Das Abendland endet auf dem Herrenklo – Dramen von Marlene Streeruwitz und Volker Braun bei „Stücke ’93“

Von Bernd Berke

Mülheim. Es war fast wie im Fußballstadion, wenn die eigene Elf gar nichts zustande bringt. „Aufhören-Aufhören!“-Rufe dröhnten durch die Mülheimer Stadthalle, etwa ein Viertel des Publikums suchte während der Darbietung das Weite. Marlene Streeruwitz‘ Drama „New York. New York.“ lag beim Wettbewerb „Stücke ’93“ am Rande des Theaterskandals.

Schauplatz ist eine Wiener Herrentoilette, in die auch zahlreiche Damen strömen. Das Personal besteht vornehmlich aus Nutten, Strichern und anderen Gestrandeten. Wir werden Zeugen ungebrochener Gewalt. Da schlägt etwa der Zuhälter eine Dirne blutig. Anschließend vergreifen sich andere Toilettenbesucher an ihr und schleifen die Schwerverletzte halbnackt über die Bühne. Dann taucht eine japanische Reisegruppe auf. Eigentlich wollen sie ja das historische Klo besichtigen, auf dem schon Kaiser Franz Joseph huldvoll seine Notdurft verrichtet haben soll. Doch dann nutzen sie wieselnd die Gelegenheit und fotografieren die Mißhandlung der Frau.

In diesem Stile geht es zwei pausenlose Stunden lang weiter. Jens-Daniel Herzogs Inszenierung (Münchner Kammerspiele) führt nur bizarre Zustände am Rande der Gesellschaft vor Augen, verweigert jederlei Sinngebung. Wie im abgedroschensten naturalistischen Drama wird alles in quälender Echtzeit durchlitten. Auch wenn die alte Toilettenfrau Horvath (Heide von Strombeck), die bei all dem Geschehen strickend dasitzt wie eine Höllenwächterin, einmal die Emailschüsseln reinigt, sehen wir das ungekürzt.

Welche Kultur-Mafia steckt wohl dahinter?

Irgendwann denkt man: Welche Kultur-Mafia hat nur dieses Werk in die Auswahl zum besten Stück des Jahres bugsiert? Natürlich sollte man sich an diesem Punkt sogleich selbstkritisch fragen, woher das Unbehagen kommt. Liegt’s daran, daß man so hilflos im Sessel sitzt, jeglicher Gewalt optisch ausgeliefert? Und warum erträgt man Abbilder der Realität in den Fernsehnachrichten so viel kühler?

Doch derlei Gedanken machen das jammervolle Abort-Stück, das aus unerfindlichen Gründen mit Mythen aus Antike und Hollywood-Kino durchsetzt ist, kaum besser. Diese Mythen werden mit in den apokalyptischen Orkus gezogen: Spülung betätigen und weg mit dem ganzen Abendland. Wenn denn Marlene Streeruwitz als große Hoffnung des deutschsprachigen Theaters gilt, so lasset uns verzagen!

Theater auf dein Rückzug – das gilt auch für Volker Brauns „Iphigenie in Freiheit“. Der Ex-DDR-Autor trauert dem zweiten deutschen Staat oder einer verbesserten Neuauflage desselben nach. Er verdeutlicht seine Resignation in einem Kalauer: „Wir sind das Volk“ habe es einst geheißen, jetzt nur noch: „Ich bin Volker.“ Rette sich, wer kann – vor der Wiedervereinigung. Doch da ist keine Rettung, nur Vereinzelung; so auch bei jener Iphigenie, die gleichsam an den Westen verhökert wird und darüber bittere Klage erhebt.

Das Staatstheater Cottbus (Regie: Karlheinz Liefers) müht sich, den wie eine Ursuppe wirkenden Text zu gliedern. Die Chorpassagen erinnern in ihrem Stakkato an Agitprop. Doch das Ensemble steht auch für individuelle Sprechkultur. Trotzdem: Viel mehr, als diesen an der Bühne vorbei geschriebenen Text zu Gehör zu bringen, vermag man nicht.

Nun folgen beim Mülheimer Wettbewerb noch Stücke von Peter Handke, Dea Loher und Rainald Götz. Hoffen wir also darauf.

 




…doch Heidegger stieg durchs Gebirge – Elfriede Jelineks „Totenauberg“ bei den Mülheimer Stücketagen

Von Bernd Berke

Mülheim. Vor dem Juhnke-Rummel * hatten die Mülheimer Stücketage mit Elfriede Jelineks „Totenauberg“ begonnen, einem Drama über den Philosophen Martin Heidegger (1889-1976). Der war ein Brocken aus Granit.

In seinem Hauptwerk „Sein und Zeit“ genügte ihm der Begriff „Sein“ keineswegs. Er erfand z. B. auch noch „das Seiend“ und „die Seiendheit“ hinzu. Hut ab vor Elfriede Jelinek, weil sie – in Nachvollzug und Parodie – solchem Kauderwelsch eine poetische Sprache abgewann. „Totenauberg“, hier in der Fassung des Wiener Burgtheaters (Akademietheater) zu sehen, bezieht sich im Titel auf Heideggers Denkerklause im schwäbischen Todtnauberg. Derlei Wortspiele prägen den Text. Er stellt Heideggers Sprechblasen auf seine Weise so wirksam unter Verdacht wie 1964 Theodor W.Adornos Abrechnung („Jargon der Eigentlichkeit“).

Mehr noch. Das Stück konfrontiert den greisen Philosophen, der sich als Freiburger Uni-Rektor emsig mit den Nazis einließ (der Geistesriese als Moralzwerg), mit der jüdischen Denkerin Hannah Arendt. Die war als junges Mädchen in Heidegger verliebt – und wurde 1933 ins Exil getrieben, just als Heidegger seine großdeutsche Erweckung erlebte.

Trotzdem ist das Stück keine Heidegger-Schelte, sondern eine graue Litanei. Ein Alptraum aus Worten. Frau Jelinek versetzt die langen Monologe mit Passagen über furchtbar-fruchtbare Mutterschaft, Tötung „ungesunden“ Lebens, Tourismus, Naturzerstörung, Heimat, Fremde und Exil. Da tun sich Wunden auf, die auch in der Gegenwart nicht verheilt sind.

Österreichs Alpen bilden die Kulisse. Die Schauspieler müssen auch wirklich Text-Berge bewältigen, die Regisseur Manfred Karge freilich (bis an den Rand des Zulässigen) abgetragen hat. Hätte er nicht ein so großartiges Ensemble (u. a. Martin Schwab, Therese Affolter, Lore Brunner), wäre jeder Gag eine Qual. Das Ganze ist nicht für die Spielpraxis geschrieben, es ist eine harsche Herausforderung an die Bühne. Aber Jelineks kunstvolle Sprache will nicht nur gelesen, sondern gesprochen und gehört sein. Also doch eine Theatersache, wenn auch eine sperrige.

_____________________

* Juhnke-Rummel: Peter Turrinis Stück „Alpenglühen“ konnte in Mülheim nur als Lesung aufgeführt werden, weil Hauptdarsteller Harald Juhnke kurzfristig ausfiel… (darüber berichtete der WR-Kollege Rolf Pfeiffer).