Groteske Turnübungen für die Demokratie – Mülheimer Stücktage mit Texten von Buhss, Marthaler, Pohl und Dorst

Von Bernd Berke

Mülheim/Ruhr. War es die Auslese eines süffigen Dramen-Jahrgangs, die man beim Mülheimer Dramatikerwettbewerb „stücke 96″ kredenzt hat? Insgesamt mundete es nicht schlechter als sonst. Doch die Entscheidung, den mit 20 000 DM dotierten Stückepreis an Werner Buhss zu vergeben, hat denn doch einen leicht säuerlichen Beigeschmack.

Buhss, 1949 in Magdeburg geboren, läßt in seinem Stück „Bevor wir Greise wurden“ (in Mülheim präsentiert von den Freien Kammerspielen Magdeburg) eine Handvoll ostdeutscher Abiturienten auftreten. Bedeutungsschwere Zeit: zwischen Stalins Tod und dem DDR-Volksaufstand yom 17. Juni 1953.

Es ist Buhss‘ zweiter Versuch, den von Uwe Johnson („Ingrid Babendererde / Reifeprüfung“) entlehnten Stoff zu dramatisieren. Und auch diesmal ist es ein etwas kraftloses Unterfangen. Den schwärmerisch veranlagten Jugendlichen droht im Realsozialismus frühe Vergreisung durch Anpassung ans SED-Maß. Dies wird so unbekümmert vorgeführt, daß es beim Mülheimer Publikum Irritationen auslöste. Man hätte es lieber düsterer gehabt.

Ovationen für die „Stunde Null“

Ovationen der Zuschauer erntete am letzten Abend der Stücketage der Schweizer Christoph Marthaler (44) für sein Werk „Stunde Null oder Die Kunst des Servierens“. Es zeigt die groteske Ertüchtigung von Managern und Politikern der 50er Jahre. Und wozu sollen sie sich stählen? Zur salbungsvollen Verdrängung der NS-Zeit, damit endlich das westdeutsche „Wirtschaftswunder“ beginnen kann.

Marthaler, der die kultverdächtige Aufführung des Deutschen Schauspielhauses Hamburg selbst inszeniert hat, läßt sieben Männer zu pseudo-demokratischen Turnübungen antreten. Hier lernen sie Bewältigungs-Ansprachen ebenso wie das jovial-ballettöse Schreiten auf roten Empfangsteppichen oder das gekonnte Durchschneiden von Absperrbändern zur Freigabe neuer Autobahnen.

Sieben Herren richten synchrones Chaos an

Wenn e i n e r was Verrücktes treibt, ist’s vielleicht komisch. Wenn sieben Leute, dargestellt von so herrlichen Schauspielern wie hier, ein synchrones Chaos (ja, so etwas gibt’s) anrichten, ist es zum Wiehern. Keinen Gag lassen sie sich entgehen, ja mit Slapstick und Zoten wächst sich das Ganze beinahe zum dröhnend „bunten Abend“ aus. Doch da gibt es immer wieder jenes Innehalten, jene Risse, in die der lautlose Schrecken sickert. Freilich ist’s ein Stück für jene, die immer schon alles besser gewußt haben.

Klaus Pohls „Wartesaal Deutschland – StimmenReich“ hatte zuvor auch ein paar unterhaltsame Momente zu bieten. Doch ein saftiges Theaterstück ist das nicht, sondern die etwas schale Frucht einer Reportagereise durch ostdeutsche Gefilde und angrenzende Westlande, die Pohl im Auftrag des „Spiegel“ unternommen hat. Die markantesten Aussagen hat er bearbeitet, in 24 Häppchen portioniert und aneinander gereiht. In besseren Momenten taugt das Resultat zum Nummern-Kabarett.

Selbstgespräche im Wartesaal

Da erzählen – von der Putzfrau bis zum Professor – vor allem ehemalige DDR-Bürger ihre zumeist gescheiterten Lebensläufe. Ort des Redens ist ein Bahnhofs-Wartesaal. Die große Uhr bleibt auf 14.29 stehen, und so ähnlich – als verginge die Zeit nicht – kommt einem das Ganze mit zunehmender Dauer auch vor. Denn wir hören einen Monolog nach dem anderen. Es gibt keine erkennbaren Bündelungen, keine Kontraste, keinen Zenit, keine rechte Entwicklung, kaum Verdichtung. Fazit: eine notdürftig dem Theater zugeführte Reportage.

Mit Tankred Dorst, einem ständigen Wettbewerbs-Gast in Mülheim, ist man stets auf der sicheren Seite. „Die Geschichte der Pfeile“ ist, wie von diesem Dramatiker nicht anders zu erwarten, durchaus diskussionswürdig. Eine auf rätselhafte Weise anregende, zwischen Schmiere und Tragik angesiedelte Reflexion übers Bühnenwesen an sich, ein subtiles Spiel mit dem Theater und der Theatralik. Damit verdiente sich Dorst die (per Urnenwahl ermittelte) Publikumsstimme, die allerdings nur so viel zählt wie das Urteil eines einzigen Jurymitglieds.




Bayerischer Suff im alten Griechenland – Stücketage beginnen mit Herbert Achternbuschs „Der letzte Gast“

Von Bernd Berke

Mülheim/Ruhr. Nein, der „Nabel der Kultur-Welt“ ist Mülheim gewiß nicht. Dieses (von manchen keck beanspruchte) Prädikat wies auch Hans-Georg Specht, Oberbürgermeister der Stadt, in aller Bescheidenheit zurück, als er jetzt die Mülheimer Theatertage eröffnete.

Doch immerhin steht nun gleichsam wieder ein Wanderpokal des deutschen Feuilleton-Betriebs an der Ruhr. Denn zum 21. Mal geht es beim allzeit interessanten Dramatikerwettbewerb ums beste neue deutsche Stück.

Der Aufgalopp der Inszenierungen begann mit A wie Achternbusch, Herbert. Der hat mit seinem Drama „Letzter Gast“ sozusagen bayerische Kneipenatmosphäre ins klassische Griechenland verpflanzt. Treffen sich also ein alter Ägypter, ein Grieche und der Wirt, („zugroaster“ Römer) in einem Lokal zu Hellas. An der ägäischen Bucht ist das Bier grün, es verfehlt aber seine Wirkung nicht. Und wenn hernach der lebensgefährliche „Selbstgebrannte“ zum Einsatz kommt, zucken gar Blitze über die Bühne, die schlagartige alkoholische Hirnzertrümmerung signalisieren.

Und so salbadern sie denn auch, einer nach dem anderen seinen delirierenden Monolog abliefernd. Groteske Parodie auf die altgriechische Kunst der Rede und des Dialogs? Mag sein. Zwölf Lokalrunden werden binnen zwei Stunden Spielzeit geschmissen, und jede wird eingeläutet wie ein Boxkampf.

Wie viele Hügel hat das antike Rom? Ist die Erde eine Scheibe oder eine Kugel? Wie wäre es, wenn die Menschen statt der vielen Götter nur noch einen einzigen verehren? All das und noch vieles mehr wird beredet am promillo-philosophischen Stammtisch, der später – welch sinnfälliger Kommentar zum Stück – im überquellenden Theaterschaum versinkt.

Auftritt der Tierkopf-Götter und des kleinen Krokodils

In Alexander Langs Einrichtung (Münchner Kammerspiele) wird dem verbalen Wirrwarr mit Fez und Karneval Genüge getan. Da defilieren die ägyptischen Tierkopf-Gottheiten (Horus, Anubis & Co.) stumm und gravitätisch durch die Szenerie, da rennen bayerische Polizisten samt Nikolaus hinterdrein, und überm Tresen, der an einen Altarschrein erinnert (schönes Bühnenbild: Caroline Neven Du Mont), reckt auch schon mal ein kleines Spielzeugkrokodil sein Haupt. Tri-Tra-Trullala.

Autor Achternbusch scheint sich stets auf die Gnade des frühesten Einfalls verlassen zu haben. Schreib’s halt gleich hin, ‘s ist sowieso egal. Geradezu verschwenderisch gut muten demgegenüber die schauspielerischen Leistungen an. Thomas Holtzmann als vierschrötiger Wirt, Michael von Au als tuntiger Grieche Semel, Regisseur „Alexander Lang selbst als stocksteifer Ägypter Ptah und Jörg Hube als lachender „letzter Gast“ Thukydides – das ist schon ein Ensemble, auch mit Trinksprüchen aller Ehren wert.

Sechs weitere Autoren und ihre Stücke sind noch im Wettbewerb. Man wird sehen, wem am Schluß zugeprostet wird.