Unbewusstes aus der Dunkelkammer – Bilder des deutschen Surrealisten Edgar Ende in Haus Opherdicke

„De Profundis" (1951) ist das Titelbild der Ausstellung (Foto: Michael Ende Erben/VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

„De Profundis“ (1951) ist das Titelbild der Ausstellung (Foto: Michael Ende Erben/VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

„Der gefesselte Sturm“ ist eins der letzten Bilder Edgar Endes. 1965 entstanden, zeigt es ein rotes, mit Seilen gespanntes Tuch, in dem sich ein Gesicht abdrückt. Und das Gesicht vergießt Tränen. Ist dies vielleicht die Ahnung des nahenden Todes, ist es die Trauer darüber, dass das kranke Herz (Ende starb an einem Herzinfarkt) nicht mehr stürmen kann? Eine Antwort hätte man von dem Künstler, dessen Werke jetzt in Haus Opherdicke zu sehen sind, vermutlich nicht erhalten. Alles sei in den Bildern, pflegte er den nach Deutung fragenden Betrachtern für gewöhnlich zu bescheiden.

Edgar Ende, übrigens der Vater des wesentlich populäreren Kinderbuchautors Michael Ende („Momo“, „Jim Knopf“), gehört zu den wenigen surrealistischen Malern Deutschlands. Schon frühe Arbeiten wie „Die aus der Erde Kommenden“ von 1931 weiten die Szene ins bedrohlich Unwirkliche. Gewiss ist in Vorkriegsarbeiten wie dieser noch expressionistisches Pathos zu entdecken, doch es dominiert nicht.

Schon der junge Ende arbeitete mit tiefstehendem Licht und magisch überdehnter Räumlichkeit, weshalb man frühe Arbeiten bei flüchtigem Hinsehen auch seinem berühmten italienischen Kollegen Giorgio di Chirico zuordnen könnte. Über persönliche Kontakte zur französischen surrealistischen Szene ist jedoch nichts bekannt, ebenso nichts über Kontakte zu dem fast einzigen bedeutenden, aus Deutschland stammenden Surrealisten Max Ernst, der jedoch schon in den 20er Jahren nach Frankreich übersiedelte.

Frühwerk: „Die aus der Erde Kommenden (Auferstehung)“ von 1931 (Foto: Michael Ende Erben/VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

1945 ging es weiter

Nach frühen beruflichen Erfolgen und ersten Verkäufen geriet Ende ins Visier der Nazis. 1936 wurde er als „entartet“ abgestempelt, Malen und Materialeinkauf wurden ihm verboten, Bilder von ihm, die bereits im Münchner Lenbachhaus hingen, wurden abgehängt.

Ende hielt sich an das Malverbot, war fünf Jahre lang Soldat – und machte 1945 genau da weiter, wo er in der Nazizeit aufgehört hatte. Sein Oeuvre ist von einer geradezu frappierenden Bruchlosigkeit, allerdings sind die Farben nun etwas kräftiger.

Monströse Wesen

Monströse Wesen wie die „Löwenengel“ bevölkern Endes Bilder, Tauben, deren Flügel menschliche Hände sind, überflattern eine Taucherglocke, ein Mann in roter Jacke schießt mit dem Gewehr auf Apothekerwaagen, die vor düsterer Sturmhimmelskulisse dahinfliegen: Wie entwickelte dieser Surrealist seine Phantasien in einer Zeit, in der zumal im Westen Deutschlands abstrakte Kunst als das Nonplusultra galt und Figuratives schnell als gestrig abgetan wurde? Nun, er ging, ganz bescheiden, in die Dunkelkammer.

Noch ein Frühwerk: „Fragmente“ von 1936 (Foto: Michael Ende Erben/VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Zettelkasten

Hier, in einer dunklen Kammer, in Abwesenheit jeglichen visuellen Reizes, wartete der Künstler auf Ideen. Sie strömten offenbar in reicher Zahl, und unter dem sparsamen Licht einer Taschenlampe skizzierte Ende Ideen, Eingebungen, „Gedankenblitze“ auf bereitliegenden Zetteln.

Ein besonderer Schatz in der Ausstellung, die Kurator Arne Reimann in Haus Opherdicke mit viel Feingefühl für diese singuläre Künstlerpersönlichkeit zusammengestellt hat, ist deshalb Edgar Endes Zettelkasten mit etlichen hundert Dunkelkammerskizzen. Wieder im Hellen zog mal er selbst, mal seine sehr viel jüngere Frau Lotte Schlegel ein Zettelchen, und dann entstand nach der skizzierten Idee vielleicht ein Bild. Ende glaubte, mit seiner Methode im dunklen, gleichsam lichtentleerten Raum Bildideen aus dem „kollektiven Unbewussten“ zu erreichen, die er seinem schöpferischen Tun unterlegte.

Flüchtig notiert 

Etliche Zettel sind in Opherdicke – unter Glas und bei gedämpftem Licht – nun ausgestellt, und es ist nicht eben so, dass sich Mal um Mal sofort das Meisterwerk zeigte. Einen Großteil der Dunkelkammer-Inspiration wird Edgar Ende also wohl im Kopf gespeichert haben, da ist das Papier dann nur ein Trigger. Doch entscheidend ist ja, was hinten rauskommt.

„Johnnys ganze Liebe“ von 1964 (Foto: Michael Ende Erben/VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Bald vergessen

Edgar Ende war zu Lebzeiten recht erfolgreich, unter anderem 1948 und 1954 Teilnehmer der Kunstbiennale Venedig und in seinen letzten Jahren Präsident des Münchner Hauses der Kunst. Doch das Vergessen setzte bald nach seinem Tod schon ein, und auch der Versuch seines Sohnes, mit einer großen Ausstellung in den frühen 80er Jahren den Vater dem Vergessen zu entreißen, war nur von mäßigem Erfolg gekrönt.

Erst in jüngerer Zeit ist wieder ein wachsendes Interesse an Künstlern jener „verlorenen Generation“ wahrnehmbar, die ihre „besten Jahre“ durch die Nazi-Herrschaft verloren und zu denen auch Ende zählt. Vor allem Kunst des gut 20 Jahre älteren Karl Hofer erzielte in den letzten Jahren große Verkaufserfolge. Er war zwar kein Surrealist, aber er verwendete die gleichen Farben wie Ende, weiß der Kunstsammler Frank Brabant, der schon etliche Opherdicker Ausstellungen bestückte und von dem hier jetzt drei Exponate stammen. Immerhin sind diese aus den 30er Jahren, und da gibt es nur ganz wenig, weil Edgar Endes Münchner Atelier mit all der vielen Kunst darin 1944 einem britischen Bombenangriff zum Opfer fiel.

Das ist nicht Emma. „Die Angst der Berge“ (1958) (Foto: Michael Ende Erben/VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Katalog enthält das Werkverzeichnis

Der Katalog zur Ausstellung schließlich, eine Besonderheit, umfasst auch das alphabetische Werkverzeichnis der Gemälde, Gouachen, Grafiken und Zeichnungen. Ende-Experte Axel Hinrich Murken hat es in drei Jahrzehnten erarbeitet.

  • „Edgar Ende – Melancholie und Verheißung“
  • Haus Opherdicke, Dorfstr. 29, Holzwickede
  • Bis 24.2.2019
  • Geöffnet Di – So 10:30 – 17:30 Uhr
  • Eintritt 4 €
  • Katalog 25 € im Museum, 28 € im Buchhandel
  • www.kreis-unna.de



Düsseldorf: Surrealistische Freiheitskunst aus Ägypten

Der Titel weckt erhabene Gefühle: „Art et Liberté“, Kunst und Freiheit! Man erwartet das große Ganze, Wunderbare. Doch im K20, dem schwarz glänzenden Tempel der Kunstsammlung NRW, geht es in diesem Sommer nur um ein sehr spezielles Thema: das vergessene Wirken einer Gruppe ägyptischer Surrealisten um 1940. Mit der vom Pariser Centre Pompidou übernommenen und von einem Scheich gesponserten Schau überbrückt man die Wartezeit bis zum Antritt der neuen Direktorin Susanne Gaensheimer.

Ramses Younane: Ohne Titel (1939). Courtesy H. E. Sh. Hassan M. A. Al Thani collection, Doha. (Foto: Haitham Shebab) / © Kunstsammlung NRW)

Ramses Younane: Ohne Titel (1939). Courtesy H. E. Sh. Hassan M. A. Al Thani collection, Doha. (Foto: Haitham Shebab / © Kunstsammlung NRW)

Salim al-Habschi, Hassan el-Telmisani, Ibrahim Massouda: Nie gehört? Die Namen der Künstler, die sich Ende der 1930er-Jahre in Kairo unter der Parole „Art et Liberté“ zusammentaten, sind unbekannt. Zu Recht, muss man nach dem Besuch der Ausstellung leider sagen. Denn was man da sieht, ist hauptsächlich so etwas wie das schwülstige Abbild der Avantgarde-Werke, die im Paris zwischen den Weltkriegen entstanden waren. In der Tat hatten etliche Talente aus dem zu jener Zeit noch britisch dominierten Ägypten in der französischen Hauptstadt studiert oder zumindest nach Inspiration gesucht.

Das haben sie in Paris gelernt

Antoine Malliarakis zum Beispiel, genannt Mayo, Sohn eines griechischen Suez-Kanal-Ingenieurs, hatte in den 1920er-Jahren das prickelnde Künstlerleben am Montparnasse gesucht. Keineswegs zufällig ähneln Mayos kurios komponierte, sandfarbene Körperteile von 1937 den surrealistischen Strandszenen von Picasso.

Auch die Kollegen guckten ab. Ringsum meint man grobe Kopien der Traumlandschaften von Max Ernst, Salvador Dalí oder Yves Tanguy zu sehen. Hier glotzt ein Auge aus Tentakeln, da erscheint eine weiche Uhr in einer Landschaft, Nackte steigen aus dem Sumpf, trickreich veränderte Fotografien nach Art von Man Ray verbreiten mysteriöse Stimmungen.

Mayo: "Portrait" (1937). Europäisches Kulturzentrum von Delphi, Griechenland (VG Bild-Kunst, Bonn 2017 / Foto: © Kunstsammlung NRW)

Mayo: „Portrait“ (1937). Europäisches Kulturzentrum von Delphi, Griechenland. (VG Bild-Kunst, Bonn 2017 / Foto: © Kunstsammlung NRW)

Um die fatalen Ähnlichkeiten zu durchbrechen, proklamierte der auch theoretisch versierte Maler Ramses Younane den „Subjektiven Realismus“ und malte 1939 eine dürre gebogene Figur, die entfernt an altägyptische Hieroglyphen erinnert.

Nun ja. Man hat schon weit größere Kunst im K20 gesehen. Aber die Schau ist historisch-politisch interessant und wurde von den Gastkuratoren Sam Bardaouil und Till Fellrath mit Hilfe von Filmen, Tönen und großen Fotografien lebendig inszeniert.

Hoffnung auf die Zukunft

In Kairo also, der Metropole des Orients, formierte sich im Dezember 1938 ein Widerstand gegen die faschistische Kulturpolitik in Deutschland, Italien und der Sowjetunion. „Vive l’art dégénéré“, es lebe die „Entartete Kunst“, überschrieben 37 vereinte Künstler und Intellektuelle in Anspielung auf den Titel der Münchner Nazi-Propaganda-Ausstellung ein Manifest für „Art et Liberté“.

In der „entarteten“, also von akademischen Zwängen und Schönfärberei befreiten Kunst, sahen die progressiven Ägypter „alle unsere Chancen für die Zukunft“ und riefen auf: „Lasst uns gemeinsam für ihren Sieg über das Mittelalter arbeiten, das im Herzen des Okzidents entsteht.“ Dazu bildeten sie ein heute weltberühmtes, damals neues Anti-Kriegsbild des spanischen Idols Picasso ab: „Guernica“.

Inji Efflatoun: Surrealistische Komposition (1942), Privatsammlung (Foto: © Kunstsammlung NRW)

Inji Efflatoun: Surrealistische Komposition (1942), Privatsammlung. (Foto: © Kunstsammlung NRW)

Ganz nebenbei registriert man, dass auch Frauen – natürlich ohne Schleier – Mitglied der Künstlergruppe waren. Filmisch dokumentierte Stadtszenen zeigen eine westlich geprägte Gesellschaft. Islamistischer Fanatismus war noch kein Thema. Die Welt hatte andere Probleme. Die Kriegsfront zog sich zwar nicht durch Kairo, aber 1941 waren hier 140 000 Soldaten stationiert. Wie alte britische Nachrichtenfilme zeigen, prägten marschierende Truppen und rollende Panzer das Straßenbild.

Gegen die Stimmen der Kanonen

„Die Stimme der Kanonen“, so der erste Katalogtitel der Künstlergruppe, übertönte alles. Und die Künstler kämpften leidenschaftlich auf ihre Art. Inji Efflatoun, Malerin und Feministin, versetzte „Mädchen und Monster“ in den Dschungel ihrer Fantasie, und Georges Henein, Poet und Diplomatensohn, dichtete Pathetisches: „Die Furchen deiner Stirn seien gleich Salven, die Edelsteine, die prachtvolle Orgien verheißen, die diesen großen parallelen Lüsten vorbehalten sind …“. Vielleicht ist die Übersetzung ja auch etwas kraus, man weiß es nicht.

Maler und Schriftsteller als Mitglieder von "Art et Liberté" auf einem Foto, das um 1945 entstanden ist. (Unbekannter Fotograf / Sammlung Christophe Bouleau, Genf / © Kunstsammlung NRW)

Maler(innen) und Schriftsteller als Mitglieder von „Art et Liberté“ – auf einem Foto, das um 1945 entstanden ist. (Unbekannter Fotograf / Sammlung Christophe Bouleau, Genf / © Kunstsammlung NRW)

Aus einer Ecke tönt der Saint-Louis-Blues von Teddy Stauffer, ein Film zeigt lockere Frauen und Bauchtänzerinnen mit Gasmasken aus dem Cabaret. Es ging wohl recht ungezwungen zu in den Clubs von Kairo. Gleich, was in Europa in und nach dem Krieg geschah – eine reiche Elite amüsierte sich, während die Armut unterprivilegierter Bevölkerungsschichten immer größer wurde. Ausgemergelte Gestalten auf den Bildern von „Art et Liberté“ weisen auf diese Missstände hin. Wie fatal sich eine solche gesellschaftliche Schieflage auf Dauer auswirkt, wissen wir heute. Schon deshalb ist es wichtig, Kunst und Freiheit hochzuhalten.

„Art et Libertè – Umbruch, Krieg und Surrealismus in Ägypten (1938-1948)“. Bis 15. Oktober im K20, Düsseldorf, Grabbeplatz. Di.-Fr. 10 bis 18 Uhr, Sa./So. 11 bis 18 Uhr, jeden 1. Mittwoch im Monat bis 22 Uhr. Eintritt: 12 Euro. Katalog: 35 Euro. www.kunstsammlung.de




Die Puppe des Monsieur Leblonde

Mustertafel mit "Mannequins" für den Künstlerbedarf, französisch, um 1868

Mustertafel mit „Mannequins“ für den Künstlerbedarf (Detail), französisch, um 1868, Sammlung Dietmar Siegert. Foto: Matthias Kampmann

Monsieur Leblonde kann man sich vorstellen als jemanden, der von Atelier zu Atelier zog und ein interessantes Produkt anpries: eine Puppe aus Kautschuk. An sich nichts Besonderes, aber zu der Zeit, es ist das 19. Jahrhundert, ein herrliches Utensil für halsstarrige Akademisten, die sich von der Fotografie nicht den Schneid abkaufen lassen wollten und natürlicher als die Natur zu malen gedachten.

Diese Puppe ist aus heutiger Sicht mehr als nur ein Symptom für die Geschäftstüchtigkeit eines Bildhauers mit Nebeneinkünften. Sie ist Symbol einer Zeit, in der Golems, Homunkuli und Roboterfantasien geträumt wurden. Das Doppel des Menschen. Hier in Form eines Lehrmittels. Leblonde führte nun nicht das vielfach ausgezeichnete Modell mit sich. Vielmehr besaß er einen Klappkoffer aus zwei Holzrahmen. In voller Ausbreitung mannshoch, zeigt es herrlich posierend diese Erfindung zur Erkundung der menschlichen Anatomie in zahlreichen Fotografien, und man muss schon zweimal hinschauen, um zu erkennen, dass es sich um einen künstlichen Körper handelt.

Vielleicht ist es das überraschendste Exponat in der Ausstellung „Tagträume – Nachtgedanken. Phantasie und Phantastik in Graphik und Photographie“, die Yasmin Doosry, Direktorin der Graphischen Sammlung des Germanischen Nationalmuseums, Nürnberg, zusammen getragen hat. Wieder einmal geht es um die Phantasmen, wieder einmal um die Relation der Surrealisten zu kunsthistorischen Vorläufern seit der Dürerzeit.

Nur Papier. Die trockene Feststellung ist keine Geringschätzung. Doosry beschreibt, dass gerade die Grafik Ideenschmiede der Künstler war. Rund 130 Fotografien, Zeichnungen, Druckgrafiken und Künstlerbücher sind in der Ausstellung zu sehen, die in Kooperation mit der Fundación Juan March, Madrid, entstand. Davon stammen 80 Prozent aus dem Bestand des Nürnberger Instituts. „Gut, dass unser Museum ein solches Depot hat. Sonst wären solche Ausstellungen nicht möglich“, meint Ulrich Großmann, Generaldirektor des Hauses.

Und in der Tat. Man sieht, hier wird aus dem Vollen geschöpft, und die Qualität der heimischen Arbeiten ergänzen prominente Leihgebern wie das Pariser Centre Pompidou. Es ist einfach wunderbar. Frisch wie am ersten Tag der Totentanz von Michael Wolgemut aus dem Jahr 1493 oder die „Majuskeln des lateinischen Alphabets“ von Matthias Zündt nach Hans Lencker von 1567, ein koloriertes und mit Gold gehöhtes Titelblatt von Lenckers „Perspectiva Literaria“.

Die Ausstellung, typisch für Grafikabteilungen, liegt im Halbdämmer. Das kommt nicht nur der Physis der empfindlichen Arbeiten wie den geradezu hingehauchten „Geschlossenen Augen“ eines Odilon Redon, eine Lithografie von 1890, zugute, sondern steigert auch die Einstimmung aufs Thema. Elf Kapitel beleuchten das Unheimliche, Fantastische, Träumerische in der Kunst seit der deutschen Renaissance. In den Vitrinen haben die Ausstellungsdesigner stumpfe Spiegel – gespenstisch – simuliert.

Der Besucher betritt jedoch keine mit Spinnweben vergarnte Rumpelkammer, sondern eine wohl sortierte und geordnete Melange aus kühler Geometrie mit ein bisschen Schreckenskabinett, Suchbildern und desorientierender Verwirrmaschine. Das Menschliche wird durch seltsame Konstrukte aus Torsi und Konfrontationen mit allerlei Fremdkörpern übersteigert. Fühlbar und sichtbar ist Entfremdung durch Verfremdung. Physikalisch simpel kommen noch die Anamorphosen daher, die seit dem 16. Jahrhundert entstehen und mehr oder weniger andeuten, dass das Sehen immer ein vermitteltes ist.

Es braucht den täuschenden Rundspiegel, damit das Bild von Diana und Cupido, die den schlafenden Endymion aufsuchen, unverzerrt gesehen werden kann. Christian Heinrich Weng kreierte das Rundblatt um 1770. Motivisch organisiert Doosry André Steiners „Anamorphose III“ (1933) aus der höchst qualitätsvollen Sammlung von Dietmar Siegert, der fast alle Fotografien beisteuerte, hinzu. Das Gummiband im Bild mit der schrägen Perspektive soll der Ariadnefaden sein, doch der Blick bietet keine Übersicht, das Auge dreht Schleifen zwischen Vordergrund und dem Spiegelbild im Hintergrund. Oder ist es umgekehrt?

Christian Heinrich Weng: Diana und Cupido suchen den schlafenden Endymion auf, ca. 1770. Foto: Matthias Kampmann

Christian Heinrich Weng: Diana und Cupido suchen den schlafenden Endymion auf, ca. 1770. Foto: Matthias Kampmann

Es gibt in der Schau Exponate, die einfach Freude bereiten, selbst wenn ihr künstlerischer Wert weniger bedeutend ist. So bietet sich hier für viele Menschen vielleicht das erste Mal die Gelegenheit, einen originalen „Cadavre exquis“ zu betrachten. Dieser hier stammt aus dem Jahr 1935. Mitgewirkt haben Óscar Domínguez, Hans Bellmer, Georges Hugnet und Marcel Jean. Mit Blei- und Farbstiften zeichneten sie auf das einen halben Meter lange und 32,8 Zentimeter breite Papier. Jeder beackerte einen Teil des Blatts, den die anderen jedoch nicht sehen konnten. Dann falteten sie den Streifen, und der nächste war dran. Wer dabei was gezeichnet hat, lässt sich nur mutmaßen. Auseinandergefaltet ergibt sich das verrückte Erzeugnis.

Das Erstellen des Cadavre ist eine Form gemeinschaftlicher Kreativität, die immer zu überraschenden Ergebnissen führt. Hier stoßen Schriftwolken mit den Künstlernamen auf Formen, die wie Organe anmuten, und die ganze absurde Zeichnung wächst aus einem Vulkan, der sich aus einer ovalen Blase speist. Erotische Konnotationen erwünscht. Aber das ist ja so üblich bei den Surrealisten. Schließlich atmeten ihre Helden Siegmund Freud und entließen ihre Einfälle durch die „Steigrohre des Unbewussten“.

Es ist definitiv nichts Neues, den Surrealismus in eine verwandtschaftliche Beziehung mit früheren Künstlern zu setzen. Kuratorin Doosry bezieht sich hier ganz bewusst auf die 1937 im New Yorker Museum of Modern Art gezeigte Surrealisten-Schau, in der der legendäre Gründer Alfred Barr eine solche Kombination erstmals realisierte. Der Blick auf die Fantastik durch die Brille des Surrealismus ist ja so naheliegend, dass derzeit auch eine Ausstellung des Frankfurter Städelmuseums mit „Schwarze Romantik“ einen ähnlichen Fokus setzt. Allerdings ist es in Nürnberg ausschließlich Grafik in Kombination mit der Fotografie, die zu motivischen und inhaltlichen Vergleichen anregt.

Das Nürnberger Vorhaben bleibt bei der Kunst und begeht nicht den Fehler, der in den 90er Jahren Methode war, Kunstgeschichte als psychoanalytisch motivierte Theorie-Illustration zu betreiben. Hier bleibt man auf dem Teppich. Abheben sollen andere. Sehr schön ist etwa die Kombination der Rötelzeichnung „Eine Art zu fliegen“ von Francisco de Goya mit der gleichnamigen Radierung, veröffentlicht nach dem Tod 1864 als eine der 18 „Torheiten“, damals unter dem Titel „Sprichwörter“. Was dieser seltsame Otto Lilienthal und seine Mitflieger in Vogelflug imitierenden Apparaten da machen, entzieht sich zum Glück der finalen Deutung – wie das meiste in dieser Ausstellung.

Es öffnen sich zudem andere, ungedachte Fenster, die leider in der Schau keine Berücksichtigung finden. Yasmin Doosry erzählt, dass „Aqua“, eine Arcimboldo nachempfundene Kompositfigur aus Meerestieren von 1580 aus dem Nachlass von Vincent Van Gogh stammt. Von dem sicher das eine oder andere Fantastische hätte gezeigt werden können. An sich ist es eine durchaus attraktive Vorstellung von einer vielleicht fantastischen Ausstellung. Und dass ein Museum seine eigenen Grenzen überschreitet und wie im Fall des Germanischen Nationalmuseums ausnahmsweise nicht nur Kunst aus dem deutschsprachigen Raum zeigt, ist angesichts des Themas notwendig.

Doch natürlich trifft man in der Hauptsache die üblichen Verdächtigen. Salvadore Dalí, Max Ernst, Paul Klee, Pablo Picasso, Man Ray, Yves Tanguy, bei den Älteren dann Giovanni Battista Piranesi, Goya, und natürlich kann eine solche Ausstellung an diesem Ort „nicht ganz Dürer-frei“ bleiben, wie Generaldirektor Ulrich Großmann trocken feststellt. Vom übermächtigen Altmeister ist einmal mehr die „Melancolia I“, der unglaublich berühmte wie rätselhafte Kupferstich aus dem Jahr 1514 zu sehen. In jedem Fall bekommen die Besucher eine Menge zu tun, eine weite Übersicht und viele motivische Bezüge vom Auftakt mit dem Blick des inneren Auges über die weiteren zehn Stationen. Wer wollte sich dem widersetzen.

Die Ausstellung ist vom 25. Oktober bis 3. Februar 2013 zu sehen. Öffnungszeiten: Di, Do, So 10 bis 18 Uhr, Mi 10 bis 21 Uhr. Der Katalog kostet 28,50 Euro im Museumsshop, im Buchhandel 38 Euro. Ein besonderes Highlight im Beiprogramm ist die Kooperation mit dem Filmhaus Nürnberg. Es werden dort unheimliche und fantastische Filme aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, etwa „Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens“ (1922) von Friedrich Wilhelm Murnau, gezeigt (25.11., 19.15 Uhr).




Mitten ins Traumreich – Grandioser Überblick zum Surrealismus in der Düsseldorfer Kunstsammlung NRW

Von Bernd Berke

Der Surrealismus war nicht bloß eine Kunstrichtung. Die Generation, die ihm frönte, hat einen ganzen Kontinent der menschlichen Psyche neu vermessen. Eine phänomenale Ausstellung der Kunstammlung NRW (neuerdings „K 20″ genannt) entwirft nun mit schier unglaublichen 500 (!) Exponaten ein Gesamtbild der Bewegung.

Werner Spies, einer d e r Surrealismus-Experten überhaupt, hat all die Schätze weltweit fürs Centre Pompidou eingesammelt. In Paris kamen rund 500.000 Besucher. Spies findet, die Düsseldorfer Version der Schau sei noch einmal eine Spur schöner geraten. Überhaupt erging man sich gestern bei der Pressekonferenz in Superlativen des Eigenlobs. Das Beste daran: Sie treffen zu!

Keinen bestimmten Stil entwickelt

Die Surrealisten haben keinen bestimmten Stil entwickelt, wie etwa die Im- oder Expressionisten. Die bildnerischen Reisen durch Gefilde des Unbewussten, des Traumes und des Rauschs erlauben so manchen Zugang und Nebenweg. Die Haltung ist wichtiger als die Malweise. Der Leitsatz surrealistischen Bestrebens könnte etwa so lauten: „Du sollst alles zulassen!“ Nämlich jeden noch so wilden Gedanken, sexuelle Urschreie und gewaltsame Wirrungen eingeschlossen, jede noch so abenteuerliche Kombination der Dinge. Legendär die Ansicht des Dichters Lautréamont, gar schön sei die Begegnung eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf einem Operationstisch…

Schwellende Akkorde von Max Ernst und Giorgio de Chirico

In Düsseldorf wartet man nun mit Meisterwerken sonder Zahl auf. Überall begegnet der Besucher berühmten Bildem. Chronologisch sortiert, hängt nahezu die komplette „Bestenliste“ an den Wänden. Einen Überblick zu den künstlerisch handelnden Personen verschafft gleich eingangs Max Ernsts Kopf für Kopf nummeriertes Gruppenporträt „Das Rendezvous der Freunde“ (1922), die sich um den oft „päpstlich“-doktrinären André Breton scharen. Zweiter schwellender Anfangs-Akkord: Die Schlagschatten-Welt des Giorgio de Chirico, der sich hier als machtvoller Anreger des Surrealismus erweist. Er hat gleichsam das Tor zum Traumreich aufgestoßen.

Einen grandiosen Auftritt hat der unerschöpflich rätselvolle René Magritte. Geht man über eine Wendeltreppe in den zweiten Stock (wo die ständige Sammlung vorübergehend weichen musste), so tut sich ein atemberaubendes Bilder-Ensemble auf, das fast schon für eine Einzel-Präsentation Magrittes reichen würde. Doch auch die Werkkomplexe von Max Ernst, Picasso und sogar Miró (der ja derzeit „nebenan“ im Kunstmuseum breit vorgestellt wird) sind enorm reichhaltig.

Der Triumph wirkt bedrohlich

Hinzu kommen erhellende Seitenblicke auf Hans Arp, Giacometti und Man Ray. Selbst der oft geschmähte Salvador Dalí erfährt eine Ehrenrettung – zumal mit kleineren, nicht so selbstgefällig auftrumpfenden Arbeiten.

All dies summiert sich fürwahr zu einem „Triumph des Surrealismus“. Just so heißt denn auch 1937 ein Bild von Max Ernst, dessen Phantasiefigur den Betrachter allerdings bedrohlich anspringt; ganz so, als hätte Max Ernst geahnt, dass sich die dunklen Triebe, die von den Surrealisten erkundet wurden, auch in Faschismus und Weltenbrand entladen könnten.

Kunstsammlung NRW / „K 20″. Düsseldorf, Grabbeplatz. Vom 20. Juli bis 24. November. Di bis Fr 10-18 Uhr, 1. Mittwoch im Monat 10-22 Uhr. Eintritt 7,50 Euro, Katalog 39 Euro. www.kunstsammlung.de




Die Geburt der Phantome – „Surreale Welten“ im Wuppertaler Museum

Von Bernd Berke

Wuppertal. Mit großen Namen wartet die neue Ausstellung im Wuppertaler Von der Heydt-Museum auf. Nur ein paar Beispiele: Goya, James Ensor, Max Ernst, Magritte, Picasso. Sie alle haben „Surreale Welten“ (Titel der Schau) ins Bild gesetzt. Aber was heißt in diesem Falle „surreal“?

Der Begriff wird hier etwas weiter gefasst. Nicht nur der eigentliche Surrealismus (mit Dalí, de Chirico und Ernst gleichwohl prominent vertreten) gerät ins Blickfeld, sondern auch etliche Vor- und Ausläufer dieser Richtung. Phantome aus Traumgefilden haben schließlich nicht erst in unserem Jahrhundert die Bilder bevölkert.

Die von Hamburg her kommende Auswahl stammt aus der beachtlichen Sammlung eînes ungenannten Hanseaten, der als Banker gutes Geld verdient und es mit viel Sinn und Verstand für Kunst ausgegeben hat. Betrüblich nur, dass er seine Schätze wahrscheinlich einem Berliner Institut vermachen will. Dort haben sie doch schon so viel…

Viele Quellen des Übernatürlichen

Surreale Gestalten, so sieht man nun in Wuppertal, können aus vielem hervorquellen, sie scheinen just zum Ur-Bestand menschlicher Wahrnehmung zu gehören: Und so sprießen sie denn aus architektonischen Erfindungen, aus Tier- und Naturszenen, aber auch aus Maschinenwelten, sozialen Verwerfungen – und aus dem menschlichem Körper mitsamt seiner Geschlechtlichkeit. Davon zeugt vor allem ein verschwiegenes Kabinett mit fleischlichen Phantasien des Hans Bellmer. Wie in einer Schöpfer-Bastelstube werden da die Leiber zerteilt und neu montiert.

Giovanni Battista Piranesi hat zur Mitte des 18. Jahrhunderts visionäre Bilderserien von Kerkern und Verliesen („Carceri“) entworfen. Die Verwirr-Architektur setzt in bedrückend dunklen Labyrinthen geheimnisvolle Figuren frei, die als surreal gelten können –Gefängnisse als Brutstätten fiebriger Kopfgeburten.

Von Francisco de Goya sind einige „Caprichos“ zu sehen: Ein Arzt verwandelt sich unversehens zum Esel; selbst ein Baum nimmt, heftig vom Winde gebeugt, gespenstisch übersinnliches Leben an. Wenn derart die Dinge ins Gleiten geraten, so rücken die Albträume mit ihren Phantasmagorien schon ganz nah. Die um 1865 gefertigten Paris-Ansichten von Charles Meryon wirken zunächst harmlos wie Postkarten. Doch dann sieht man, wie mitten in der Stadt eine Seeschlacht tobt oder fliegende Fische durch die Lüfte segeln.

Als ob ein Loch im Himmel wäre

Auf einmal ist es, als sei ein Loch in den Himmel gestoßen worden, aus dem die „andere“ Wirklichkeit herabstürzt. Doch das Surreale hat viele Facetten, nicht nur bedrohliche: Welten liegen zwischen den düsteren Todesahnungen eines James Ensor, den fast lieblich schwebenden Gestalten des Symbolisten Odilon Redon, den schier unendlichen Metamorphosen bei Max Ernst und Picasso, dem feinsinnigen Humor bei Paul Klee, den subtilen Sinnestäuschungen und Gedankenspielen bei René Magritte und den Formen-Explosionen bei Wols.

So reichhaltig ist diese Schau mit über 250 Werken, dass man eine Entdeckung beinahe versäumt: Der als Schriftsteller berühmte Victor Hugo („Les Misérables“) hat außerordentliche Tuschzeichnungen geschaffen. Am Rande der Abstraktion oszillierend und somit ihrer Zeit ganz weit voraus, sind es zarte „Erscheinungen“ wie aus einer höheren Welt.

Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Turmhof 8). Bis 3. September. Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Eintritt 10 DM, Katalog 45 DM.

 




Die Kunst und ihre hundert Augenblicke – Ausstellung in Bonn: Buñuels Filme und der Surrealismus

ñVon Bernd Berke

Bonn. Diese Ausstellung blickt auf einen zurück, wenn man sie anschaut. Auf zahllosen Bildern sieht man: Augen, Augen und nochmals Augen. So heißt die große Bonner Schau denn auch „Buñuel – Auge des Jahrhunderts“.

Der Regisseur Luis Buñuel (1900-1983) gehört zu den Übergroßen der Filmgeschichte. Er gilt als Surrealist. Es liegt nah, Bilder aus seinen Filmen der Malerei eines Dalí, Max Ernst oder Magritte gegenüberzustellen.

Genau dies tut die Ausstellung in der Bundeskunsthalle. Buñuels Filmschaffen – vom „Andalusischen Hund“ bis zum „Diskreten Charme der Bourgeoisie“ – wird im direkten Vergleich zur bildenden Kunst nochmals mit höchsten Weihen versehen. Vielleicht, so ahnt man, hat Buñuel den Kern des Surrealismus in bewegten Bildern gar eindringlicher zum Ausdruck gebracht, als alle Maler dies konnten.

Darin liegt aber auch das Problem. Um Filme im Museum mit Tafelbildern zu vergleichen, braucht man starre Momentaufnahmen. Dann aber sind es eben keine Filme mehr. Hätte Buñuel das erlebt, wäre er vielleicht auf seinen provozierenden Satz von den Museen, die er gern anzünden würde, zurückgekommen.

Sehtrieb, Begierde, Todestrieb

Sequenzen aus Buñuels Filmen strahlen in senkrecht angeordneten Leuchtkästen bis hoch unter die Decke (man kommt sich fast vor wie auf dem Kino-„Rasiersitz“), Werke der bildenden Kunst sind jeweils thematisch zugeordnet. Die Leitfäden heißen, gut freudianisch-surrealistisch: Sehtrieb, Begierde, Todestrieb.

Eine lebensgroße Giraffe reckt sich eingangs empor. Tatsachlich gibt es in „Das goldene Zeitalter“ (1930) ja jene Szene, in der ein solches Tier aus dem Fenster gestürzt wird. Es ist nicht schwer, in der Kunst jener Zeit Artverwandtes aufzuspüren, man denke nur an Salvador Dalís „Brennende Giraffen“. Mit derlei motivischen Überlappungen geht es dann weiter. Nicht immer verdichten sich die Vergleiche, manches wirkt herbeigezerrt.

Solche Motiv-Übereinstimmungen überraschen nicht allzu sehr, waren die Surrealisten doch (bis zur Spaltung an der Gretchen-Frage des Kommunismus) ein ziemlich eingeschworener Verein. Buñuel war mit Dali eng befreundet. Und über allen schwebte herrgottsähnlich André Breton.

Bis zum Schulungs-Modell für Augenärzte

Reichhaltig ist die Auswahl zum „Sehtrieb“. Auf Filmbildern, Gemälden und Zeichnungen treten Augen hundertfach aus den Höhlen, lösen sich vom Körper, schweben durch Traumlandschaften, oft gierigen Blicks, manchmal verletzt. In jener berüchtigten Schock-Szene aus Buñuels Erstling „Der andalusische Hund“ wird ein Auge zerschnitten, Max Ernst „kontert“ mit durchstochenen Augäpfeln. Aufschlußreicher Schwenk: Hier wird auch ein wächsernes Schulungs-Modell für Augenärzte aus dem 19. Jahrhundert gezeigt, bei dem ein operativer Schnitt angesetzt wird.

Hauptereignis dürfte die komplette Retrospektive der 36 Buñuel-Filme sein. Dazu wurden sämtliche Werke revidiert. Man hat weltweit verstreute Originalnegative aufgetrieben und restauriert, neue Kopien gezogen und elektronisch so untertitelt, daß keine Schadspuren das Filmmaterial verunzieren. Eine Rettungstat!

Hervorragend auch der Katalog (pralle 518 Seiten), der in manchen Punkten sogar dieAusstellung übertrifft. Hier haben Einzelbilder Sinn, wenn Filmszenen untereinander verglichen werden. Da merkt man erst, welche Szenenfolgen Buñuel über Jahrzehnte hinweg aufgegriffen und variiert hat“. Wer hätte etwa gedacht, daß ständig stickende Frauen in seinen Filmen vorkamen?

„Buñuel – Auge des Jahrhunderts“. Bundeskunsthalle Bonn (Friedrich-Ebert-Allee). Bis 24. April (di-so 10-19 Uhr). Eintritt 8 DM, Katalog 78 DM.




Malen am Abgrund der Seele – Zum Tod von Salvador Dalí

Ich selbst weiß nicht, was meine Bilder bedeuten“, soll er einmal bekannt haben. Und in Anspielung auf seine exzentrischen Eskapaden:„Gäbe es 200 Dalís, wäre das Leben auf der Erde unmöglich.“ Salvador Dali, am 11. Mai 1904 in Figueras bei Barcelona geboren, eine der Leitfiguren des Surrealismus, ist tot.

Er war so bekannt wie unter den Malern dieses Jahrhunderts allenfalls noch sein Landsmann Pablo Picasso. Das Inventar seiner Bilder – brennende Giraffen, zerfließende Uhren, endlos weite Sandflächen, Menschen mit bizarren Krücken und Schubladen im Körper – ist visuelles Allgemeingut geworden; genau wie sein Erkennungszeichen, die „Antennen zum Außerirdischen“ (Dalí), also die hochgezwirbelten Schnurrbartspitzen.

Seine Person beschäftigte Befürworter und Gegner meist mehr als seine Kunst. Ob der Mann nicht eher ins „Irrenhaus“ als in die Kunstgeschichtegehöre, darüber haben Generationen von Dalí-Deutern gerätselt. Dalí selbst, alles andere als von Bescheidenheit angekränkelt, bezeichnete sich selbst als genialen Schöpfer der „kritisch-paranoiden“ Methode, die – sei es Simulation, sei es durch echte Veranlagung – ihre Bildwelten aus dem krankhaft verformten Unbewußten zutage fördere. Natürlich griff auch er auf Vorbilder zurück: Die Lektüre der „Traumdeutung“ von Sigmund Freud gab entscheidende Impulse, Gemälde von Velazquez und Vermeer legten Motive nahe, Böcklins „Toteninsel“ oder das Werk de Chiricos wiesenWege zur optischen Umsetzung der Wahn- und Traumgebilde.

Dalí fand, nach futuristischen und kubistischen „Tastversuchen“, in den späten 1920er Jahren zu einer bis dahin unbekannten, bewußt schockierenden Bildsprache der Halluzinationen. Kernstück der mit bemerkenswert „akademischer“, an Klassikern orientierter Meisterschaft gemalten Bilder: Abgründe zwischen Erotik und Verwesung.

Fast alle Anekdoten über Dalí beziehen sich auf haarsträubende Exzesse. Daß er mit 20 Jahren achtkantig von der Kunstakademie Madrid „flog“, weil er seine Prüfer als Dummköpfe beschimpfte, ist ein vergleichsweise harmloser Schwank. Was Wunder, daß er im sensationsversessenen New York der 30er Jahre – noch mehr als zuvor in Paris – Furore machte.

Ein Kapitel für sich waren Dalís äußerst fragwürdige politische „Ansichten“. Die letzten Sympathien in der Gruppe der (mehrheitlich kommunistisch orientierten) Surrealisten um André Breton verscherzte sich der Aristokraten-Freund durch seine Begeisterung für einen Schlachtenmaler und Bemerkungen wie die, daß er Eisenbahnunglücke herrlich finde, sofern die 1. Klasse nicht betroffen sei. Später befürwortete er nachdrücklich die Franco-Diktatur. Auch langjährige Freunde, wie der 1983 gestorbene Filmregisseur Luis Buñuel, fanden derlei Zynismus unverzeihlich.

Sein Werk ist – nicht immer ohne Duldung oder Zutun des Meisters – beispiellos ausgeschlachtet worden. Fälscher und sonstige Nachahmer traten auf den Plan, und Dalí ließ es zu, daß in immensen Auflagen seine „Original“-Graphik verramscht wurde.

In den letzten Jahren war es stiller um ihn geworden. Seine vergötterte Frau „Gala“, die ihn nach eigenem Bekunden vor dem endgültigen Abgleiten in den Wahnsinn rettete, starb 1982. Der todkranke Dalí zog sich schon vor Jahren von aller Welt auf Schloß Pubol an der Costa Brava zurück.

                                                                                                                            Bernd Berke




Rätselhafte Appelle an die dunkelsten Schichten der Seele – Augusto Boal inszeniert die Uraufführung von Garcia Lorcas „Das Publikum“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Roms Kaiser grunzt und kotzt aus vollem Halse. „Julia“ vergeht nicht vor Liebe, sondern hebt kurzerhand den Rock, windet sich dann in Sturzbächen von Pferde-Urin. Auch „Helena“ ist alles andere als klassisch, sie kommt als verruchte Salondame daher. Irgendwann leiert dann noch der Gekreuzigte seine bekanntesten Bibelsprüche herunter, und zwei elfenhafte Schwuchteln, die auf einem griechischen Säulenstumpf herumturnen, kommen – klar doch! – auch vor.

Befremdliche Dinge begeben sich im „Theater unter dem Sand“, in dem man alle Masken ablegen will, um die Untiefen der Existenz direkt auf der Bühne auszuleben. „Herr Direktor, das Publikum ist da!“ So vermeldet es der „Diener“, schon halb resignierend. Es folgt circensischer Klamauk: Vier Menschenpferdchen tänzeln trompetend herein. Hernach wird jenes „Theater unter dem Sand“ (es ist wohl dem Strand benachbart, der „unter dem Pflaster“ liegt, aber auch nah an Gräbern) entfesselt – in Federico Garcia Lorcas 1930 bis 1936 geschriebenem Stück „Das Publikum“, das jetzt uraufgeführt (!) wurde. Und zwar nicht, wie zu vermuten stünde, beim „Theaterpathologischen Institut“ Roland Rebers in Lünen, sondern bei den Städtischen Bühnen Wuppertal.

Regie (und dies kommt einer Sensation gleich) führt Augusto Boal, brasilianischer Theatermacher im Pariser Exil, bekannt durch sein „Theater der Unterdrückten“ (nicht nur) in den Slums von Sao Paulo, wegen dessen subversiver Wirkung ihn frühere Regimes verfolgten und foltern ließen.

Boal bringt in sieben rätselvollen Bildern ein surrealistisches Kaleidoskop des 1936 im spanischen Bürgerkrieg von den Falangisten erschossenen Lorca auf die Bühne, das an dunkle Tiefenschichten der Seele appellieren will, nicht an den Verstand. Es stelle nur niemand die Bedeutungsfrage, das ist zwecklos, soll zwecklos sein!

Es ist, als taumele man durch ein labyrinthisches Bild von Salvador Dalí. Verwandlungen und Metamorphosen zuhauf. Was ist Wirklichkeit, wieviel davon darf oder muß, zumal in umstürzlerischer Zeit, auf die Bretter des Theaters? Solche Fragen schälen sich immerhin schemenhaft heraus.

Lorcas Wort- und Spielarsenal des Surrealismus wirkt hie und da noch „irgendwie“ poetisch, aber doch auch angestaubt, historisch, zitathaft. Das reicht von der weidlichen Zurschaustellung jeglicher menschlicher Körperausscheidung bis zur Verknüpfung entferntester Gegenstände nach dem surrealistischen Muster jenes notorischen Regenschirms, der einer Nähmaschine auf dem Operationstisch begegnet.

Lorca meinte 1936, Zeit und Publikum seien noch nicht reif für dies Stück. Es sei ein Stück zum Auspfeifen, nicht zum Aufführen. Womöglich ist es so, vielleicht aber auch umgekehrt: Das Stück kommt um Jahrzehnte zu spät. In Wuppertal jedenfalls verließen einige Zuschauer während der Premiere fluchtartig den Raum.

Doch der Uraufführungsehrgeiz hat die Wuppertaler nun einmal geritten: Das Stück fällt ganz aus dem Rahmen des sonst eher gefälligen Schauspielplans, es paßt überhaupt nicht zur bisher erarbeiteten Spielpraxis des Ensembles, das sich denn auch mehrfach in Gefilde platter Komik retten muß. Der Exodus beim „normalen“ Abo-Publikum wird vermutlich noch weit deftiger ausfallen als bei der Premiere. Neben stellenweise aufblitzender Schauspielkunst positiv hervorzuheben: Helio Eichbauers Bühnenbild; einfach, klar, hellsichtig-zeichenhaft.