Olympische Spielstraße, München, 1972 – Erinnerungen an ein fröhliches Projekt, dem der Terror ein jähes Ende setzte

Abschnitt der Spielstraße mit erkennbar entspannten Besuchern. Weiße Luftballons markierten Hotspots des Parcours. (Foto: Urbane Künste Ruhr 2020 / Henning Rogge)

Der Mann im Hamsterrad hatte eine beeindruckende Ausdauer. Jeden Tag lief er seinen Marathon, und er schonte sich nicht. Die Fußverletzungen, die er sich im Rad zuzog, mussten schließlich sportärztlich behandelt werden.

Gleichwohl war er nicht Sportler, sondern Künstler: Timm Ulrichs, der vor wenigen Monaten seinen 80. Geburtstag feierte, prangerte vor bald 50 Jahren in seinem Hamsterrad – auch die Bezeichnung Tretmühle wäre wohl zulässig – die scheinbare Sinnlosigkeit körperlicher Leistungserbringung zu Sportzwecken an. Und seine Aktion wurde lebhaft wahrgenommen, stand das überdimensionale Hamsterrad doch auf der „Spielstraße“ der Olympischen Spiele in München. 1972 war das, verdammt lang her.

Wohl eine Performance, über die wir nichts Näheres wissen. Doch die Ballons kennen wir. (Foto: Skulpturenmuseum Glaskasten Marl)

Von Werner Ruhnau geplant

Die Spielstraße hatte der Essener Architekt Werner Ruhnau konzipiert, den man im Ruhrgebiet vor allem wohl wegen des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier kennt, das 1959 eröffnet wurde. Verbindendes zwischen einem Spaßparcours für die breiten Massen und einem opulent verglasten Musentempel springt möglicherweise nicht sofort ins Auge, doch wohnt beiden das Bestreben inne, Abgrenzungen in der Gesellschaft abzubauen, kulturelle Aktivitäten als partizipative Projekte zu gestalten und allen zu öffnen. Ruhnau war also durchaus der Richtige für die Münchener Spielstraße.

Anschlag auf die israelische Olympiamannschaft 

Dann kam der schreckliche Anschlag auf die israelische Olympiamannschaft, bei dem alle elf Geiseln starben. Zwar gingen die Spiele anschließend weiter, doch die Spielstraße wurde abgebaut, weggepackt und fast vergessen. Jetzt erinnert eine Ausstellung im Marler Kunstmuseum „Glaskasten“ an das Projekt.

Blick in die liebevoll zusammengestellte Ausstellung im Glaskasten Marl. (Foto: Urbane Künste Ruhr 2020 / Henning Rogge)

Wertvolle Eindrücke

Zusammen mit der Künstlerin Jana Kerima Stolzer und Britta Peters von Urbane Künste Ruhr hat Glaskastendirektor Georg Elben die Ausstellung konzipiert. Die Exponate stammen ausnahmslos aus dem Archiv Ruhnau, von irgendeiner Vollständigkeit kann natürlich nicht die Rede sein. Doch Timm Ulrichs’ Hamsterrad blieb als wohl größtes Exponat erhalten, außerdem einige skulpurale Arbeiten, Zeitungsartikel, Plakate, Siebdrucke und eine Widmung Andy Warhols, der sich die Sache damals auch einmal anguckte. Weiße Luftballons schweben über den Glasvitrinen gerade so, wie vor 48 Jahren solche Ballons die Stationen der Spielstraße markierten.

Viele Schmalfilme erzählen von der Spielstraße. Leider gibt es keinen Originalton dazu, nur kongenialen Sound. (Foto: Urbane Künste Ruhr 2020 / Henning Rogge)

Anita Ruhnau holte Künstler

Ruhnaus Frau Anita hatte etliche Künstlerinnen und Künstler zur Teilnahme bewegen können, was die Spielstraße, wenn man einmal so sagen darf, zu einem multifunktionalen Spektakel machte: Kunstpräsentation, Theater und Performances einerseits, Mitmachparcours andererseits.

Da liegt eine federnde Hüpfmatratze auf dem Weg und lädt sogar Anzugträger zum Selbstversuch ein, da gibt es Bühnenprogramme mit Publikumsbeteiligung, in der öffentlichen Siebdruckwerkstatt kann sich das Volk mit Rakel und Farbe versuchen. Super-8-Filme berichten von alledem. Glücklicherweise entstanden sie in reicher Zahl und wurden rechtzeitig digitalisiert, so dass sich Qualitätsverluste durch Alterung in Grenzen halten. In zwei relativ großen Räumen laufen diese Filme auf je drei Wänden, und wenn es in dieser ansonsten uneingeschränkt zu preisenden Ausstellung doch etwas zu kritisieren gibt, so ist es das weitgehende Fehlen von Sitzgelegenheiten in zentraler Position, von denen aus die alten Streifen mit möglicherweise noch mehr Genuss betrachtet werden könnten.

Ist es Sport oder ist es seine Verhöhnung? Mitunter spricht das alte Material keine klare Sprache (mehr). (Foto: Skulpturenmuseum Glaskasten Marl)

Langhaarige und Gamsbartträger

Erheiternd sind die Filme auch so, jedenfalls meistens. Langhaarige und Gamsbartträger dicht an dicht und trotzdem stressfrei, wie es scheint. Doch dann taucht in dem Gewusel eine merkwürdige Prozession auf, obskure Gestalten, ein rollendes Podest, ein Müllwagen… Das Straßentheaterstück „Olympiade 2000“, das auf der Spielstraße aufgeführt wurde und das Jana Kerima Stolzer für die Marler Ausstellung recherchierte und kunsthistorisch aufarbeitete, gefällt sich in der Dystopie eines pervertierenden, nurmehr wirtschaftlichen Interessen unterworfenen olympischen Sports. Das Stück schrieb seinerzeit der „Theatermacher“ Frank Burckner in Zusammenarbeit mit dem Zukunftsforscher Robert Jungk, und trefflich mag man sich darüber streiten, ob die düsteren Erwartungen der Autoren sich erfüllten oder mittlerweile längst schon überholt sind. Leider gibt es für die Filme keinen Ton, was besonders bei den abgefilmten (mehr oder minder spontanen) Bühnenereignissen schade ist.

Frühform der urbanen Künste

Die Spielstraße bot Kunst als Kommentar zu den Olympischen Spielen, einst und jetzt und zukünftig. Warum aber beteiligt sich „Urbane Künste Ruhr“ an der Marler Schau, jene Organisation, die in der Nachfolge des Kulturhauptstadtjahres ganz überwiegend öffentliche Orte im Hier und Jetzt mit aktuellen Kunstprojekten bespielt? Nun, die Verwandtschaft der Themen ist nicht zu leugnen, und ursprünglich, so Britta Peters, sollte die „Spielstraße“ nur ein Teil des Urbane-Künste-Projekts „Ruhr Ding: Klima“ sein, das nun aber, Corona ist schuld, auf die Mitte nächsten Jahres verschoben wird.

  • „Die Spielstraße München 1972“
  • Skulpturenmuseum Glaskasten Marl, Creiler Platz, Rathaus
  • Bis 1. November 2020
  • Geöffnet Di – Fr 11 – 17 Uhr, Sa und So 11 – 18 Uhr
  • Kein Katalog



Wenn Bin Laden noch leben würde – Leon de Winters Roman „Geronimo“

Dieser Roman könnte Stoff für Verschwörungstheorien liefern: Demnach ist Osama bin Laden nicht am 2. Mai 2011 von Eliteeinheiten der CIA in seinem Unterschlupf im pakistanischen Abbottabad umgebracht worden, sondern bei dieser Geheimdienstoperation ist ein Doppelgänger gestorben.

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In Leon de Winters Roman „Geronimo“ (Codename für die Ergreifung von Bin Laden) lebt der Chef der Terrororganisation Al Kaida weiter, allerdings an einem von Militärs streng abgeschirmten Ort. Die USA und ihre Verbündeten möchten doch noch mehr über den Mann selbst, islamistische Gruppierungen sowie ihre Hintermänner in Erfahrung bringen. Es geht auch um einen geheimnisvollen USB-Stick. Der wiederum soll Informationen enthalten, dass der (scheidende) Präsident Obama in Wirklichkeit Muslim ist und nicht dem Christentum angehört.

Mal abgesehen von der Frage, wie geschickt es sich anlässt, gerade die religiöse Identität Obamas, die Rechtspopulisten immer wieder gern als Zielscheibe nutzen, in den Handlungsverlauf einzubeziehen, wirkt diese Episode auch sehr aufgesetzt und fügt den ohnehin schon zahlreichen und teils auch verwirrenden Handlungssträngen noch einen weiteren hinzu. Zudem lässt Leon de Winter auch vollkommen offen (wenn er denn schon bin Laden überleben lässt), wie es denn dann mit dem einst meistgesuchten Mann der Welt weitergegangen ist.

Der Autor bevorzugt es stattdessen, eine Geschichte zu erzählen, die den Terroristenchef als Menschenfreund erscheinen lässt. Durch Zufall trifft Osama eines Nachts, als er sein Versteckt verlässt und im Schutz der Dunkelheit Eis für seine Geliebten besorgen will, ein Mädchen namens Adana. Ihr haben Taliban (!) Ohren und Hände abgehackt, weil sie westliche Musik gehört hat, genauer gesagt Glenn Goulds Goldberg-Variationen. Die Kompositionen hat die aus Afghanistan stammende Jugendliche kennen und lieben gelernt, nachdem sie der US-Soldat Tom Johnson bei sich aufgenommen hatte. Ihre Eltern waren bei einem Angriff der islamistischen Milizen getötet worden. In die Hände der Terroristen gerät sie, weil die Taliban den US-Stützpunkt von Tom überfallen und sie mitnehmen. Adana schafft es aber, sich zu befreien und gelangt – wie es der Zufall will – nach Abbottabad. Die erste Begegnung mit Osama ist sehr spannungsgeladen, fragt er sich doch, ob er das Mädchen, das ihn trotz Verkleidung zweifellos erkannt hat, töten soll um seiner Sicherheit willen. Aber sie kann seine Sympathie gewinnen und er versteckt sie schließlich in einer Garage, versorgt sie mit Lebensmitteln.

Nachdem nun Bin Laden den Amerikanern ins Netz gegangen ist, beginnt für die junge Afghanin ein neuer und nicht weniger komplizierter Lebensabschnitt, mit dem der Autor die komplexen politischen und religiösen Gegebenheiten im mittleren Asien in den Blickpunkt rückt und zugleich auch auf internationale Verflechtungen eingeht.

Eine christliche Familie würde zwar gern Adana aufnehmen, fürchtet sich aber vor den Reaktionen einer überwiegend muslimischen Gesellschaft. Toms Bemühen, Adana außer Landes zu bringen, ist mit unüberwindbar scheinenden bürokratischen Hürden verbunden. Als er schließlich erfährt, dass sie nochmal Opfer eines Attentates geworden sein könnte, geraten alle Versuche, sein eigenes Lebensschicksal aufzuarbeiten, ins Wanken. Tom hat in Folge des Attentats von Madrid 2004 seine Tochter verloren. Und ihn plagen gegenüber Adana große Schuldgefühle, da er sie nicht ausreichend vor den Taliban hat schützen können.

Leon de Winters Buch lebt von Dynamik und Dramatik. Manchmal scheinen auch die Grenzen von Realität und Fiktion zu verschwimmen. Der Leser steht vor der Herausforderung, die Orientierung nicht zu verlieren.

Leon de Winter: „Geronimo“. Roman. Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. Diogenes Verlag, Zürich. 442 Seiten, 24 Euro.




Der Schmerz nach dem Terror hört niemals auf – Zeruya Shalevs erschütternder neuer Roman

Iris steht als Schulleiterin mit beiden Beinen im Leben. Sie ist eine selbstbewusste Frau, hat zwei Kinder großgezogen, und in einer eher freudlosen Ehe erträgt sie die Macken und Marotten ihres Ehemanns mit stoischem Gleichmut.

Doch hinter der Fassade lauern lange verdrängte Verletzungen und kaum erträgliche Schmerzen, deren Ursachen weit in der Vergangenheit liegen: Vor 30 Jahren, da war Iris fast noch ein Kind, hat Eitan, ihre erste große Liebe, sie von einem auf den anderen Tag verlassen. Und vor 10 Jahren wurde Iris Opfer einer Terror-Attacke, als ein Selbstmord-Attentäter sich mitten in Jerusalem in die Luft sprengte.

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Nur knapp hat Iris dieses fürchterliche Inferno aus abgetrennten Gliedmaßen und Blutlachen überlebt. Bis heute wird sie, wenn sie sich die grausamen Bilder in Erinnerung ruft, von ebenso realen wie eingebildeten Schmerzen heimgesucht. Als, auf der Suche nach Linderung ihrer Pein, in einer Klinik ausgerechnet Eitan ihr behandelnder Arzt wird, gerät Iris in einen Strudel aus Leidenschaft und Lüge, erotischer Spannung und Liebes-Verrat. Doch kann das Wunder der wieder gefundenen Liebe sie wirklich heilen?

In den Romanen der israelische Autorin Zeruya Shalev geht es immer um die Liebe, die selten zum Glück führt, sondern meistens eine Art Leidensweg darstellt: Überall emotionale Abhängigkeiten, vergiftetet Beziehungen, scheiternde Ehen. Das ist auch in dem neuen Roman „Schmerz“ nicht anders.

Neu ist, dass Shalev diesmal sich selbst und ihre eigenen Erlebnisse in den Roman mit einbezieht. Denn die Autorin, die mit „Liebesleben“, „Mann und Frau“, „Späte Familie“ zu einer der bedeutendsten Erzählerinnen der Gegenwart wurde, ist vor einigen Jahren selbst in Jerusalem Opfer eines terroristischen Anschlags geworden und überlebte das Blutbad schwer verletzt. Sie weiß also nur zu genau, was Iris, ihre Hauptfigur, durchgemacht hat und von welchen körperlichen und seelischen Schmerzen sie seitdem gepeinigt wird. Sicherlich ein Grund dafür, warum das Buch noch bedrückender und verzehrender ist als ihre bssherigen Romane.

Erzählt wird die komplexe Geschichte in einer atemlos wirkenden Gleichzeitigkeit der Ereignisse und Gedanken. Beschreibungen und Reflexionen werden eng miteinander verknüpft, endlose Satzfolgen aufgetürmt und übereinander geschichtet. Und vielleicht würde Iris ohne ihre Tochter Alma nie wieder hinausfinden aus diesem Labyrinth aus Terror-Trauma und Liebes-Sehnsucht, radikalem Schmerz und erotischer Grenzerfahrung.

Alma, von Schuldgefühlen und Identitätsproblemen heimgesucht, verfällt den Verlockungen eines Sektenführers und lässt sich als Sex-Sklavin ausbeuten. Wenn Iris ihreTochter retten will, muss sie erst mit sich selbst ins Reine kommen. Das tut weh und ist auch für den Leser nur schwer zu ertragen.

Um den Tod zu überwinden und das Leben zu feiern, hat Zeruya Shalev nach dem Terroranschlag ein kleines Kind adoptiert -und diesen Roman verfasst. Hoffentlich hat das ihren Schmerz ein wenig lindern können.

Zeruya Shalev: „Schmerz“. Roman. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Berlin Verlag. 383 Seiten, 24 Euro.




Ratlos in Paris

Fußball: Frankreich – Deutschland, aus Paris übertragen in der ARD. Zwischendurch hört man ein paar Detonationen. „Wieder diese elende Pyrotechnik“, denkt man zuerst. Doch es war lauter als sonst. Deutlich lauter. Furchtbar laut.

Menschen im Stade de France (Screenshot ARD)

Menschen im Stade de France (Screenshot ARD)

Und dann erfährt man, nach und nach: Es hat Tote gegeben. Viele Tote. Furchtbar viele Tote. So dass man gar keine Zahlen mehr nennen mag.

Derart unübersichtlich ist die Lage, dass sie auch im Fernsehen gar nichts Genaues wissen. Die versammelten Sportreporter sind eh grässlich überfordert, sie ahnen, dass jetzt eine andere Agenda gilt, doch sie senden zwischendurch noch Zusammenfassungen anderer Spiele des Abends, wiewohl sie selbst immer wieder betonen, dass man nun nicht mehr über Sport reden dürfe. Um 23:55 Uhr wird immer noch in Kickerei gemacht: Belgien gegen Italien. Welch ein Kracher! Hauptsache: auf Sendung bleiben, Bilder haben. Wie nichtssagend sie auch immer sein mögen.

Die Paris-Korrespondentin, die in Extra-Ausgaben der Tagesschau immer wieder einvernommen wird, ist ebenfalls hilflos. Wie soll sie auch den Überblick haben?

Man beneidet niemanden an diesem Abend. Weder die Fernsehleute. Noch die Fußballer oder Zuschauer im Stadion. Und erst recht nicht die Menschen, die direkt betroffen sind.




„Terror“ als Stück der Stunde: Gerichtsdrama am Düsseldorfer Schauspielhaus

Ferdinand von Schirach. Foto: Michael Mann/Copyright F. v. Schirach

Ferdinand von Schirach. Foto: Michael Mann/Copyright F. v. Schirach

Ein Gerichtsprozess trägt eine Menge dramatisches Potential in sich, man muss es nur entdecken.

Jemand hat ein Verbrechen begangen und sitzt auf der Anklagebank. Ein Anwalt versucht, ihn rauszuhauen, während dessen Gegenspieler, die Staatsanwaltschaft, den Delinquenten verurteilen will. Die Zeugen schildern die Tat aus ihrer Sicht und offenbaren gerne einmal abgründige Details und haarsträubende Beobachtungen. Zuletzt urteilt über alles der Richter, der das Gesetz vertritt – oder die Gerechtigkeit?

Der Jurist und Schriftsteller Ferdinand von Schirach, dessen Bücher zu ungewöhnlichen Straftaten schon lange auf der Beststellerliste stehen, hat jetzt aus diesem Stoff sein erstes Stück gemacht. Es kommt in dieser Saison nahezu zeitgleich an 16 Bühnen heraus, in Düsseldorf feierte es am Schauspielhaus Premiere.

„Terror“ entwirft ein hochaktuelles Szenario: Ein Passagierflugzeug mit 164 Insassen wurde entführt, der Terrorist droht, es in ein vollbesetztes Fußballstadion mit 70.000 Besuchern stürzen zu lassen. Ein Bundeswehrpilot steigt in seinem Kampfjet auf, will die Maschine abdrängen, keine Chance, schließlich schießt er das Flugzeug ab. Die Passagiere sterben, die Stadionbesucher leben, der Pilot kommt vor Gericht. Denn er hat gegen seinen Befehl gehandelt: Zwar erlaubt das Luftsicherheitsgesetz eine solche Maßnahme, doch das Bundesverfassungsgericht hat dieses Gesetz für verfassungswidrig erklärt, also ordnete niemand den Abschuss an. Der Pilot entschied nur aufgrund seines Gewissens.

Die Bühne (Heinz Hauser) wird komplett von einer nüchternen, grauen Richterbank eingenommen, hier sitzen in der Mitte der vorsitzende Richter (Wolfgang Reinbacher) mit der Protokollführerin (Eva-Maria Voller), links davon Anwalt (Andreas Grothgar) und Angeklagter (Moritz von Treuenfels), auf der rechten Seite die Staatsanwältin (Nicole Heesters) und die Nebenklägerin (Viola Pobitschka).

Publikum befindet über die Schuldfrage

Der Clou: Das gesamte Publikum findet sich in der Rolle des Schöffen wieder und muss am Ende entscheiden. Nach der Pause schreitet jeder nach Art des „Hammelsprungs“ entweder durch das „Schuldig“ oder das „Nicht schuldig“-Tor, die Stimmen werden gezählt. Auf der Website www.duesseldorfer-schauspielhaus.de lässt sich dann nachschauen, wie das Publikum der jeweiligen Vorstellung entscheiden hat. Die Ergebnisse der anderen Theater stellt der Verlag unter http://terror.kiepenheuer-medien.de ins Netz. Die Pause ist ans Ende des Theaterabends verlegt, so dass nur noch die Urteilsverkündung folgt. Tatsächlich hat man selten ein Publikum erlebt, dass derartig mitgeht und so leidenschaftlich eine Schuldfrage diskutiert.

Obwohl Regisseur Kurt Josef Schildknecht die künstlerischen Mittel extrem sparsam einsetzt und sich ganz auf die Kraft des Prozesses verlässt, funktioniert dieser Theaterabend. Er hat nichts Poetisches an sich und seine Sprache entstammt dem Gerichtssaal. Aber Ferdinand von Schirach erreicht etwas anderes: Er zeigt die Brisanz und die Bedeutung auf, die unsere Gesetze und unsere Verfassung für unser Leben haben. Und sie lässt uns die ethischen Dimensionen unseres Wertesystems erfassen: Wird jemand schuldig, der 70.000 Menschen rettet, weil er ein Prinzip verletzt hat? Wer entscheidet über den Wert eines Menschlebens? Wiegen 164 Leben 70.000 auf?

Nicht zuletzt hauchen die großartigen Schauspieler dem Thesenstück Leben ein: Wie Staatsanwältin Nicole Heesters mit Leidenschaft, ja Furor die Prinzipien unsere Grundgesetzes verteidigt, das lässt an das Ethos der Gründungsväter und –mütter der Bundesrepublik denken. Wie Moritz von Treuenfels als Pilot die Seelenlage des Soldaten ausgestaltet, der in Sekunden entscheiden muss und im Ernstfall keine Vorlesung mehr in Rechtsphilosophie besuchen kann. Wie seine Vorgesetzten in Person des Zeugen Christian Lauterbach (Lutz Wessel) ihn mit dieser Entscheidung im Regen stehen lassen und Alternativen wie die Räumung des Stadions gar nicht bedenken. Wie unfassbar Schock und Trauer einer Angehörigen sind, die keineswegs gefragt wurde, ob sie ihren unschuldigen Mann der Staatsraison opfern möchte, zeigt Viola Pobitschka als Franziska Meiser.

In Düsseldorf wurde der Pilot Lars Koch am Premierenabend frei gesprochen. Doch das moralische Dilemma nimmt jeder mit nach Hause.

Karten und Termine:
www.duesseldorfer-schauspielhaus.de

 




Der 11. September – 1944 war es ein Tag der Befreiung

Das Datum 11. September – auch amerikanisch als 9/11 abgekürzt – hat sich seit 2001 in das Weltgedächtnis eingebrannt. Die einstürzenden Türme des World-Trade-Centers in New York sind zu einem Zeichen geworden für die Verletzlichkeit der modernen Zivilisation.

Kriegsgefangene in der zerstörten Stadt Aachen. (Quelle: Bundesarchiv)

Zurzeit lese ich mit großem Gewinn „Das Ende. Kampf bis in den Untergang. NS-Deutschland 1944/45“ des britischen Historikers Ian Kershaw. Da geht es ebenfalls um Terrorismus, wenn auch um weit schlimmeren als 2001, und auch in dem Zusammenhang taucht das Datum 11. September auf. Das war nämlich der Tag im Jahre 1944, an dem „ausländische“ Soldaten, in dem Fall amerikanische, im Kampf gegen Nazi-Deutschland erstmals den Boden des Deutschen Reiches betraten. Dieses Ereignis fand in der Nähe von Aachen statt, und es war der Beginn unserer Befreiung.

Natürlich ist so eine Datumsgleichheit reiner Zufall und ohne jede Bedeutung, aber doch von anekdotischem Interesse. Es gibt auch noch drei weitere Septembertage, zu denen man einen Zusammenhang konstruieren könnte: Am 11. September 1609 entdeckte Hudson die Insel Manhattan – exakt jenen Ort, an dem 2001 die Türme brannten. Ebenfalls am 11. September, aber genau 200 Jahre vor dem Attentat, wurde Schillers Jungfrau von Orleans uraufgeführt, jene Tragödie, in der es auch um Befreiung geht. Und um Freiheit ging es auch am 11. September 1989: Da durchtrennte der ungarische Außenminister mit seinem österreichischen Kollegen den Stacheldrahtzaun zwischen ihren Grenzen, damit die Menschen aus der DDR ohne Repressalien „ausreisen“ konnten.

Der 11. September als besonders Datum, ähnlich wie in der deutschen Geschichte der 9. November. Allerdings, wer genau hinschaut, wird zu fast jedem Tag ähnliche Konnexionen darstellen können. Es bleibt eben doch fast alles Zufall, aber man kann daraus richtige Schlüsse ziehen.