„Hunger“ – der letzte Teil von Luk Percevals Bühnentrilogie nach Zola-Romanen bei der Ruhrtriennale

Jetzt herrschte „Hunger“ bei der Ruhrtriennale. Nur zweimal kam diese Gemeinschaftsproduktion des Festivals und des Thalia Theaters Hamburg vor düster-rostiger Hochofenkulisse in Duisburg zur Aufführung und war selbstverständlich ausverkauft.

Unter Tage kommen sie sich näher: Szene mit Marie Jung (Catherine) und Sebastian Rudolph (Étienne Lantier) (Foto: Ruhrtriennale/Armin Smailowic)

Den Besuchern wurde zu warmer Bekleidung geraten, außerdem gab es Wolldecken, die, wenn man sie sich nicht über die Knie legte, auch als Polsterung der harten Plastikbestuhlung gute Dienste leisteten. Es ist halt schon eine Herausforderung, stillgelegte Schwerindustrie mit Theater zu bespielen. Doch mittlerweile gelingt dies der Ruhrtriennale souverän. Und es hat auch nicht immerzu geregnet.

Bergleute streiken

Die Bühne in der Gießhalle des Landschaftsparks Duisburg-Nord ist seit dem ersten Teil dieselbe geblieben, eine karge Spielfläche mit schwer erklimmbarer Erhöhung am hinteren Rand und einigen Seilen, die von oben herabhängen.

„Hunger“ ist als Titel durchaus wörtlich zu verstehen. Teil 3 von Luk Percevals Bühnenfassung zentraler Motive aus Émile Zolas Romanzyklus „Die Rougon-Macquart“ erzählt (nach „Liebe“ und „Geld“) zu einem wesentlichen Teil vom elenden Leben der Bergleute im (fiktiven) nordfranzösischen Bergarbeiterdorf Montsou, denen ihr karger Lohn nicht mehr zum Überleben reicht. Angeführt von Étienne Lantier, der erst vor kurzem herkam, planen sie einen Streik. Als Vorlage diente Zolas Roman „Germinal“.

Lebensgefährliche Nähe: Lokführer Jacques (Rafael Stachowiak, rechts) und Severine (Patrycia Ziolkowska). (Foto: Ruhrtriennale/Armin Smailovic)

An Étienne erinnert man sich möglicherweise noch aus Teil 2 der Trilogie als uneheliches Kind der Wäscherin Gervaise. Nun, in Folge 3, ist er erwachsen geworden und sucht händeringend Arbeit – ein echter Proletarier also, ein „freier Lohnarbeiter“, der hier die Bühne der ungestümen, menschenverachtenden Industrialisierung des 19. Jahrhunderts betritt.

Unbändige Mordlust

Sein Bruder Jacques, Lokomotivführer von Beruf, ist Hauptperson des zweiten Handlungsstrangs dieses Abends. Seine Leidenschaft gilt der Maschine, und bangend hofft er, dass das auch so bleibt. Denn wenn Jacques in Leidenschaft für eine Frau erglüht, dann will er sie töten, und gegen diesen Trieb kommt er nicht an. Es sei dies, legt der Stoff nahe, eine Hypothek aus schwerer Kindheit.

Der Programmzettel erinnert uns daran, dass all diese Dinge ja Resultate von Doktor Pascals Recherche sind, welche zur „Trilogie meiner Familie“ führte. Doktor Pascal lernten wir ausführlicher vor zwei Jahren kennen, als ratlosen Erforscher familiären Unglücks, das mit wenig Betrachterphantasie auf Menschheitsunglück hochgerechnet werden kann.

Ein Mord, um noch einmal auf die Bühnengeschehnisse im dritten Teil zurückzukommen, schweißt Jacques (Rafael Stachowiak) und Severine (Patrycia Ziolkowska) in heißer Zuneigung zusammen, doch letztlich geschieht, was wir befürchteten. Der übermächtige Hunger nach Befriedigung bricht sich Bahn. Und unter den Rädern der Lokomotive, so ist zu hören, findet die Geschichte schließlich ihren schauerlichen Abschluss, während Militär streikende Bergleute erschießt.

Barbara Nüsse gibt den Großvater – ein unwirkliches, furchterregendes Anarchistenwesen. (Foto: Ruhrtriennale/ Armin Smailovic)

Mit Saxophon

Viel Stoff also, der da auf die Bühne drängt und inszenatorisch gebändigt sein will. Luk Perceval arbeitet mit einer, wie man vielleicht sagen könnte, filmischen Technik und wechselt zwischen den beiden Handlungen nach Art von Schnitt und Gegenschnitt.

Manchmal, wenn eine Szene ihr (meist) deprimierendes Ende findet, spielt der Saxophonist Sebastian Gille auf der Bühne sehr expressiv und schön ein Intermezzo, und die Klage seiner Töne schwillt mit dem Gang der Dinge an. Doch der Einsatz des Musikers macht die dramatische Konstruktion nicht wirklich geschmeidiger.

Holzschnitthaft und verkrampft

Die Bergarbeitergeschichte wirkt in ihrem Bemühen, möglichst detailreich vom Elend zu erzählen, holzschnitthaft und verkrampft. Aufruhr wird bevorzugt mit erregtem Herumlaufen dargestellt, nie herrscht ein Mangel an markigen Sätzen. Schließlich sondert Mutter Maheu (Oda Thormeyer) nur noch lange, aufgebrachte Schreie ab, einem verwundet aufheulenden Tier nicht unähnlich. Ja, die Verhältnisse sind schrecklich. Doch war das schon lange vorher klar.

Eine vergleichsweise originelle inszenatorische Idee ist es, die jungen Bergleute mit LED-Stirnlampen auszustatten, die bei fortschreitender Dämmerung für längere Zeit einzige künstliche Lichtquelle auf der Duisburger Hochofenbühne sind. Doch gesehen hat man Ähnliches schon öfter, gern würde man von Pfiffigerem überrascht, gern auch von sinnstiftenden Raffungen im Erzählstrang.

Bühnengeschehen im Schein der Kopflampen. Szene mit Tilo Werner (Vater Maheu) und Marie Jung (Catherine), (Foto: Ruhrtriennale/Armin Smailovic)

Sportliches Ensemble

Man könnte ja auch einfach alles zerschlagen, wie Bonnemort (in etwa: „guter Tod“), es den Bergleuten ausmalt. Barbara Nüsse gibt dem Großvater, diesem gespenstischen Anarchistenwesen, das stets da ist und doch neben allem steht, furchteinflößende Gestalt. Gabriela Maria Schmeide, an die wir uns in der Rolle der Wäscherin Gervaise noch gut erinnern, ist jetzt als schwachsinnig-seherische Alzire auf der Bühne, agiert wie auch Bonnemort ein wenig außerhalb der Handlung, die ein jugendliches, ausnahmslos vorzügliches Ensemble hier mit großer Sportlichkeit auf die zugige Gießhallenbühne stellt. Video-Elemente fehlen völlig, ohne deshalb vermisst zu werden.

Anhaltender und lebhafter Applaus.

Die ganze Trilogie wird am 15. und 17. September bei der Ruhrtriennale zu sehen sein, dann warten schlanke 11 Stunden Theater mit zwei Pausen. Start ist um 13.00 bzw. 12.00 Uhr. Besucher sollten sich warm anziehen und auf den Wetterbericht achten. Infos: www.ruhrtriennale.de




Jürgen Flimm wird Chef der RuhrTriennale – ab 2005 als Nachfolger von Gerard Mortier

Von Bernd Berke

Im Westen. Der Favorit hat das Rennen gemacht: Jürgen Flimm soll ab 2005 neuer Leiter der RuhrTriennale und damit Nachfolger von Gerard Mortier werden. Der 61-jährige Flimm bleibt bis 2004 Schauspielchef der Salzburger Festspiele. Als Präsident des Deutschen Bühnenvereins war er kürzlich zurückgetreten. Dies hatte bereits Spekulationen über ein Engagement im Ruhrgebiet genährt.

Auf Flimm, den langjährigen Leiter des Hamburger Thalia Theaters, einigten sich alle Gremien: der Aufsichtsrat der Kultur Ruhr GmbH (Rechtsträger der Triennale) hat den einstimmigen Vorschlag der Findungskommission „zustimmend zur Kenntnls genommen“. Gestern gab auch der Aufsichtsrat der Ruhrfestspiele, die künftig unter dem „Dach“ der Triennale angesiedelt sind, grünes Licht. Damit könnte Jürgen Flimm am 11. Juli formell berufen werden.

Enorme Erfahrung in vielen Positionen

Bis auf Gastinszenierungen in Bochum (1974-79, Ära Zadek) hatte Flimm bisher kaum direkte Verbindungen zum Revier. Doch sonst bat er fast alles gemacht, was in der Theaterwelt möglich ist. Am 17. Juli 1941 in Gießen geboren, wuchs der Sohn eines Arzt-Ehepaares in Köln auf – mit evangelischem Hintergrund, zu dem er sich entschieden bekennt. Da sein Vater als Theaterarzt arbeitete, konnte Jürgen Flimm schon als Kind hinter die Kulissen blicken. Dies hat ihn, wie er sagt, fürs ganze Leben „infiziert“.

Neben dem Studium der Theaterwissenschaft, Germanistik und Soziologie in Köln absolvierte Flimm eine Schauspielausbildung und bekam 1968 sein erstes Engagement als Regie-Assistent an den Münchner Kammerspielen. 1972 wurde er Oberspielleiter in Mannheim, 1973 übte er die gleiche Funktion am Hamburger Thalia Theater (unter Boy Gobert) aus. Ab 1979 war er – als Nachfolger von Hansgünther Heyme – Schauspiel-Intendant in Köln. 1985 begann seine glorreiche, bis ins Jahr 2000 währende Ära als Thalia-Intendant. Unter seiner Ägide wurde die Bühne zur Pilgerstätte.

Lieber das „Erbe“ überprüfen, als Uraufführungen zu sammeln

Bei der Jagd auf Uraufführungen hat sich Flimm – anders als z. B. Claus Peymann – stets merklich zurückgehalten. Statt dessen erkundete er die klassischen Stoffe, zumal das Werk Georg Büchners, sorgsam neu. Überhaupt prüfte er am liebsten das „Erbe“: von Shakespeare, Goethe, Schiller, Lessing und Kleist über Schnitzler, Tschechow und Ibsen bis hin zu Brecht.

In den letzten Jahren hat Flimm auch zahlreiche Opern (u. a. Mozart, Wagner) inszeniert, und zwar für die „ersten Adressen“, so beispielsweise an der New Yorker „Met“, in Bayreuth und Salzburg.

Behutsamer Umgang mit den Klassikern

Bei all dem betätigte er sich nie, wie etwa Frank Castorf, als „Stücke-Zertrümmerer“, sondern aktualisierte die Werke behutsam, ohne ihren Handlungskern zu beschädigen. Flimm hat immer wieder betont, dass Theater mit Blick aufs Publikum entstehen müsse und nicht fürs eitle Ego der Macher. Auf Erdverbundenheit und „Revier-Tauglichkeit“ deutet auch sein großes Faible für Fußball hin. Flimm ist seit Jahrzehnten Mitglied bei Werder Bremen.

Blättert man in den Annalen, so stößt man auf einen möglichen Reibungspunkt mit dem designierten Leiter der Ruhrfestspiele, Frank Castorf, dessen Vorgesetzter Flimm als Leiter der RuhrTriennale wäre. In Interviews hat sich Flimm recht deutlich von Castorfs oft rabiater Form des „Regietheaters“ abgegrenzt.

Flimm kennt sich bestens in den Fährnissen der KulturpoHtik aus. Das langjährige SPD-Mitglied (Austritt u. a. mit Günter Grass nach der Asyldebatte) ist inoffizieller Kulturberater von Bundeskanzler Schröder. Von Flimm stammte die Anregung, das Amt eines Staatsministers für Kultur zu schaffen. Mit Bundespräsident Rau schuf er zudem ein „Bündnis für Theater“.

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Kommentar:

Eine ideale Wahl

Hätte man seine Wunschkandidaten für die Leitung der RuhrTriennale nennen sollen, so wären fraglos die Namen Claus Peymann und Jürgen Flimm gefallen. Mit anderen Worten: Die gestern getroffene Entscheidung für Flimm ist eine geradezu ideale Wahl.

Der 61-Jährige hat ungeheure, unschätzbar wertvolle Erfahrungen als Regisseur und Theaterleiter angehäuft. Auch in den Feinheiten der Kulturpolitik kennt er sich präzise aus. Zudem ist er in den Sparten Schauspiel und Oper höchst sattelfest. Was will man mehr? Flimm ist ein Theatermacher, der „vom Publikum her“ denkt. Es ging ihm nie, wie leider so vielen anderen Regisseuren, um schrankenlose Selbstverwirklichung auf Kosten der Stücke. Andererseits ist er kein bloßer Traditions-Verwahrer, sondern er schneidet die Stoffe durchaus aktuell zu.

Flimm gilt als gleichermaßen verbindlich wie durchsetzungsfähig und verhandlungssicher. Im politischen Raum pflegt er die allerbesten Kontakte. Nur: Wenn im Gezerre um die Düsseldorfer Koalition auch die RuhrTriennale unter die Räder geraten sollte, hätte selbst er wenig Chancen, den Schaden einzugrenzen.

Jedenfalls kommt es Flimm zugute, dass er sich stets als sehr kostenbewusster Bühnenchef erwiesen hat. Für den Fall einer Etat-Überziehung hat er andernorts sogar schon mal einen Verzicht auf große Teile seiner Gage angeboten.

Im Ruhrgebiet keinesfalls zu unterschätzen: Zu allem Überfluss hat Jürgen Flimm, ein langjähriger Freund des Trainers Otto Rehhagel, auch noch gehörig Ahnung vom Fußball. Auf seinen „Anstoß“ in den Kulturstadien des Reviers darf man sich schon jetzt freuen.

Bernd Berke




Zeitreise in die Zauberwelt – Bob Wilson inszeniert „Time Rocker“ im Hamburger Thalia-Theater

Von Bernd Berke

Hamburg. Die vielen Kamerateams konnten ihren Sendern erfolgreiche Prominentensuche melden: Zur Uraufführung von „Time Rocker“ in der Regie des texanischen Theaterzauberers Bob Wilson gab es erheblichen Auftrieb im Thalia-Theater – von etlichen Bühnenchefs oder Schauspielern (Mathieu Carrière, Ulrich Tukur) bis zum „Tagesschau“-Sprecher Wilhelm Wieben. Sie alle waren hergepilgert, um gleichsam ein Sakrament in Empfang zu nehmen.

Denn Bob Wilson läßt Theater nicht einfach spielen, er zelebriert es als Liturgie wie kein anderer; mit atemberaubenden Bilderfolgen und ungeheuren Licht-Erscheinungen. Nach „The Black Rider“ und „Alice“ war „Time Rocker“ bereits seine dritte Hamburger Weihe-Handlung. Diesmal hatte Lou Reed, seit seinen wilden Zeiten mit „The Velvet Underground“ eine unumstößliche Größe der Rockszene, die Musik geschrieben.

Kriminalstory führt ins Nirwana

In 31 Szenen mit 16 Songs schleusen uns Wilson, Reed und Texter Darryl Pinckney in eine ausgedehnte Zeitreise ein. Anfangs geht’s zurück bis in die vorchristliche Ära, später voraus in visionäre Zukunftswelten. Notdürftig verknüpft sind diese Fahrten durch eine Kriminalstory. Priscilla (herausragend auch als Sängerin: Annette Paulmann) und Nick (Stefan Kurt, fernsehbekannt durch den „Schattenmann“) werden in seltsam mechanisch abschnurrenden Slapstick-Szenen von Scotland Yard beschuldigt, ihren Herrn und Meister, den Erfinder Dr. Procopius (Hans Kremer), hingemeuchelt zu haben. Dabei ist der Mann auf Zeitreise gegangen, und in dieses grenzenlose Nirwana zwischen den Epochen flüchten ihm nun Priscilla und Nick nach.

Und schon hat die Inszenierung ihren ersten ganz großen magischen Moment. Wenn die Zeitmaschine in Form eines weißen Fisches erscheint und vor blauem Breitwand-Hintergrund davonsegelt, glaubt man sich versetzt ins Zauberreich.

Kurz darauf wandert ein kleines weißes Haus über die dunkle Bühne – und man sieht gleichzeitig, wie sich jemand die überlangen, phosphoreszierend grünen Fingernägel abbeißt. Bewegliche Steine, tanzende Würfel, leuchtende Altäre, alles gibt’s in diesen taumelnden Welten. Rätselvolles Theater mit Charisma.

Es ist, als ob Wilson ein wunderschönes großes Bilderbuch umblättere. Und wo sind wir Zuschauer nicht überall gewesen! In einen altägyptischen Tempel sind wir geraten, in eine chinesische Opiumhöhle, zwischen drei mannstolle Studentinnen („Klick mich an, ich bin deine Maus“) oder in eine Badeanstalt der Zukunft, wo nackte Körper schwerelos schweben.

Ein Stuhl stürzt minutenlang um

In all diesen seherischen Szenen entfaltet sich der typische Wilson-Stil der Verlangsamung. Wenn etwa ein Stuhl umstürzt, so sieht man diesen Vorgang in einer mehrminütigen, enorm spannungsgeladenen Zeitlupe. Überhaupt wird „Time Rocker“ zu einer Meditation über das Zeitempfinden, aber auch über das Geisterhafte des menschlichen Körpers in einer technisch entgrenzten Zukunft.

Der Zusammenhang ergibt sich nicht wie sonst im Theater, sondern eher wie im Traum oder wie in einer betörenden Kunstausstellung. Nur daß man hier keinen Rundgang unternimmt, sondern die Bilder an einem vorbeigezogen oder – wie seltene Schätze – gehoben werden.

Von bezwingender Kraft und Einprägsamkeit ist auch Lou Reeds Musik. Schönes Wechselspiel: Mal lassen sich die Töne von und in den Bildern treiben, mal peitschen see die Szenen voran.

Termine: 16., 17., 18., 19. Juni. Karten: 040 / 32 26 66.