Tödliche Logik: „Hamlet“ als Oper von Ambroise Thomas in Bielefeld

Evgueniy Alexiev (Hamlet) und Cornelie Isenbürger (Ophélie) in Ambroise Thomas' selten gespielter Oper am Theater Bielefeld. Foto: Paul Leclaire

Evgueniy Alexiev (Hamlet) und Cornelie Isenbürger (Ophélie) in Ambroise Thomas‘ selten gespielter Oper am Theater Bielefeld. Foto: Paul Leclaire

Es ist was krank am Hofe Dänemarks. Auf der Couch sitzen ein junger Mann und eine junge Frau, fast noch ein Mädchen. Um sie herum herrscht Ausgelassenheit: Man feiert die Krönung des neuen Königs. Aber der hagere Junge zeigt kein Interesse: Er notiert sich etwas in einem Büchlein. Vor dem schüchternen Versuch des Mädchens, ihn sacht zu berühren, zuckt er zurück. Die wirren Haare, der unstete Blick, die gesuchte Isolation: So sieht ein Außenseiter aus.

Hamlet ist an diesem Hof eine einsame Figur; einsam, weil er sich selbst, weil ihn offenbar eine Krankheit dazu macht. Wir finden ihn kurze Zeit später alleine auf der Couch, einem zentralen Bühnenrequisit Nanette Zimmermanns für Andrea Schwalbachs Inszenierung von „Hamlet“ am Theater Bielefeld. Ihm zur Seite: Ein in unauffälligem Braun gekleideter Herr. Ein Psychiater? Ein Therapeut?

Die Exposition wird sich schnell zuspitzen, wird die psychische Deformation Hamlets immer klarer offenbaren, wird zeigen, wie seine idée fixe nach und nach alle Personen seines Umfelds mit klebrigen Fäden an ihn bindet, und in seinem Gespinst fesselt, bis sie am Ende dem zupackenden Stahlzahn zum Opfer fallen, den er in der Hand hält.

Die Entwicklung vom nagenden Argwohn zur kranken Gewissheit hat Regisseurin Andrea Schwalbach in Bielefeld nicht aus Shakespeares wohlbekannter Tragödie gewonnen, sondern aus Ambroise Thomas‘ kaum bekannter Oper „Hamlet“. 1868 an der Pariser Opéra uraufgeführt, kleidet dieses Werk Shakespeare in die eleganten Gewänder einer grand opéra und setzt – basierend auf einer Adaption von Alexandre Dumas und dem Libretto von Michel Carré und Jules Barbier – den Akzent auf das Geflecht der Emotionen, Wünsche, Erwartungen und Ängste der Hauptpersonen. Ein psychologisches Kammerspiel, das oft genug mit einem Salontrauerspiel verwechselt wurde.

Eigentlich sollte die Opernwelt spätestens nach den verdienstvollen Aufführungen mit Siegfried Köhler am Pult in Saarbrücken und Wiesbaden 1973 und 1983 wissen, welch ein Juwel – nicht nur musikalisch – von Thomas hier gefasst und geschliffen wurde. Aber der Tunnelblick auf das Repertoire wirkt auch eine Generation später noch: Bielefelds „Hamlet“ kommt daher beinahe der Rang einer Wiederentdeckung zu.

Caio Monteiro (Horatio), Evgueniy Alexiev (Hamlet), Cornelie Isenbürger (Ophélie), Lianghua Gong (Marcellus). Foto: Paul Leclaire

Caio Monteiro (Horatio), Evgueniy Alexiev (Hamlet), Cornelie Isenbürger (Ophélie), Lianghua Gong (Marcellus). Foto: Paul Leclaire

Schwalbach, wie stets in der Wahl ihrer Mittel sorgfältig und beziehungsreich bis zum Äußersten, entdeckt das Potenzial des Opernstoffs. Sie setzt eine fatale Verstrickung Hamlets in seine sinistre Innenwelt voraus, in der sich die Ahnung, seine Mutter und sein Onkel könnten den König, seinen Vater, ermordet haben, zur Gewissheit verdichtet und blutige Konsequenzen zeugt. Schwalbach gelingt das Meisterstück, zu zeigen, wie Hamlet mit jedem Indiz seine innere Logik bestätigt sieht. Jeder rationalen Kontrolle entzogen, führt sie ihn zu furchtbarer Gewissheit. Ein Psychogramm einer Verschwörungstheorie mit tödlichen Folgen.

Das funktioniert auch dank der vagen Formulierungen des Librettos. Sie kommen dem virtuosen Spiel mit mehrdeutigen Hinweisen entgegen, das Schwalbach inszeniert – vor allem das Fest mit dem scheinbar verräterischen Schauspiel des „Todes Gonzagas“ im dritten Akt.

Der Zuschauer wird Zeuge des inneren Verfalls Hamlets – und der Menschen um ihn herum: Er entzieht Ophélie ihre Lebenskraft, er zerrüttet seine Mutter Gertrude und er tötet schließlich, als sich der Kontrollverlust nicht mehr bremsen lässt. Eine Schlüsselrolle spielt der „Geist“ des Vaters (Yoshiaki Kimura), säkularisiert zum Therapeuten: Der Hinweis auf den Vatermord kommt nicht aus schaurigem Jenseits, sondern wird aus dem Tagebuch Hamlets vorgelesen.

Schwalbach hat am Theater Bielefeld eine Riege engagierter Darsteller, ohne die ihr differenziertes Konzept auf der Bühne verpuffen würde: Evgueniy Alexiev ist der hagere Hamlet mit wirrem Scheitel, dem dunkelblauen Anzug eines Aufsteigers – Petra Wilkes Kostüme zitieren beziehungsreich Modisches – und den eckig-exaltierten Bewegungen eines Menschen, der sein inneres Getriebensein in ausgreifender äußerer Gestik offenbart. Mit seiner dunklen Stimme fasst er die gequälte Seele Hamlets in passend aufgeraute, in der Höhe nicht immer abgesicherte Töne.

Cornelie Isenbürger legt die Ophélie nicht als die gebrochene „femme fragile“ in der Nachfolge Lucia di Lammermoors an, wie es die Musik nahelegen könnte. Kein Koloraturvögelchen also, wie die großen Interpretinnen der Vergangenheit die Partie gerne präsentiert haben. Sondern eine nach Zuwendung gierende junge Frau, die Hamlets empathielose innere Isolation und seine immer befremdlicheren Ausfälle endgültig in die Depression treiben. Auch stimmlich ist Isenbürger eine Ophélie aus Fleisch und Blut; ihre substanzreiche Stimme ist zur Schattierung in Farbe und Dynamik fähig.

Wie weit die seelische Deformation in diesem Biotop der Grausamkeit fortgeschritten ist, offenbaren äußere Wunden: Ophélie lässt schon bald die Pflaster an Armen und Oberschenkeln sehen; Gertrude demonstriert die blutigen Narben ihrer aufgeschnittenen Pulsadern. Zärtlichkeit und Zuwendung fehlen ihnen allen: Die Ehe zwischen Gertrude und Claudius, einem gemütlichen Blonden: eine Vernunftheirat. Ihr Kuss: förmlich. Die Beziehung zwischen Gertrude und Ophélie: geprägt von Scheu vor Berührung. Und wenn Hamlet und seine Mutter aufeinandertreffen, offenbaren die Reaktionen, dass diese Menschen eine lange Geschichte quälender Absenz jeder liebevollen Zuneigung hinter sich haben. Das fein schimmernde Metall in der schneidenden Stimme Melanie Kreuters passt zum Psychogramm dieser Figur.

Schwalbach vernachlässigt aber auch die Figuren der Peripherie nicht: Marcellus und Horatio (Lianghua Gong und Caio Monteiro) sind die stimmlich prächtig disponierten Freunde Hamlets, die sich erst einen Spaß machen, sich dann aber dem seelisch Abgründigen nicht entziehen könnten; der gebildete, diesmal erfreulich freie Tenor von Daniel Pataky ist fast zu edel für den unglücklichen Laërte, der wie Polonius (Moon Soo Park) ein Opfer von Hamlets verbissenem Rachetrieb wird.

Elisa Gogou spornt die Bielefelder Philharmoniker zu differenziertem Spielen an: Ambroise Thomas‘ elegante, expressive Musik fordert geschmeidige Phrasierungen, hält sich kammermusikalisch zurück, um der Gesangslinie die Priorität einzuräumen, blüht aber auch auf, wo sie Gounod’sche Glut und die Pracht eines Saint-Saëns für sich entdeckt. Die Dirigentin hat für die stilistischen Facetten einen Blick, führt die Musiker und den von Hagen Enke einstudierten Chor mit sicherer Hand. Der Besuch in Bielefeld lohnt sich.

Weitere Vorstellungen: 13. und 22. März, 11. April, 10., 18. und 26. Juni.
Info: www.theater-bielefeld.de




Erzwungener Liebestod – Frederick Delius‘ „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ in Bielefeld

Ein roter Schirm, ein blau gefleckter Horizont: Bilder der Hoffnung in Sabine Hartmannshenns Inszenierung von "Romeo und Julia auf dem Dorfe" in Bielefeld. Die Bühne schuf Kaspar Zwimpfer. Foto: Bettina Stöß

Ein roter Schirm, ein blau gefleckter Horizont: Bilder der Hoffnung in Sabine Hartmannshenns Inszenierung von „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ in Bielefeld. Die Bühne schuf Kaspar Zwimpfer. Foto: Bettina Stöß

Von Jean-Jacques Rousseau stammt die Erkenntnis, Freiheit bestehe nicht darin, dass der Mensch tun könne, was er wolle. Sondern dass er nicht tun muss, was er nicht will. In Frederick Delius‘ Oper „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ sollen die beiden liebenden jungen Leute ständig tun, was sie nicht wollen: Die Väter verbieten ihnen den Umgang miteinander. Der „schwarze Geiger“ will ihnen ein Leben als verantwortungslose Vagabunden schmackhaft machen. Das „Volk“ versucht, sie in die Konventionen seiner rüden Belustigungen einzupassen.

Sali und Vreni, die Shakespeare-Figuren in einem engen, provinziellen Umfeld, sehen am Ende als Ausweg nur den gemeinsamen Gang in den Tod. In ihrer Bielefelder Inszenierung der Opernrarität zeigt Sabine Hartmannshenn ungeschönt, was das bedeutet: Vreni schneidet sich tief in den Unterarm, dann reicht sie das blutige Messer dem jungen Sali.

Frederick Delius‘ „A Village Romeo and Juliet“, in einem langen, mühevollen Prozess entstanden und 1907 in Berlin uraufgeführt, wird nicht ohne Grund in Bielefeld gezeigt: Die Familie Delius stammt aus der westfälischen Stadt, auch wenn Frederick – eigentlich Fritz – als Sohn deutscher Einwanderer in Bradford in Yorkshire geboren wurde. Noch heute leben Nachfahren in Bielefeld, gibt es dort ein Familienarchiv.

So verbindet das Theater stets willkommene lokale Bezüge mit einem aktuellen Trend: Delius‘ schwer einzuordnendes Werk – es steht zwischen Wagner-Nachfolge und -Ablehnung, musikalischem Impressionismus französischer Prägung und Anklängen an seinen Freund Edvard Grieg – hat in den letzten Jahren neues Interesse gefunden, unter anderem in wichtigen Produktionen in Karlsruhe und Frankfurt. Seine Oper „Koanga“, seit Jahrzehnten ungehört, wird im Herbst 2015 beim irischen Wexford Opera Festival zur Debatte gestellt. Und vor einer Generation, als Bielefeld mit John Dew ein Zentrum kreativer Opern-Archäologie gewesen ist, war dort schon einmal „Fenimore und Gerda“ zu sehen (1987/88).

Kaspar Zwimpfer baut für Sabine Hartmannshenn eine Bühne, deren reduktive Ästhetik den beiden deutlichsten Polen des Stücks entgegenkommt: auf der einen Seite die Anklänge an die drastische Sozialkritik der Vorlage, Gottfried Kellers „Die Leute von Seldwyla“; auf der anderen die Tendenz zu einer psychologisch-symbolistischen Studie, die dem Scheitern der jungen Menschen einen Zug ins Existenzialistische, wenn nicht sogar ins tristanhaft Unbedingte gibt. Verschiebbare Wände schaffen düstere Klausen, trennen oder vereinen Räume, stehen blau gefleckt und lichtdurchlässig für weite Himmels- oder Seelensphären.

Zentrale Figur für die Deutung: der "schwarze Geiger" (Frank Dolphin Wong). Foto: Bettina Stöß

Zentrale Figur für die Deutung: der „schwarze Geiger“ (Frank Dolphin Wong). Foto: Bettina Stöß

Zentrale Figur für die Deutung ist der „schwarze Geiger“: psychologisch ein Katalysator der seelischen Entwicklung der beiden Kinder, gesellschaftlich ein „Bastard“, ein Außenseiter, dem sein Recht vorenthalten wird. Aber er hat auch Züge einer unbestimmt-dunklen Gestalt, eines teuflischen Musik-Magiers. Unerklärt bleibt, warum das junge Paar sein verlockendes Angebot ausschlägt, in den entfernten „Bergen“ das freie Leben gesellschaftlich ungebundener Aussteiger zu leben. Mag sein, dass Vreni (in Bielefeld ganz norddeutsch: „Vrenchen“) und Sali von den tradierten Konventionen, wie ein gelingendes Leben auszusehen habe, nicht loskommen. Könnte aber auch sein, dass sie in einer hedonistischen Utopie eines ungebundenen Daseins die Erfüllung menschlichen Lebensglücks nicht erkennen können. Um bei Rousseau zu bleiben: Freiheit ist, nicht alles tun, sondern das Ungewollte lassen zu können.

Hartmannshenn changiert zwischen diesen Polen, ohne sich letztlich zu entscheiden – das ist die Schwäche ihrer handwerklich wieder bemerkenswert elaborierten Inszenierung. Die Regisseurin hat in Köln, Düsseldorf („The Rake’s Progress“, „Lohengrin“) und zuletzt in Bielefeld mit Verdis „Giovanna d’Arco“ unter Beweis gestellt, wie sie konzeptionelles Denken in schlüssige Bühnenaktion umsetzen kann. Da gibt es zu Beginn des zweiten der sechs Teile ein wundervoll poetisches Bild: Vreni sitzt allein auf einem einsamen Stuhl im zweigeteilten Raum; jenseits der trennenden Wand steht der Vollmond hinter einem Gazeschleier. In solchen Momenten braucht es keine Aktion, um Atmosphäre und Aussage in eins zu bringen.

Sarah Kuffner und Daniel Patacky als Vreni und Sali in Frederick Delius' "Romeo und Julia auf dem Dorfe" in Bielefeld. Foto: Bettina Stöß

Sarah Kuffner und Daniel Patacky als Vreni und Sali in Frederick Delius‘ „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ in Bielefeld. Foto: Bettina Stöß

Auf der anderen Seite stehen dann Szenen wie im fünften Bild: Das „Markttreiben“ auf nahezu leerer Bühne bedient sich einer vordergründigen Bewegungs- und Körpersprache, Schaukeln und Jahrmarktsstand kommen über ihren Requisiten-Charakter nicht hinaus. Auch die roten Schirme, die Vreni und Sali vom schwarzen Geiger bekommen, wirken zu gewollt zeichenhaft, um einen tragfähigen Symbolwert zu erreichen. Die Kostüme von Susana Mendoza, hinterwäldlerisch zeitgenössisch wie aus einem Versandhauskatalog mit Fünfziger-Jahre-Geschmack, lassen eher an die Sozialstudie Kellers denken – und unterstützen so den Schwebezustand der Deutung.

Auch die Musik will sich nicht zu verfeinertem Raffinement verständigen: Alexander Kalajdzic kann Ausrutscher in Einsätzen und ein paar verquere Intonationskickser nicht verhindern. Was nicht weiter bedeutsam wäre, hätte er zum Beispiel auf subtile Dynamik geachtet. Aber die Bielefelder Philharmoniker spielen so handfest auf, als wüssten sie nicht um die Akustik ihres Hauses.

Sicher kennt Delius‘ Musik den sämigen Strom einer harmonisch reich unterfütterten Melodie; sicher kennt sie die breite lyrische Emphase. Aber sie braucht auch das elastische Zurücknehmen, das wirkungsvolle Detail, ein Mikroklima für das Wachsen nuancierter Klänge. Das vermisst man in Bielefeld.

Nuancen sind eher Sache der Sänger: Sarah Kuffner und Daniel Patacky sind ein sorgsam gestaltendes Paar, innig und leidenschaftlich, mit hochfliegender Emphase und trüb getönter Depression. Beide Stimmen haben freilich ihre Probleme: Der Tenor bildet die Töne fest und nicht selten grell; die Sopranistin sollte den Kern des Klangs eher mit dem Atem als mit dem Einsatz von Vibrato suchen.

Moon Soo Park und Yoshiaki Kimura als Marti und Manz müssen sich um Subtilitäten nicht scheren: Sie singen die beiden recht realistisch gefassten Väter mit brachialem Vollton. Einen vorteilhaften Eindruck hinterlässt Frank Dolphin Wong: Als schwarzer Geiger changiert er stimmlich zwischen den entschiedenen Tönen des Übervaters und dem geschmeidigen Locken des Verführers. Den Eindruck, ein bloßer Herumtreiber zu sein, kann er mit seinem differenzierten Singen dennoch nicht ganz vermeiden.

Die Nebenrollen sind sorgfältig besetzt und gestaltet – von der Pfefferkuchenfrau Melanie Kreuters bis zum Schießbudenmann Roman Astakhovs. Nienke Otten und Sarah Davidovic gefallen in ihrem kurzen Auftritt: Sali und Vreni als Heranwachsende. Bei allen Einwänden ist dem Theater Bielefeld hoch anzurechnen, dieses bedeutende Werk der Nach-Wagner-Ära erneut zur Diskussion zu stellen.

Schön, dass es nicht dabei bleibt: Mit Ambroise Thomas‘ „Hamlet“ steht ab 28. Februar eine weitere Rarität auf dem Spielplan, die sieben Jahre nach dem „Tannhäuser“-Skandal in Paris 1861 (Wagners Oper ist ab 31. Mai zu sehen) mit Shakespeare und Anklängen an die Grand Opéra versuchte, eine Alternative zum bestimmenden Einfluss des Deutschen zu entwickeln. Es bleibt spannend in Bielefeld!

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