Festspiel-Passagen XI: Mozart und Strauss – Neuinszenierungen in Salzburg

Dich, düstre Halle, grüßte keiner: Rolf Glittenbergs Hotel-Einheitsbühnenbild für den Salzburger "Don Giovanni". Foto: Michael Poehn

Dich, düstre Halle, grüßte keiner: Rolf Glittenbergs Hotel-Einheitsbühnenbild für den Salzburger „Don Giovanni“. Foto: Michael Poehn

Wenn sich nach sexueller Bedrängnis und ohnmächtiger Eifersucht Zerlina und Masetto in einem Moment der Ruhe wiederfinden, wenn sie sich in Duettino und Arie der Zerlina („Vedrai carino“) nach allen emotionalen Stürmen wiederfinden, entkleiden sich Valentina Nafornita und Alessio Arduini, schlüpfen in Unterwäsche in eines der Zimmer des düsteren Hotels, entziehen sich dem Zugriff des allgegenwärtig scheinenden Don Giovanni. Und dem sehnsuchtsvoll dem Paar nachblickenden Don Ottavio zeigen sie, was die Sinnspitze sexuellen Begehrens sein sollte: die liebende Begegnung, auf die er – mit Donna Anna – vergeblich hofft.

Sven-Eric Bechtolf. Foto: Julia Stix

Sven-Eric Bechtolf. Foto: Julia Stix

Das war einer der flüchtigen Momente im Salzburger „Don Giovanni“ Sven-Eric Bechtolfs, der gezeigt hat, wohin diese Inszenierung hätte führen können. Es gab noch andere solche Augenblicke verdichteter Deutungs-Energie in der Arbeit des Salzburger Schauspielchefs: Etwa, wenn Donna Anna ein Messer in der Hand hält und Don Giovanni ihren Arm zum Todesstoß gegen den Komtur führt.

In solchen Momenten gewinnen Personen eine Dimension, die über das konkrete Spiel hinausgeht – sie werden zu Symbolgestalten des psychischen Dramas: Donna Anna befreit ihre Persönlichkeit, vom triebhaften Impuls Giovannis geleitet, aus patriarchalischen Fesseln. Dass sich dann ihre Schuldgefühle in Rachegelüsten manifestieren, für die sie Don Ottavio benutzt, bleibt in der Inszenierung unausgeleuchtet – so wie manche Ecken in der ragenden Halle eines Dreißiger-Jahre-Hotels, die Rolf Glittenberg als Einheits-Schauplatz auf die breite Bühne des „Hauses für Mozart“ gebaut hat.

Kraftlose Bühne für einen überflüssigen „Don Giovanni“

Es mag an dem unverbindlich kraftlosen Schauplatz liegen, dass Bechtolfs Inszenierung die konsequente Verortung auf der Meta-Ebene des existenziellen Dramas verfehlt hat und letztlich doch bei der Komödie um einen Testosteronbolzen hängengeblieben ist, dem der Teufel den Cocktail für die „Champagnerarie“ mixt. Es mag auch am plakativen Don Giovanni von Ildebrando d’Arcangelo liegen, der die Zwischentöne der Figur weder szenisch noch stimmlich präsent zu setzen verstand: Wenn auch von der Anlage der Rolle her Eleganz oder Subtilität nicht gefragt waren, sind doch massive Attacke im „Ständchen“ und uniformierter, klobiger Ton selbst in Rezitativen nicht angemessen.

Salzburg: Ildebrando D'Arcangelo als Don Giovanni. Foto: Michael Poehn

Salzburg: Ildebrando D’Arcangelo als Don Giovanni. Foto: Michael Poehn

Wie überhaupt die Salzburger Sängerbesetzung enttäuschte. Selbst Luca Pisaronis stimmschönem Leporello gelang es nicht, sich zu flexibler Leichtigkeit zu befreien. Die Donna Anna der Lenneke Ruiten schlug sich mit dünn-gefährdetem Timbre und verquälten Spitzentönen durch ihre Partie.

Anett Fritsch dagegen überzeugte als Donna Elvira mit substanzreichem Klang und ausgeglichenen Koloraturen. Andrew Staples gab Don Ottavio in der Tradition englischer Kathedraltenöre mit dünn-blassem Klang und substanzlos verengter Höhe; Tomasz Konieczny bewegte sich als Komtur am anderen Ende der Tonskala mit unfreiem Bass. Nur das Paar Zerlina – Masetto (Valentina Nafornita und Alessio Arduini) ließ den Reiz entspannten Singens und drucklos gebildeter Phrasen erleben.

Auch das Dirigat von Christoph Eschenbach rettete die Aufführung nicht: zu spannungslos schon das Adagio der Ouvertüre, die Tempi ohne vibrierende Brillanz, die Artikulation ohne Prägnanz. Den Wiener Philharmonikern gelangen Momente faszinierender Piano-Kultur.

Doch Festspiel-Faszination blieb aus – dafür stellt sich die Frage ein, wozu man in Salzburg nach nur drei Jahren überhaupt eine „Don Giovanni“-Neuinszenierung, einen „Da Ponte-Zyklus“ braucht. Einen echten Zyklus mit den vorzüglichen Libretti des Dichters hat es noch nie gegeben – da müssten sich Theater oder Festspiele einmal verständigen, auch diejenigen zur Diskussion zu stellen, die Antonio Salieri, Vicente Martín y Soler, Stephen Storace oder auch Francesco Bianchi vertont haben. Und Mozart – Da Ponte – Zyklen sind, mit Verlaub, überflüssig, da die drei Opern sowieso überall und ständig im Repertoire zu finden sind.

Atmosphäre des Epochenabschieds in Kupfers „Rosenkavalier“

Krassimira Stoyanova als Feldmarschallin im Salzburger "Rosenkavalier" Harry Kupfers in den atmosphärisch dichten Bildern von Hans Schavernoch. Foto: Monika Rittershaus

Krassimira Stoyanova als Feldmarschallin im Salzburger „Rosenkavalier“ Harry Kupfers in den atmosphärisch dichten Bildern von Hans Schavernoch. Foto: Monika Rittershaus

Die zweite Neuinszenierung dieser Festspiele gilt einem ihrer Mitbegründer: Richard Strauss. Zum 150. Geburtstag dieses so bedeutenden wie schillernden Komponisten des 20. Jahrhunderts hatte Noch-Festspielchef Alexander Pereira ausgerechnet das gängigste Werk gewählt: „Der Rosenkavalier“ ist als Epochen-Abschiedswerk mit Blick auf den Ersten Weltkrieg keine originelle, aber eine sinnvolle Wahl – und Altmeister Harry Kupfer vergegenwärtigte dieses unbestimmte Gefühl des Abschieds – für das die Fürstin Maria Theresia von Werdenberg steht – mit einer sich jeder plumpen Aktualisierung enthaltenden Regie.

Entscheidende Anteil an der atmosphärischen Dichte des Abends haben die Bühnenbilder von Hans Schavernoch: Raumfüllende Projektionen illustrieren beziehungsreich Schauplätze und geistige Haltungen: vergehende Barock-Herrlichkeit, aber auch zeitgeistiger Klimt-Jugendstil für die Marschallin; gusseiserne Dachkonstruktionen für den aufsteigenden Faninal, der sich freilich zu gerne im Glanz herrschaftlichen Barocks spiegeln würde. Und die Riesenrad-Gestänge des Praters drohen hinter einem Beisl, das als Illusionsarchitektur unter doppeltem Aspekt aufzufassen ist: In seinem imitierten Realismus steht es für die Kulisse des Schmierentheaters, das ebenso für den Lerchenauischen Gefoppten gespielt wird wie es der Ochs selbst als tragikomischer Wiener Vorstadt – Don Juan aufführt.

Sophie Koch (rechts, als Octavian) und Mojca Erdmann (Sophie). Foto: Monika Rittershaus

Sophie Koch (rechts, als Octavian) und Mojca Erdmann (Sophie). Foto: Monika Rittershaus

Dass sich Harry Kupfer keiner Regie-Outrierung bedienen muss, um seine Figuren in Ruhe und Tiefe zu entwickeln, wird auch sichtbar. Intensive, beziehungsvolle Momente – wie die vor dem Bild herbstlich kahler Praterbäume im Nebel in Gedanken versunkene Marschallin – entstehen nicht im unermüdlichen Drang von Regisseuren, deutungswütig auch noch die marginalste Szene mit Bewegung füllen zu müssen.

Für dieses Konzept war Krassimira Stoyanova die passende Besetzung: eine Marschallin, die in einem Moment jugendlich spontan, im anderen abgeklärt, ja melancholisch wirkt. Auch die feinen Mezzo-Lasuren ihrer positionssicheren Stimme, der ruhevolle Atem der Legati, die ausgeglichenen Register, die lyrische Innigkeit leuchten den Charakter einer Frau aus, die nicht nur die eigene Jugend im Wissen um die Zeit schwinden sieht.

Kupfer deutet den Epochenabschied fein aus, wenn er es am Ende offen lässt, ob nicht der dunkelhäutige Chauffeur ihres Luxuswagens an die Stelle des Grafen Rofrano treten wird. Kupfer gibt der Marschallin so einen Zug ins Ambivalente, der sie ihrem Vetter Ochs annähert und ihre philosophische und moralische Unfehlbarkeit mildert.

Den "Walfisch" gab es wirklich. Das Traditions-Restaurant im Wiener Prater ist abgerissen; auf Hans Schavernochs Salzburger "Rosenkavalier"-Bühne ist es Schauplatz des Dritten Aktes. Foto: Monika Rittershaus

Den „Walfisch“ gab es wirklich. Das Traditions-Restaurant im Wiener Prater ist abgerissen; auf Hans Schavernochs Salzburger „Rosenkavalier“-Bühne ist es Schauplatz des Dritten Aktes. Foto: Monika Rittershaus

Mit Günther Groissböck rührt Kupfer auch an der überkommenen Konzeption des Barons Ochs auf Lerchenau: Nicht der gemütliche rotwangige Tölpel, sondern ein schneidiger, gewandter Typ, skrupellos, hochmotiviert, wenn es darum geht, die Frauenzimmer auf die vielerlei Arten, wie sie es (angeblich) wollen, zu nehmen.

Die aufgemachten Striche in diesem ungekürzten „Rosenkavalier“ verdeutlichen die aggressive Sexualität dieses Vertreters der Moderne, der Moral auf Konvention eindampft, die nur zu beachten ist, wenn sie nützlich ist oder dem adligen Blute dient.

Kupfer braucht keine Braunhemden oder Hakenkreuze, um zu zeigen, wohin der Weg dieser Moderne führt. Ochs ist einer ihrer Protagonisten, und Kupfer zeigt nach dem so wundervoll konzentriert wie virtuos inszenierten dritten Aufzug, dass der Rückzug seiner Truppe – auch die keine lerchenauischen Tölpel, sondern bedrohliche Schläger – keine Niederlage sein muss.

Melancholie des Abschieds - und eines Neubeginns? Sophie Koch (Octavian), Mojca Erdmann (Sophie) und Krassimira Stoyanova (Feldmarschallin) im Finale des "Rosenkavalier". Foto: Monika Rittershaus

Melancholie des Abschieds – und eines Neubeginns? Sophie Koch (Octavian), Mojca Erdmann (Sophie) und Krassimira Stoyanova (Feldmarschallin) im Finale des „Rosenkavalier“. Foto: Monika Rittershaus

Groissböck ist Niederösterreicher und beherrscht das Idiom perfekt, um dem Charakter seiner Figur Ausdruck zu geben; für den Sänger gibt es noch Entwicklungspotenzial, nicht nur in der Tiefe, auch in der Freiheit der Tonbildung.

Die Liste der luxuriösen Besetzung setzt sich fort mit Sophie Koch, wohl derzeit die prominenteste Darstellerin des Octavian, und Mojca Erdmann als selbstbewusst zu ihrem „Ich“ vordringender Sophie, deren kleiner Soubrettenstimme freilich blühender Glanz und eine tadellose Höhe fehlt. Adrian Eröd bestätigt als Faninal seinen Rang, für den er als Bayreuther Beckmesser die Messlatte hoch gelegt hatte.

Andere blieben hinter ihren Möglichkeiten zurück, so Silvana Dussmann als zu spitzstimmige Marianne Leitmetzerin, Rudolf Schasching als Valzacchi und Stefan Pop als italienischer Sänger mit flackerndem Legato und dünn gefüllter Höhe.

Die Wiener Philharmoniker durften im wie zu Karajans Zeiten hochgefahrenen Graben demonstrieren, wie vertraut sie mit dem Strauss’schen Idiom umgehen. Franz Welser-Möst bemüht sich, leider oft vergeblich, die Lautstärke zu zügeln, die Sänger nicht zu verdecken. Er legt offen, etwa im Vorspiel, dass die „Rosenkavalier“-Musik bei aller silbrigen Geschmeidigkeit und süßen lyrischen Verführung auch mit „Salome“ verwandt ist. Doch den schimmernden Glanz der Übergabe der „Silbernen Rose“ lässt er nicht geheimnisvoll-innig, das weltentrückte Terzett am Ende nicht ätherisch enthoben aus dem Orchester fließen. Ein handfester, kein subtiler „Rosenkavalier“: Welser-Möst hat noch einen Weg vor sich, bis er die Deutungs-Raffinesse seiner Vorgänger erreicht hat.




Wer die Berggeister stört – Alpendrama „Steine und Herzen“ bei der RuhrTriennale

Von Bernd Berke

Duisburg. Der Mann mit dem klingenden Namen Ambrosius Nektarine ist ein asketischer Fanatiker des Wissens. Den Schweizer Bergen will er ihre Geheimnisse entreißen und dazu muss er hinauf. Um Hexen und Drachen, die der landläufige (von den alten Machthabern wohlweislich genährte) Aberglaube dort droben wähnt, mag er sich nicht scheren. Und auch nicht um die Liebe. Diese Haltung muss doch ins Verderben führen!

Mit dem in Duisburg uraufgeführten Alpendrama „Steine und Heizen“ versucht sich der Burgtheater-Schauspieler und Regisseur Sven-Eric Bechtolf erstmals als Autor. Sein Stück über Anfänge des Alpinismus begibt sich in die Zeit der Französischen Revolution. Es wetterleuchten die Fanale der Aufklärung, doch es dämmert auch rabiates Jakobinertum herauf – und eilfertige Anpassung an kommende Verhältnisse. Zudem zeigen sich bereits die Schattenseiten wissbegieriger Rationalität. Man weiß ja heute, wie Bergsteigerei und Ski-Heil den Gebirgen geschadet haben.

Zwischen Esoterik und Spottlust

In dieser musikalisch unterfütterten „Kreation“ der RuhrTriennale dominiert ein machtvolles, zerklüftetes Bühnenbild (Christian Bussmann). Die Alpenlandschaft ragt in der Duisburger Kraftzentrale bis knapp unter die Decke. Maßarbeit! Das hätte einem Luis Trenker gefallen.

Besagter Ambrosius (Ernst C. Sigrist) hat nun gleichsam die Wahl zwischen den sanften Busenhügeln seiner schönen, sirenenhaften Frau Julia (Francesca Tappa) und den Bergesgipfeln. Herz oder Stein: Ehelich auf die Probe gestellt, entscheidet sich der trockene Verstandesmensch für die wissenschaftliche Expedition. Er entfernt sich somit von der „allbeseelten Natur“, wie es später eine Hexe bündig formuliert.

Das hat Folgen: Ambrosius‘ junger Gehilfe Lucca (Raphael Clamer) darf für eine Nacht von Julias Nektar naschen. Sie bekommt ein Kind, und Ambrosius wird seinen treulosen Gesellen mit einem schweren Kristallblock erschlagen. Der Wahn obsiegt, die Berggeister lassen eben nicht mit sich spaßen.

Tatsächlich treiben hier Hexen ihr Wesen. Bechtolf evoziert, allen ironischen Brüchen zum Trotz, jene Sphären, die sich unsere Schulweisheit nicht träumen lässt: eine Geisterwelt, die mehr Phantasie und Poesie birgt als schnödes Wissenwollen. Fast möchte man meinen, hier sollten etwa Galileo und Darwin abermals verbannt werden – zumindest aus Gründen der Romantik. Insofern ist es ein esoterischer Abend, aber dann wäre auch Shakespeare ein Esoteriker. Nur konsequent jedenfalls, dass der sprühend diabolische Hexen- und Drachen-Experte Niccussi (Daniel Rohr) die rasantesten Auftritte hat. Extrabeifall.

„Steine und Herzen“ bietet sinnliches Theater. Man sieht opulente Szenen-Tableaus und große Posen. Munter wie glitzernde Gebirgsbäche sprudeln manche Dialoge. Das gemäßigte Schwyzerdütsch klingt freilich nicht nur anheimelnd. Eingestreute rätoromanische Passagen hören sich gar an wie Urworte aus einer unvordenklichen Gemeinschaft. Etliche Gruppenszenen des Bergvolks geraten zu gravitätischen Prozessionen, wie denn überhaupt viel Liturgisches sich ausbreitet.

Sinnliches Spektakel mit vielen Quellen

Mitunter denkt man an Mysterienspiele, an Oberammergau, an grandiosen Edelkitsch. Doch dann flackert mittendrin wieder die Spottlust des Regisseurs Bechtolf auf. Er beschwört das Jenseitige – und scheut davor zurück.

Die Musik (Andreas Schett, Markus Kraler) wird dargeboten von der aparten „Musicabanda Franui“: Die Skala dieser postmodernen Schöpfung reicht vom leisen, volksliedhaften Ton über operettenhafte Einsprengsel bis zu Anklängen an große Oper. Zwischen den gewaltigen Kulissen sind denn auch oft großspurige Opern-Gesten yonnöten, die bei grotesken Szenen ins Marionettenhafte driften. Menschlein an den Fädchen ihrer Triebe.. .

Die gut dreistündige, etwas uferlose Inszenierung ist ein Beutezug durch allerlei ästhetische Gefilde bis hin zur altwienerischen Zauberposse. Sie nötigt Staunen ab, vermag jedoch nicht tiefer zu berühren, sondern ist vorwiegend als Spektakel zu nehmen. Ihre Wahrheit schnurrt letztlich zusammen auf einen Befund, den ein greiser Diener (Hans Michael Rehberg) in barocker Vergänglichkeits-Tradition lyrisch übermittelt. Sinngemäß: O, eitler Mensch, der du zu den Gipfeln strebst, bedenke, dass du sterblich bist. Die Geister aber wirken weiter.

Duisburg, Kraftzentrale (Landschaftspark Nord): 5., 7., 9., 10., 11., 13., 15., 16. und 17 Sept. Karten: 0700/2002 3456.




Im Sog der Verzweiflung – „Minna von Barnhelm“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Der Kriegsheimkehrer ist halb verkrüppelt. Ohne Geld, in Erwartung eines infamen Gerichtsverfahrens wegen angeblicher Bestechlichkeit, gibt er sich dem Sog der Verzweiflung hin. Das klingt fast wie ein bitterer Vietnam-Blues, doch es steht in Lessings „Minna von Barnhelm“. Der Mann, dessen „preußische Ehre“ beschmutzt wird, ist der entlassene Major von Tellheim.

In Urs Trollers Bochumer Inszeniemng bleibt freilich von Preußen keine Spur. Tellheim (Wolfgang Michael) ist ein Leidensmann, verhärmt, verhuscht, verwirrt, verwahrlost – ein Schatten von einem Menschen. In schäbiger Montur, das Haar strähnig, „wildgrubert“ er über die Bühne, ein Misanthrop, ein Monster des Menschenhasses; einer, der sich geradezu autistisch in sein Unglück vergräbt und sich einpanzert, der Genuß aus dem Leiden zieht. Nur manchmal blitzt, grotesk verzerrt, ein Rest von Glücksgier auf. Eine Figur wie von Dostojewski.

Die Behandlung solcher Seelenleiden kann, so ist das in einer Komödie, natürlich nur in Liebe bestehen. Strahlend schön, mit schwellendem Busen, betritt „Minna von Barnhelm“ (Andrea Clausen) die Szene. Durch Zufall findet sie Tellheim, dem sie seit langem versprochen ist, in einem Gasthof. Doch Tellheim will sie nicht mit seinem Unglück belasten, er sperrt sich – in vehementer Leidens-Wollust – beharrlich gegen das nahe Glück.

Fraglich ist hier, was Minna eigentlich an ihm findet. Dieser Tellheim kann wohl niemais ein „Held“ gewesen sein. Auch sein Edelmut, zu Teilen eine Utopie der Gleichheit und Freiheit (von Geldzwängen), ist so gar nicht von dieser Welt. Seine lakonischen Einwürfe wirken oft nachgerade kindlich-naiv. So scheint es, als versteige sich Minna nur in ein willkürliches Lieben-Wollen. Wenn sie ihre Intrigen spinnt, um Tellheim gegen alle Widerstände in ihren Bann zu ziehen, so hat das viel Willküriich-Spielerisches, es paßt sehr gut zum Jungmädchen-Gekicher, dem sie sich mit ihrer Dienstmaid Franziska (Micheline Herzog) anfangs ausgiebig überläßt. Doch als sie – darin stimmen Text und Inszenierung überein – das Spiel schließlich bis zur Grenzlinie des Erträglichen treibt, wandelt auch sie Verzweiflung an.

Die schauspielerischen Leistungen, mit denen dies vorgeführt wird, sind sehenswert, es gibt sogar ein paar wahrhaft packende Szenen, bei denen es im Publikum atemlos still wird.. Auch die Nebenrollen sind gut besetzt. Zwar: Diener bleibt hier Diener, ohne Bewußtsein von Knechtschaft, höchstens mal maulend, ansonsten jedoch ums Glück ihrer Herrschaften brav mitzitternd. Aber recht hübsch machen sie das schon: Micheline Herzog als „Franziska“, Thomas Anzenhofer als „Just“ und Ivo Dolder als Wachtmeister „Paul Werner“. Abermals herausragend: Sven-Eric Bechtolf – auch er eine Art „Dostojewski-Charakter“, als Glücksspieler „Riccaut“.

Der Schattenriß des Lessing-Kopfs auf dem weißen Vorhang ist Programm: In der ganzen Inszenierung ist ein Respekt vor dem Text spürbar, eine Tendenz, die Worte „stehen zu lassen“. Auch das Bühnenbild (Florian Parbs) ist keiner Weise kunsträumlich-visionär, sondern schlicht und zweckmäßig.

Kein Regietheater also, aber (inzwischen schon Bochumer Spezialität) mal wieder ein  Régiewechseltheater, denn Urs Trailer übernahm die Produktion mitten im Entstehungsprozeß.




Kinder aus Nazi-Familien: Fluch der späten Geburt – Monolog-Folge „Schuldig geboren“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Draußen in der kalten Nacht geht, nervös kettenrauchend, ein Mann auf und ab. Es ist der Schauspieler Sven-Eric Bechtolf. Wir Theaterzuschauer sehen ihn durch die Fensterscheiben des Kammerspiel-Foyers, hören ihn via Mikrophon und Lautsprecher.

Hinter Bechtolf: (echte) Taxifahrer und ihre Fahrgäste, über den „verrückten“ Nachtwandler lachend. Noch weiter hinten, auf der gegenüberliegenden Straßenseite: das fernsehabendliche Flimmerlicht in den Wohnzimmern. Drinnen, im Foyer, laufen auch zwei Monitore, das Alltäglichste vom Alltäglichen zeigend, vorüberhuschende Autos.

Eine gespenstische Verzahnung: Drinnen ist draußen, draußen drinnen – und gestern ist heute. Die Texte, die hier gesprochen werden, sind authentisch. Sie entstammen Peter Sichrovskys Buch „Schuldig geboren – Kinder aus Nazifamilien“.

Sichrovsky, Jahrgang 1947, dessen Eltern als jüdische Emigranten in England lebten, hat die – heute etwa zwischen 35 und 45 Jahre alten – Kinder von Schergen und überzeugten Nutznießern der NS-Zeit nach dem Verhältnis zu ihren Eltern befragt. Die schreckliche Gewöhnlichkeit der Aussagen wird noch gesteigert dadurch, daß diese Eltern in der Mitte, nicht an der Spitze der NS-Hierarchie standen. In den Monologen der „schuldig geborenen“ Nachkommen offenbart sich ein Weiterwirken des „deutschen Syndroms“ bis in die Gegenwart, ein dauerhafter Fluch der späten Geburt.

In den 14 Texten, die für jeden Bochumer Aufführungsabend anders zusammengestellt werden (zur Premiere waren es sechs) treten in greller Verschärfung die Symptome der notorischen „Unfähigkeit zu Trauern“ zutage. Je nach Charakter, äußern die Kinder sich verharmlosend, entschuldigend, stolz, sarkastisch, ratlos oder hilflos aufbegehrend über ihre Eltern.

Eine seriöse Inszenierung darf natürlich die selbstgerechten Passagen nicht bruchlos stehenlassen, sie muß heftig konterkarieren. Das Bochumer Regieteam (Andrea Breth, Thomas Kallin, Jochen Tovote) hat sich ersichtlich bemüht, dies zu leisten. Beständige Gefahr ist dabei das Abgleiten in bloße Karikatur. So verfällt Hildegard Kuhlenberg als „Brigitte“, die ihren Nazi-Vater noch immer bewundert, in eine Art „Else-Stratmann“-Diktion, um das Gesagte zu denunzieren. Und Armin Rohde als „Gerhard, 41, der Ratlose“, liefert zwar eine bravouröse Sozialstudie eines Fleischerladenbesitzers, der wegen der Taten seines Vaters keinen Laden in der lukrativen Fußgängerzone bekam, doch geht diese Darstellung eigentlich schon zu sehr in Richtung Kabinettstück.

Die traumatische Dimension des Erinnerungszwangs wird am deutlichsten bei Sven-Eric Bechtolf als „Rudolf, 36. Der Schuldige“, der sich durch die Taten seiner Eltern ein für allemal besudelt fühlt und mit angeekeltem Zynismus deren Nachkriegs-Wohlleben in Südamerika schildert. Nie aus einem schweren Alptraum auftauchend: Ingrid Oesterheld, die sich beflissen eine bessere Zukunft einredet, am Ende aber in einer Art Blackout verstummt. Das monströse „Damals“ hat sie eingeholt. Verunsichernd schließlich: Kim Collis als angepunkte 19jährige Täter-Enkelin „Stefanie“, die rotzig einen neuen Nationalstolz einfordert.

Das Bühnenbild (Peter N. Schultze) bewegt sich sehr im Rahmen des Erwartbaren: eine Schuttlandschaft mit aufgestecktem deutschen Fähnchen.