Erlösung ist möglich: Tobias Kratzer lässt in seinem erfrischenden Bayreuther „Tannhäuser“ Raum für die Hoffnung

Dieses Foto von Enrico Nawrath prägt sich ins Gedächtnis ein und könnte einmal repräsentativ für Tobias Kratzers Bayreuther Neuinszenierung des "Tannhäuser" stehen: Stephen Gould als Tannhäuser und Elena Zhidkova als Venus. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Dieses Foto von Enrico Nawrath prägt sich ins Gedächtnis ein und könnte einmal repräsentativ für Tobias Kratzers Bayreuther Neuinszenierung des „Tannhäuser“ stehen: Stephen Gould als Tannhäuser und Elena Zhidkova als Venus. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Muss Erlösung scheitern? In Richard Wagners „Tannhäuser“ in der erfrischend neuen und schlüssigen Inszenierung von Tobias Kratzer in Bayreuth bleibt die Frage weniger offen als andernorts.

Während Tannhäuser und Wolfram von Eschenbach die blutbefleckte Leiche Elisabeths in ihren Armen bergen, öffnet sich auf einer zweiten Ebene ein neuer Horizont. Zu den Erlösungsgesängen des Fernchores ist ein Video zu sehen, das in seiner Ambivalenz zwischen Kitsch und Pathos eine Alternative, eine Utopie oder zumindest eine Hoffnung zulässt. Happy End ist möglich, „Erlösung ward der Welt zuteil“ nicht ausgeschlossen.

Regisseur Tobias Kratzer. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele 2019

Regisseur Tobias Kratzer. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele 2019

Damit unterscheidet sich Tobias Kratzers so sinnlich einnehmende wie gedanklich durchdrungene Arbeit von vielen Inszenierungen, deren Regisseure mit Wagners Erlösungsthema wenig anzufangen wissen. Kratzer sieht das Reich der Venus auch nicht wie üblich als Totalentgrenzung des Sexuellen. Das Thema hält er zu Recht für abgearbeitet. Sondern er definiert es viel entschiedener gesellschaftlich: Tannhäuser ist mit einer Gruppe von Außenseitern unterwegs, die körperlich, sexuell, in ihrer Lebensform und im künstlerischen Selbstausdruck „anders“ sind: Ein Kleinwüchsiger und eine schwarze Drag Queen gehören dazu.

Verbunden durch Lebenslust und Lebensgier scheitern die modernen Nomaden schon in der Ouvertüre, als es einen Toten gibt: Bei Benzinklau und Zechprellerei erwischt, überfährt Venus mit ihrem alten Citroën-Kastenwagen – eine Anspielung auf die Performance-Künstlerin Marina Abramović – einen Polizisten.

Das traurige Gesicht des Clowns

Das ist für Tannhäuser „zu viel, zu viel“. Der Sänger im Narrengewand wendet sich von der Truppe ab: Die Tränen im traurigen Gesicht des Clowns, in Großaufnahme auf die Projektionswand der Bühne geworfen, ist unvergesslich – der erste von vielen ergreifenden Momenten. Hinter ihm erscheint eine Ikone der Kunst, die „Venus“ von Sandro Botticelli: die Göttin – ein bloß projiziertes Ideal. Mit einer ähnlichen Bildmetapher brechen Kratzer und sein Bühnengestalter Rainer Sellmaier auch die Begriffe von Romantik und Erlösung auf: Das Zitat von Caspar David Friedrichs „Das Kreuz im Gebirge“ rechnet mit dem Ideal der Romantik ab, rückt christliche Erlösungshoffnung gleichzeitig nahe und in weite Ferne.

In der Premiere ausgebuht, später gefeiert: Le Gateau Chocolat. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

In der Premiere ausgebuht, später gefeiert: Le Gateau Chocolat. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Das bis dahin so humorvolle, leichtgängige, schwerelose Roadmovie endet auf einem Parkplatz mit Märchenland-Plunder: Ein niedliches Wetterhäuschen, aus dem Frau Holle ihr Bett ausschüttelt und vor dem der Kleinwüchsige, der das Aussehen der Protestfigur Oskar Matzerath aus Günter Grass‘ „Blechtrommel“ angenommen hat, mit der kitschigen Herabwürdigung durch Gartenzwerge konfrontiert wird. Der Versuch, Tannhäuser zurückzuhalten, scheitert trotz eines märchenhaft glitzernden Lichtgespinstes, mit dem Le Gateau Chocolat – der schwarze Travestiekünstler ist in dieser Inszenierung er/sie selbst – beeindrucken will. Die mythische Fahrt endet vor dem Festspielhaus, zu dem vornehm gekleidete Besucher hetzen; eine Weihestätte der Kunstreligion.

Wagner als Mythenstifter und Revolutionär

Kratzer positioniert den Autor des „Tannhäuser“ mit solchen Bildern als Mythenstifter und als Revolutionär: Das Programmheft zitiert Texte aus der Zeit, in der Wagner in Dresden mit Bakunin sympathisierte und ethisch beflügelte Worte voll zerstörerischer Wut gegen die herrschenden Verhältnisse schleuderte. Ein Zitat daraus bringt Venus am zentralen Balkon des Festspielhauses an; es wird vorher schon von ihrer reisenden Truppe als Plakat im Märchenland geklebt: „Frei im Wollen, frei im Thun, frei im Genießen“, lautet der Wagner-Spruch von 1849, und er wirkt wie ein Motto: Venus beileibe nicht als blonde Göttin der Liebe, sondern in ihrem schillernd grüngeschuppten Kostüm eine Kreuzung aus anarchischer Schlange, subversiver Artistin und lockendem Weibchen.

Die Performance am Teich unterhalb des Festspielhauses in der ersten Pause des "Tannhäuser". Was wie ein Gag daherkommt, hat im Ganzen der Inszenierung einen präzisen Sinn. Foto: Werner Häußner

Die Performance am Teich unterhalb des Festspielhauses in der ersten Pause des „Tannhäuser“. Was wie ein Gag daherkommt, hat im Ganzen der Inszenierung einen präzisen Sinn. Foto: Werner Häußner

Der Drang zum Anderssein lebt sich zunächst in der ersten Pause in einer Performance am Teich unterhalb des Festspielhauses aus. Le Gateau Chocolat singt mit rauchig-schrägem Bass „Dich teure Halle grüß‘ ich wieder“, während Manni Laudenbach mit Wagner-Barrett in einem Boot rudert und aus vollem Halse revolutionäre Sprüche des späteren „Meisters“ kräht. Venus umschleicht das Setting, malt ihr Plakat und erkundet das hohe Haus mit dem Feldstecher, während die schräge schwarze Performancerin in einer rosa Wolke und mit einem Kitsch-Kostüm á la „Arielle die Meerjungfrau“ tanzt und plärrt.

Was wie ein grotesker Gag serviert wird, hat im Ganzen der Inszenierung einen präzisen Sinn: Erst im Video im zweiten Akt, in dem in herrlich witziger Weise die „Eroberung“ der Wartburghalle – sprich, des Festspielhauses – geschildert wird, wird klar, dass Venus ihren Überfall vorbereitet und ihre Vasallen die bevorstehende Kunst-Religions-Feier mit ihrem lustvollen Gegenprogramm konfrontieren. Noch feiert sich das „Anderssein“ in vollen Zügen. Im dritten Akt wird es damit vorbei sein: Der Citroën, mit ausgeschlachteter Motorhaube seiner Bewegungsfähigkeit beraubt, ist nur noch eine Ruine; der Zwerg reißt verächtlich von einem der so optimistisch bedruckten Plakate Papierstreifen ab und verschwindet in eindeutiger Absicht hinter dem Fahrzeug. Die Rom-Pilger sind eine Herde aufgescheuchter Menschen, und Tannhäuser kehrt langhaarig, abgewetzt und mit ein paar Plastiktüten zurück – ob aus Rom oder wer weiß woher, wird nicht mehr klar.

Hinreißende und präzise Bilder

Was in der Bayreuther Neuproduktion des Jahres 2019 also scheitert, sind Konzepte, die sich im Aussteigen wie im Beharren manifestieren. Kratzer, Sellmaier und der Videokünstler Manuel Braun zeigen das in hinreißenden, beziehungsvollen, auch ironischen Bildern, die gleichwohl nicht im Vergnügen am bloß assoziativen Zitieren, in der sinnlichen Überwältigung oder in der Visualisierung von Privatmythologien aufgehen, wie das in Frank Castorfs und Aleksandar Denićs „Ring“ die Gefahr war.

Von der ironisch getönten Dekonstruktion bleiben auch die „teure Halle“ und die wackeren Sänger nicht verschont. Sellmaier baut einen düsteren, stilisierten Wartburg-Festsaal nach, hoch an der Wand wieder ein Verweis auf das Ideal des Sängers in Form einer halb an Naumburger Stifterfiguren, halb an nazarenische Altarskulptur erinnernden Sängerplastik. Auch die Kostüme zitieren historische Vorbilder: In dieser Gesellschaft soll alles so bleiben, wie es ist; umso nachhaltiger wird sie vom Einbruch des Sinnlichkeit preisenden Tannhäusers und der Venustruppe erschüttert.

Die "teure Halle" im zweiten Akt des Bayreuther "Tannhäuser", ein vermeintlicher Hort der Beständigkeit und unveränderlicher Traditionen. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Die „teure Halle“ im zweiten Akt des Bayreuther „Tannhäuser“, ein vermeintlicher Hort der Beständigkeit und unveränderlicher Traditionen. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Gerade in solchen Momenten, in denen es aufs Detail so sehr wie auf die übergreifende Konzeption ankommt, zeigt sich die handwerkliche Stärke des 1980 geborenen Regisseurs, wie sie in anderen seiner Inszenierungen (Nürnberg: Meyerbeers „Les Huguenots“; Karlsruhe: Meyerbeers „Le Prophète“ und Wagners „Meistersinger“; Frankfurt: Meyerbeers „L’Africaine“; Berlin: Zemlinskys „Der Zwerg“) zu außerordentlichen Ergebnissen geführt hat. Das unterscheidet die diesjährige Neuinszenierung am Grünen Hügel vom „Lohengrin“ Yuval Sharons im letzten Jahr. Trifft eine versierte Regiehandschrift auf eine tragende, so komplex wie eingängig das Stück durchziehende Idee, ist das Ergebnis, wie es in Bayreuth 2019 zu bewundern ist: festspielwürdig.

Ein Fest des Vibrato

Jetzt wäre es befriedigend, die musikalische Seite in ähnlichen Worten bewundern zu können. Sicher: Das „Handwerk“ war weitgehend perfekt, das Orchester wie stets ohne Fehl und Tadel, der Chor Eberhard Friedrichs nur in zwei, drei Millisekunden nicht so traumsicher wie sonst, auch klanglich im dritten Akt nicht so geschlossen, wie es bei einer sängerfreundlicheren Aufstellung möglich wäre. Die Solisten boten weithin ein Fest des Vibrato. Elena Zhidkova als körperlich geschmeidige, umwerfend komische wie verstörende Darstellerin hielt die Amplitude ihrer Töne immer weniger unter Kontrolle, konnte im dritten Akt kaum mehr verständlich artikulieren und ersetzte durch undifferenzierte Lautstärke, was für Venus an vokaler Biegsamkeit und Färbung nötig wäre.

Stephen Gould, der in diesem Jahr am Hügel auch seine Paraderolle, den Tristan singt, lässt das Vibrato allzu breit schwingen, hat Probleme mit einer konzentrierten Fokussierung von Legato, wirkt auch in der Phrasierung und dem fiebrigen Brio von Tannhäusers Bekenntnis-Strophen im zweiten Akt holprig. Dafür bewältigt er die gefürchteten „Erbarm dich mein!“-Rufe mehr als achtbar und hat seinen gestalterischen Höhepunkt in der wortbewussten Rom-Erzählung im dritten Akt, in der er die ganze Resignation, Gebrochenheit und grelle Verzweiflung des unversühnten Erdenpilgers herausbrechen lässt.

Glänzt in der kurzen Rolle des Hirten: Katharina Konradi. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele 2019

Glänzt in der kurzen Rolle des Hirten: Katharina Konradi. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele 2019

Markus Eiche kann als Wolfram von Eschenbach für sich einnehmen. Er ist nicht der salbungsvoll entsagende Anbeter des Liebesbronnens: Die beobachtende Videokamera verfolgt seine verzweifelten Ausbrüche hinter den Kulissen, als die alte Liebe zwischen Tannhäuser und Elisabeth im Duett des zweiten Akts wieder aufkeimt. Im dritten Akt verlässt er – berechnend oder überzeugt – die gesellschaftliche Konvention der Wartburg, zieht das Narrengewand und die Perücke Tannhäusers über und erringt so, wenn vielleicht auch nicht die Seele, so wenigstens den Körper Elisabeths. Eiche singt passend zur Inszenierung seinen Wolfram nicht lyrisch verschattet, sondern präsent und viril, mit klarem Timbre und präziser Diktion. Stephen Milling prunkt als Landgraf mit einem stets abgesicherten Bass. Sehr überzeugend war Katharina Konradi in der kleinen Rolle des Hirten.

Fragen zur Jahrhundertstimme

Schon jetzt als Jahrhundertstimme gehandelt wird die Elisabeth Lise Davidsen. Rechtzeitig zum Debüt am Hügel erschien ihr erstes Doppelalbum mit Wagner- und Strauss-Aufnahmen. Die Elisabeth hatte die junge Norwegerin bereits 2019 in Zürich ausprobiert. Ein gut kalkuliertes Debüt also. In der Tat sind ihr sattfarbiges Timbre, ihre Flexibilität im Piano, ihre gewinnende Innigkeit in der zweiten und ihre strahlende Präsenz in der Hallen-Arie bemerkenswert. Aber auch sie kommt nicht ohne erhebliches Vibrato aus; außerdem scheint es, als verliere sie beim Übergang vom Piano ins Forte die Souveränität über den Atem – es klingt, als müsse sie auf die Stimme Druck ausüben. Bei aller Bewunderung für dieses Debüt sei vor allzu schnellem Hochstilisieren gewarnt.

Die Verpflichtung des internationalen Jet-Set-Dirigenten Valery Gergiev lässt sich nur als Fehlgriff qualifizieren: Selten noch spielte das Festspiel-Orchester eine so marginalisierte Rolle, selten noch brachte ein Dirigent so wenig persönliche Note ein. Sicher gab es bezaubernde lyrische Momente, öfter aber irritierend flaue Konturen. Es fehlt Tiefenschärfe, Entschiedenheit im Zugriff und spannungsvolle Steigerungen. Gergiev hat – so ist bei seinem Terminkalender zu vermuten – die Proben weitgehend seinen Assistenten überlassen. Keine Rede von der früheren „Werkstatt“ Bayreuth, in der auch ein Dirigent „seine“ Produktion von Anfang bis Ende betreute und über die erste Spielzeit hinaus am Ausdruck feilte.

Nächstes Jahr bereits wird der Düsseldorfer GMD Axel Kober den „Tannhäuser“ übernehmen; Gergiev hat das Festspielhaus in der Liste seiner berühmten Auftrittsorte abgehakt – Schluss. Dies zu beklagen, ist keine Nostalgie; bei Wolfgang Wagner hätte es das nicht gegeben. Auch deshalb mag es gut sein, dass mit dem „Ring“ 2020 ein unverbrauchter und vielleicht engagiert für und in Bayreuth arbeitender junger Dirigent, Pietari Inkinen, betraut wird. In der Premiere gab es verständliche Buhs für Gergiev und weniger verständliche für Le Gateau Chocolat; in der zweiten Vorstellung beklatschte ein enthusiastisches Publikum alle Künstler gleich begeistert.




Festspiel-Passagen X: „Tannhäuser“ in Bayreuth – Keine Erlösung aus dem System

Wichtig für das Funktionieren der Wartburg-Gesellschaft im Bayreuther "Tannhäuser": der "Alkoholator" in Joep van Lieshouts Bühnen-Installation. Für das Publikum eine Provokation. Foto: Enrico Nawrath

Wichtig für das Funktionieren der Wartburg-Gesellschaft im Bayreuther „Tannhäuser“: der „Alkoholator“ in Joep van Lieshouts Bühnen-Installation. Für das Publikum eine Provokation. Foto: Enrico Nawrath

Wieder einmal funktioniert die „Werkstatt Bayreuth“. So war die Erwartung 2011, als Sebastian Baumgartens neue „Tannhäuser“- Inszenierung den „Grünen Hügel“ und die Wagner-Welt in Aufregung versetzte. Immerhin ist Baumgarten einer der Vordenker des (Musik-)Theaters in Deutschland.

Und der Dirigent der damaligen Premiere, Thomas Hengelbrock, steht für eine kompromisslose Sicht auf die Musik, nicht nur in ihrem von den Schlacken der Interpretationsgeschichte gesäuberten Text, sondern auch in den aufführungstechnischen Bedingungen ihrer Entstehungszeit. Dazu kommt die Bühne von Joep van Lieshout, der mit seinem „AVL“-Atelier in Rotterdam und seinem utopischen Kunstprojekt „AVL-Ville“ alles andere als einen exklusiven zeitgenössischen Formalismus oder Ästhetizismus vertritt.

Dass es dann ganz anders kam und drei Jahre nach dem Premieren-Aufreger ein müder Abschied von dieser „Tannhäuser“-Episode ansteht, ist bedauerlich, aber zu erklären. Der Grund ist nicht das Publikum, auch wenn die „Buh“-Rufer nach wie vor eine starke Fraktion stellen. Die Bayreuther Wagner-Pilger haben schon ganz andere Provokationen weggesteckt und – von Wieland Wagner über Patrice Chéreau bis Christoph Schlingensief – sogar zu bewundern gelernt. Der Grund liegt darin, dass Sebastian Baumgarten der „Hölle des Interpretationstheaters“ entkommen wollte und im Orkus des postdramatischen Erklärtheaters gelandet ist.

Dabei war die Idee brillant: Ganz im Sinne Joep van Lieshouts eine hermetische Gesellschaft agieren zu lassen, die inmitten ihrer alltäglichen Lebensverläufe ein rituelles Stück namens „Tannhäuser“ aufführt. Daher die offene Bühne und die Aktionen vor „Beginn“ des Stücks und während der Pausen, zu denen auch die Parodie einer heiligen Messe gehörte – mit Heine-Texten aufs Deutschlandlied, einem persiflierten „O Haupt voll Blut und Wunden“ und einem Lob auf „Apoll und Dionysos“. Passend auch der Raum van Lieshouts: eine Halle voller Tanks und Maschinen, bestimmt zur autarken Selbstversorgung der Wartburg-Gesellschaft. Ein in sich geschlossenes System, zu dem auch der Venusberg gehört.

Monochrom: der "Venusberg" im Bayreuther "Tannhäuser". Foto: Enrico Nawrath

Monochrom: der „Venusberg“ im Bayreuther „Tannhäuser“. Foto: Enrico Nawrath

Im Keller der rationalen Bewirtschaftungsräume hausen vorgeschichtliche, äffische Triebwesen in monochromem Rotlicht, das alle Farben erstickt. Und Frau Venus ist die mütterliche Verwalterin. Sie sieht ein bisschen aus wie Mathilde Wesendonck, die sich auf eine Party der Gesellschaft der Freunde Bayreuths verirrt hat (Kostüme: Nina von Mechow). Dass sie am Ende ein Kind kriegt, das zum Erlösungs-Preisgesang des Schlusschores herumgereicht wird, ist kein Bruch. „Ein Kind ist uns geboren …“ möchte man unwillkürlich die weihnachtliche Weise auf die Lippen nehmen.

Nur: Trotz der Video-Maria, die in der Inszenierung immer wieder in den Hintergrund projiziert wird, glaubt niemand, wohl am allerwenigsten das Regieteam, an einen Erlöser. Sondern eher an ein (irreguläres?) Produkt der biologistischen Reproduktionsmaschinerie, die in Christopher Kondecks Videos – mit Spermienangriffen, Bakterien-Fressattacken und Zellteilungen – von innen ausgeleuchtet wird.

Gang ins Gas als Rückzug aus der Gesellschaft

Keine Erlösung, auch nicht durch oder für Elisabeth, die eigentliche Außenseiterin in diesem „Tannhäuser“. Camilla Nylund muss sich händeringend auf einem Steg über oder mit großen Stummfilmgesten in die Schar der Wartburg-Hörigen werfen. Dass sie am Ende ins Biogas geht, hat 2011 ungeheuer provoziert, liegt aber genau in der Konsequenz dieser hermetischen, menschlichkeitsentkleideten Welt.

Schon Vera Nemirova realisierte in ihrem durchdachten Frankfurter „Tannhäuser“ einen von Wolfram von Eschenbach assistierten Suizid. In Bayreuth entzieht sich Elisabeth mit dem Gang in den Gastank – und Wolfram drückt den Sicherungshebel herab und macht ihre Entscheidung unumkehrbar: Auch er teilt das Konzept Elisabeths einer Liebe jenseits venerischer Niederungen und wartburgischer Erhebung nicht; er besingt lieber den Abendstern als entferntes Objekt entsagungswilligen Schmachtens.

Auch wenn es nicht so scheint: Baumgartens Inszenierung trifft Grundintentionen Wagners und versucht, sie über das Konfliktfeld des christlichen Manichäismus hinaus zu aktualisieren. Dass der kühne Wurf nicht gelungen ist, liegt jedenfalls nicht an der gedanklichen Vorarbeit. Es liegt vor allem an der hermetischen Art des postdramatischen Theaters. Mit ungeheurem Einsatz von Gehirnschmalz von Dramaturgen und Regisseuren zu reibungslosem Lauf geschmiert, gleitet es dennoch an den rezeptiven Organen auch des aufgeschlossenen Mitakteurs im Publikum vorbei. Mit gewaltigem Aufwand von Signalen, Chiffren und Bildern versucht es die Synthese von Vorlage, kreativem Zugriff und aktiver Rezeption – und scheitert oft genug an der fragilen inhaltlichen Gespinst von nachvollziehbaren Mustern und privaten Mythologien und Obsessionen der „Macher“, an ihren biografisch verschlüsselten Bildwelten oder ihrer assoziativen Fantasie.

Bayreuth: Torsten Kerl als Tannhäuser. Der Tenor stammt aus Gelsenkirchen. Foto: Jörg Schulze

Bayreuth: Torsten Kerl als Tannhäuser. Der Tenor stammt aus Gelsenkirchen. Foto: Jörg Schulze

Mit Frank Castorfs „Ring“ ist derzeit in Bayreuth ein Beispiel dafür zu erdulden. Und Sebastian Baumgartens „Tannhäuser“ ist – im Verbund mit van Lieshouts „Technokrat“-Landschaft – an seinem Erklärungsbedarf zerschellt. Genau das ist auch der Unterschied zu Castorfs Arbeit: Die geniert sich nicht einmal mehr, die Streifzüge assoziativer Fantasie auszustellen und mit einem Zug ins Wollüstig-Zynische dem Zuschauer zum Fraß vorzuwerfen.

Baumgarten arbeitet strenger, stringenter, deswegen aber nicht theatralischer. Denn an der Frage nach der Funktion und den Grenzen von Theater entscheidet sich, ob Baumgartens Entwurf als „gescheitert“ anzusehen ist. Aber vielleicht ist angesichts der ökonomischen Zwänge des Theaters heute und der damit verbundenen Rückkehr zum widerstandslosen Konsumangebot eine solche Debatte nur noch in elitären Kreisen relevant?

Gebrochen ist auch der Wille zur klangsinnlichen Neuentdeckung der „Tannhäuser“-Partitur: Hengelbrock am Hügel, das ist Geschichte, nicht zuletzt, weil es nicht funktionierte. Axel Kober, GMD der Deutschen Oper am Rhein, macht im Abgrund keinen mystischen, sondern einen sehr klar strukturierten Job. Auch er durchleuchtet Wagners Webmuster auf relevante Einzelstimmen hin, will durch feinnervigen Klang und gemäßigte Dynamik den Bezug Wagners zur deutschen romantischen Oper, aber auch das innovative Potenzial der Komposition freilegen. Das gelingt, weil Kober auf übertriebene Tempi verzichtet und dem Mischklang kein Kainszeichen aufdrückt. Dass es mit der Balance zwischen Bühne und Graben im zweiten Aufzug hapert, das Finale zu zerfallen droht, mag auch mit der  Aufstellung der – wie stets ausgezeichneten – Chöre Eberhard Friedrichs zu tun haben.

Camilla Nylund als Elisabeth. Foto: Jörg Schulze

Camilla Nylund als Elisabeth. Foto: Jörg Schulze

Bei den Sängern verteilen sich Licht und Schatten gleichmäßig: Auch Torsten Kerl, der untadelige Tannhäuser, hat seine Probleme, wenn er die Höhe mit einem druckvollen Ansatz in präsent und hell klingender Maske bildet, aber den Klang damit raumlos eng beschneidet. Markus Eiche singt einen freien, im Piano allerdings fragwürdig verflachenden Wolfram. Kwangchul Youn ist ein stimmgewaltiger Landgraf ohne Noblesse. Camilla Nylund ist nach wie vor eine engagierte, berührende Elisabeth mit subtil abgeschatteten Piano-Momenten, in der jubelnden Emphase etwa der „Hallen-Arie“ diesmal mit einem aufgerauten Vibrato, das vielleicht der Tagesform geschuldet ist. Michelle Breedt kann als Venus mit ihren eng geführten Tönen nach wie vor nicht überzeugen; Katja Stuber bringt die wenigen Sätze des Hirten mit sympathischem Leuchten über die Rampe.

Wenn wir eines aus dieser unglücklichen Inszenierung mitnehmen, dann dies: Baumgarten hat in seiner in sich geschlossenen Wartburg das Ende innergesellschaftlicher Perspektiven gespiegelt. Erlösung kann nur von außen kommen: Eine Erkenntnis, die auch Wagner von den „Feen“ bis zum „Parsifal“ umgetrieben hat.




Tannhäuser im Christusgewand: Kay Voges inszeniert in Dortmund erstmals eine Oper

Elisabeth (Christiane Kohl) und Hermann, Landgraf von Thüringen (Christian Sist. Foto: Thomas M. Jauk/Theater Dortmund)

Elisabeth (Christiane Kohl) und Hermann, Landgraf von Thüringen (Christian Sist. Foto: Thomas M. Jauk/Theater Dortmund)

Venus spült in der Küche Geschirr, während Tannhäuser vor dem Fernseher gammelt. Er trinkt Dosenbier, zappt mit der Fernbedienung durch die vielen Kanäle. Auf Leinwänden flimmert an uns vorbei, was er sieht: Fußball, Wetten dass, Nachrichten, Syrien, der Wetterbericht, Sportschau, noch mehr Fußball. Tannhäuser hat genug. Er schaltet aus, wendet sich um und macht seinem Überdruss Luft. „Zuviel. Zuviel!“

Es kommt, wie es kommen muss: Richard Wagners Tannhäuser reißt sich auch in der neuen Version von Kay Voges vom Venusberg los. Aber Dortmunds Schauspielchef, der sich mit dieser Inszenierung erstmals in die Welt der Oper vorwagt, hat schon in der Ouvertüre ein Feuerwerk an Bildern und Ideen gezündet. Wie so oft, funktioniert das bei ihm über Videoeinspielungen (Daniel Hengst), die er zu Beginn des Stücks fast im Übermaß einsetzt. Indes ist die Bilderflut voller Hintersinn. Sie führt tief in das Spiel um Liebe und Erlösung hinein.

Gleich zu Beginn erblicken wir einen Tannhäuser mit Dornenkrone, ans Kreuz der Medien geschlagen. Aber Voges setzt die Titelfigur keineswegs mit Christus gleich, wie auch Elisabeth nicht einfach Maria ist und Venus nicht Maria Magdalena. Vielmehr schiebt er die Geschichten und Figuren wie zwei Folien übereinander. Er spielt mit den Unschärfen und Übereinstimmungen, die sich daraus ergeben, und spürt der Erlösungsproblematik nach, die Richard Wagner auch in anderen Werken umkreist. Wie in Scorseses Film „Die letzte Versuchung Christi“, den Voges hier zitiert, gibt es für Tannhäuser eine andere Möglichkeit als den Büßertod. Er könnte für immer mit Venus leben und sich weltlichen Genüssen hingeben. Doch Tannhäuser wählt die Pilgerfahrt und nimmt damit großes Leiden auf sich.

Voges, der die Eigenschaft besitzt, sich selbst nicht immer allzu ernst zu nehmen, durchbricht Wagners Weihe durch Momente von Witz und Leichtigkeit. Das Imponiergehabe der schrill gekleideten Wartburg-Sänger, die köstlich ironischen Kontrapunkte beim Aufzug der Festgäste bereiten Vergnügen. Aber nicht alles gelingt. Das erste Wiedersehen von Tannhäuser und Elisabeth wirkt trotz Einsatz der Drehbühne ratlos. Die Romerzählung wird vollkommen statisch vor einer Leinwand gesungen, die Tannhäusers Mimik in quälend langer Super-Slow-Motion zeigt.

Tannhäuser wird erst bedroht, dann verbannt (Daniel Brenna. Foto: Thomas M. Jauk/Theater Dortmund)

Tannhäuser wird erst bedroht, dann verbannt (Daniel Brenna. Foto: Thomas M. Jauk/Theater Dortmund)

Es ist ein Jammer, dass die Inszenierung musikalisch so schwach beglaubigt wird. Daniel Brenna ringt am Premierenabend schwer mit der Titelpartie. Seine Stimme wird bereits beim Abschied von Venus so rau, dass ein Abbruch der Vorstellung möglich erscheint. Sein Tenor klingt unstet, in der Höhe statisch oder flackernd, in der Romerzählung kurzatmig und deklamatorisch. Die Venus von Hermine May kennt dunkle Mezzo-Flammen, aber auch Schärfen und ein expansives Vibrato. Für den einzig wahren Lichtblick sorgt Christiane Kohl, die Elisabeth eine helle, leuchtende Sopranstimme mit klarer Diktion verleiht. Auch Christian Sist muss sich als Landgraf von Thüringen nicht verstecken. Gerardo Garciacano singt den Wolfram von Eschenbach steif und gaumig.

Die Dortmunder Philharmoniker spielen unter der Leitung von Gabriel Feltz Töne, ohne Musik zu machen. Sie bringen das Kunststück fertig, der Hallenarie jedes Strahlen und jeden Jubel zu nehmen. Feltz buchstabiert Choräle durch, seine Tempi sind blockhaft, sein Dirigierstil ist blutlos und akademisch. Oft klappert es vernehmlich zwischen Bühne und Orchestergraben. Die Chöre sind von Granville Walker solide einstudiert, verlieren im Fortissimo aber an Klangkultur.

Jammerschade dies, wie gesagt. Was hätte diese Produktion für ein Knaller werden können! Lange nicht mehr hat eine Dortmunder Premiere so starke und kontroverse Reaktionen hervorgerufen. Heftige Bravorufe und wütende Buhs hielten sich die Waage.

Ob man den neuen Tannhäuser aber nun frech findet oder trashig, verrückt oder vielleicht sogar ein wenig blasphemisch: Respektlosigkeit vor Richard Wagners Werk ist Voges in keiner Weise vorzuwerfen. Eher wird ihm die Fülle seiner Gedanken zum Problem: Er hat sich gründlicher mit dem Stoff auseinander gesetzt als manche, die gerne behaupten, Wagners Willen genau zu kennen.

Sollte darin etwa ein Affront liegen? Wer etwas von Voges Inszenierung haben will, darf weder denkfaul sein noch erstarrt in der eigenen Meinung. Wer aber gerne tiefer blickt wird staunen, was der Opernnovize alles ans Licht holt.

(Informationen und Termine: http://www.theaterdo.de/detail/event/4134/)




Stimmungsmache, Skandalgerede, Voraburteile: Dortmund und die „Tannhäuser“-Premiere

Kay Voges inszeniert in Dortmund den "Tannhäuser". Foto: TheaterDortmund/Birgit Hupfeld

Kay Voges inszeniert in Dortmund den „Tannhäuser“. Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld

Skandal! Das Wort ist ausgesprochen, ist nachzulesen schwarz auf weiß. Der Vorgang, den es bezeichnet, wird herbeigeredet, -geschrieben, von manchem vielleicht auch ersehnt. Stimmungsmache, Beschwichtigungen, Erklärungen und Voraburteile schwirren durch den Raum. Eine Debatte ist zu verfolgen, deren Gegenstand bisher nur fragmentarisch sich darstellt. Es ist so, als würde ein Schmetterlingsbein sich aus der Raupe herausschälen, und einer ruft: „Ist das Tier aber hässlich“.

Worum geht es? In nüchternen Worten formuliert, um die bevorstehende Premiere von Richard Wagners großer romantischer Oper in drei Akten „Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg“ am Theater Dortmund. Regie führt Kay Voges, der erfolgreiche, längst über die Stadtgrenzen hinaus bekannte Chef des Schauspielhauses. Es ist seine erste Arbeit im musikdramatischen Fach. Voges wird, über das Bühnengeschehen hinaus, multimediale Effekte einsetzen. Eigentlich ist solcherart Inszenierungsbeigabe ein nicht mehr ganz neuer Hut. Doch mancher Bedenkenträger fragt schon jetzt beklommen, ob das nicht zu viel des Illustrierens sei.

Wagners „Tannhäuser“ – da war doch was. Genau: etwa die tumultuöse Aufführung 1861 in Paris, als organisierte Gruppen mit aller Macht (und Trillerpfeifen) das Werk des Deutschen akustisch zerstören wollten. Ein Vorgang, der bis heute zu den größten Eklats der Musikgeschichte zählt. Und jüngst, im Mai, der Skandal um die Inszenierung von Burkhard C. Kosminski an der Rheinoper in Düsseldorf. Die Premiere war die erste und letzte szenische Vorstellung, hernach blieb der Vorhang zu, der „Tannhäuser“ mutierte zu einem rein konzertanten Erlebnis. Freilich, der Regisseur hatte das Werk teils in der Nazi-Zeit verortet und pantomimisch gezeigt, wie eine ganze Familie exekutiert wird. Einige aus dem Publikum gaben an, sie hätten ob der Zumutung einen Arzt aufsuchen müssen.

Wenige Tage später stellte Dortmunds Opernchef Jens-Daniel Herzog den neuen Spielplan vor, mit eben jener Nachricht, dass Kay Voges den „Tannhäuser“ inszenieren werde. Um eiligst hinzuzufügen, Nebenwirkungen seien nicht zu erwarten. Dann ging die Zeit ins Land und die Welt war in Ordnung. Nun aber, nach einigen Überlegungen des Regisseurs, abgedruckt in der Theaterzeitung, nach Einführungsmatinee und öffentlicher Probe, herrscht plötzlich jede Menge Aufgeregtheit. Der Knackpunkt vor allem: die Videoprojektionen.

Tischbein_-_Tannhäuser_1845

Joseph Tichatschek als Tannhäuser und Wilhelmine Schröder-Devrient als Venus in der Dresdner Uraufführung 1845. Zeichnung: F. Tischbein

Voges setzt sie im Schauspiel regelmäßig ein, etwa in seiner Inszenierung nach Thomas Vinterbergs „Das Fest“. Die Gesichter der Figuren werden groß auf eine Leinwand projiziert, auf dass das Publikum jede emotionale Regung und deren mimische Entsprechung mitbekomme. Das war immerhin eine Nominierung für den Theaterpreis „Faust“ wert. Ähnliches hat Voges im „Tannhäuser“ vor. Hinzu kommt der Versuch, in dieser Figur, taumelnd zwischen Venusberglust und hehrer Minne, Christus zu sehen; in Anlehnung an Martin Scorseses so umstrittenen wie glänzenden Film „Die letzte Versuchung Christi“.

Ob das gelingt, werden wir sehen. Voges sagt, Wagner, der Verfechter des Gesamtkunstwerks, hätte den Film als Gestaltungsmittel eingesetzt. Jens-Daniel Herzog hat das in einem Interview ähnlich formuliert. Ein Teil der veröffentlichten Meinung hingegen zerrt den wohlbekannten Satz mancher Wagnerianer hervor, der Komponist habe das so sicher nicht gewollt. Nun gut, Spekulationen sind das eine, teils polemische Urteile über einen Probenausschnitt aber sind von anderem Gewicht. Vom Skandal ist vorsorglich auch schon Mal die Rede.

„Kinder, schafft Neues!“ ist ein vielzitiertes Wagner-Wort. Ist der Einsatz der Video-Technik zu neu? Das Dortmunder Publikum werde durch die Bilder zu sehr von der Musik und den Figuren abgelenkt, unkt es im Blätterwald, das Seelenheil der Zuschauer könnte leiden. Solcherart Fürsorge ex cathedra wirkt geradezu putzig. Doch Filmsequenzen zur Oper sind den Musikfreunden der Stadt durchaus bekannt, zuletzt gesehen in hochgelobten Konzerthaus-Aufführungen von Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“ und, man staune, in Richard Wagners „Tristan und Isolde“.

Voges hat unterdessen auf die Vorab-Urteile höchst originell reagiert. Bei aller Verärgerung stichelte er in einer Mischung aus Ernst und Ironie zurück. Inmitten seiner tiefsinnigen, urkomischen, so erfrischend albernen wie entlarvend verstörenden Revue „Das goldene Zeitalter“, in der uns das Leben als Endlosschleife offenbart wird, mit mehr oder weniger gelungenen Versuchen, daraus auszubrechen. Da dröhnt die „Tannhäuser“-Ouvertüre aus den Lautsprechern, und ein blondes Barbiepuppenwesen hämmert manisch in die Schreibmaschine „Volle Konzentration auf die Musik“.  Konsequent fällt der Vorhang, das Theater wird zum kollektiven Wohnzimmer mit Stereoanlage, Rezeption zur behaglichen Routine, wie der alltägliche Konsum der Tagesschau. Touché!

Gut nur, dass nun, kommenden Sonntag (1. Dezember), endlich Premiere ist, in annähernd ausverkauftem Haus. Erst dann ist die Stunde ernsthafter, kundiger Analyse und ästhetischer Beurteilung gekommen. Stimmungsmache aber vernebelt die Gedanken.

Informationen zur Inszenierung: http://www.theaterdo.de/detail/event/513/?not=1




Dualismus und Erlösung: Vera Nemirovas „Tannhäuser“-Inszenierung in Frankfurt

Iso-Matten, Rucksäcke, bunte Käppis: Die Truppe sieht aus, als komme sie gerade vom Weltjugendtag. Zum frommen Klang der Pilgerchor-Melodie lässt man sich nieder. Viele beten, manche denken in sich versunken nach. Eine Gruppe zieht ein, schleppt ein riesiges Kreuz mit sich. Alle scharen sich darum. Dann übermannt der Schlaf das Völkchen.

So lange, bis die ersten Tremoli der Venusberg-Musik aufzüngeln: Jung und Alt werfen sich in die Arme, bald fliegen die Klamotten. Die fröhlichen Nackten ziehen einem weiß-blauen Himmel entgegen. Doch das venerische Treiben geht nicht lange gut: In Richard Wagners Orchester setzen sich die Pilgerchor-Motive wieder durch. Zuckende Leiber kriechen mit Gesten des Entsetzens und der Reue zum Kreuz. Klagende Gebärden zur triumphal vom Blech intonierten erhabenen Melodie.

Szene aus der Ouvertüre zu "Tannhäuser" in der Inszenierung von Vera Nemirova in Frankfurt. Foto von 2007: Monika Rittershaus

Szene aus der Ouvertüre zu „Tannhäuser“ in der Inszenierung von Vera Nemirova in Frankfurt. Foto von 2007: Monika Rittershaus

Inszenierte Ouvertüren sind manchmal nur der Angst des Regisseurs vor der reinen Musik geschuldet. Doch im Falle des Frankfurter „Tannhäuser“ erschließt Vera Nemirova damit die Sinnrichtung des Stücks. Sie stellt den prägenden Dualismus zwischen Venus und Maria, zwischen sexuell-sinnlicher Entfesselung und keusch-vergeistigt Liebe in einer präzis entwickelten Szene auf die Bühne. Und sie behauptet so, dass der Dualismus nicht allein eine Angelegenheit des 19. und des vergangenen 20. Jahrhunderts sei.

Der „Tannhäuser“, eine wichtige theatrale Station auf dem lebenslangen Weg Wagners zur Bewältigung seiner Konflikte zwischen Reinheit und Trieb, wurzelt in einem christlichen Menschenbild, das aber mit den ideologischen Brillen des 19. Jahrhunderts kaum erkennbar war. Die Verbindung von körperlich-sexueller und seelisch-spiritueller Liebe hätte durch Tannhäuser und Elisabeth erreicht werden können: Hier der Mann mit den Erfahrungen des Venusbergs, der weiß, dass der sterbliche Mensch auch durch Götter nicht zum Gott gemacht wird; der erfahren hat, dass der schrankenlose, ungetrübte Genuss sinnlicher Reize nur zum Überdruss führt. Dort eine starke Frau, die eine widerstandsfähige Liebe bewahrt, die nach ganzheitlicher Erfüllung strebt, die das „Rätsel ihres Herzens“ zu lösen hofft.

Vera Nemirova. Foto: Thilo Beu

Vera Nemirova. Foto: Thilo Beu

Vera Nemirova behauptet in ihrer Inszenierung eindrucksvoll, dass diese Liebe scheitern muss: Die Ideologie der Wartburg, im Wettstreit der Sänger zweifelsfrei zum Ausdruck gebracht, lässt nur den dualistischen Bruch zu. Hier der „Liebe reinstes Wesen“, das Wolfram von Eschenbach nicht „mit frevlem Mut“ berühren will. Dort der Tannhäuser mit seinem faustischen Vornamen Heinrich, der „im Genuss nur Liebe“ kennt, der in Venus „die Quelle alles Schönen“ propagiert. In diesem Konflikt weist selbst der Papst keinen Ausweg, und die Barmherzigkeit ist eine Tugend, die in dieser Welt nicht reift und von oben kommen muss.

Nemirova – die Regisseurin des gefeierten Frankfurter „Ring“ und eines neuen „Lohengrin“ in Basel – inszeniert den „Tannhäuser“ nicht als ein Stück von gestern, dem man für seine Schlüssigkeit heute ein neues Thema überstülpen müsste. Und es genügen ihr im Verein mit ihrem Bühnenausstatter Johannes Leiacker knappe Hinweise und Andeutungen, um einen zwingenden, berührenden Opernabend zu gestalten.

Etwa die Szene mit dem Hirten: In Frankfurt ist er mit einem Kind besetzt (Cedric Schmitt). Er singt von Frau Holda und malt mit Kreide ein Kreuz auf den Boden – für eines jener Hüpfspiele, mit denen sich Kinder früher auf den Straßen die Zeit vertrieben. Tannhäuser, der Wanderer mit Gitarre und Federn am Hut, legt sich auf das Kreuz und wird von seinen Ex-Sängerkollegen entdeckt. Der Hirte spielt am Ende dann eine entscheidende Rolle: Das Kind, von den Konflikten unberührt, führt Tannhäuser zu den Klängen des Erlösungschores weg.

Johannes Leiackers Szene für den Frankfurter "Tannhäuser". 2007 sang Ian Storey die Titelrolle. Foto: Monika Rittershaus

Johannes Leiackers Szene für den Frankfurter „Tannhäuser“. 2007 sang Ian Storey die Titelrolle. Foto: Monika Rittershaus

Leiacker genügt für die karge Bühne eine Wand mit einem weiß-blauen Himmel, davor eine Peitschenlampe mit kaltem, trübem Schein (Olaf Winters Licht mit entscheidendem atmosphärischem Anteil). Dieser Himmel mag, wenn die aufgedrehten Kirchentags-Teenies in ihm „baden“, ein Ort emotionalen Höhenflugs sein; eine Erfüllung der menschlichen Sehnsucht ist er nimmer. Im dritten Aufzug hat die Leinwand Löcher, wird das hölzerne Traggerüst sichtbar. Eine höchst irdische, vergängliche Illusion.

Der Hirtenjunge führt den Tannhäuser zwar in Richtung des zerfetzten Himmelsbilds, aber darin hat sich eine Öffnung gebildet, die ins Unbestimmte führt. Nemirova lässt offen, wohin dieser Weg führt, aber keinen Zweifel, dass es sich um einen Moment des Transzendierens handelt. Die Szene erinnert an den Schluss von Schlingensiefs Bayreuther „Parsifal“. Eine bedeutungsvolle Parallele: Beide Regisseure sind nicht mit vorschnellen Lösungen bei der Hand, stellen die für Wagner essenzielle Erlösungssehnsucht nicht in Frage, lassen aber offen, worin die Erlösung bestehen könnte.

Sänger machen sich das Regiekonzept zu eigen

Wie wenig authentisch die Wartburg-Welt ist, zeigt Nemirova deutlich: Der zweite Aufzug ist eine Show, die aus den Fugen gerät. Landgraf Hermann, von Andreas Bauer mit Autorität gesungen, liest die Frage nach dem wahren Wesen der Liebe wie eine Quizfrage vom Spickzettel ab. Die Sänger, einheitlich in lila Rüschenhemd, liefern ihre Beiträge ab: der kleine, eitler Walther von der Vogelweide (präsent: Jun Ho You), der nur in der Kategorie des „Kampfs“ denkende Biterolf (überzeugend: Magnus Baldvinsson). Und Wolfram von Eschenbach, der Vertreter eines Liebesbegriffs, der sich in Anbetung verzehrt, ohne das Subjekt der Liebe je erreichen zu wollen. Daniel Schmutzhard spielt die inneren Qualen dieses Charakters aus; sorgt mit klug gebildeter, ebenmäßig geformter Stimme für den vokalen Höhepunkt der Frankfurter Aufführung. Dass Wolfram im dritten Aufzug Elisabeth erdrosselt und sie so beim Übertritt ins Jenseits „geleitet“, ist aus der Anlage der Figur heraus nur konsequent.

Die Neueinstudierung der Inszenierung von 2007 – aus Anlass des Wagner-Jahres – ist auch gelungen, weil sich Lance Ryan (Tannhäuser) und Annette Dasch (Elisabeth) das Regiekonzept zu Eigen gemacht haben. Ryan singt anfangs mit extrem gespanntem, beengtem Tenor; wird nach und nach freier, hat die Kraft für die gefürchteten Stellen im zweiten Aufzug und für eine durchdachte Rom-Erzählung. Aber Schmelz und gelösten Klang erwartet man von diesem Tenor vergeblich.

Annette Dasch genießt zurzeit viel Anerkennung. Für das jugendliche Strahlen der „Hallenarie“ reicht der Klangkern der Stimme nicht, aber die lyrisch-innigen Momente gelingen mit dem Zauber, den nur eine reflektierte Gestaltung hervorruft. Der Frankfurter Opernchor hatte nicht seinen besten Abend; das Orchester unter Constantin Trinks überwand die groben Momente des Beginns und steigerte sich auf ein solides Niveau, das im dritten Aufzug vor den Finessen einer subtilen Dynamik nicht kapitulieren musste.




„Verträgen halte Treu'“ – Kann Castorf den „Ring“?

Er macht’s. Er, das ist Frank Castorf, Intendant der Berliner Volksbühne, Regie-Berserker und Stückezerfledderer. Er wagt sich ans Größte, Hehrste des musikalischen Theaters – also an Richard Wagners gewaltige, episch breite Trilogie „Der Ring des Nibelungen“. Kann er’s? Vor allem: Schafft er’s ausgerechnet am würdevollen Weihetempel namens Bayreuth? Die da das Sagen haben, Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier, rufen ein klares „Ja“.

So steht es also fest: 2013, im Jahr des 200. Geburtstags von Richard Wagner, inszeniert ein Beinahe-Grünschnabel in Sachen Opernregie den mächtigen Vierteiler des Genius. Was nicht unbedingt ein Problem sein muss: Christoph Marthaler, Christoph Schlingensief oder Werner Herzog waren auch nicht unbedingt die geborenen Opern-Deuter – auf dem Grünen Hügel lieferten sie Achtbares. Andererseits: Die Filmemacher Lars van Trier (Melancholia) und Wim Wenders (Der Himmel über Berlin) hatten vor dem „Ring“ bereits kapituliert, einen entsprechenden Bayreuther Auftrag dankend zurückgegeben.

Nun also Frank Castorf. Er ist im Revier kein Unbekannter. 2004 hatte der DGB den Einjahresintendanten ganz unsolidarisch vom Ruhrfestspielhof Recklinghausen gejagt. Weil das Publikum weggeblieben war. Niemand wollte sehenden Auges in eine Image-Katastrophe schlittern. Ein Regisseur aus (Ost)-Berlin, der gerne suburbanes Elend auf die Bühne wuchtete, war zuviel des Üblen.

Richard-Wagner-Büste im Garten auf Bayreuths Grünem Hügel, in grimmiger Erwartung.

An Opern wiederum hat sich Castorf bisher zweimal versucht. Giuseppe Verdis Eifersuchtsdrama „Otello“ brachte er 1998 in Basel heraus. Er geruhte, die Konventionen und Illusionen des Musiktheaters zu zerstören. Alles lief beiläufig ab, nichts berührte. 2006 folgten in Berlin „Die Meistersinger von Nürnberg“. Jedenfalls ein bisschen davon – mit Schauspielern und einem „Chor der werktätigen Volksbühne“, mit Textbrocken aus Ernst Tollers Revolutionsdrama „Masse – Mensch“.

Kann Castorf also den Ring in Bayreuth? Er wird sich an jede Note, jede Silbe halten müssen, sonst wird ihn der „Wagnerianer“  ins ewige Walküren-Feuer verbannen. Doch er hat einen Vorteil: Er ist, nach Wenders‘ Absage, der Retter in der Not. Ohnehin ist die Zeit knapp, einen anständigen Ring aus dem Boden zu stampfen. Im übrigen: Nach dem „Tannhäuser“, den Sebastian Baumgarten heuer in der Biogasanlage verortete, kann’s kaum schlimmer kommen.

Den wohl größten Skandal auf dem Grünen Hügel hat sowieso Patrice Chéreau zu verantworten. Dessen „Jahrhundertring“-Deutung (1976) datierte in Zeiten der Frühindustrialisierung – mit entsprechend antikapitalistischem Einschlag. Störungen im Festspielhaus und Debatten nach den Aufführungen, die bisweilen in Prügeleien kulminierten, waren das Ergebnis. So gesehen, soll Castorf ruhig kommen. Bayreuth ist bereit.