuß Broadway verquickt und überhaupt keinerlei Berührungsscheu erkennen läßt – weder vor Gefühlen, die man landläufig unter Kitschverdacht stellen könnte, noch vor Kabarett- und Slapstick-Einlagen, ja, noch nicht einmal vor einem Happy-End. Das grenzt an Provokation inmitten der vorherrschenden Endzeitstimmung des Theaters.

Ob nun „Linie 1″ als fröhlicher Ausverkauf von gesellschaftlichen Randgruppen oder als populäre Aufbereitung verdrängter Utopien begriffen wird – pralles Theater ist es allemal. Und das liegt nicht nur an der Inszenierung, sondern vor allem am Text, der ja in Mülheim zur Debatte steht.

Zuvor waren zwei Stücke gezeigt worden, die jeweils auf ihre Weise schmerzlich deutlich machten, daß Kultur leider manchmal viel mit Sitzfleisch und mit „aussitzen° zu tun haben kann. Weder Elfriede Jelineks „Krankheit“ (vorgeführt vom Schauspiel Bonn), noch der „Jochen Schanotta“ des DDR-Äutors Georg Seidel (dargeboten vom Baseler Theater) dürften für den Preis in Frage kommen.

Lesbische Vampire kontra faschistoide Machos

Jelineks Stück ist streckenweise immerhin ein beachtliches Sprach-Kunstwerk. Doch Feinheiten gehen in Peter Eschbergs schrill-spekulativer Bühneneinrichtung sowieso den Bach herunter. Außerdem reißt das Stück Bäume aus, wo gar keine sind: lesbische Vampire kontra faschistoid daherbrabbelende Machos, die am Ende alles Weibliche mit der Schußwaffe erlegen – da fühlt man sich auch als Zuschauer leicht wie von Blutsaugern befallen.

Im übrigen haben sich die mit der Brechstange erzeugten Gegensätze des Stücks schnell erschöpft. Daß Frauen mystisch raunen, Männer hingegen nur bramarbasieren, hat man nach wenigen Szenen begriffen. Was sich danach endlos hinzieht, ist nur Wiederholung, ein Kreisen in sich selbst.

Noch strenger nimmt Georg Seidel die Zuschauer mit „Jochen Schanotta“ in die Zucht. Schanotta ist ein 18jähriger DDR-Rebell, der im Labyrinth der kleinen Freiheiten (lange Haare und Disco sind erlaubt) den.verzweifelten und von Anfang an vergeblichen Versuch unternimmt, die wirklichen Glücks- und Freiheitsmöglichkeiten des Individuums auszuloten.

Das diffuse Aufbegehren des jugendlichen Querdenkers wider die starre Erwachsenenwelt des realen Sozialismus mag auf DDR-Bühnen Sprengkraft entwickeln, hier mutet der Rebell ohne Rebellion seltsam gestrig an. Grundierung des Stücks ist das Vakuum der Langeweile, in dem jedes Anrennen zugleich ein Scheitern ist. So sieht man nur eine einzige Dimension, nämlich die schiere Vergeblichkeit auf der Bühne.