Wie sich Wahn in Wirklichkeit drängt: Erich Wolfgang Korngolds „Die tote Stadt“ an der Oper Köln

Stefan Vinke als Paul in Erich Wolfgang Korngolds Oper „Die tote Stadt“ in Köln. (Foto: Paul Leclaire)

Erich Wolfgang Korngolds „Die tote Stadt“ zu inszenieren, dürfte zu den schwierigsten Aufgaben für Regisseure gehören. Der Symbolismus der Vorlage Georges Rodenbachs („Bruges-la-morte“), das hoffmanneske Changieren zwischen dem Dämmer des Realen und dem Nebel des Traums, das Verschieben der Wahrnehmungsräume, in denen behauptete Lebenswirklichkeit mit Fantasien, Erinnerungen, Wunsch- und Wahnbildern im Kopf verschwimmen: Überzeugende Bühnenlösungen sind rar.

Aber die Rezeption von Korngolds vor 100 Jahren, am 4. Dezember 1920 in Köln und Hamburg gleichzeitig uraufgeführter Oper ist in den letzten Jahren in Schwung gekommen. Armin Petras in Bremen, Anselm Weber in Frankfurt und kurz vor der Pandemie Immo Karaman in Wuppertal etwa haben überzeugende szenische Lösungen vorgelegt.

Tatjana Gürbaca ist ihnen in Köln mit hohem Anspruch gefolgt. Die Premiere am 100. Jahrestag der Uraufführung konnte nicht vor Publikum stattfinden und wurde im Livestream übertragen; eine Serie von Aufführungen im Staatenhaus, der Ersatz- und mittlerweile beinahe Dauer-Spielstätte der Kölner Oper, folgte nun zu Beginn der Saison.

Sein und Schein im Seelenraum

Die breite Spielfläche des Staatenhauses nutzt Bühnenbildner Stefan Heyne für einen kreisrunden Aufbau: ein hoher Zylinder, der sich als Kaiser-Panorama identifizieren lässt – so nannte man einst den hölzernen Guckkasten, in dessen Inneren Bilder zu betrachten waren. Drum herum sitzen Menschen wie an einer Bar, unbeteiligt wie auf Bildern von Edward Hopper („Nighthawks“). Schon dieses Objekt exponiert die Spannung zwischen vermeintlich Realem und raffiniertem Schein: Das massive Möbelholz erweist sich als bloße Stoffmalerei. Wird der Vorhang weggezogen, liegt im Inneren ein surrealer Raum frei, den herabhängende Schnüre unterteilen und verunklaren, erfüllt von rätselhaften Gestalten und Gegenständen, die aus einem Bild von Paul Delvaux stammen könnten.

Spannung zwischen vermeintlich Realem und raffiniertem Schein: Stefan Heyne baut ein „Kaiser-Panorama“ als zentralen Spielort seiner Bühne. (Foto: Paul Leclaire)

In diesem Innenbereich hat sich der Künstler Paul, mit einem Pinsel als Attribut gekennzeichnet, die „Kirche des Gewesenen“ eingerichtet, mit der er seiner verstorbenen Frau Marie huldigt. Im Lauf des Abends erschließt sich dieser Gedankenraum. Er ist erfüllt von manifestierten Symbolen aus der Vorstellung Pauls, die sich verselbständigen und seine Wahrnehmung bestimmen. Drei Frauen in blauen Kleidern stehen offenbar für verschiedene Aspekte der Erinnerung an die Tote. Eine trägt das Haar, das wie eine Reliquie eine entscheidende Rolle spielen soll. Wenn Marietta, in der Paul bei einer zufälligen Begegnung seine „geliebte Tote“ wieder zu erkennen glaubt, in diesem Raum bei den Worten „Bin ich nicht schön?“ ein blaues Kleid anlegt, wird deutlich, dass die junge Frau mit dem Erinnerungsideal im Kopf des vereinsamten Mannes identisch wird.

Gürbaca arbeitet mit szenischen Signalen – einer blauen Laute, dem Haar der toten Marie, einem Kindertorso als Reinheitssymbol –, um die Spirale der Entillusionierung zu verdeutlichen, in der sich die Tänzerin Marietta immer weiter vom Entwurf des vielleicht nur imaginierten Vorbilds entfernt, bis Paul sie in einem Ausbruch höchster emotionaler Erregung erdrosselt. Diese Szenen sind diffizil erarbeitet, aber Gürbaca neigt – wie etwa auch in ihrem kürzlich wieder aufgenommenen Essener „Freischütz“ – dazu, die Vorgänge mit Details aufzuladen, die eher verunklaren als verdeutlichen.

Die falsche Auferstehung

Die bedeutungsvolle Theaterszene im zweiten Bild etwa, in der die teuflische Rückkehr dreier Nonnen aus dem Grab aus Giacomo Meyerbeers „Robert le Diable“ parodiert wird, knüpft in ihrer distanzierten Gestaltung keinen rechten Zusammenhang zum Rest der Inszenierung, obwohl in ihr etwas Entscheidendes verhandelt wird: Die Untoten thematisieren einen falschen Begriff von Auferstehung – genau jenen, der Pauls Imagination der „wiederkehrenden“ Marie zugrunde liegt und gegen den die Marietta der Außenwelt im Namen des Lebens den Kampf aufnimmt. Ein Kampf, der zum Ausstieg aus dem „Traum der Fantasie“ und zur Erkenntnis führt, es gebe kein Wiederauferstehen. Wer in Gürbacas Inszenierung die Leiche ist, die am Ende deutlich erkennbar in der Gedankenkirche Pauls liegt, bleibt sinnigerweise offen; ebenso unbestimmt bleibt, ob es Paul gelingt, Brügge (die „tote Stadt“) zu verlassen. Sein Freund Frank – von Gürbaca deutlich als „Alter Ego“ Pauls gestaltet – verlässt den Bannkreis des Unheils, Paul dagegen schneidet sich die Schlagader durch.

Korngold war ein begnadeter Virtuose der Instrumentierung, ein Sensualist der Klänge, aber auch ein Könner in der Konstruktion üppiger, schillernder Harmonien. Gabriel Feltz, GMD in Dortmund, kostet die sinnlichen Eruptionen der Musik passioniert aus. Aber das Gürzenich-Orchester sitzt zu breit auseinandergezogen, um die sublimen Mischungen des Klangs, die opalisierenden Effekte verschmelzender Instrumente, die Piano- und Mezzoforte-Raffinessen und Reibungen zu erreichen. So hört man unter Feltz‘ temperamentvoller Leitung mehr von der Technik Korngolds als von seinem koloristischen Zauber. Die Musik bleibt gleißend-kühl und oft sehr laut. Das Orchester wird von Feltz auch nicht so zurückgenommen, dass die Stellen, an denen sich Klangpracht und Kraft der Attacke entfalten könnte, vorbereitet und spannend ausgefüllt werden könnten.

Keine Gnade für die Sänger

Für die Sänger kennt Korngold keine Gnade. Die Partie des Paul dürfte eine der schwersten Tenorpartien im jugendlich-dramatischen Fach sein – und Stefan Vinke bringt ein unglaubliches Durchstehvermögen und bewundernswert ungebrochene Kraft mit. Er hat sich nach anfänglicher Beklemmung energisch freigesungen, verfügt auch in der gesteigerten Emphase des Finales noch über Reserven. Freilich bleiben bei einer so überhitzten vokalen Stichflamme die Momente des Zurücknehmens, der Melancholie, der lyrischen Bewegung äußerlich.

Auch Kristiane Kaiser powert sich durch die Partie der Marietta/Marie, singt durchgestützte Linien in hoher Tessitura, erschrickt nicht vor der drängenden Attacke. Ihr Sopran hat keinen sinnlichen Samt, kein geschmeidiges Legato. Kaiser rettet sich immer wieder in kraftvoll gepushte Töne. Mit Druck bleiben aber Farben und Klangdifferenzierung auf der Strecke. Eine eher imponierende als berührende Tour de force, die allerdings auch dem Dirigenten geschuldet ist: Auf die Sänger nimmt Feltz keine Rücksicht. Miljenko Turk lässt als Frank und als Pierrot einen noblen, technisch solide abgesicherten Bariton hören.

Szene aus der „Toten Stadt“ mit Dalia Schaechter als Brigitte (rechts). (Foto: Paul Leclaire)

Für Dalia Schaechter bietet die Partie der Haushälterin Brigitte keine stimmliche Herausforderung. Als Gegenspielerin von Marietta entfaltet sie aber ihre wunderbare Vertrautheit mit allen Nuancen der Bühnenkunst. Im Ausdruck untergründigen Begehrens, in den von Paul übersehenen Signale der Sehnsucht, beachtet zu werden, im Versuch, den Mann aus den Wirren seiner eigenen Imagination zu befreien und für sich zu gewinnen, zeigt sich die Meisterschaft der großen Darstellerin.

100 Jahre nach der Uraufführung bewegt sich diese Produktion der Kölner Oper auf der Höhe der Zeit und öffnet jenseits kulinarischer Opulenz den Weg zum Nachdenken über die Frage, wie Realität entsteht und welche Wirkung unsere innere Disposition auf das Erfassen unserer Welt hat. Wahrlich alles andere als ein belangloses Thema.

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Keine Erlösung: Webers „Freischütz“ als ausweglose Endlosschleife der Gewalt

Blutiges Kugelgießen: Maximilian Schmitt (Max) und Heiko Trinsinger (Kaspar) in Webers „Freischütz“ am Aalto-Theater Essen. Foto: Martin Kaufhold

Jetzt würde er gern wieder durch die Wälder und Auen streifen, Max der Jägerbursche. Allein: Auf der Bühne des Essener Aalto-Theaters ist der Wald zu einem einsamen dürren Ast verdorrt. Und die Auen liegen hinter einem düsteren Dorfanger, umstellt von schwarzen Haussilhouetten.

Ein „Exit“, wie mit Kreide an die Wand geschrieben, öffnet sich da nicht. GOTT steht in Spiegelschrift an der Wand, neben einem Kreuz. Den haben die Menschen also auch hinter sich gelassen, die sich „in Güte und Liebe“ lustvoll gezwungener Gewalt und kollektivem Sex hingeben. Allerlei magischer Krimskrams hilft nicht aus der Not: Das Pentagramma macht dem Teufel keine Pein, an die Wand genagelte Tierkörperteile setzen keine rettende Kräfte frei. Und das Böse spricht erst im Kollektiv und dann aus einem Wesen, das man im weißen Kleid als die reinste Unschuld betrachten würde. „Hier bin ich.“

Heiko Trinsinger als Kaspar. Foto; Martin Kaufhold

Tatjana Gürbaca hat in Essen aus Webers „Freischütz“ eine hoffnungslose Dystopie gemacht, aus der niemand entkommt. Das Kreuz an der Wand, an dem erst Max am Pranger steht, später Agathe gebannt wirkt, ist ein Passions-, aber kein Erlösungszeichen. Die Menschen wiederholen ihre Traumata, ihre uneingestandene Schuld, ihre verborgenen Qualen. Die Wolfsschlucht ist kein ferner Ort, sondern Zentrum der Gesellschaft, die ihre verdrängten Erinnerungen ritualisiert hat und von ihnen geschüttelt wird. Bis ins vierte Glied, so sagt die Bibel, würden die Sünden der Väter gerächt – und was damit gemeint ist, lässt Gürbaca auf der Bühne sehen: Die Untaten ereignen sich wie in einer traumatisierten Seele immer wieder. Gewalt und Erniedrigung in Endlosschleife.

Deutscher Wald oder Gefängnisdraht?

Am Ende kommt doch so etwas wie der „deutsche Wald“ zurück, oder ist es die Projektion von Stacheldraht? Klaus Grünbergs Bühne versinkt in einem schwarz-weißen Rauschen, aus dem sich wie Erinnerungs-Blitzlichter Bilder und Szenen manifestieren und wieder verschwinden. Gürbaca zertrümmert so die Erzählung des glücklichen Endes. Wer da auf wen oder was seine Hoffnung setzt, ist nicht mehr entscheidend. Der Weg hinaus ist ein Gleis, das in graue Ferne führt.

Oder endet es, wie eine Äußerung Gürbacas im Programmheft nahelegt, in Auschwitz? Die Romantik als Vorbereitung des deutschen Chauvinismus und letztendlich der Weltkriege und des Völkermords ist die These, mit der die Regisseurin ihre Inszenierung belädt und die sie mit der Projektion andeutet. Doch es gibt noch ein szenisches Signal: Die weißen Rosen sind erst zum Schluss zum Kranz gebunden: Es ist eine Totenkrone, ein Grabkranz oder was auch immer, das einsam vor der schwarzen Bühne leuchtet. Rettung ist in dieser Welt nicht möglich, vielleicht – das könnte man aus dem Rosenkranzmotiv als vage Hoffnung herauslesen – in der jenseitigen?

Kugeln aus blutiger Brust

Die unauffälligste Gestalt in dieser unheilvollen Welt ist Max: Sieht er den Probeschuss als Ausweg? Maximilian Schmitt beschwört die Erinnerung an eine unbeschwerte Existenz und seine Verzweiflung hingebungsvoll sorgfältig gestaltet und in der Tongebung frei. Ihm wühlt Kaspar in der Wolfsschlucht mit blutigen Händen die Freikugeln aus dem Körper, ein brutales Bild der inneren Not, die den dunklen Jägerburschen treibt. Heiko Trinsinger hat in seinem üppigen Bariton die abgründige Farbe der Drohung, den grinsenden Glanz der tückischen Trinksprüche und den verächtlichen Sarkasmus eines Menschen, der im Kampf ums Überleben alle Illusionen verloren hat – bis auf die, Samiel könne einen Ausweg öffnen und ihm doch noch die Frist verlängern.

Gürbaca betont die im Libretto nur angedeutete Dreiecksbeziehung zwischen den beiden Männern und Agathe: Kaspar tanzt am Ende des ersten Bildes mit ihr hinaus; in „Leise, leise“ lösen sich Max und Kaspar aus dem Schatten der Häuserzeile zu einem surrealen Trio mit Agathe. Hoffnung, Rettung verspricht sie sich wohl von Max, denn wenn all ihre „Pulse schlagen“, packt sie einen Koffer – eine jener Chiffren, die Gürbaca in überbordender Detailfülle einsetzt und die später in den „lebenden Bildern“ des Finales den Zuschauer nur noch überfluten. Rebecca Davis singt eine leichtgewichtige Agathe mit schlankem Ton, in den großen Bögen mit angefochtener Substanz und einem soubrettigen Anklang, in dem sich andeutet, was in forcierter Höhe bestätigt wird: Mit der Fundierung der Stimme im Körper ist es nicht weit her.

Befeuerte Musik

Kilian im Soldatenrock (zeitlich nicht festgelegte Kostüme: Silke Willrett), also alles andere als ein des Schießens ungeübter Bauer, ist von Rainer Maria Röhr mit schneidend greller Stimme passend gezeichnet; dem Fürsten, der sich vornehmlich um seinen Braten kümmert, gibt Tobias Greenhalgh nachdrückliche Sätze. Kuno (Karel Martin Ludvik) und die Schlüsselrolle des Finales, der von Christoph Seidl ansprechend gesungene Eremit, sind in diesem Konzept zu szenischer Blässe verurteilt. Die Brautjungfern sind ein Haufen graumausiger, streng gekleideter, aggressiver Frauen, aus denen Uta Schwarzkopf und Helga Wachter solistisch heraustreten. Auch Wendy Krikkens Ännchen kann szenisch kaum Profil gewinnen; gesanglich passt ihre frische, leichtgewichtige Stimme eher zu ihrem Auftritt im ersten Aufzug als zur ironisch-dramatischen Schilderung von „Nero, dem Kettenhund“.

Lustvolle Gewalt, aber „alles in Liebe und Güte“: Der Chor des Aalto-Theaters hat im „Freischütz“ eine Hauptrolle. Foto: Martin Kaufhold

Mit Chor und Statisterie hat der Leiter der Wiederaufnahme, Sascha Krohn, ganze Arbeit geleistet: Die exaltierte Bewegungsregie der Wolfsschluchtszene und die rasch wechselnden Positionen in den Bildern des Finales funktionieren. Auch musikalisch wirkt der Chor, einstudiert von Jens Bingert, auf der Höhe. Die Premiere im Dezember 2018 hatte Essens GMD Tomáš Netopil geleitet. Bei der Wiederaufnahme – passend zum 200. Jahrestag der Uraufführung des „Freischütz“ – steht sein Bremer Kollege Yoel Gamzou am Pult der glänzend aufgelegten Essener Philharmoniker.

Der Beginn der Ouvertüre wirkt zäh, trotz heftigen Körpereinsatzes bleibt die innere Spannung zunächst mäßig. Das ändert sich im Lauf des Abends, den Gamzou mit befeuernder Leidenschaft und energischer Kraft bestreitet, ohne Details zu übergehen oder sich an starren Tempi festzuhalten. Der Jägerchor wird bei ihm mit betonter, stampfender Regelmäßigkeit beinahe zur Parodie eines gemütvollen Männergesangsvereins. Mit diesem „Freischütz“ reiht sich Essen ein in die Bühnen, die in den letzten Jahren ambitionierte Regieansätze und komplexe Deutungen eingesetzt haben, um den Rang von Webers Oper als aktuelles Kunstwerk zu behaupten und zu bestätigen.

Weitere Vorstellungen am 24. Oktober und 14. November.
Info: www.theater-essen.de




Die Abgründe der Durchschnittstypen: Tatjana Gürbaca inszeniert Carl Maria von Webers Oper „Der Freischütz“

"Lebt denn kein Gott?" Max (Maximilian Schmitt) wird von der abergläubischen Dorfgemeinschaft mit Kreuzsymbolen behängt (Foto: Martin Kaufhold)

„Lebt denn kein Gott?“ Max (Maximilian Schmitt) wird von der abergläubischen Dorfgemeinschaft mit Kreuzsymbolen behängt. (Foto: Martin Kaufhold)

„Das Böse ist immer und überall“, sang einst eine Band österreichischer Blödelbarden mit dem schönen Namen Erste Allgemeine Verunsicherung. Das war zwar reichlich unernst gemeint, könnte unter Aussparung der Ironie aber das Motto gewesen sein, dem die Berliner Regisseurin Tatjana Gürbaca in ihrer Neufassung der Oper „Der Freischütz“ folgte. Das Schauerstück von Carl Maria von Weber, das jetzt im Essener Aalto-Theater Premiere hatte, spaltete das Publikum in Buh- und Bravo-Rufer.

Max (Maximilian Schmitt) wird von Ängsten geplagt. (Foto: Martin Kaufhold)

Gottesfern ist die von Ängsten und Aberglauben dominierte Welt nach dem Dreißigjährigen Krieg, in der Gürbaca und ihr Team die Handlung ansiedeln. Damit folgen sie den Vorstellungen des Komponisten und seines Librettisten Johann Friedrich Kind. Umstellt von schwarzen Häuschen mit spitzem Giebel (Bühne: Klaus Grünberg), kämpft der glücklose Jägersbursche Max um die Hand seiner geliebten Agathe, mit dem sinistren Freund Kaspar als zwielichtigem Helfer.

Aber die detailgenau gestalteten Kostüme von Silke Willrett lassen das Geschehen durch die Zeiten wandern. Zunächst klar die Mitte des 17. Jahrhunderts zitierend, rücken sie im Laufe des Abends immer näher an die Gegenwart heran. Am Ende stolpern Durchschnittstypen in Jogginghosen durch das, was vom deutschen Wald noch übrig ist: ein am Boden liegendes Gestrüpp, das allen Darstellern zur Fußangel wird.

Pardon wird nicht gegeben

Die inzwischen mehrfach ausgezeichnete 45-jährige Regisseurin, die ihr Handwerk unter anderem bei Ruth Berghaus und Peter Konwitschny lernte, spürt in der heimlichen deutschen Nationaloper Abgründen nach, die lange vor der berühmten Szene in der Wolfsschlucht wirkmächtig sind. Die Bewohner ihres archetypischen Dorfes sind der eigentliche Albtraum: Sie setzen Max unentwegt zu. Unerbittlicher Erfolgsdruck wird in dieser Gemeinschaft sekundiert von allzu rascher Bereitschaft zu Spott und Hohn. Da können kichernde Frauen in Kittelschürzen noch so hell von veilchenblauer Seide trällern: Der dörfliche Mikrokosmos ist ein finsteres Nest. Pardon wird in dieser Welt nicht gegeben.

Die komplett schwarze Bühne von Klaus Grünberg könnte auch als Kulisse für Otfried Preußlers „Krabat“ dienen. Mit Kreide sind magische Zeichen wie das Satorquadrat und ein Heptagramm an die Fassaden gekritzelt. Den okkulten Symbolen steht ein unvollendetes Kreuz mit der Aufschrift GOTT in Spiegelschrift gegenüber. Mitten auf dem Dorfplatz klafft ein Loch im Boden, aus dem in der Wolfsschluchtszene Düsteres an die Oberfläche steigt.

Blutiges Ritual: Kaspar (Heiko Trinsinger) beim „Gießen“ der Freikugeln. (Foto: Martin Kaufhold)

Dass dies psychologisch gemeint ist, Gürbaca mithin den Menschen selbst als Hort der Dämonen sieht, wird überdeutlich, wenn Kaspar die Freikugeln mit blutigen Händen aus Maxens Körper wühlt. Folgerichtig antwortet Samiel im Aalto-Theater nicht als unsichtbare Stimme aus dem Off. Es ist die Dorfgemeinschaft selbst, die mit dem Rücken zum Publikum die Zahl der Freikugeln mitzählt: seufzend zunächst, schauerlich flüsternd, dann zunehmend wüster und lauter.

Sinnlos gewordene Bräuche

Bis zum fatalen Probeschuss auf die weiße Taube erzählt die Regie stringent von alten Bräuchen und Machtstrukturen, die in einer vom Krieg komplett veränderten Welt schräg und sinnlos wirken. Den Rest der Oper gestaltet sie als Epilog, als eine Folge von Standbildern, die das Happy End durch den Eremiten verneint. Bewundernswert rasch und punktgenau wechseln die Choristen des Aalto-Theaters die Positionen, um diese symbolträchtigen Genrebilder entstehen zu lassen.

Gürbaca und ihr Team bieten so viel Futter für Auge und Hirn, dass es mancherorts gleich für drei Inszenierungen reichen würde. Ohne Schonung sezieren sie dabei Provinzialismus und Neid, kollektive Traumatisierungen, übersteigerte Traditionspflege und eine nachgerade gemütliche Spielart der Grausamkeit. Was „deutsch und echt“, interessiert sie weniger als gesellschaftliche Strukturen, die bis in unsere Zeit hineinwirken.

Kaspar (Heiko Trinsinger,l.) überredet Max (Maximilian Schmitt) zum nächtlichen Ausflug in die Wolfsschlucht. (Foto: Martin Kaufhold)

Das musikalische Niveau steht dem der Inszenierung kaum nach. Der aufstrebende Tenor Maximilian Schmitt ist ein Max, wie man ihn sich nur wünschen kann: mit lyrisch-leuchtendem Timbre, gleichwohl grundiert vom Unterton nagender Ängste. Ihm gelingt das vielseitige, spannende Porträt eines Gequälten, dem der Weg zur Liebe versperrt scheint. Ensemblemitglied Jessica Muirhead findet als Agathe aus dem Ton dunkler Vorahnungen zu den innig leuchtenden E-Dur-Klängen ihrer zentralen Arie („Und ob die Sonne“). Stark auch Heiko Trinsinger, der seinen Kaspar von rau-jovialen Tönen zu dämonischer Kraft steigert. Viel Applaus erntet Tamara Banjesevic für ihre Darstellung des Ännchens, dessen Fröhlichkeit bei ihr weniger naiv als beherzt wirkt.

Schauerromantik trotz Schönklang

Aus dem Orchestergraben steuern die Essener Philharmoniker unter ihrem Chef Tomas Netopil Glanzvolles und Gruseliges hinzu. Hörner und Holzbläser zaubern Waldesidylle herbei, die Streicher spielen mit wendigem Esprit. Gewiss wäre auch eine Lesart mit schärferen Kanten denkbar, aber die Schauerromantik kommt trotz Schönklang nicht zu kurz. Leise Tremoli ziehen auf wie gespenstischer Nebel. Dazu tönt dumpfer Paukenschlag, als stockte das Herz. Die Chöre, ebenfalls in erfreulicher Verfassung, zeigen viele Facetten. Als hohnlachende Dörfler, heitere Brautjungfern und gut gelaunte Jäger sind sie stimmlich präsent, aber auch als flüsternde und stöhnende Untote in der Wolfsschlucht.

Mit einer feierlich-stummen Kranzniederlegung beenden Gürbaca und ihr Team, was sie als „Requiem auf ein Dorf“ bezeichnen. Dazu zeigt eine Videoprojektion Bahngleise, die weiß Gott wohin führen mögen.

(Informationen und Termine: https://www.theater-essen.de/spielplan/a-z/der-freischuetz/)




Glücksmomente: „Lohengrin“ zurück im Aalto-Theater

Für drei Vorstellungen kehrt Richard Wagners „Lohengrin“ ins Aalto-Theater zurück. Und auch aus dem Abstand von über einem Jahr und vor dem kritischen Blick auf die Wiederaufnahme kann diese Produktion als eine der besten im Essener Repertoire bestehen.

Szene aus dem Essener "Lohengrin": Heiko Trinsinger (Telramund, Mitte oben), Jessica Muirhead (Elsa, Mitte unten), Chor und Statisterie. Foto: Forster.

Szene aus dem Essener „Lohengrin“: Heiko Trinsinger (Telramund, Mitte oben), Jessica Muirhead (Elsa, Mitte unten), Chor und Statisterie. (Foto: Forster)

Das liegt nicht allein an der komplexen Regie von Tatjana Gürbaca, die dem Wunder Raum gibt, ohne es zu banalisieren oder vorschnell zu erklären. Das liegt auch am Einsatz der Essener Philharmoniker und ihrem GMD Tomáš Netopil. Und an einem Ensemble, das nicht mit Luxusglamour aufwarten muss, um musikalisch voll und ganz zu überzeugen.

Im Vergleich zur Premiere (4. Dezember 2016) hat Netopil seine Lesart noch verfeinert: Die Mischungen des Klanges sind noch detaillierter modelliert, die Spannung zwischen schwebender ortloser Piano-Kultur und auftrumpfender, blechglänzender Pracht ist noch kühner ausgereizt.

Was auf der anderen Seite auffällt, ist ein Hang zum Ästhetisieren: Netopil setzt auf leuchtende, erfüllte Klang-Ereignisse, poliert die Konturen und ummantelt das Bedrohliche, Verstörende in der Musik mit schwarzem Samt. Lässt er wie in satten, markant ausmusizierten Momenten der tiefen Holzbläser einen expressiven Ton zu, wird er zum Ereignis. In der Dynamik greift er beherzt zu – aber es darf ruhig einmal sein, dass die Stimme eines Sängers ins Orchester gebettet ist, statt sich darüber zu erheben.

Bei aller Vorsicht gegenüber der eigenen Erinnerung und derartigen Vergleichen: Die Elsa Jessica Muirheads hat, gemessen an der Premiere, Sicherheit und Reife gewonnen. Sie strahlt auch im tiefsten Unglück einen Wesenskern selbstbewusster Würde aus und lässt damit den existenziellen Zusammenbruch am Ende umso tragischer erscheinen. Stimmlich hat sie ihren strahlenden Ton gerundet und in dramatischen Momenten und exponierten Höhen sicher im Körper verankert.

Sergey Skorokhodov, der Lohengrin auch am Mariinskij-Theater in Sankt Petersburg singt, bringt Leichtigkeit und italienischen Schmelz mit in die Partie und wird damit der fragilen Sanftheit lyrischer Bögen ebenso gerecht wie der dramatischen Attacke. In der Gralserzählung trifft er den glanzvollen Quartsprung, der das heilige Gefäß charakterisiert, ebenso wie die schwebende Verzückung für den Schimmer des Wunders.

Auf der Höhe seines Könnens agiert Heiko Trinsinger. Parallel zu einer anderen großen Bariton-Partie, Heinrich Marschners „Hans Heiling“, singt er am Aalto den Telramund und gestaltet Trotz, Schmerz und Wurt dieses mehrfach genarrten, an der Konsistenz seiner Weltsicht verzweifelnden Mannes auf sicherem Fundament, mit präsentem Glanz und modellhafter Artikulation, frei und strömend im Klang. Seiner Partnerin Rebecca Teem als Ortrud fällt es nicht leicht, auf diesem Niveau mitzuhalten: Dazu ist der Ton zu wenig frei gebildet, zu erzwungen emittiert, zu unfreiwillig grell im Timbre. Packende Momente hat sie dennoch immer dann, wenn sie sich vokal nicht exponieren muss, sondern charakterisierend gestalten kann.

Frank van Hove singt einen milden König Heinrich, der sich redlich, aber vergeblich bemüht, zu verstehen, mit welchem Kraftfeld er es in Brabant zu tun bekommt; Karel Martin Ludvik ist ein Heerrufer, der seine Stärke im Zentrum ausspielt. Der Chor von Jens Bingert knüpft an seine überzeugende Leistung in der Premiere an; Carolin Steffen-Maaß hat die auf präzises Timing und deutliche Zeichensprache angewiesene Inszenierung Tatjana Gürbacas für die Wiederaufnahme so einstudiert, dass von entscheidenden Details der Personenregie bis zur Wirkung der Massenszenen nichts als verloren bemerkt werden könnte.

Essen hat einen „Lohengrin“, der sich getrost in die Konkurrenz mit anderen Bühnen werfen kann.

Weitere Vorstellungen am 22. April und 6. Mai.




Nominierungen zum Theaterpreis „Der Faust“: Auszeichnungen für Oberhausen, Essen, Dortmund und Düsseldorf

DER FAUST - so sieht die Auszeichnung aus. Foto: Natalie Bothur

„Der Faust“ – so sieht die Auszeichnung aus. Foto: Natalie Bothur

Alle Achtung! Da kommt soeben die Pressemeldung des Deutschen Bühnenvereins zum Theaterpreis „Der Faust“ 2017 herein – und wir entdecken gleich mehrfach Nominierungen für Bühnen in Nordrhein-Westfalen.

Waren die Theater in NRW nicht sonst eher so ein Geschwader hässlicher Entlein, die schüchtern im Kielwasser der glanzvollen Schwäne aus Berlin, Hamburg etcetera mitpaddeln durften? Diesmal könnte es anders sein. Und dass ein nicht gerade auf Rosen gebettetes Theater wie Oberhausen in der Kategorie „Regie Schauspiel“ nach 2014 erneut für einen Preis infrage kommt, darf durchaus mit Stolz zur Kenntnis genommen werden. Neben Oberhausen stehen Düsseldorf, Essen und Dortmund in der Liste der „Faust“-Nominierungen.

„Látszatélet / Imitation of Life“ des unbequemen ungarischen Regisseurs Kornél Mundruczó soll einen „Faust“ für die beste Schauspiel-Regie erhalten. „Dieser Abend wühlt auf und wühlt im Zuschauer“, schreibt der Kritiker Sascha Krieger über die Oberhausener Premiere im Juni 2016. In der Kooperation des ungarischen Proton Theaters – eines der kritischen Ensembles, die keine staatliche Unterstützung mehr bekommen –, der Wiener Festwochen und weiterer Partner geht es um Alltagsrassismus und Ausgrenzung am Beispiel einer Roma-Familie. Krieger: „Es ist der Kreislauf von Hass und Ausgrenzung, den Mundruczó an diesem Abend zeichnet. Ein intensiver, stiller Abend, an dem man zuweilen kaum hinsehen will.“

Einen Regie-Faust hat für NRW auch Johanna Pramls „Sommernachtstraum“ am Schauspielhaus Düsseldorf in Aussicht. Auf der neu gegründeten Bürgerbühne entwickelte die 1980 in Offenbach geborene, mehrfach ausgezeichnete Regisseurin ihr Projekt gemeinsam mit Laien und Schauspielern. Am Freitag, 6., und Sonntag, 8. Oktober ist das Ergebnis noch einmal zu sehen. Der Kritiker Stefan Keim sagt dazu, das Verwirrspiel frei nach Shakespeare sei „wunderbar sympathisch, selbstironisch und auch mutig, denn die Darsteller erzählen von ihren eigenen Träumen, von ihren Ängsten und dann wird es auch richtig magisch.“

Das Wunder wird sinnlich erfahrbar: Der Schwan (Aron Gergely) und Lohengrin (Daniel Johansson). Foto: Forster

Szene aus Tatjana Gürbacas „Lohengrin“-Inszenierung in Essen, nominiert für den Theaterpreis „Der Faust“: der Schwan (Aron Gergely) und Lohengrin (Daniel Johansson). Foto: Forster

Im Musiktheater steht neben Paul-Georg Dittrichs Berlioz-Deutung in „La Damnation de Faust“ am Theater Bremen und Christoph Marthalers „Lulu“ in Hamburg die Essener „Lohengrin“-Inszenierung Tatjana Gürbacas auf der „Faust“-Liste. In einem beziehungsreichen Bühnenbild Marc Weegers hat Gürbaca im Aalto-Theater Wagners häufig interpretiertes Werk in einer klugen, komplexen Regie an die Gegenwart angenähert, ohne die Deutungswege der letzten Jahre weiter auszutreten, aber auch ohne in die Extreme verstiegenen Überbaus zu flüchten oder das Heil in der Rückkehr zu Opulenz und Konvention zu suchen. Sie inszenierte weder ein „Künstlerdrama“ noch eine bloß politische Parabel, sondern gab der Offenheit des Dramas, dem „Wunder“ einen sinnlich und sinnhaft ausgedeuteten Raum. Ab 18. April 2018 ist Gürbacas Inszenierung in der Wiederaufnahme in Essen wieder zu erleben.

Im Bereich Bühne/Kostüm konnte sich Dortmund – nach Pia Maria Mackerts Bühne zu „Das goldene Zeitalter – 100 Wege dem Schicksal die Show zu stehlen“ 2014 – wieder eine „Faust“-Nominierung sichern: Michael Sieberock-Serafimowitsch (Bühne) und Mona Ulrich (Kostüm) erhielten sie für ihre Ausstattung von „Die Borderline Prozession“ am Schauspiel Dortmund. Im Megastore erarbeiteten Kay Voges, Dirk Baumann und Alexander Kerlin ein aufwendiges Gesamtkunstwerk: eine detailreich ausgestattete Villa, bewohnt von Schauspielern und umzogen von einer Prozession. Eine „verstörende Lebens-Geisterbahn“ nennt Rezensentin Dorothea Marcus die Produktion; eine „philosophische Welt-Installation über das Draußen und das Drinnen, Arm und Reich, Grenzen und Übergänge. Darüber, wie Bilder und Worte den Blick auf das Echte verstellen können.“ Die „Borderline Prozession“ war zum Berliner Theatertreffen 2017 eingeladen und wird bis 14. Oktober noch fünf Mal im Dortmunder Megastore gezeigt.

Einen „Faust“ für Choreografie kann Dewey Dells „Sleep Technique – Eine Antwort an die Höhle“ erhalten; eine Performance, die in der Berliner Tanzfabrik und im März 2017 in PACT Zollverein ihre Uraufführung feierte. Die 2007 gegründete Kompanie Dewey Dell hat als Team – als Choreographin wird Teodora Castellucci genannt – eine „poetische Reise zu den Tiefen des Ursprungs europäischer Kultur“ entwickelt. Auch diese Arbeit versteht sich als ein Gesamtkunstwerk aus Choreographie, Musik, Bühnenbild und Licht.

Der Deutsche Theaterpreis „Der Faust“ wird am Freitag, 3. November 2017 im Schauspiel Leipzig zum zwölften Mal verliehen. Der undotierte Preis umfasst Auszeichnungen in acht Kategorien sowie den Preis für das Lebenswerk, den in diesem Jahr die österreichische Schriftstellerin Elfriede Jelinek erhält. In der Begründung heißt es: „Als eine der prominentesten Mitgestalterinnen der Umbrüche im deutschsprachigen Theater nach 1968 hat sie mit ihrer Absage an traditionelle dramatische Strukturen und mit ihren wortgewaltigen, sprachlich verdichteten Textflächen eine neue Richtung vorgegeben.“ – Zum ersten Mal wurde der Theaterpreis 2006 im Aalto-Theater Essen vergeben. Damals ging je eine „Faust“-Nominierung nach Düsseldorf, Essen und Moers.




Raum für das Wunder: Wagners „Lohengrin“ fasziniert am Aalto Theater Essen

Das Wunder wird sinnlich erfahrbar: Der Schwan (Aron Gergely) und Lohengrin (Daniel Johansson). Foto: Forster

Das Wunder wird sinnlich erfahrbar: Der Schwan (Aron Gergely) und Lohengrin (Daniel Johansson). Foto: Forster

Der Zusammenbruch ist vollkommen. Elsa, entleibt im blutigen Hochzeitsgewand, Ortrud, weinend über dem Sarg des toten Telramund. Der Herzog von Brabant, ein blindes Kind, das in einer Uniform über die Bühne torkelt. Der Rückzug Lohengrins ist nicht das Ende eines wundersam romantischen Liebesmärchens, sondern die Katastrophe einer haltlos zurückgelassenen Gesellschaft. Was da bleibt, ist der Krieg: Ein Bischof in vollem Ornat segnet die Soldaten König Heinrichs, lässt sie von Messdienern beweihräuchern. Wo die wahre Transzendenz verbannt ist, macht sich die falsche breit.

Tatjana Gürbaca hat am Aalto Theater Essen Richard Wagners „Lohengrin“ in einer klugen, komplexen Regie an die Gegenwart angenähert, ohne die Deutungswege der letzten Jahre weiter auszutreten, aber auch ohne in die Extreme verstiegenen Überbaus zu flüchten oder das Heil in der Rückkehr zu Opulenz und Konvention zu suchen. Das ist bei einem permanent über-inszenierten Komponisten wie Wagner ein Kunststück. Gürbaca liest also das Märchen vom gescheiterten Schwanenritter nicht als Künstlerdrama – wie es Äußerungen Wagners nahelegen –, sie inszeniert keine bloß politische Parabel, sondern sie versucht, dem „Wunder“ Raum, Sinn und Deutung zu geben.

Ein Vorhaben, das bei einer konsequent säkularisierten Sicht auf Wagners rätselvolle Oper kaum durchzuhalten ist. Der Einbruch einer metaphysischen Sphäre in die Welt der Brabanter ist so fundamental für das Stück, dass weder die tapfere Negation noch die Reduktion auf den – durchaus vorhandenen – Aspekt einer charismatischen Politik tragfähig sind. Wagner selbst beschrieb „Lohengrin“ als Berührung einer übersinnlichen Erscheinung mit der menschlichen Natur. Ohne diesen Aspekt ist etwa der Sinn des Frageverbots nicht erschließbar.

Mit unglaublicher Präzision gespielter Kind-Schwan

Gürbacas Bühnenbildner Marc Weeger baut ein beängstigend enges Gebilde ins Zentrum der Bühne, eine weiß strahlende Treppe, begrenzt von hohen Wänden, viel zu eng für die Massen, die sich auf den Stufen drängen und formieren. Lohengrins Erscheinen vollzieht sich unspektakulär. Er ist ein Mensch wie alle, den Silke Willrett in Mantel und Hut steckt und damit an die unbehausten dämonischen Figuren der romantischen Oper wie Marschners Hans Heiling oder Wagners Holländer erinnert. Ihm wird ein Kind von oben herab zugereicht, das als „Schwan“ erklärt wird. Telramund und Ortrud sind die einzigen, die sich aus dieser begrenzten Sphäre herausbegeben – auch das schon ein signifikantes Detail. Telramund fällt, als der Kleine einen Arm hebt: Die transzendente Macht, die Lohengrin begleitet, bewirkt sein Verderben.

"Lohengrin" in Essen: Jessica Muirhead (Elsa) und Aron Gergely (Der Schwan). Foto: Forster

„Lohengrin“ in Essen: Jessica Muirhead (Elsa) und Aron Gergely (Der Schwan). Foto: Forster

Mit diesem Kind-Schwan, von Aron Gergely mit unglaublicher Präzision gespielt, holt Gürbaca das „Wunderbare“ sinnlich in das Stück, zeigt sein Wirken, die eng mit der Person Lohengrins verbunden ist, aber sich nicht völlig mit ihm identifizieren lässt. Während Elsa und die Menge den Sieg bejubeln, klettert der Kleine nach oben und geht unbeachtet ab.

Den zweiten Aufzug inszeniert Gürbaca als eine subtile Studie über die Psychologie von Macht und Abhängigkeit, beginnend mit dem grellen Licht, das auf Ortrud fällt, während das Orchester in dunkel-fahlen Holzbläserfarben mit Quinte, Tritonus und der Paralleltonart fis-Moll das reine A-Dur der Gralssphäre in Frage stellt. Und gipfelnd in der Aktion Telramunds, der die beengte Bühnenskulptur aufdrückt und den verwundert staunenden Menschen das weite, unergründliche Schwarz des Raums öffnet. Telramund, der nicht versteht, was da in seine rational geordnete, schlüssige Weltsicht eingebrochen ist, packt das Kind, schüttelt es so verzweifelt, als wolle er die Antwort aus dem Körperchen herauszwingen. Aber der Kleine geht zu Lohengrin, der den Zweifel noch einmal besiegen kann.

Im dritten Aufzug wird das nicht mehr möglich sein: Gürbaca macht die Unvereinbarkeit der Welten des Grals und des Herzogtums Brabant, des Göttlichen und des Irdischen, oder – so Wagner – des Wunders und der Liebe sinnlich greifbar. Lohengrin kann die Frage nach „Nam‘ und Art“ nicht zulassen, denn das Metaphysische, das er repräsentiert, wäre mit keiner Sprache jemals umfassend und damit wahr zu beschreiben – es entzieht sich dem definierenden Wort. Elsa aber muss die Frage stellen, will sie die Liebe ernst nehmen, die – auch hier sei Wagner zitiert – nach Erkenntnis strebt und das Wesen des Geliebten ergründen will.

Diese tragische Unvereinbarkeit darzustellen, gelingt Gürbaca eindrucksvoll. Wenn Lohengrin sich Elsa zuwendet – zum ersten Mal allein! –, legt er das Kind am oberen Rand der Stufen des weißen Raumes ab. Aber der „Schwan“ warnt, als sich Elsa und Lohengrin zur ersten Umarmung nahekommen, wälzt sich von Stufe zu Stufe auf Elsa zu.

Die Interaktion des Paares ist ständig auf den Bezugspunkt dieses lebendigen Symbols des Wunderbaren bezogen – und als die verhängnisvolle Frage gestellt ist, streckt der Kleine den Arm aus („Der Schwan, der Schwan!“), nimmt Lohengrin an der Hand – und der Raum dreht sich: eine riesige, schwarze Treppe mit viel zu hohen Stufen, verbaut mit Baumstämmen, als sei ein Scheiterhaufen zu errichten. Ein bezwingendes Bild trostlosen Zusammenbruchs.

Detaillierte und vielschichtige Personenführung

Gürbacas Regie überzeugt nicht nur auf dieser Ebene metaphorischer Darstellung; die Regisseurin löst auch den Anspruch an eine detaillierte, vielschichtige Personenführung ein, der die meisten ihrer bisherigen Arbeiten – auch die nicht so gelungenen – ausgezeichnet hat. Die Ortrud von Katrin Kapplusch etwa ist kein wildes Biest, sondern eine zunächst rational abwägende, sich dann in ihre politische Vision steigernde Frau, die am Ende erkennt, dass der Rückzug Lohengrins die Katastrophe schlechthin ist und einen Moment rührender Solidarität mit Elsa zeigt. Heiko Trinsinger gebärdet sich desto gewalttätiger, je schmerzhafter er seine eigene Ohnmacht erfährt, gespeist aus einem fast schon tragischen Nichtverstehen, das ihm die Sphäre Lohengrins verschließt.

Eindrucksvolle Darsteller: Heiko Trinsinger (Telramund) und Katrin Kapplusch (Ortrud). Foto: Forster

Eindrucksvolle Darsteller: Heiko Trinsinger (Telramund) und Katrin Kapplusch (Ortrud). Foto: Forster

Mit Jessica Muirhead hat das Aalto Ensemble eine Elsa in seinen Reihen, die sich darstellerisch die Rolle nahezu ideal erarbeitet hat: Vom verschüchterten Opfer eines undurchschaubaren Verhängnisses bis zur selbstbewusst fragenden Liebenden und zur hoffnungslos gestrandeten Existenz überzeugt ihr Spiel, ihre Erscheinung, ihre Körpersprache. Ihr kristalliner Sopran betont die mädchenhaften Züge der Figur, zeigt sich klangschön von der besten Seite, wo helles Piano und sanftes Mezzoforte gefragt ist. Die dramatischeren Momente des zweiten und dritten Akts lassen den schlanken Ton bisweilen eng werden. Die Stimme ist an ihre Grenze geführt, wird aber nicht überfordert.

Katrin Kapplusch punktet als Ortrud, wo sie die Klänge des Schmeichlerischen, des Höhnischen, aber auch den Tonfall lapidarer Grausamkeit und intellektueller Schärfe trifft. „Entweihte Götter“ wirkt nicht durch die Wucht einer großen Stimme, sondern durch den aggressiv-gefährlichen Ton, in den Kapplusch diese Paradestelle kleidet. Eine durch und durch fesselnde Gestaltung.

Heiko Trinsinger dagegen hat die vokale Wucht, um Wut und Verzweiflung des Telramund herauszuschleudern. Manchmal geschieht das mit viel Druck, den einzusetzen der Sänger nicht nötig hätte. Sobald die Töne frei gebildet werden, tragen sie die ausgezeichnete Artikulation, die jedem Wort Gewicht und Ausdruck gibt.

Almas Svilpa porträtiert den König Heinrich mit einem untrüglichen Bass-Fundament einen in seinem ehrlichen Bemühen nicht unsympathischen König; Martijn Cornet stößt als Heerrufer an deutliche Grenzen. Daniel Johansson als Lohengrin schafft den Spagat zwischen lyrischer Noblesse und dramatischer Attacke; er singt mit konzentriertem, stets sauber geführtem Ton, auch in der Gralserzählung mit abgesicherten Piani. Vor allem ist er auch ein Darsteller, bei dem stimmliche Expressivität und szenische Aktion korrespondieren.

Tomás Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker, überzeugt mit Wagners "Lohengrin". Foto: Hamza Saad

Tomás Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker, überzeugt mit Wagners „Lohengrin“. Foto: Hamza Saad

Was Tomáš Netopil und die Essener Philharmoniker leisten, könnte man ein unfassbar hehres Wunder nennen – aber die Beschreibung hinkt, weil dieser „Lohengrin“ auf ein Niveau aufsetzt, das sich immer wieder als zuverlässig und stabil erweist.

Das Orchester meistert jede Hürde mit großer Klasse, die Streicher sind in den offenen Stellen ganz bei sich, die Holzbläser haben bezaubernde Momente en masse, das Blech trägt nie dick auf oder drängt sich vor. Netopil zaubert das Vorspiel wie eine Vision reinsten Klangs ohne räumliche Verortung, erfasst aber auch, wie sich der Klang in Rhythmus und Melodie verdichtet, tariert das allmählich wachsenden Crescendo mit Gespür für die Innenspannung aus. Das Vorspiel zum dritten Aufzug hat Energie und Leuchtkraft, ohne zu schmettern.

Netopil trägt auch die Sänger, erstickt sie nie im Klang und kann so die Subtilitäten von Wagners Partitur darstellen, ohne auf der anderen Seite Glanz und Pracht zu verraten. Das war Orchesterglück auf Spitzenniveau – und Essen hat damit klar gemacht, dass sich andere Opernhäuser der Region durchaus strecken müssen, um da mitzuhalten.

Nicht zu vergessen ist der Chor von Jens Bingert, überzeugend nicht nur in Momenten treffsicherer Präzision, sondern auch in einer differenziert ausgehörten Staffelung des Klangs und in der Vielfalt dynamischer Nuancen.

Mit diesem „Lohengrin“ hat Essen nach dem „Parsifal“-Fehlschlag am Ende der Ära Soltesz wieder einen Wagner im Repertoire, der szenisch wie musikalisch keinen Vergleich zu scheuen braucht.

Die nächsten Vorstellungen: 7. und 11. Januar, 26. März, 1.April 2017. Info: http://www.aalto-musiktheater.de/premieren/lohengrin.htm

Das Aalto-Theater hat ein Wagner-Spezial-Abo aufgelegt: Zum Gesamtpreis von 50 Euro können die Vorstellungen am 25. Februar (Tristan und Isolde) und 1. April 2017 (Lohengrin), jeweils um 18 Uhr, besucht werden. Erhältlich ist das Abo unter Tel.: (0201) 81 22 200.

Nächste Premiere einer „Lohengrin“-Inszenierung in der Region: Samstag, 15. April 2017, im Theater Krefeld. http://www.theater-kr-mg.de/spielplan/inszenierung/lohengrin/. 




Reise ins Innere: Detlev Glanerts „Solaris“ nach Stanislaw Lem an der Oper Köln

Detlev Glanerts "Solaris" im atmosphärisch dichten Bühnenbild von Darko Petrovic. Foto: Bernd Uhlig

Detlev Glanerts „Solaris“ im atmosphärisch dichten Bühnenbild von Darko Petrovic. Foto: Bernd Uhlig

Spannende Zeiten in Köln. Während etwa in Düsseldorf an der Deutschen Oper am Rhein eine sichere Nummer nach der anderen abgearbeitet wird, zeigt der Opern-Herbst in der Domstadt, wie erfindungsreich Repertoirepolitik sein kann.

Auf Johann Adolph Hasses in Schwetzingen wieder ausgegrabene Oper „Leucippo“ folgte nun die deutsche Erstaufführung von „Solaris“, mittlerweile die dritte in Köln gespielte Oper Detlev Glanerts. Bleibt Intendantin Brigit Meyer bei diesem Kurs, wird einem um die künftige Vielfalt nicht bange.

„Solaris“ nach einem erfolgreichen Roman des polnischen Autors Stanislaw Lem wurde 2012 in Bregenz uraufgeführt. Die Inszenierung von Moshe Leiser und Patrice Caurier sollte an die Komische Oper Berlin übernommen werden, was – laut Glanerts Aussage in einem Interview – ohne Nennung von Gründen unterblieb. Man kann sich vorstellen, dass die illustrative, an Raumschiff-Enterprise-Ästhetik gemahnende Bilderfindung des Duos bei Barrie Kosky keine Gegenliebe entzündete: Er kündigte für 2015/16 eine eigene Neuinszenierung an.

Nun hat Köln zugegriffen und sich die deutsche Erstaufführung gesichert. Mit Patrick Kinmonth (Gesamtkonzept und Regie), Darico Petrovic (Bühne), Annina von Pfuel (Kostüme) und Andreas Grüter (Licht) wurde ein Team verpflichtet, das mit starken, differenziert ausgeleuchteten Bildern den Blick von der Science-Fiction-Oper weglenkt. Das entspricht der These, nach der Lems „Solaris“ weniger eine Reise in die unendlichen Weiten des Alls beabsichtigt, sondern tief ins Innere des Menschen mit seinen uneingestandenen Wünschen und seinen einsamen Verletzungen führt.

Aoife Miskelly als Harey in Glanerts "Solaris" in Köln. Foto: Bernd Uhlig

Aoife Miskelly als Harey in Glanerts „Solaris“ in Köln. Foto: Bernd Uhlig

Die Raumstation über dem Forschungsobjekt, einem planetenumspannenden, rätselhaften Plasma-Ozean, steht auf stählernen Gitterträgern und zeigt mit zerbröselnd rostigem Stahlbeton das Stadium finalen Zerfalls. Ähnlich ruinös sind die Verhältnisse an Bord: Der Wissenschaftler Gibarian hat sich selbst getötet, sein Kollege Sartorius verschanzt sich in seinem Labor, der dritte, Snaut, irrt scheinbar halb wahnsinnig durch die Station.

Das Solaris-Plasmawesen liest die traumatischen, „abgekapselten“ Erinnerungen der Forscher aus den Gehirnen heraus und lässt sie materialisiert als menschliche Wesen auf der Station erscheinen. Das Entsetzliche ist, dass diese „Gäste“ aus den verborgensten Winkeln der Psyche stammen: „….unsere eigene monströse Hässlichkeit, unsere Albernheit und unsere Schande“, wie der Forscher Snaut formuliert. Dem neu eingetroffenen Psychologen Kris Kelvin begegnet seine junge Frau Harey. Sie beging Jahre vorher Selbstmord – an dem sich Kelvin mitschuldig fühlt.

Metapher absoluter Fremdheit

Lem und mit ihm Glanerts anfangs des Jahres verstorbener Librettist Reinhard Palm setzen den einsamen Ozean als Metapher absoluter Fremdheit ein. Es wird nicht einmal klar, ob die Plasma-Manifestationen, gebildet nach den Traumata der Forscher, Versuche der Kommunikation einer Intelligenz, spielerische Ausformungen eines kindlichen Wesens oder Schöpfungsversuche eines unvollkommenen Gottes sind. Aber am Beispiel von Kelvins Frau Harey erweist sich, dass sich die Wesen aus dem Plasma nach und nach von den Gedanken-Matrizen ihrer Verursacher emanzipieren, selbständig werden, eine eigene Persönlichkeit entwickeln.

Ein anderer, wichtigerer Aspekt von „Solaris“ ist der einer Selbsterkenntnis: „Menschen suchen wir, niemanden sonst. Wir brauchen keine anderen Welten, wir brauchen Spiegel“, resümiert Kelvin. So wird die Reise zu den Sternen zu einer Reise zu sich selbst. Dass Kelvin am Ende den Ozean aufsucht, spricht freilich dafür, dass der auf sich selbst zurückgeworfene Mensch trotz allem das große „Andere“ sucht: Ohne Hoffnung, aber in Erwartung, und mit einem Glauben. Solaris als großes Gegenüber, das dem einsamen Einzelnen in der absoluten Verschiedenheit sich selbst offenbart. Vielleicht der „Gott“, den der Mensch – so meint Glanert – in aller Erforschung des Jenseitigen und des Weltraums sucht?

Der Inszenierung Kinmonths fehlen bei aller szenischen Sorgfalt, bei aller Intensität, mit der er die Personen führt und charakterisiert, der Aspekt der Fremdheit und das Element der Überraschung. Die „Gäste“ schleichen sich unspektakulär ein, ohne dass ihre verstörende Präsenz spürbar wird. Der Chor, der den Ozean repräsentiert, agiert sichtbar in Alltagskleidern auf der wasserbedeckten Bühne, bewegt sich in fließenden, ritualartigen Choreografien: das Fremde bleibt gleichwohl unausgedeutet. Den Reiz des Geheimnisvollen, Uneindeutigen will Kinmonth allein mit der Interaktion der Personen gewinnen. Doch die Verweigerung der Metaphysik führt ins Alltägliche, Lems Kritik an einem platten Empirismus bleibt stumpf.

Vordringen in die Tiefenschichten der Partitur

Umso faszinierender dringt Lothar Zagrosek in die Tiefenschichten von Glanerts Partitur vor. Mit dem erfahrenen Dirigenten am Pult vollbringt das Gürzenich-Orchester Wunder klanglicher Differenzierungen. Optimal auf die akustischen Verhältnisse des Opernzelts am Dom eingerichtet, werden die atmosphärischen Qualitäten von Glanerts Musik ausgeschöpft: das Spiel mit minimalen klanglichen Verschiebungen wie bei Ligeti, der Mut zum expressiven gesanglichen Bogen wie in der zeitgenössischen amerikanischen Oper, aber auch die Schärfe der Kontraste wie bei Glanerts Lehrer Henze.

Die Disziplin der Musiker ist beispielhaft, die Klangentwicklung in jedem Moment beherrscht. Glanert bezieht sich auf musikalische Traditionen – etwa auf Wagners „Rheingold“ in dem emblematischen Viertonmotiv des Beginns und in seinen raunenden liegenden Akkorden –, verwendet vertraute Formen etwa in Final-Ensembles. Das wirkt in keinem Moment imitierend oder epigonal, sondern ist kreativ ins Heute transferiert.

Gesungen wird in Köln mit hohem Einsatz und ausgefeilter Charakterisierungskunst: Nikolay Borchev gestaltet einen Kris Kelvin zwischen Schock und Zärtlichkeit, Martin Koch gibt Snaut die Züge eines weisen Hysterikers, Bjarni Thor Kristinssons Bass versucht in klangüppiger Deklamation, die Reste seiner Wissenschaftler-Fassade zu sichern. Unter den „Gästen“ singt Qiulin Zhang mit strömendem Alt eine fast zu schöne, dann aber auch abgründig düstere Baboon – ein rätselhaftes Wesen, halb Frau, halb Äffin. Der Mutter Snauts, mit der er offenbar ein inzestuös fäkalophiles Verhältnis pflegte, gibt Dalia Schaechter schneidend-schmeichelnde Kommandotöne. Hanna Herfurtner fegt mit obszönen Sätzen als „Zwerg“ über die Szene – das Gespenst, das Sartorius peinigt. Und die tragende Rolle der Harey wird von Aoife Miskelly sehr zart, glaubwürdig und sensibel gestaltet – auch wenn das kopfige Stimmchen schon beim Orchester-Mezzoforte keine Chance mehr hat.

Szene aus Hasses "Leucippo" mit Regina Richter als Dafne und Valer Sabadus als Leucippo. Foto: Paul Leclaire

Szene aus Hasses „Leucippo“ mit Regina Richter als Dafne und Valer Sabadus als Leucippo. Foto: Paul Leclaire

Glanerts Oper bietet noch einiges an Deutungspotenzial; die Vorfreude auf die Berliner Produktion – und vielleicht weitere an anderen Häusern – konnte die beachtliche Kölner Inszenierung auf jeden Fall fördern.

Bei Hasses „Leucippo“ bleibt der Wunsch nach einem Wiedersehen auf der Bühne verhaltener. Auch wenn Tatjana Gürbaca den Mythos aus dem Arkadien des Daphne-Apoll-Mythenzyklus intelligent als eine Geschichte unter der Gegenwart nahe gerückten Teenagern erzählt, auch wenn die Zerstörung einer kindlich ungebrochenen Welt durch das verstörende Aufbrechen sexuellen Begehrens kein Thema von Gestern ist, auch wenn Gianluca Capuano mit den feurigen Musikern des Concerto Köln die prächtige, manchmal aber auch einförmige Musik Hasses aufregend zum Klingen bringt: Rettung verheißt dem langatmigen Stück auch dieser ambitionierte Versuch nicht. Immerhin: Mit Valer Sabadus als Leucippo stand einer der Counter-Stars der Gegenwart auf der Bühne; von Clara Ek als Climene war kluge, technisch versierte Stilistik zu hören. Und die Momente, in denen aufblitzt, was Hasses Musik auch heute noch wertvoll macht, waren den Besuch im Palladium allemal wert.