Unter dem Joch der Militär-Junta: „Tristan und Isolde“ in der Dortmunder Oper

König Marke (Karl-Heinz Lehner, links) behandelt Tristan (Lance Ryan) als Verräter (Foto: Thomas M. Jauk/Theater Dortmund)

König Marke (Karl-Heinz Lehner, l.) und Tristan (Lance Ryan). (Foto: Thomas M. Jauk/Theater Dortmund)

Ein bekanntes Zeichen warnt uns, ein gelbes Dreieck mit einem markanten Pfeil. Vorsicht, Hochspannung. Der Aufkleber ziert einen Stromkasten, den Brangäne und Isolde umklammern. Dann holt Isolde ein Beil hervor, schwingt es, als wäre sie Elektra, und schlägt auf den Kasten ein. Sie löscht das Licht, ruft Tristan herbei.

Was dann geschieht, ist mehr als ein Ausbruch rausch- und wahnhafter Liebe. Richard Wagner propagiert im zweiten Aufzug seiner Oper „Tristan und Isolde“ die radikale Abkehr von einer verhassten Welt. Bewusstseinsauslöschung und Todestrunkenheit sind die Ideale, die in dieser Nacht gedeihen.

Im Orchestergraben der Dortmunder Oper, die jetzt mit Wagners Meisterwerk in die Spielzeit startete, heizt Generalmusikdirektor Gabriel Feltz die fiebrigen Schübe an, mit denen sich die Leidenschaft der Hauptdarsteller Bahn bricht. Seine Vorliebe für Tempo-Überdehnungen einerseits und abrupte Beschleunigungen andererseits wirkt hier ausnahmsweise nicht befremdlich, sondern den Seelenvorgängen der Figuren entsprechend. Wagners Überwältigungsmusik mildert die buchhalterischen Tendenzen des Dirigats. Nach der anfänglichen Raserei der Liebesnacht, die Feltz nur mit einiger Mühe zusammen halten kann, beginnt die Musik zu schillern und zu schweben, von Harfen umrauscht. Auch mit Lautstärke-Exzessen hält Feltz diesmal angenehm zurück. Das hilft den Sängern, die einen rund vierstündigen Parforceritt zu überstehen haben.

Die „Bayreuth-Besetzung“, auf die das Theater im Vorfeld der Premiere wiederholt und medienwirksam hingewiesen hatte, bezieht sich auf Lance Ryan, der die Titelpartie bereits auf dem legendären Hügel sang, und auf die Isolde der Engländerin Allison Oakes, deren Auftritte in Bayreuth sich bislang auf die Gerhilde und Gutrune aus dem „Ring“ beschränken. Ihr überzeugendes Rollendebüt sowie die glänzende Brangäne der ebenfalls Bayreuth-erfahrenen Mezzosopranistin Martina Dike heben diesen Abend auf ein insgesamt gutes musikalisches Niveau.

Rache für Morold: Isolde (Allison Oakes) fordert Tristan (Lance Ryan) heraus (Foto: Thomas M. Jauk/Theater Dortmund)

Rache für Morold: Isolde (Allison Oakes) fordert Tristan (Lance Ryan) heraus. (Foto: Thomas M. Jauk/Theater Dortmund)

Die mädchenhaften Farben, die Allison Oakes der Isolde bei aller vehementen Attacke geben kann, nehmen ebenso für die Sopranistin ein wie ihr moderates Vibrato und ihre Textverständlichkeit. Ihre Stimme wirkt bis in extreme emotionale Ausbrüche hinein sicher geführt, zeigt nur wenige Härten und Kälte nur dort, wo die Figur dies verlangt. Mit Martina Dike hat sie eine herausragende Brangäne an ihrer Seite. Ihr warmer Mezzosopran lässt Brangänes Empathie inwendig umso stärker beben, je mehr noble Zurückhaltung sie sich auferlegt. Sie, die mit ganzem Herzen mit ihrer Herrin fürchtet und leidet, will mit ganzer Kraft das Gute, kann das Verderben jedoch nicht aufhalten.

Lance Ryan ringt zwei Akte lang mit der Titelpartie, die er mit verformten Vokalen, unsteter Tongebung und mit Überzeichnungen präsentiert. Indes besitzt der Sänger genug Erfahrung, um sich alle Kraft für den dritten Akt aufzusparen, den er dann doch respektabel stemmt. Solide Größen sind Karl-Heinz Lehner als König Marke und Sangmin Lee als Kurwenal.

Von der Inszenierung sei zuletzt gesprochen, denn sie ist ein ödes Ärgernis. Intendant Jens-Daniel Herzog fällt nichts Besseres ein, als Marke und die Seinen zur fettleibigen Militär-Junta herabzuwürdigen. In trostlosen Amtsstuben wird unentwegt geraucht und mit Pistolen gefuchtelt. Fiese Passkontrollen, Flüchtlinge, Folterszenen – es bleibt uns nichts erspart. Die Bühne von Mathis Neidhardt und die Kostüme von Sibylle Gädeke verströmen einen unbestimmt osteuropäischen Charme. Die Romantik aber nimmt vor solch plattem Politisieren Reißaus.

Zwei gegen den Rest der Welt: König Marke (Karl-Heinz Lehnet) sieht das nicht gern (Foto: Thomas M. Jauk/Theater Dortmund)

Zwei gegen den Rest der Welt: König Marke (Karl-Heinz Lehnet) sieht das nicht gern. (Foto: Thomas M. Jauk/Theater Dortmund)

Der Liebestrank zeitigt in Dortmund übrigens ungeahnte Folgen. Tristan und Isolde entbrennen nicht nur in wahnsinniger Leidenschaft, sondern verhalten sich plötzlich wie Vierjährige, die auf einem Kindergeburtstag zuviel Cola getrunken haben. Tristan hüpft wie ein Flummi, setzt sich die Offiziersmütze falsch herum auf, will die Thermoskanne als Fernrohr benutzen und grinst, als wäre er irre. Auch Isolde treibt plötzlich Allotria. Sollten wir etwa auf Thomas Manns Zauberberg gelandet sein? Fast möchte man die Liebenden darum beneiden, sich in der Liebesnacht die Augen verbinden zu können. Wir indessen müssen zusehen, wie der verwundete Tristan über die Drehbühne robbt, bis uns schwindelig wird. Ach Isolde, lösche die Zünde.

Weitere Vorstellungen bis 17. April 2016. Karten: 0231/ 50 27 222. Informationen: www.theaterdo.de/detail/event/16018/)

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen).




Dem Schauspiel droht eine Zwangspause – Dortmunder Theater präsentiert Programm

HŠuptling Abendwind und Die Kassierer: Eine Punk-Operette

Weiterhin im Programm des Schauspiels: „Häuptling Abendwind und die Kassierer“. Szene mit (v.l.) Wolfgang Wendland, Mitch Maestro und Uwe Rohbeck (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Schauspiel-Chef Kay Voges wirkte etwas angeschlagen. Nicht sein Tag: Auf dem Weg zur Spielplan-Pressekonferenz des Theaters Dortmund hatte ihn die Polizei angehalten, wegen Fahrens ohne Gurt. Deshalb war er auch etwas zu spät gekommen.

Das dickere Problem des Intendanten indes hat nichts mit dem Führen von Kraftfahrzeugen zu tun. Wie es aussieht, stehen er und sein 16-köpfiges Ensemble ab dem 20. März 2016 ohne Theater da, zumindest ohne Großes Haus. Ab dann nämlich werden die Werkstätten im Haus grundlegend renoviert, ist der Zuschauersaal blockiert.

Sechs Monate ohne Garantie

Mit der Spielzeit 2016/2017 kommt es dann noch ärger: Dann ist nämlich auch das Studio dicht, und wann das Große Haus in Spätsommer/Herbst 2016 wieder verfügbar sein wird, steht in den Sternen. Wer schon einmal mit Bauvorhaben zu tun hatte, weiß um die Unsicherheit planerischer Zeithorizonte. Dauert die Werkstättenrenovierung also länger als die veranschlagten sechs Monate, geht auch in der Saison 2016/2017 erstmal gar nichts im Großen Haus.

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Weiterhin im Programm ist das Ballett „Zauberberg“ von Xin Peng Wang (Foto: Theater Dortmund/Bettina Stöß/Stage Picture)

Umbaupläne waren bekannt

Nun ist das alles nicht neu. Schon vor einem Jahr, ebenfalls anläßlich der Spielplanvorstellungen, hatte Bettina Pesch als Geschäftsführende Direktorin die Renovierung der Werkstätten angekündigt. Es gab auch, seitens der Stadt in Sonderheit durch Kulturdezernent Jörg Stüdemann, Vorstöße zur Ersatzraumbeschaffung.

Doch weder im ehemaligen SAT.1-Studio am Phoenixsee noch im Gebäude des (mittlerweile verzogenen) Ostwall-Museums lassen sich aus verschiedenen Gründen Spielstätten realisieren. Zudem sind im Etat des Schauspiels keine Umzugskosten eingepreist, so daß jetzt keiner so genau weiß, wie es weitergehen soll.

Alles nur Show

Muß der Intendant mit einer „temporären Spartenschließung“ rechnen, sozusagen seine Leute nach Hause schicken? „Das Klima im Ensemble und bei den Mitarbeitern ist sehr beunruhigt“, berichtet Kay Voges. Sein Spielplan ist denn auch, der Sachlage geschuldet, zum Ende hin noch etwas unfertig.

Doch am Anfang wird geklotzt. Am 23. August spielt das komplette Ensemble mit, wenn „Die Show“ über die Bühne geht. Das „Millionenspiel um Leben und Tod“ (Untertitel), geschrieben von Voges, Anne-Kathrin Schulz und Alexander Kerlin, nimmt auf den gleichnamigen TV-Klassiker von Tom Toelle und Wolfgang Menge aus dem Jahr 1970 ebenso Bezug wir auf den aktuellen Wahn der Casting- und Container-Shows, und ist natürlich selber eine Mega-Show, die spannend zu werden verspricht.

Heiner Müller und Sylvester Stallone

Das Berliner „Zentrum für politische Schönheit“ wagt in „2099“ den Blick zurück auf unsere Jetztzeit und erzählt dem Publikum, wie alles weiterging, Jörg Buttgereit, dem Haus als „Splatter-Kultregisseur“ treu verbunden, steuert, inspiriert vom Film „Der Exorzist“, seine Studioproduktion „Besessen“ bei. Erwähnt seien noch „RAMBO plusminus ZEMENT“ – Heiner Müller meets Sylvester Stallone in einem „Live-Film“ von Klaus Gehre – und „Das Maschinengewehr Gottes“, eine Kriminal-Burleske von Wenzel Storch, dem Katholizismus-Geschädigten aus dem Wigwam.

Etwas einsam schaut aus all dem neumodernen Premieren-Material Becketts „Glückliche Tage“ als einziger Klassiker hervor. Das Programm wirkt hochgradig spannend, auch wenn keinem alles gefallen wird. Bleibt also zu hoffen, daß die Dortmunder Schauspielerinnen und Schauspieler ihr Programm auch spielen können, im Schauspielhaus und anderswo.

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„Jesus Christ Superstar“ von Andrew Lloyd Webber bleibt im Spielplan der Oper. Im Bild Alexander Klaws als Jesus (Foto: Theater Dortmund/Björn Hickmann/Stage Picture)

Paul Wallfisch geht

Ach, eins noch, der Intendant hätte es angesichts der prekären Raumsituation fast zu sagen vergessen: Obermusikus Paul Wallfisch verläßt Schauspielhaus und Dortmund und kehrt nach New York zurück.

Wechseln wir zur Oper, von der Intendant Jens-Daniel Herzog freudig zu berichten weiß, daß die Auslastung die 80-Prozent-Marke in der letzten Spielzeit deutlich übersprungen hat.

Zu den Schwergewichten unter den Premieren zählen hier Richard Wagners „Tristan und Isolde“ (Regie Herzog, musikalische Leitung Generalmusikdirektor Gabriel Feltz) oder auch Benjamin Brittens Oper „Peter Grimes“, für die der renommierte Regisseur Tilman Knabe gewonnen werden konnte.

Auffällig unter den Premieren ist neben Verdis „La Traviata“ und Händels „Rinaldo“ ein Musical-Dreiklang aus Cole Porters Klassiker „Kiss me, Kate“, dem Repertoire-Dauerbrenner „Jesus Christ Superstar“ und dem 2009 uraufgeführten Broadway-Rockmusical „Next to normal“ von Tom Kitt und Brian Yorkey. Gleichsam drei Musical-Epochen kommen also nacheinander auf die Bühne, Herzog hält eine solche Schwerpunktsetzung beim angloamerikanischen Musical für erfolgversprechend und trendgemäß.

Roxy ist weg

Indes ist Paul Abrahams Fußball-Operette „Roxy und ihr Wunderteam“ vom Dortmunder Spielplan verschwunden, ein Werk aus dem deutschsprachigen Repertoire der 30er Jahre nicht im Angebot. Der Trend zur Neu- oder Wiederentdeckung von Operetten verfemter Künstler, zumal des Juden Paul Abraham, der wesentlich von der Berliner Komischen Oper und ihrem sendungsbewußten Intendanten Barrie Kosky ausgeht, hat in Dortmund offenbar keinen langen Nachhall ausgelöst.

Aber „Der Rosenkavalier“ ist unsterblich! 1966 erklang Richard Strauss’ „Komödie für Musik“ zur Eröffnung des Opernhauses, am 12. März 2016 erklingt sie wieder, denn dann wird Dortmunds größte Spielstätte 50.

Im Ballett wagt sich Xin Peng Wang an eine Choreographie für „Faust“, Untertitel „Die Geburt der Gnade“. Kollege Benjamin Millepied stellt Tschaikowskys „Nußknacker“ auf die Bretter. „Drei Farben: Tanz“ und „Zauberberg“ werden wiederaufgenommen, im September 2015 und im Juni 2016 ist Internationale Ballettgala Nr. XXII und XXIII.

Musik für Charlie Chaplin

Die Dortmunder Philharmoniker und ihr Chef Gabriel Feltz wissen von allen Künstlern wohl am genauesten, was in der nächsten Saison gespielt wird. Die Programme der zehn philharmonischen Konzerte unter dem Rubrum „liebes_gefühls_rausch“ stehen fest, ebenso jene der Konzertreihen „Wiener Klassik“ und „Sonderkonzerte“, der Kammerkonzerte, Babykonzerte, Kinderkonzerte und Familienkonzerte.

Kraftvoll arbeiten sich die Musiker durch das klassische Repertoire, unterstützt von etlichen stattlichen Chören. Eine Ausnahme bildet das 2. Sonderkonzert am 29. (Schaltjahr!) Februar 2016. Da sorgt Gabriel Feltz nämlich für den Soundtrack zu Charlie Chaplins Stummfilm-Klassiker „City Lights – Lichter der Großstadt“ aus dem Jahr 1931. Übrigens verkündete auch der Generalmusikdirektor gute Auslastungszahlen: 75 Prozent im Durchschnitt, mehr, als in den vergangenen zehn Jahren erreicht wurden.

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Das Stück „Frau Müller muß weg“ – hier eine Szene mit Bettina Zobel – bleibt im Programm des Kinder- und Jugendtheaters (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Angst um die Spielstätte

Schließlich das Kinder- und Jugendtheater – KJT. Direktor Andreas Gruhns Programm ist gekennzeichnet durch das Bemühen, jugendlichen Themen möglichst nahe zu sein. „In was für einer Welt wollen wir leben?“ wabert als eine Art universeller Leuchtschrift über der Liste recht unterschiedlicher Produktionen.

Da gibt es in zielgruppengerechter Adaption zum Beispiel Schillers „Wilhelm Tell“ zu sehen, und gänzlich unkaputtbar ist Oscar Wildes „Gespenst von Canterville“ auch im Dortmunder KJT eine Stütze des Repertoires. Es gibt etwas für Kinder ab 3 („Als die Musik vom Himmel fiel“) und etwas Religiöses für „Kommunionkinder“, es gibt Kooperationen und ein mobiles Stück für Klassenräume („Gespenstermädchen“ von Christine Köck und Rieke Spindeldreher) – und es gibt bei den Wiederaufnahmen weiterhin Lutz Hübners Erfolgsgeschichte „Frau Müller muß weg“.

Auch über Andreas Gruhns gefurchter Stirn schwebte unübersehbar ein mittleres Besorgniswölkchen, während er sein Programm vortrug. Denn auch ihm, dem altgedienten Kämpen vom Kinder- und Jugendtheater, droht gleich seinem Kollegen Kay Voges der Verlust der Spielstätte. Schon seit vielen Jahren gilt die Bühne an der Skellstraße als suboptimal, und der Mietvertrag läuft bald aus. Doch blieb die Suche nach einem neuen Ort bislang erfolglos.

 Infos: www.theaterdo.de

 Das neue, ausführliche Programmbuch „15/16“ weist eine muntere, orange dominierte Farbgestaltung auf. Es liegt im Theater und an vielen anderen kulturaffinen Orten aus.




Letzte Fragen, laut und lustig – „The Return of Das Goldene Zeitalter“ im Dortmunder Theater

Premiere von „The Return of Das Goldene Zeitalter“ im Dortmunder Theater. Viel Bild, viel Ton – und irgendwann stimmt das Ensemble Liedzeilen aus einem berühmten Song der Puhdys an: 

„Jegliches hat seine Zeit / Steine sammeln, Steine zerstreu’n / Bäume pflanzen, Bäume abhau’n / Leben und sterben und Streit.“

The Return of DAS GOLDENE ZEITALTER

„The Return of Das Goldene Zeitalter“ – Szene mit Uwe Schmieder und Merle Wasmuth (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Das Lied entstand Mitte der 70er Jahre in der DDR und erklang auch im Film „Die Legende von Paul und Paula“ mit Angelica Domröse und Winfried Glatzeder. Autor des Films und Songtexter war Ulrich Plenzdorf. Die Zeilen sind schön, wahr und uneingeschränkt zitierfähig; wenn man sie indes, wie es nun auf der Bühne des Dortmunder Schauspiels geschieht, Mal um Mal gesungen hört, fragt man sich schon, wo der Rest geblieben ist. Denn recht eigentlich ist das Lied mit der Anfangszeile „Wenn ein Mensch kurze Zeit lebt“ ja ein Liebeslied voller Verletzlichkeit, ein Lied des unausweichlichen Abschieds und der Trauer darum, mit diesen sich zum Teil mehrfach wiederholenden Zeilen:

Meine Freundin ist schön. / Als ich aufstand, ist sie gegangen. / Weckt sie nicht, bis sie sich regt. / Ich hab‘ mich in ihren Schatten gelegt.

Ich habe mich gefragt, warum ich diese Zeilen nicht in Dortmund gehört habe, in dem drei Stunden mächtigen, pausenlosen Eigenprodukt „The Return of the Goldene Zeitalter“ von Alexander Kerlin und Kay Voges, wo die Steine-Zeilen, wie gesagt, wirkmächtig eingebaut sind. Gewiß, es steht Autoren frei, Zitate nach Belieben auszuwählen, und das haben die beiden auch getan. Aber trotzdem. Etwas Wichtiges fehlt.

The Return of DAS GOLDENE ZEITALTER

Kaum wiederzuerkennen: Caroline Hanke und Björn Gabriel (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Freudloser Kreislauf

Während noch der Zuschauerraum sich füllt, geschieht schon etwas auf der Bühne. Wie aufgezogen steigen Figuren, mit blonden Perücken und blauen Mädchenschuluniform einheitlich ausstaffiert, rhythmischen Schlägen folgend eine Treppe herab, verschwinden hinter einer Tür, tauchen am oberen Treppenrand wieder auf und wiederholen ihren Abstieg; das Bild wird später in einem Video erklärt, es ist quasi die Bühnenadaption eines Kinderspielzeugs, einer Art Achterbahn, bei der Spielfiguren mechanisch zum oberen Punkt transportiert werden, um von dort eine vielfach geschwungene Bahn herabzusausen.

Unten angekommen, geht es von vorn los, ein endloser Kreislauf, Sinnbild – wenn man es denn auf die Theaterbühne stellt – eines in endlosen Wiederholungen im Grunde ereignislos dahingehenden Lebens. Dem indes steht der Titel der Veranstaltung entgegen. Das einem Zitat von Heinrich Heine entlehnte „Goldene Zeitalter“ liegt nach Meinung des Dichters noch vor uns und keineswegs in mythischer Vergangenheit. Es gibt also so etwas wie ein Menschheitsziel; darüber läßt sich trefflich philosophieren.

The Return of DAS GOLDENE ZEITALTER

Hier nimmt die Legende von Adam und Eva ihren Anfang. In den Stoffpuppenkostümenstecken Caroline Hanke und Eva Verena Müller (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Video und Klanggewummer

Die Dortmunder Produktion im Großen Haus, wie könnte es anders sein, bietet zu diesem Zweck wieder reichlich Videoarbeit auf, manch zwerchfellreizendes Klanggewummer und viele, viele Wiederholungsschleifen, gleichzeitig aber auch eine Menge Schauspielerarbeit und ansehnliche, muntere Ideen.

Es wird nicht langweilig in den gut drei Stunden, die das Ganze dauert. Und das zwiespältige Angebot, den Saal nach Belieben zu verlassen und, gerne auch mit Kaltgetränken, wieder aufzusuchen, wird von der großen Mehrheit der Zuschauer nicht genutzt. Diese neue Sitte, „pausenlos“ zu spielen und dem Publikum das beliebige Kommen und Gehen zu gestatten, ist sowieso eher eine Unsitte, eine Selbstentwertung des Theaters, die hoffentlich bald wieder verschwindet. Aber wer weiß.

„Ich war – ich bin – ich werde sein“

Reflektorisches denn also zum großen Menschheitsgeneralthema, kräftig gewürzt mit den Zitaten großer Geister, mit etwas Lokalkolorit und mit Alltagserfahrungen der Überforderung und der Ernüchterung. Einer von vielen Heiterkeitserfolgen sind burlesk nachgespielte Tagesschauszenen am Küchentisch, die in der Diktion der griechischen Tragödie – Ortsmarke Theben – die Enttäuschungsträger der letzten Zeit zelebrieren: den ehemaligen Limburger Luxus-Bischof Tebartz-van Elst, den Steuerhinterzieher Uli Hoeneß, den Pädophilen Sebastian Edathy und noch einige mehr.

Die Geschichte von Adam und Eva und dem Apfel der Erkenntnis wird – nebst Kain-und-Abel-Exkurs -, als langgezogene Zweipersonennummer in weichen Stoffpuppenkostümen präsentiert, und auf dem Gipfel des Ganzen muß Uwe Schmieder in gänzlicher Nacktheit über die vorderen Zuschauerränge klettern und die Selbstvergewisserung seiner Existenz Mal um Mal triumphierend herausschreien. Bis zum dann doch herbeigesehnten Ende muß das Ensemble dann „Internationale Solidarität“ skandieren (das „Hoch die…“ wurde gestrichen), und selbst als der Eiserne Vorhang unten ist, ist es noch nicht vorbei, flimmern klangunterlegte Videosequenzen des just Vergangenen über das dunkle Metall. Solidarität? Wofür? Womit? Auch als langjähriger, hartgesottener Theatergänger ertappt man sich bei dem Gedanken, ob das alles wirklich sein muß.

The Return of DAS GOLDENE ZEITALTER

Eva Verena Müller als hinreißend quengelige grüne Raupe (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Nicht ohne Heiner Müller

Wenn Autoren so wie hier den Kosmos ihres Erkennens zelebrieren, führen sie natürlich auch dessen Grenzen vor. Und die sind nicht unendlich. Brecht muß immer wieder fürs Zitiertwerden herhalten, später auch Frank Castorf und Leander Haußmann und natürlich Heiner Müller, einer der letzten Welterklärer des Theaters, an dessen Lippen die Nachkommenschaft ergeben hängt. Auch am Begriff der Urheberschaft arbeitet sich das Stück ab, die, was nicht zu leugnen ist, in einem gewissen, wenn nicht gar dialektischen Verhältnis zur Veränderung der Welt dergestalt steht, daß sie in dem Maß an Bedeutung verliert, in dem die Welt sich tatsächlich im Sinne des Urhebers verändert. Konkreten Anlaß bietet das Aufführungsverbot, das der Suhrkamp-Verlag als Rechteinhaber gegen  Castorfs „Baal“-Inszenierung am Münchner Residenztheaters ausgesprochen hat, weil der in des Meisters geheiligten Zeilen zu viel Fremdtext eingebaut habe. Na gut.

Ein gänzlich humorfreier Feuerwehrmann fordert den Brandschutz ein („Alle reden vom Theater – aber wer redet vom Brandschutz?“), Joseph Beuys’ berühmte „Ja, ja, ja – nee, nee, nee“-Klangskulptur gelangt zum Vortrag, und es geschieht auf bunter Bühne einiges noch mehr; indes bleibt bei alledem doch unbeantwortet, was die Welt im Inneren zusammenhält. Beziehungsweise, welche Energie den Fortschritt vorantreibt. Könnte es vielleicht die Liebe sein? Liebe zwischen zwei Menschen, um die es den Puhdys in ihrem Lied geht und die man hier konsequent ausblendet? (Und die, das nur am Rande, wesentliche Antriebskraft des Theaters ist?) Es lohnt, darüber nachzudenken.

The Return of DAS GOLDENE ZEITALTER

Videoeinblendung mit (von links) Uwe Schmieder, Eva Verena Müller, Björn Gabriel und Merle Wasmuth (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Jedenfalls hat dieses Stück, dessen Untertitel „100 neue Wege, dem Schicksal das Sorgerecht zu entziehen“ pfiffig klingt, aber trotz des Zählwerks mit seinen roten Zahlen am rechten Bühnenrand ein bißchen anmaßend ist, nicht geringen Unterhaltungswert. Zudem ist es wirklich ein Eigenprodukt und nicht die Verwurstung literarischer Vorlagen nach den Ideen eines selbstherrlichen Regisseurs.

Die Schauspieler-Riege – Björn Gabriel, Caroline Hanke, Carlos Lobo, Eva Verena Müller, Uwe Schmieder und Merle Wasmuth – zeigt unbedingten Einsatz, ohne indes darstellerisch ihre Möglichkeiten ausschöpfen zu müssen. Und die Verwendung von Videotechnik schließlich, die man ja nicht uneingeschränkt lieben muß, ist hier über weite Strecken durchaus überzeugend.

Doch blieben etliche Plätze im Zuschauerraum bei dieser Uraufführung unbesetzt. Wer allerdings gekommen war, zeigte sich erwartungsgemäß begeistert.

Nächste Termine: 

Samstag, 7. März, Donnerstag, 30. April.
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Zwei gefährliche Geradeausdenker: Brechts „Flüchtlingsgespräche“ in Dortmund

Was tut einer den lieben langen Tag, wenn er vor den Nazis in ein fremdes Land flüchten mußte? Nun, er langweilt sich. Er wünscht sich interessante Gesprächspartner, und weil er sie nicht findet, führt er Selbstgespräche. So oder so ähnlich mag es wohl gewesen sein, als Bert Brecht in den späten 30er Jahren seine „Flüchtlingsgespräche“ in Svendborg (Dänemark) notierte. Was er damals, in dramatischer Form, seinen Figuren Kalle und Ziffel in die Dialoge schrieb, war jetzt im Dortmunder Schauspiel zu sehen: Eine für dieses Haus mittlerweile ungewöhnliche, keineswegs jedoch reizlose Veranstaltung.

Flüchtlingsgespräche

Jürgen Mikol (links) als Kalle und Andreas Weißert als Ziffel in Brechts „Flüchtlingsgesprächen“- (Foto: Theater Dortmund/Djamak Homayoun)

Viel Biographisches erfahren wir nicht über die beiden Männer, die sich zufällig zunächst an einem Tisch im Bahnhofsrestaurant von Helsinki treffen. Kalle ist ein rechtschaffener Proletarier, Metallarbeiter, Ziffel Physiker. Man redet über naheliegende Migrantenthemen zunächst, über Pässe, über Unterkünfte, doch bald ist man natürlich schon bei Deutschland, bei deutscher Ordnung und deutscher Kraft und bei den Verhältnissen, die in der alten Heimat unter den Nazis monströse Veränderungen erfahren.

Ziffels kauziges Raisonnieren über „erste Kraft“ und „letzte Kraft“, sein Einlassung, daß es doch viel einfacher wäre, sein Ziel mit – eben – erster statt mit letzter Kraft zu erreichen, ist immer noch ein hübsches Brechtsches Kleinkunstjuwel, und es bleibt in diesem Stück nicht das einzige. Beide nämlich – Kalle, der meistens nur bekräftigend zuhören muß, und Ziffel mit seinem Hang zum Monologisieren – sind gefährliche Geradeausdenker, deren scheinbar zwangsläufige Erkenntnisse auf mitunter groteske Art entlarven.

Hellseherisch geradezu sind die Gedanken über die Volkswirtschaft, die so kompliziert geworden ist, daß niemand mehr sie überblicken kann. Und auch die Sätze über die Schweiz, in der Reise-, Meinungs- und Pressefreiheit zwar bestehen, aber keineswegs zu weit getrieben werden dürfen, könnten vor kurzem erst geschrieben sein. Scharfes Denken, so Ziffel, sei schmerzhaft; der vernünftige Mensch vermeide es, wo immer er könne. Und wenn solche Sätze fallen, die eigentlich ja eher deprimierend sind, dann vermeint man doch ein Augenzwinkern im Gesicht des Schauspielers zu erkennen, der diesen aus seinem Land vertriebenen Weisen wider Willen spielt.

Flüchtlingsgespräche

Gespräche unterm (angepißten) Hakenkreuz: Jürgen Mikol (links) als Kalle und Andreas Weißert als Ziffel (Foto: Theater Dortmund/Djamak Homayoun)

Andreas Weißert gibt den Physiker Ziffel, Jürgen Mikol ist sein durchaus kongeniales Gegenüber Kalle. Mikol war lange im Dortmunder Ensemble und ist dem Publikum noch gut bekannt. Auch an Weißert, der in Dortmund von 1975 bis 1980 Oberspielleiter war und der seitdem auf vielen weiteren Bühnen stand, werden sich viele noch erinnern. Die beiden stellen die „Flüchtlingsgespräche“ untadelig als konzentriertes Kammerspiel auf die Bühne, verzichten auf inszenatorische Schnörkel und erfreuen im Vortrag der mal gezierten, mal abgehobenen, oft messerscharfen und immer unverwechselbaren Brechtschen Zeilen ihr Publikum, das an diesem Abend etwas älter ist als sonst in Dortmund.

Zwischen den szenischen Dialogen bringen die Akteure aktuelle Texte zu Gehör, die wohl eine unerfreuliche Nähe heutiger politischer Entwicklungen zu denen von damals suggerieren sollen. Ein Zitat kommt dann – kleines Ratespiel für das Publikum -, nein, nicht vom Bundespräsidenten, sondern von Adolf Hitler. Richtig entlarvend ist das aber trotzdem nicht, weil man mit aus den Zusammenhängen gerissenen Texten alles mögliche „beweisen“ kann, und überhaupt wären diese Aktualisierungen nicht nötig gewesen.

Wenn dem Zusammentreffen der beiden Männer trotz widriger Flüchtlingsexistenz ein gutes Maß an Behaglichkeit und Entspanntheit innewohnt, so wohl einfach deshalb, weil sie schon etwas älter sind. Zwar ist Jürgen Mikol trotz seiner 73 Jahre noch immer ein Mime mit beneidenswerter Beweglichkeit, zelebriert der achtzigjährige (!) Andreas Weißert seine Rolle, leicht unterspielend, mit einer Souveränität, die man auch vielen jüngeren Kolleginnen und Kollegen gönnen würde, doch sind die beiden eben Senioren, die Rückschau halten; nicht Männer mittleren Alters, die durch die Flucht vor den Nationalsozialisten brutal aus ihren Lebensbezügen gerissen wurden.

Brechts „Flüchtlingsgespräche“ also gezeichnet in den milden Farben des Lebensabends, nun gut. Trotzdem ist es ein Vergnügen, das Stück und diese beiden wunderbaren Schauspieler zu erleben; wie es überhaupt erfreulich ist, endlich wieder etwas von Bert Brecht auf der Dortmunder Bühne zu sehen, und sei es auch nur ein kleines Kammerspiel. Das Publikum zeigte sich sehr angetan und spendete reichen Beifall.

Nächster Termin: 8. März, 18.30 Uhr. Karten Tel. 0231 / 50 27 222, www.theaterdo.de




Weihnachtsmärchen in Dortmund: Mit Sumsemann zu Darth Vader

Peter und Anna träumen vom Mond... Foto: Birgit Hupfeld

Peter und Anna träumen vom Mond… Foto: Birgit Hupfeld

In Märchen geht es bekanntlich oft ganz schön zur Sache. Gut trifft auf Böse – und bis es zum Happy End kommt, wird vergiftet, aufgefressen, verzaubert und verstoßen. Auch die vor gut 100 Jahren veröffentlichte Kindergeschichte von „Peterchens Mondfahrt“ ist nichts für Angsthasen.

Bis Peter und seine Schwester dem fiesen Mondmann endlich das sechste Bein des Maikäfers Sumsemann abgejagt haben, gibt es einen fürchterlichen Kampf. So ist das auch in „Peters Reise zum Mond“, dem Weihnachtsmärchen des Dortmunder Kinder- und Jugendtheaters (für Kinder ab 6 Jahren), das im großen Schauspielhaus seine Uraufführung erlebte.

Anders als in der Vorlage von Gerdt von Bassewitz wird der Mondmann jedoch nicht mit Waffen besiegt – sondern mit weiblichen Worten. Am Ende erklärt er seine Bösartigkeit mit einer schlimmen Kindheit – und entschuldigt sich bei allen. Eine überraschende Wendung in einer rundum zauberhaften Inszenierung.

Andreas Gruhn, Leiter des Kinder- und Jugendtheaters (KJT), schrieb und inszenierte „Peters Reihe zum Mond“ als frisches Weltraummärchen: Er kreuzte das Originalmärchen mit Motiven aus Star Wars und Star Trek. Es gibt Kämpfe mit farbig leuchtenden Laserschwertern und rumpelige Weltraumflüge mit dem Raumschiff Alpha 51-80, aber auch märchenhafte Kulissenbilder, die Groß und Klein „Ahs“ und „Ohs“ entlocken. Etwa, wenn Peter, seine Schwester Anna und der Sumsemann, von Seilen gehalten, durch den dunklen Bühnenraum schweben, ein funkelnder Sternenhimmel im Hintergrund.

Showdown: Der Mondmann als Darth Vader. Foto: Birgit Hupfeld

Showdown: Der Mondmann als Darth Vader. Foto: Birgit Hupfeld

Die Heldengeschichte um die beiden mutigen Kinder und den bangbüxigen Maikäfer (Andreas Ksienzyk) hat Andreas Gruhn verkürzt: Auf ihrem Weg zum Mond machen Peter (Steffen Happel) und Anna (Désirée von Delft) Halt bei Commander Allister (Rainer Kleinespel). Der hält seine Raumstation mit Kontaktspray in Schuss und kämpft gegen sich ablösende Sonnenkollektoren, als die drei Besucher ihn um interstellare Unterstützung bitten. Zu viert fliegen sie zur Nachtfee auf den Planeten Nocturnus (Bianka Lammert im Prinzessin Leia-Look). Sie ist die Schwester des Mondmanns und soll helfen. „Wir müssen einen Weg zu seinem Herzen finden“, gibt sie die Devise vor, obwohl ihre Berater im Hintergrund auf Krieg drängen.

Fliegen ist gar nicht schwer. Foto: Birgit Hupfeld

Fliegen ist gar nicht schwer. Foto: Birgit Hupfeld

Es kommt zum Showdown auf dem Mond: Der Mondmann (Götz Vogel von Vogelstein im Darth-Vader-Kostüm) steht schon kurz vor dem Sieg, als die mutige Anna ihm unangenehme Wahrheiten ins Gesicht schleudert: Du vergreifst dich ja immer nur an Schwächeren. Du wirst niemals einen Freund haben. Da weint der Mondmann, nimmt seine Maske ab – und gewinnt eben dadurch neue Freunde. Eine Wendung, die aus pädagogischer Sicht besser in die heutige Zeit passt als ein Sieg über den Mondmann – und die dann doch ein wenig unfreiwillig komisch ist.

Spektakulär sind Bühne und Kostüme von Oliver Kostecka: Die Kostüme wegen ihrer futuristischen Opulenz, die Bühne wegen des phantasievollen und geschickten Einsatzes von Videos (Peter Kirschke), Licht und Schatten. Statt auf aufwändige Aufbauten setzt das Bühnenbild auf Schattenspiel, Filme und Projektionen, um die Zuschauer in die unendlichen Weiten des Weltraums zu versetzen.

Zum außerirdischen Gesamterlebnis gehören auch das „Mondfliegerlied“ und andere Songs von Michael Kessler. Nur das gemeinsame Abschlusslied, bei dem die Schauspieler mit Taschenlampen auf der dunklen Bühne tanzen, dürfte ruhig eine Spur fetziger sein.

Bis 24. Februar im Schauspielhaus Dortmund , Termine hier, Karten: 0231/55-27222

(Der Text erschien im Westfälischen Anzeiger, Hamm)




Verstaubt: Das Theater Dortmund startet mit Verdis „Maskenball“ in die neue Spielzeit

Der Page Oscar (Tamara Weimerich) auf dem Maskenball, auf dem die Attentäter zuschlagen (Foto: Thomas M. Jauk/Theater Dortmund)

Der Page Oscar (Tamara Weimerich) auf dem Maskenball, auf dem die Attentäter zuschlagen (Foto: Thomas M. Jauk/Theater Dortmund)

Der Schuss fällt irgendwo aus dem Dunkel. Tödlich von der Kugel eines Verschwörers getroffen, bricht der lebens- und liebesfrohe König Gustav III von Schweden zusammen. Als Riccardo, Gouverneur von Boston, begegnet uns der Herrscher in der Oper „Ein Maskenball“ von Giuseppe Verdi wieder. Der hatte seine liebe Not, das Werk durch die Zensur der österreichischen Besatzer zu bringen, und musste deshalb einem Wechsel des Schauplatzes zustimmen.

Bei Katharina Thoma, Hausregisseurin am Theater Dortmund, erfährt der Regent nun eine weitere Verwandlung: Vor uns liegt Österreichs 1914 in Sarajevo ermordeter Thronfolger Franz Ferdinand. Gleichsam mit Gewalt und auf den letzten Metern biegt Katharina Thomas Version in diese Schlusskurve ein. Der Pagenjunge Oscar erhält Stahlhelm und Uniform, der Chor hält weiße Kreuze in die Höhe, Menetekel des drohenden Massensterbens bei Verdun.

Zwar bringt die Regie bereits im ersten Bild eine Landkarte aus der Zeit nach der Jahrhundertwende ins Spiel. Aber das menschliche Drama zwischen dem etwas zu sinnenfrohen Regenten und seinem treuen Freund Renato, der sich um seine Frau Amelia betrogen wähnt und deshalb zu den Verschwörern überläuft, ist vom historischen Rahmen unabhängig.

Die Koproduktion mit Londons Royal Opera House Covent Garden, von der Dortmunder Theaterleitung voller Stolz als Beweis für das angeblich gewachsene Renommee des Hauses verkündet, gebiert erhebliche Zwänge. Die aus London angereiste Bühnenbildnerin Soutra Gilmoure wuchtet düstere, teils neo-romanische Fassaden auf die Bühne, die erdrückend und stilistisch nicht immer einheitlich wirken. Die etwas altbackene Pracht der Kostüme von Irina Bartels lässt Anpassungen an den britischen Geschmack vermuten.

Welche Möglichkeiten bleiben da der Regie? Katharina Thoma leuchtet das Dreiecksdrama mit psychologisch sicherem Gespür aus und zeigt in den besten Momenten, wie schmal der Grat sein kann zwischen heiterer Maskerade und tödlichem Ernst. Indes bringt die Festlegung auf die Jahre vor 1914 keine Deutungshoheit oder neue Perspektiven, sondern führt nur dazu, die Produktion oft recht staubig aussehen zu lassen.

Die Magierin Ulrica (Anja Jung) liest den Tod aus der Hand von Riccardo (Stefano La Colla. Foto: Thomas M. Jauk/Theater Dortmund)

Die Magierin Ulrica (Anja Jung) liest den Tod aus der Hand von Riccardo (Stefano La Colla. Foto: Thomas M. Jauk/Theater Dortmund)

Musikalisch bietet dieser „Maskenball“ Solides, ohne wahre Pracht oder Eleganz zu entfalten. Susanne Braunsteffer leiht der Amelia einen kraftvollen Sopran mit Leidenstönen. Mag ihr Porträt einer innerlich zerrissenen Frau auch nicht immer subtile Facetten erfassen, formt sie die Partie doch souverän durch. Stefano La Colla hat als Riccardo weit mehr zu kämpfen. Sein Tenor, der Schmelz durch Forcieren erreicht und schon zu Beginn einige Unausgewogenheiten anklingen lässt, wird zum Finale hin immer angestrengter und steifer. Neben diesen Gästen trumpft Ensemblemitglied Sangmin Lee als sonorer, zunehmend von Gram und Rachegelüsten erschütterter Renato auf. Der Page Oscar (Tamara Weimerich) und die Magierin Ulrica (Anja Jung) bleiben auch stimmlich eher am Rande des Geschehens.

Nach einer Startsaison, in der Dortmunds Generalmusikdirektor Gabriel Feltz häufig einer Liebe für krachende Lautstärken nachgab, sind die Dortmunder Philharmoniker im „Maskenball“ endlich wieder dynamisch differenzierter zu hören. Da gibt es federnde, im Schlussbild auch schäumend-vitale Klänge, atemlos Düsteres, wenn auch wenig psychologische Ausleuchtung. Statt vom Orchester, wird diese von der Lichtregie übernommen (Olaf Winter). Als starkes Plus sind Chor und Extrachor des Theaters zu nennen, die diesem Maskenball auch stimmlich viel quirligen Elan geben.

Wurde auf dem Deckblatt des Programmhefts womöglich ein Wort vergessen? Acht große Lettern behaupten darauf markig: „Oper lebt“. Nach diesem Abend ist nicht auszuschließen, dass damit Opas Oper gemeint war. Vielleicht ist dies der Grund, warum das erstaunlich jugendlich wirkende Produktionsteam neben viel Beifall einige wütende Buhrufe kassierte.

(Termine, Karten und Informationen: http://www.theaterdo.de/detail/event/ein-maskenball-un-ballo-in-maschera/)




Tannhäuser im Christusgewand: Kay Voges inszeniert in Dortmund erstmals eine Oper

Elisabeth (Christiane Kohl) und Hermann, Landgraf von Thüringen (Christian Sist. Foto: Thomas M. Jauk/Theater Dortmund)

Elisabeth (Christiane Kohl) und Hermann, Landgraf von Thüringen (Christian Sist. Foto: Thomas M. Jauk/Theater Dortmund)

Venus spült in der Küche Geschirr, während Tannhäuser vor dem Fernseher gammelt. Er trinkt Dosenbier, zappt mit der Fernbedienung durch die vielen Kanäle. Auf Leinwänden flimmert an uns vorbei, was er sieht: Fußball, Wetten dass, Nachrichten, Syrien, der Wetterbericht, Sportschau, noch mehr Fußball. Tannhäuser hat genug. Er schaltet aus, wendet sich um und macht seinem Überdruss Luft. „Zuviel. Zuviel!“

Es kommt, wie es kommen muss: Richard Wagners Tannhäuser reißt sich auch in der neuen Version von Kay Voges vom Venusberg los. Aber Dortmunds Schauspielchef, der sich mit dieser Inszenierung erstmals in die Welt der Oper vorwagt, hat schon in der Ouvertüre ein Feuerwerk an Bildern und Ideen gezündet. Wie so oft, funktioniert das bei ihm über Videoeinspielungen (Daniel Hengst), die er zu Beginn des Stücks fast im Übermaß einsetzt. Indes ist die Bilderflut voller Hintersinn. Sie führt tief in das Spiel um Liebe und Erlösung hinein.

Gleich zu Beginn erblicken wir einen Tannhäuser mit Dornenkrone, ans Kreuz der Medien geschlagen. Aber Voges setzt die Titelfigur keineswegs mit Christus gleich, wie auch Elisabeth nicht einfach Maria ist und Venus nicht Maria Magdalena. Vielmehr schiebt er die Geschichten und Figuren wie zwei Folien übereinander. Er spielt mit den Unschärfen und Übereinstimmungen, die sich daraus ergeben, und spürt der Erlösungsproblematik nach, die Richard Wagner auch in anderen Werken umkreist. Wie in Scorseses Film „Die letzte Versuchung Christi“, den Voges hier zitiert, gibt es für Tannhäuser eine andere Möglichkeit als den Büßertod. Er könnte für immer mit Venus leben und sich weltlichen Genüssen hingeben. Doch Tannhäuser wählt die Pilgerfahrt und nimmt damit großes Leiden auf sich.

Voges, der die Eigenschaft besitzt, sich selbst nicht immer allzu ernst zu nehmen, durchbricht Wagners Weihe durch Momente von Witz und Leichtigkeit. Das Imponiergehabe der schrill gekleideten Wartburg-Sänger, die köstlich ironischen Kontrapunkte beim Aufzug der Festgäste bereiten Vergnügen. Aber nicht alles gelingt. Das erste Wiedersehen von Tannhäuser und Elisabeth wirkt trotz Einsatz der Drehbühne ratlos. Die Romerzählung wird vollkommen statisch vor einer Leinwand gesungen, die Tannhäusers Mimik in quälend langer Super-Slow-Motion zeigt.

Tannhäuser wird erst bedroht, dann verbannt (Daniel Brenna. Foto: Thomas M. Jauk/Theater Dortmund)

Tannhäuser wird erst bedroht, dann verbannt (Daniel Brenna. Foto: Thomas M. Jauk/Theater Dortmund)

Es ist ein Jammer, dass die Inszenierung musikalisch so schwach beglaubigt wird. Daniel Brenna ringt am Premierenabend schwer mit der Titelpartie. Seine Stimme wird bereits beim Abschied von Venus so rau, dass ein Abbruch der Vorstellung möglich erscheint. Sein Tenor klingt unstet, in der Höhe statisch oder flackernd, in der Romerzählung kurzatmig und deklamatorisch. Die Venus von Hermine May kennt dunkle Mezzo-Flammen, aber auch Schärfen und ein expansives Vibrato. Für den einzig wahren Lichtblick sorgt Christiane Kohl, die Elisabeth eine helle, leuchtende Sopranstimme mit klarer Diktion verleiht. Auch Christian Sist muss sich als Landgraf von Thüringen nicht verstecken. Gerardo Garciacano singt den Wolfram von Eschenbach steif und gaumig.

Die Dortmunder Philharmoniker spielen unter der Leitung von Gabriel Feltz Töne, ohne Musik zu machen. Sie bringen das Kunststück fertig, der Hallenarie jedes Strahlen und jeden Jubel zu nehmen. Feltz buchstabiert Choräle durch, seine Tempi sind blockhaft, sein Dirigierstil ist blutlos und akademisch. Oft klappert es vernehmlich zwischen Bühne und Orchestergraben. Die Chöre sind von Granville Walker solide einstudiert, verlieren im Fortissimo aber an Klangkultur.

Jammerschade dies, wie gesagt. Was hätte diese Produktion für ein Knaller werden können! Lange nicht mehr hat eine Dortmunder Premiere so starke und kontroverse Reaktionen hervorgerufen. Heftige Bravorufe und wütende Buhs hielten sich die Waage.

Ob man den neuen Tannhäuser aber nun frech findet oder trashig, verrückt oder vielleicht sogar ein wenig blasphemisch: Respektlosigkeit vor Richard Wagners Werk ist Voges in keiner Weise vorzuwerfen. Eher wird ihm die Fülle seiner Gedanken zum Problem: Er hat sich gründlicher mit dem Stoff auseinander gesetzt als manche, die gerne behaupten, Wagners Willen genau zu kennen.

Sollte darin etwa ein Affront liegen? Wer etwas von Voges Inszenierung haben will, darf weder denkfaul sein noch erstarrt in der eigenen Meinung. Wer aber gerne tiefer blickt wird staunen, was der Opernnovize alles ans Licht holt.

(Informationen und Termine: http://www.theaterdo.de/detail/event/4134/)




Stimmungsmache, Skandalgerede, Voraburteile: Dortmund und die „Tannhäuser“-Premiere

Kay Voges inszeniert in Dortmund den "Tannhäuser". Foto: TheaterDortmund/Birgit Hupfeld

Kay Voges inszeniert in Dortmund den „Tannhäuser“. Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld

Skandal! Das Wort ist ausgesprochen, ist nachzulesen schwarz auf weiß. Der Vorgang, den es bezeichnet, wird herbeigeredet, -geschrieben, von manchem vielleicht auch ersehnt. Stimmungsmache, Beschwichtigungen, Erklärungen und Voraburteile schwirren durch den Raum. Eine Debatte ist zu verfolgen, deren Gegenstand bisher nur fragmentarisch sich darstellt. Es ist so, als würde ein Schmetterlingsbein sich aus der Raupe herausschälen, und einer ruft: „Ist das Tier aber hässlich“.

Worum geht es? In nüchternen Worten formuliert, um die bevorstehende Premiere von Richard Wagners großer romantischer Oper in drei Akten „Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg“ am Theater Dortmund. Regie führt Kay Voges, der erfolgreiche, längst über die Stadtgrenzen hinaus bekannte Chef des Schauspielhauses. Es ist seine erste Arbeit im musikdramatischen Fach. Voges wird, über das Bühnengeschehen hinaus, multimediale Effekte einsetzen. Eigentlich ist solcherart Inszenierungsbeigabe ein nicht mehr ganz neuer Hut. Doch mancher Bedenkenträger fragt schon jetzt beklommen, ob das nicht zu viel des Illustrierens sei.

Wagners „Tannhäuser“ – da war doch was. Genau: etwa die tumultuöse Aufführung 1861 in Paris, als organisierte Gruppen mit aller Macht (und Trillerpfeifen) das Werk des Deutschen akustisch zerstören wollten. Ein Vorgang, der bis heute zu den größten Eklats der Musikgeschichte zählt. Und jüngst, im Mai, der Skandal um die Inszenierung von Burkhard C. Kosminski an der Rheinoper in Düsseldorf. Die Premiere war die erste und letzte szenische Vorstellung, hernach blieb der Vorhang zu, der „Tannhäuser“ mutierte zu einem rein konzertanten Erlebnis. Freilich, der Regisseur hatte das Werk teils in der Nazi-Zeit verortet und pantomimisch gezeigt, wie eine ganze Familie exekutiert wird. Einige aus dem Publikum gaben an, sie hätten ob der Zumutung einen Arzt aufsuchen müssen.

Wenige Tage später stellte Dortmunds Opernchef Jens-Daniel Herzog den neuen Spielplan vor, mit eben jener Nachricht, dass Kay Voges den „Tannhäuser“ inszenieren werde. Um eiligst hinzuzufügen, Nebenwirkungen seien nicht zu erwarten. Dann ging die Zeit ins Land und die Welt war in Ordnung. Nun aber, nach einigen Überlegungen des Regisseurs, abgedruckt in der Theaterzeitung, nach Einführungsmatinee und öffentlicher Probe, herrscht plötzlich jede Menge Aufgeregtheit. Der Knackpunkt vor allem: die Videoprojektionen.

Tischbein_-_Tannhäuser_1845

Joseph Tichatschek als Tannhäuser und Wilhelmine Schröder-Devrient als Venus in der Dresdner Uraufführung 1845. Zeichnung: F. Tischbein

Voges setzt sie im Schauspiel regelmäßig ein, etwa in seiner Inszenierung nach Thomas Vinterbergs „Das Fest“. Die Gesichter der Figuren werden groß auf eine Leinwand projiziert, auf dass das Publikum jede emotionale Regung und deren mimische Entsprechung mitbekomme. Das war immerhin eine Nominierung für den Theaterpreis „Faust“ wert. Ähnliches hat Voges im „Tannhäuser“ vor. Hinzu kommt der Versuch, in dieser Figur, taumelnd zwischen Venusberglust und hehrer Minne, Christus zu sehen; in Anlehnung an Martin Scorseses so umstrittenen wie glänzenden Film „Die letzte Versuchung Christi“.

Ob das gelingt, werden wir sehen. Voges sagt, Wagner, der Verfechter des Gesamtkunstwerks, hätte den Film als Gestaltungsmittel eingesetzt. Jens-Daniel Herzog hat das in einem Interview ähnlich formuliert. Ein Teil der veröffentlichten Meinung hingegen zerrt den wohlbekannten Satz mancher Wagnerianer hervor, der Komponist habe das so sicher nicht gewollt. Nun gut, Spekulationen sind das eine, teils polemische Urteile über einen Probenausschnitt aber sind von anderem Gewicht. Vom Skandal ist vorsorglich auch schon Mal die Rede.

„Kinder, schafft Neues!“ ist ein vielzitiertes Wagner-Wort. Ist der Einsatz der Video-Technik zu neu? Das Dortmunder Publikum werde durch die Bilder zu sehr von der Musik und den Figuren abgelenkt, unkt es im Blätterwald, das Seelenheil der Zuschauer könnte leiden. Solcherart Fürsorge ex cathedra wirkt geradezu putzig. Doch Filmsequenzen zur Oper sind den Musikfreunden der Stadt durchaus bekannt, zuletzt gesehen in hochgelobten Konzerthaus-Aufführungen von Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“ und, man staune, in Richard Wagners „Tristan und Isolde“.

Voges hat unterdessen auf die Vorab-Urteile höchst originell reagiert. Bei aller Verärgerung stichelte er in einer Mischung aus Ernst und Ironie zurück. Inmitten seiner tiefsinnigen, urkomischen, so erfrischend albernen wie entlarvend verstörenden Revue „Das goldene Zeitalter“, in der uns das Leben als Endlosschleife offenbart wird, mit mehr oder weniger gelungenen Versuchen, daraus auszubrechen. Da dröhnt die „Tannhäuser“-Ouvertüre aus den Lautsprechern, und ein blondes Barbiepuppenwesen hämmert manisch in die Schreibmaschine „Volle Konzentration auf die Musik“.  Konsequent fällt der Vorhang, das Theater wird zum kollektiven Wohnzimmer mit Stereoanlage, Rezeption zur behaglichen Routine, wie der alltägliche Konsum der Tagesschau. Touché!

Gut nur, dass nun, kommenden Sonntag (1. Dezember), endlich Premiere ist, in annähernd ausverkauftem Haus. Erst dann ist die Stunde ernsthafter, kundiger Analyse und ästhetischer Beurteilung gekommen. Stimmungsmache aber vernebelt die Gedanken.

Informationen zur Inszenierung: http://www.theaterdo.de/detail/event/513/?not=1




Stahlgewitter der Stimmen: Giuseppe Verdis „Don Carlo“ am Theater Dortmund

Susanne Braunsteffer als Elisabeth von Valois (Foto: Thomas M. Jauk, Stage Picture)

Susanne Braunsteffer als Elisabeth von Valois (Foto: Thomas M. Jauk, Stage Picture)

Zwei Männer versichern einander ewige Freundschaft: Don Carlo, Infant von Spanien, und der Marquis von Posa, ein Freigeist und Schwärmer, der Flandern vom Joch der spanischen Herrschaft befreien möchte. Ihr Schwur hat Giuseppe Verdi zu einem seiner hinreißendsten Duette inspiriert. Kernig im Ton, kraftvoll im Schwung und glühend in der Emphase, haftet es schon nach dem ersten Hören für immer in Herz und Sinn.

Hier aber, im Theater Dortmund, setzt jetzt das Stahlgewitter der Stimmen ein. Angeführt vom frankokanadischen Tenor Luc Robert, der in der Titelpartie sein Deutschland-Debüt gibt, schaukelt sich die vom Nationaltheater Mannheim übernommene Premiere zu einem Wettstreit der Phonstärken hoch. Luc Robert (Carlos) und Gerardo Garciacano (Posa) legen gleich zu Beginn derart los, dass von den Dortmunder Philharmonikern kaum noch etwas zu hören ist.

Robert schmettert mit heldischer Kraft, setzt bei monochromer Stimmfarbe auf die Demonstration müheloser Lautstärken, was bei einer Vorstellungsdauer von dreieinhalb Stunden ermüdet. Garciacano bietet als Posa wärmere Farben, gerät aber gleichfalls in den Sog, dem sich an diesem Abend kaum einer entziehen kann. Wen Wei Zhang als glückloser Monarch Philipp II, Christian Sist als blinder Großinquisitor, die von Granville Walker gewohnt gut einstudierten Chöre: Alle hauen raus, was die Lunge nur her gibt. Ein tragischer Total-Ausfall ist die Prinzessin Eboli von Katharina Peetz. Es grenzt an Verantwortungslosigkeit, eine Sängerin auf die Bühne zu schicken, die mit ihrer Rolle so massiv überfordert ist.

Mäßigend auf die Fortissimo-Exzesse einzuwirken, wäre die Aufgabe von Dirigent Gabriel Feltz gewesen. Doch statt dimmender Gesten sehen wir von Dortmunds neuem GMD vor allem den Zeigefinger, der jedes noch so kleine Detail bestimmen will. Derart ins Korsett der Struktur eingeschnürt, kann die Musik nicht atmen. Wo Verdi einen düsteren Schicksalston anschlägt, wo das Drama der Akteure in brennende Dringlichkeit gipfelt und die Musik vor mühsam unterdrückten Gefühlen glüht, tönt uns technokratische Kälte entgegen. Der Eifer des Richtigmachens ist der Kunst abträglich.

"Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!": Marquis Posa (Gerardo Garciacano) bekniet Philipp II. (Wen Wei Zhang. Foto: Thomas M. Jauk, Stage Picture)

„Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!“: Marquis Posa (Gerardo Garciacano) bekniet Philipp II. (Wen Wei Zhang. Foto: Thomas M. Jauk, Stage Picture)

Die Bühne von Mathis Neidhardt zeigt uns klassizistisch-imperiale Fassaden, deren Rückseite die Seelenlosigkeit einer bürokratischen Tyrannei zitiert. Die Kostüme (ebenfalls Mathis Neidhardt) mäandern durch die Zeitzonen, als wollten sie uns daran erinnern, dass auf Unterdrückung basierende Herrschaftssysteme auf keine Epoche der Geschichte beschränkt sind. Die Damen der Prinzessin Eboli wirken mit ihren Hochsteck-Frisuren wie gut situierte Hausfrauen der 60er Jahre. Sie planschen bei einer geselligen Cocktailparty am Plastikpool, während sich die Eboli bei ihrem maurischen Lied wollüstig in den Schritt fassen lässt. Soldaten tragen moderne Uniformen und Maschinengewehre, Posa sieht aus wie ein Handelsreisender in Sachen Freiheitskampf. Carlos, König und Königin hingegen sind prachtvoll historisch gewandet.

Von der Regie Jens-Daniel Herzogs gibt es leider nicht viel zu berichten. Dortmunds Intendant zitiert bekannte Bilder von langen Trauerzügen, mit denen das Volk pflichtschuldig am aufgebahrten Sarg des Herrschers Abschied nimmt: in diesem Fall von Philipps Vorgänger Karl V. Das Autodafé deutet er in einen quasi stalinistischen Selbstreinigungsprozess um, vergibt die mahnende Stimme aus dem Jenseits an den toten Marquis Posa und lässt ansonsten ausgiebig an der Rampe singen.

So klammern wir uns an den einsamen Monarchen Philipp, dem Wen Wei Zhang zwischen eisernem Machtanspruch und verzweifelter Liebessehnsucht Kontur und Stimme gibt. Lichtblicke gönnt uns auch Elisabeth von Valois, achtbar gesungen von Susanne Braunsteffer, deren hochgesteckte, mit Perlen geschmückte rote Haartracht freilich mehr an die Tudor-Königin erinnert als an die Lilie von Frankreich. Zwar schafft die Sängerin es bei eher kalt gleißenden Höhen nicht, die Königin zur großen Schmerzensgestalt zu formen, lässt uns aber wenigstens ahnen, welche Majestät sich diese große Frau bewahrt – selbst noch im äußersten Verzicht.

(Der Text ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Informationen: www.theaterdo.de)




Zwischen Popularität und Wagnis – der neue Spielplan des Dortmunder Theaters

Theater Dortmund - Gebäude -

Die Oper, die Dortmund verdient. Foto: Theater

Eine Dame und fünf Herren. Das Leitungssextett des Dortmunder Theaters gibt sich die Ehre zur Verkündung des neuen Spielplans. Ein 75 Minuten langer, sechsfach unterteilter Vortrag über Eckdaten, Produktionen, Programmprinzipien, über die Bedeutung des Hauses für die Stadt. Inklusive einiger dürrer Zahlen. Eine Pressekonferenz könnte spannender sein. Doch hinter allen Fakten verbergen sich interessante Details.

Bettina Pesch, geschäftsführende Direktorin des Theaters, ist die Herrin der Bilanzen. „Es geht wieder mal aufwärts“, verrät sie. 350.000 Euro Mehreinnahmen in allen Sparten, ein Auslastungsplus von 1,5 Prozent für die Oper oder plus 7 Prozent fürs Schauspiel seien Belege für solcherart Optimismus. Bezugsgrößen für diese Zahlen nennt sie nicht. Und Pesch muss konstatieren, dass die Stadt zwar die Tariferhöhungen 2013 fürs Personal ausgleicht, zudem aber einen Konsolidierungsbeitrag von 510.000 Euro einfordert. Dies gelte indes nur für die Saison 2013/14. „Weitere Einsparungen sind nicht machbar, sie gingen an die Substanz des Hauses“, sagt Pesch.

Wie die einmalige Konsolidierung aussehen soll, wo also ein Abzwacken noch möglich ist, bleibt offen. „Wir sparen nicht an der Kunst“ ist das Credo und dann verrät Pesch, sie habe auch ihre Tricks. Nun, abseits dieser sonderbaren Aussage bleibt festzuhalten, dass es im Musiktheater zwei Produktionen weniger geben wird: keine konzertante Oper, kein Werk der (klassischen) Moderne. Zwei Linien, die Intendant Jens-Daniel Herzog zu Amtsbeginn vorgegeben hat, sind erst einmal gekappt.

Immerhin: Im Doppeljubiläumsjahr zu Ehren von Richard Wagner und Giuseppe Verdi stehen zwei gewichtige Premieren an. Herzog selbst inszeniert „Don Carlo“ (Übernahme von Mannheim) und Schauspielchef Kay Voges wagt sich an den „Tannhäuser“. Eilig versichert er, es werde keine Nazis auf der Bühne geben. Andererseits wird betont, die Konstellation dokumentiere die gute Zusammenarbeit zwischen den Sparten des Dortmunder Hauses.

Szene aus dem Mannheimer "Don Carlo". Foto: Theater

Szene aus dem Mannheimer „Don Carlo“. Foto: Theater

Insgesamt sei angemerkt, dass der Opernspielplan,  um es dezent auszudrücken, populär ist. „Carmen“ und „La Cenerentola“, „Der Graf von Luxemburg“ und „Anatevka“ – Repertoire-Raritäten suchen wir vergebens. Dass Herzog Haydns Oratorium „Die Jahreszeiten“ dramatisiert, sei aber als Besonderheit durchaus erwähnt. Und dass sich die Junge Oper in Kooperation mit dem Kinder- und Jugendtheater des „Carmen“-Stoffes annimmt, darf ebenfalls als Zeichen guter Nachbarschaft gewertet werden.

Neu im Boot der Nachbarn ist Gabriel Feltz als Chef der Dortmunder Philharmoniker. Er gibt sich sachlich, beschwört keine visionären Ideen, ja bremst sogar die Erwartungen. „Es gab Anfragen, ob die Philharmonischen Konzerte nicht wieder an drei Abenden stattfinden könnten“, sagt Feltz. Doch er wolle erst einmal in Dortmund ankommen. Dort wird er drei Opernpremieren dirigieren, fünf der zehn „Philharmonischen“ sowie diverse Sonder-, Jugend- oder Familienkonzerte. Das klingt nach gehöriger Präsenz, aber sein Vorgänger Jac van Steen war im Grunde nicht weniger fleißig. Gleichwohl hat die Stadt ihn unsanft aus dem Amt gedrängt. Pech gehabt.

Der neue Chefdirigent Gabriel Feltz. Foto: Stadt Dortmund

Der neue Chefdirigent Gabriel Feltz. Foto: Stadt Dortmund

Ein Glücksjunge hingegen ist Ballettdirektor Xin Peng Wang. Die Sparte ist beliebt, die Compagnie wird international beachtet, das Programm zeugt stets von üppiger Fantasie. Dementsprechend launig verkündet er die Premieren der neuen Saison als opulentes, schmackhaftes Mehrgangmenü. Und vor allem die Hauptspeise hat es in sich: Wang selbst setzt Ödön von Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ in Szene. Die Choreographie wolle Menschenschicksale zeigen in der so schönen wie geisterhaften Stadt Wien. Mit Musik von Johann Strauss und Alban Berg, also mit übersprudelnden, prachtvollen wie brüchigen, morbiden Klängen.

Hier der Blick nach draußen, sonst aber stets der Hinweis, dass das Theater als Ganzes sich in der Stadt verorten müsse. Was niemand so konsequent angeht wie  Schauspielchef Kay Voges. Mit „Stadt der Angst“ will die Bühne das Ende der Leistungsgesellschaft einläuten – mit Hilfe einer Lichttherapie. Das klingt so kryptisch wie spannend. Ein Wagnis mit Intensität, denn an drei Tagen werden sechs Premieren, Vorträge und Diskussionen offeriert.

Andere Abgründe kommerzieller Art will wiederum Kristof Magnussons Komödie „Männerhort“ ausloten. Ein Blick auf weiblichen Shoppingwahn und die kleinen Fluchten des Mannes. Ein Spiel, das sich nur wenige Meter von Dortmunds Thier-Galerie ereignen wird, wie Voges eigens betont. Neben dem Premierenreigen – von „Peer Gynt“ bis „Der Elefantenmensch“ – setzt er auf Neues. Auf Stücke in türkischer Sprache (Kooperation mit Mülheim), auf Lesungen aus der Bloggerszene, auf eine Herbstakademie für Jugendliche.

Opernintendant Jens-Daniel Herzog. Foto: Theater

Opernintendant Jens-Daniel Herzog. Foto: Theater

Erste Adresse für diese Zielgruppe ist das Kinder- und Jugendtheater (KJT), das Andreas Gruhn nun in die 15. Spielzeit führt. In all den Jahren konnte er einen Publikumszuwachs von fast 26.000 auf 35.000 Besucher verbuchen.  Eine Erfolgsgeschichte, die sich auch nach 2015 fortsetzen soll, wenn die Spielstätte an der Sckellstraße aufgegeben werden muss, wenn möglicherweise ein neues Domizil neben dem Schauspielhaus entsteht. Zunächst aber bietet die neue Saison acht Premieren – Stücke, in denen etwa die Themen Liebe und Sexualität, Mobbing oder virtuelle Kriegsspiele verhandelt werden. Märchenhaftes wird das Programm ergänzen, ein Werk soll in Kooperation mit dem Jugendclub produziert werden.

Ja, die Dortmunder Bühnen haben in der Spielzeit 2013/14 einiges zu bieten. Doch vor allem die musiktheatralische Abteilung ächzt unter den Altlasten schlechter Intendanzen, ringt um jeden Zuschauer. Die Auslastung in der Saison 2011/12 liegt hier bei gut 53 Prozent. Dass Intendant Jens-Daniel Herzog den Satz in die Runde wirft, „Die Stadt hat die Oper, die sie verdient“, ist Ausdruck trotzig-optimistischen Nachvornblickens. Andererseits: Eine Kommune, die Millionen in einen „Kulturleuchtturm“ namens U pumpt, dem Theater aber kalt lächelnd das Geld aus der klammen Kasse zieht, bekommt eben die Oper, die sie verdient.

Alles zum Programm der Spielzeit 2013/14 unter www.theaterdo.de




Hilflos im Hahnenkampf: „Der Troubadour“ am Theater Dortmund

Das Zigeunerleben hat seine Härten: Azucena (Hermine Mey) und Manrico (Stefano La Colla) in der Dortmunder "Troubadour"-Inszenierung (Copyright: Fotografie Bjoern Hickmann)

Das Zigeunerleben hat seine Härten: Azucena (Hermine May) und Manrico (Stefano La Colla) in der Dortmunder „Troubadour“-Inszenierung (Copyright: Fotografie Bjoern Hickmann)

Das ist nun so eine richtige Männergeschichte. Nicht wissend, dass sie Brüder sind, bekämpfen sich Graf Luna und Manrico bis aufs Messer. Das Schicksal hat sie zu politischen Gegnern gemacht, und als wäre dies nicht genug, buhlen beide auch noch um die Gunst der gleichen Frau.

Auf der Opernbühne gibt dies Anlass genug für schluchzende tenorale Liebesständchen, zorndurchbebte Racheschwüre und wuchtige Ensembleszenen, wie Giuseppe Verdi sie in seinem Meisterwerk „Il Trovatore“ zu einer wahren Glanzparade von Ohrwürmern reiht. Um das Verdi-Jahr 2013 zu feiern, hat das Theater Dortmund jetzt seine Hausregisseurin Katharina Thoma mit einer Neuinszenierung der populären Oper beauftragt. Wie zuvor in ihrer Fassung von Modest Mussorgskys „Boris Godunow“, verlegt sie die Handlung auch diesmal in einen Betonbunker mit verschiebbaren Elementen: freilich mit weit geringerem Erfolg. Thoma findet keine übergreifende Idee für das blockhaft aufgeteilte Libretto, das die Story in deutlich abgesetzten Tableaus erzählt. Die Vorgeschichte von der Zigeunerin, die im Wahn ihr eigenes Kind ins Feuer warf und Manrico fortan wie ihren Sohn groß zog, versucht sie mit filmischen Einblendungen verständlich zu machen. Aber ihr Versuch, den mittelalterlichen Stellvertreterstreit um den Thron von Aragón in unsere Zeit zu übersetzen, wirkt hilflos.

Die Mannen von Graf Luna sind als nicht näher bestimmte Soldateska gezeichnet. Manrico ist ein Draufgänger in Motorrad-Kluft: Zum Glück darf er seinen lächerlichen Helm nach dem ersten Auftritt ablegen. Eine reichlich beliebige Bilderflut zitiert die Schrecken des Bürgerkriegs. Damit Sondereinsatzkommandos, Nonnen und Zigeunergruppen sich nicht restlos verheddern, wirft die Regie in den Akt-Übergängen einfach mal eine Alarmsirene an. Dazu blinkt ein gelbes Warnlicht, als befänden wir uns auf einer ungesicherten Baustelle. Ratlosigkeit macht sich breit. Immerhin kommt es kurz vor Manricos Hinrichtung zu einem innigen Bild, wenn er und Azucena in einem ehemaligen Duschraum gefangen gehalten werden. Da bilden schmutzige nackte Fliesen den Hintergrund für reine, glühende Emotion.

Das Solistenquartett ist in Dortmund mit drei Gästen und einem Ensemblemitglied ansprechend besetzt. Der Südkoreaner Sangmin Lee, seit dieser Spielzeit in Dortmund engagiert, durchmischt den mit grimmigen Machtanspruch des Grafen Luna zunehmend mit Untertönen glühender Verzweiflung, je mehr dieser im Kampf um Leonora den kürzeren zieht. Ihr Rollendebüt als Leonora gibt Susanne Braunsteffer. Ihr Sopran verbindet Durchschlagskraft und Leidenschaft mit einem Timbre, das eher zuverlässig robust klingt als elegant. Die ungeformten, ja statischen Töne, mit denen Stefano La Colla der Titelpartie zunächst Gewalt antut, weichen im zweiten Teil des Abends gottlob beseelteren Klängen. So tritt zur Kraft des hohen C zunehmend auch Gefühl. Obgleich die Mezzosopranistin Hermine May keine sehr kräftige Stimme besitzt, ist die Zigeunerin Azucena mit ihr passgenau besetzt. Sie findet dämonisch dunkle Farben, die sie in Momenten des Wahns immer wieder zu flammenden Spitzen steigert.

Die von Granville Walker vorbereiteten Chöre verwechseln Kraft nicht mit übertriebener Lautstärke, sondern bilden einen festen Rahmen für die Hahnenkämpfe der Protagonisten. Aufmerksam und subtil agieren die Dortmunder Philharmoniker: Unter der Leitung von Lancelot Fuhry spulen sie die zahlreichen Kabaletten und Kavatinen keineswegs routiniert herunter, sondern geben ihnen elastisch federnde Grund-Rhythmen. Flirrend untermalen sie Azucenas Visionen vom Scheiterhaufen, seufzend und zärtlich den Traum der Liebenden von einem letzten Frieden.

Was die Produktion musikalisch zu bieten hat, wird von der Szene letztlich verspielt. Das ist auch deshalb bedauerlich, weil die Gewohnheit, die Handlung dieser Oper zum unfreiwillig Lächerlichen hin abzuwerten, im Grunde mangelnder Kenntnis entspringt.

(Informationen zum Stück: http://www.theaterdo.de/detail/event/1969/)




Schnee statt Feuer: Die Csárdásfürstin am Theater Dortmund

Heike Susanne Daum als Csárdásfürstin mit Peter Bording als Edwin, Sohn des Fürsten zu Lippert-Weylersheim (Foto: Thomas M. Jauk)

Heike Susanne Daum als Csárdásfürstin mit Peter Bording als Edwin, Sohn des Fürsten zu Lippert-Weylersheim (Foto: Thomas M. Jauk)

Das Regieteam ist längst in alle Winde zerstreut. Angereist sind dafür die Kostüme und das Bühnenbild: Vom Staatstheater Nürnberg wurden sie für die Premiere der Operette „Die Csárdásfürstin“ zum Theater Dortmund gebracht. Hier erhält der Besucher statt eines Programmhefts nur mehr ein mageres Faltblatt. Das sind die Folgen von Sparmaßnahmen, die das Haus in seinem Kampf um größeren Publikumszuspruch verzweifelt auszugleichen versucht.

Nach Kräften müht sich das Dortmunder Ensemble, der in Nürnberg abgespielten Produktion neues Leben einzuhauchen. Aber so viel die Akteure auch auf dem Tisch tanzen mögen: Die Inszenierung der Berliner Choreographin und Regisseurin Ricarda Regina Ludigkeit, die sich auf ein Konzept des Gärtnerplatz-Theaterintendanten Josef Ernst Köpplinger stützt, ist viel zu schwach und zu schwunglos, um das ungarische Feuer von Emmerich Kálmáns Publikumshit zu entzünden. Selbst die Dortmunder Philharmoniker, die unter Leitung von Philipp Armbruster wirbelnde Csárdás- und schmachtende Walzerklänge anstimmen, klingen dafür oft zu behäbig.

Im historisierenden Ambiente, gerahmt von einer stuckverzierten Säulenfront, konzentriert sich die Regie vor allem darauf, niemandem weh zu tun. Der soziale Sprengstoff, der durch Standesdünkel entsteht, bleibt ebenso zaghaft gestreift wie der plötzliche Kriegsausbruch auf dem Balkan, den Soldaten durch ein chaplineskes Spiel mit der Weltkugel andeuten. So versinkt die Operette müde im Plüsch des Theatersessels, statt mit gefährlicher Leichtigkeit auf dem Abgrund zu taumeln. Im Bühnenhintergrund, wo es unentwegt schneit, öffnen sich immer wieder Türen, um den Blick auf traumgleiche Bilder frei zu geben. Dieser szenische Adventskalender, übrigens weitgehend sinnbefreit, lenkt indes nicht davon ab, wie zäh die Regie mit Kálmáns Operette ringt.

Unterdessen hat Heike Susanne Daum in der Titelpartie ein Glaubwürdigkeitsproblem. Von Statur und Ausstrahlung könnte sie eher als Edwins Mutter durchgehen als für dessen große Liebe. Für eine Varieté-Tänzerin wirkt sie zu unbeweglich; für eine große Diva fehlt ihr die Eleganz. Stimmlich bietet sie robuste, nicht ohne Druck erreichte Höhen, die hart in galligen Trotz umschlagen können. Peter Bording, der als Edwin für den erkrankten Lucian Krasznec einspringt, hebt das Niveau des Abends mit seinem angenehm balsamischen Tenor um eine beachtliche Stufe an. Dies lässt sich sonst nur noch von schauspielerischen Einzelleistungen sagen: Zum Beispiel von Thomas Günzler, der einen grandios verschlampten Wiener Portier mimt, und von Johanna Schoppa, die als Frau des Fürsten zu Lipper-Weylersheim eine wunderbar raue Herzensweisheit verströmt. Selbst der unverwüstliche Hannes Brock (als Feri Bácsi) und der gut disponierte Opernchor können an diesem Abend nicht viel ausrichten.

Nur die gute Zusammenarbeit mit anderen Bühnen erlaube es dem Dortmunder Opernhaus, noch immer zehn Neuproduktionen pro Spielzeit herauszubringen, betonte Intendant Jens-Daniel Herzog im Anschluss an die Premiere. Im Vergleich zu den fünf Premieren des Essener Aalto-Theaters klingt das zunächst imposant. Ob die schiere Quantität wirklich einen Ausweg aus der Krise bietet und ob sich diese Vielzahl auf Dauer stemmen lässt, steht freilich auf einem anderen Blatt. Gerüchte besagen, dass Dortmunds Stadtväter in der kommenden Opernsaison weitere Einsparungen in Höhe von 750.000 Euro verlangen werden.

(Informationen zum Stück: http://www.theaterdo.de/detail/event/1835/)




Die Eleganz der Grande Dame: Massenets „Manon“ am Theater Dortmund

Mädchenhafter Liebreiz: Eleonore Marguerre als Massenets "Manon" (Foto: Anke Sundermeier/Stage Picture)

Mädchenhafter Liebreiz: Eleonore Marguerre als Massenets „Manon“ (Foto: Anke Sundermeier/Stage Picture)

Selten dürfte eine Opernpremiere so unter Wert verkauft worden sein. Nahezu verschämt hatte das Theater Dortmund eine konzertante Fassung der „Manon“ von Jules Massenet angekündigt, seltsamerweise mit nur einem Folgetermin. So sah im Vorfeld nach Murks aus, was mit Fug und Recht als genussreiches Extra hätte beworben werden können, als kleine, aber feine Gala der Stimmen, gekrönt von einer fabelhaft besetzten Titelpartie.

Zu berichten ist von einem Abend der glücklichen Enttäuschungen, der unerwarteten Entdeckungen und versäumten Gelegenheiten. Beginnen wir mit Kyungho Kim als Chevalier Des Grieux, der seine Leidenschaft für die bezaubernde Manon auch stimmlich zu großer Vehemenz steigert. Der Koreaner wächst dabei über sich selbst hinaus. Er beginnt mit schlankem Timbre, zeigt sich dabei der Eleganz des französischen Idioms durchaus gewachsen. Die Strahlkraft und Glut, die sein Tenor später immer stärker entwickelt, klingt dabei zunehmend gelöster. Eine bravouröse Leistung, die eine One-Woman-Show glückreich verhindert.

Das ist an diesem Abend keineswegs selbstverständlich, denn die Sopranistin Eleonore Marguerre überstrahlt in ihrer Lieblingspartie beinahe alles und jeden. Mögen die zarten Töne, die sie der jungen Manon gibt, zu Beginn zuweilen verhaucht und verschleiert klingen, so breitet sie das faszinierend vielfältige Wesen dieser Frau lustvoll vor uns aus. Sie kann kokett flirren, federleicht plappern, Spitzentönen und Trillern eine Dosis Extravaganz geben und sich hedonistisch-hemmungslos in hohe Cs werfen. Bewegend das „sotto voce“, in dem sie dem kleinen Tisch in der gemeinsamen Wohnung eine Abschiedsarie singt. Mit Manons Entwicklung vom Mädchen zur großen Dame erreicht ihr Sopran die volle Verführungskraft. Da zieht die Marguerre glutvolle Bögen, verströmt sich in einer Leidenschaft, die keine Kompromisse kennt. Für dieses intensive Rollenporträt wurde die Sängerin zu Recht gefeiert.

Das Ensemble trägt das hohe Niveau der Hauptdarsteller mit. Anke Briegel, Julia Amos und Ileana Mateescu, sind ein treffliches Damen-Trio, Morgan Moody (Brétigny) und Hannes Brock (Guillot de Morfontaine) zeichnen Manons Wegbegleiter mit Gespür für Feinheiten. Gerardo Garciacano gibt Manons Cousin lyrische Farben, Wen Wei Zhang verleiht dem Vater Des Grieux auch stimmlich Autorität und Festigkeit. Die Dortmunder Philharmoniker und der Opernchor des Theaters entwickeln unter der Leitung von Lancelot Fuhry einen kraftvoll eleganten Tutti-Klang, der durchlässig bleibt für Feinheiten. Das Orchester zu beobachten und die Partitur so neu zu entdecken, macht Vergnügen.

Ein schlimmes Versäumnis ist mit Blick auf die spärlich besetzten Zuschauerreihen zu verzeichnen: Zu viele Musikfreunde verpassten vorläufig die Chance, diese hinreißende, übrigens auch optisch ungemein elegante Manon zu erleben. Beinahe wähnte man sich ob des mageren Besuchs in einer Privat-Vorstellung. So wird ein musikalisch bereichernder Abend in Dortmund zum Verlust. Welch verkehrte Welt.

Folgetermin: 13. Januar 2013. Ticket-Hotline: 0231/ 50 27 222. www.theaterdo.de.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Die Gespenster, die Lessing rief

Das Stück Lessings Gespenster im Schauspiel Dortmund, inszeniert vom kainkollektiv. Foto: Birgit Hupfeld

Das Stück Lessings Gespenster im Schauspiel Dortmund, inszeniert vom kainkollektiv. Foto: Birgit Hupfeld

Lessings Nathan der Weise ist ein Klassiker, gefeiert als Versöhnungsdrama der Toleranz zwischen den Weltreligionen. Die Künstlergruppe „kainkollektiv“ sperrt sich allerdings gegen diese Lesart – und sucht in „Lessings Gespenster – Eine Heimsuchung nach Nathan der Weise“ die anarchistische Seite des Aufklärers. Die Stückentwicklung feierte jetzt ihre Uraufführung im Dortmunder Schauspiel als On Stage Produktion.

Die Zuschauer stehen in langer Schlange am Hintereingang des Schauspiels, laufen durch die Katakomben des Theaters, lesen ein Schild mit den Worten „Lessings Gespenster. Rumlaufen erforderlich“, um dann mitten auf der Bühne zu landen, ohne Stühle, nur mit Raum, der erobert werden will. Alles anders als gewohnt. Ein sinnstiftender Einstieg, wenn es darum geht, einen Klassiker deutscher Literatur gegen den Strich zu bürsten oder ihm zumindest Geheimnisse zu entlocken.

Die Bühne ist zweigeteilt durch eine riesige Holzwand. Auf der einen Seite sitzt eine junge Frau (Merle Wasmuth) im barocken Kostüm in einem Glaskasten, auf der anderen liegt schlafend der fast 60köpfige Dortmunder Sprechchor in Tüllröcken (Ausstattung Oliver Helf). Ein Bär mit Deutschlandbinde umarmt die Zuschauer, drei Musiker spielen Haydn. Ein Hauch von Spannung, auch von Melancholie liegt in der Luft. Das Tor zu einem Traum, einem Zauberschloss, einer seltsam schönen Reise.

Es gibt keine Handlung, keine Geschichte, sondern nur den Sturz in Gedanken und Emotionen. Das „kainkollektiv“, bestehend aus Mirjam Schmuck, Alexander Kerlin und Fabian Lettow, verweigert sich der Eindeutigkeit. Den Weg, den der Zuschauer an diesem Abend einschlägt, muss er selbst wählen. Der Flyer immerhin verrät: Lessings Frauenfiguren stehen im Zentrum, die jung, schön und am Ende doch immer Opfer sind. So wird Merle Wasmuth mal zu Emilia Galotti, mal zu Sara Sampson und immer wieder zu Recha, der Tochter von Nathan, die am Ende, wenn alle sich in den Armen liegen, alles verloren haben wird: ihren Liebhaber, ihren Vater, ihren Glauben. Die junge Frau, egal in welcher Gestalt, ist gefangen in der Rolle, die die Gesellschaft ihr auferlegt hat, erdrückt von Erwartungen, die sie nicht erfüllen kann – das gilt für die Figuren, aber auch für die Schauspielerin, für den heutigen Menschen. Verzweiflung und die Sehnsucht nach Freiheit und Ausbruch sprechen aus ihren Worten. „Das ist nicht zu verkraften, dass da immer schon Etwas im Raum ist, wenn wir erscheinen.“

Diesen Konflikt von Bild und Ich setzt das kainkollektiv beeindruckend um: Immer wieder treffen die Schauspielerin und ihre riesige Videoprojektion aufeinander, ist sie plötzlich umringt von dem auf sie einredenden Sprechchor oder erschlagen von dem riesenhaften Bild ihres Erziehers Nathan. Die Künstlergruppe greift aber auch das Paradoxon von Lessing selbst auf: Gefeiert als Vater der Toleranz und Versöhnung, hat er gelebt als saufender, spielsüchtiger Sozialfall.

Das Publikum kann sich mit diebischer Freude auf das Gebräu von Zitaten (von Joseph Beuys über Walter Benjamin bis zu Richard Wagner) stürzen. Oder aber es lässt sich fallen in den Sog dieses Abends, in die rauschhaften Bilder, Klänge und Emotionen – der vor allem getragen wird durch die großartige, charismatisch und zwingend spielende Merle Wasmuth, die in jeder Minute Zentrum der Inszenierung ist. Ein Stück, das mal heiter, mal verzweifelt und traurig, die Zuschauer mit vielen Fragen entlässt.

Die nächsten Termine: 22. April (18 Uhr), 6. Mai (18 Uhr)

P.S.: Kurzer Nachtrag zu dieser Besprechung (die so auch in der Westfälischen Rundschau erschienen ist): Während ich die Offenheit des Stücks durchaus mochte, habe ich im Nachhinhein gehört, dass es bei der Premiere auch Zuschauer gab, die von der Bühne geflüchtet sind.




„Naked Lenz“ frei nach Büchner: Nackte Jungs im Badezuber

Ich bin fast verzweifelt. Mehr mit mir selbst als durch das Erlebnis im Theater am Abend. Ich hadere mit mir selbst und doch bin ich gleichzeitig aufgeregt – inwendig Getös‘. Das wird sich legen. Bin ich der einzige, der da flau hinausgeht? Bin ich zu alt? Habe ich einen schlechten Tag erwischt?

Okay, man muss im Theaterraum stehen, muss manchmal gehen, um am Ort des Geschehens zu sein oder zu bleiben. Das ist nicht bequem. Aber der Mensch soll gefordert werden angesichts der Kunst.

Naked Lenz. Studio Schauspiel Dortmund. Lenz? Das ist doch Büchner. Ja, aber egal. Wir sehen René Pollesch für Dramaturgen. Sorry, das ist mir so rausgerutscht. In der Mitte der Bühne, umgeben von festgeschnallten Birkenzweigen und –stämmen – eine kleine Bude, schmal, weiß und eng, aus der die Schauspieler flitzen und wieder hinein und wieder hinaus. Text wird verabreicht, reichlich und schnell. Was? Okay, das nächste! Ein muskulöser Schauspieler im Kleidchen auf Pumps, eine Blondine in silbrigem Einteiler aus Mars-Produktion. Es geht ums Schreiben. „Schreibst Du für Geld?“. Gleißendes Licht. Man trinkt Cuba libre und braucht Schirmchen, die in rasantem Hin und Her von einem Schauspieler herangeschleppt werden. Slapstick? Nein, Speedy Gonzales. Runter gepitschte Sounds, dumpf und bedrohlich, nicht erkennbare Videobilder.

Break. Der erste nackte im Birkenwald. Es wird geschrien, was der Verständlichkeit des Textes nur hilft, wenn man weiter weg steht und nichts sieht. „Ein merkwürdiges Netz aus Sexualität, Spionage, Drogen und Literatur“, heißt es im Programm. Cronenberg und Büchner, wild gemixt, Realitäten oder Illusionen? Ich weiß es auch nicht. Ich stehe in der Nähe des Plastikbadezubers, umringt von Handtüchern auf dem Boden. Im Raum steht das Warndreieck „Achtung! Rutschgefahr!“. Der Bademeister steigt auf die Leiter und brüllt in ein Megaphon. Fünf oder sechs Personen im knietiefen Wasser. Und dann soll alles synchron laufen! Megaphongebrüll und Spaß im Bad. „Die haben mal richtig auf die Kacke gehauen“, sagt ein Zuschauer hinterher. Wem es Spaß macht, bitte. Es passiert noch so allerlei. Es wird geraucht in einer kleinen Stehpartyrunde. Rauchen – politisch unkorrekt. Dart im Nebenraum per Video – Pfeile treffen Goethe ohne Gesicht.

Video. Zweimal Dichter solo – George B. mit seinem „Lenz“  und William Lee mit seinem „Naked Lunch“. Die beteiligten des Hauses drumherum haben Freude. Insider- und Probenerfahrungslacher. Und dann sind die Jungs endlich alle nackt und hauen auf die Kacke, sind zusammen im Stehpool, sonnen sich breitbeinig auf dem Boden. „Bald melde ich mich bei „Wetten, dass“ sagt eine Zuschauerin, „Ich erkenne die Schauspieler in Dortmund an ihren Pimmeln.“

Die nackten Jungs machen Jux, sondern Texte ab, die weder ablenken, noch illustrieren, sind aber doch sicher wichtig, oder? Aber da so, so viel los ist, kommt man mit dem Zuhören nicht recht nach. Und es darf nicht fehlen, dass verbal gefickt wird. Nichts Deftiges darf fehlen. So ist sie, die Gesellschaft. Die junge Frau im Silbereinteiler wechselt in ein klassisches Theaterkleid, setzt sich auf die Bar und hält ein kleines Eiscremeschirmchen hoch. Der nackte Dichter sitzt neben ihr und raucht. Und dann das Büchner-Zitat aus „Leonce und Lena“: „Was die Leute nicht Alles aus Langeweile treiben! Sie studieren aus Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie verlieben, verheiraten und vermehren sich aus Langeweile und sterben endlich an der Langeweile und – und alles mit den wichtigsten Gesichtern, ohne zu merken warum.“  Dunkelheit. Applaus. Stehende Ovationen – man steht ja ohnehin.

Der Großteil des Publikums ist offenbar sehr zufrieden. Ja, es wurde viel gearbeitet auf der Bühne. Schweiß, Tomatenblut am Arsch, Gebrüll, gebadet, gerannt, gefilmt. Ich fühle mich eher traurig. Wo ist mein Platz in der Gesellschaft? Muss ich den in meinem Alter noch finden, habe ich ihn längst verloren? Zu Hause wartet nicht einmal ein Hund, dem ich mein Leid klagen kann. Ich hab nicht verstanden, was man von mir will? Habe, ach, keine Theaterwissenschaft studiert. Bin auch vom vielen Schauen der letzten Jahrzehnte ausgeleiert. In „Leonce und Lena“ produziert König Peters ‚Denken‘ fortwährend Unsinn. Ich versuche hingegen, mein Hirn zu reinigen, schenke mir ein Glas Rotwein ein und schaue minutenlang auf einen Punkt.




Das Sexmonster greift an

Ob eine Dreiecksbeziehung mit Leiche, Blutorgien oder das kampfbereite Hirn von Hitler – der als Trash-Papst gefeierte Arthouse-Horrorfilmregisseur Jörg Buttgereit hat eine Vorliebe für Themen, die unsere Gesellschaft lieber verdrängen würde. Der Dortmunder Schauspieldirektor Kay Voges hat diesen Grenzgänger engagiert, mit dem Double-Feature „Green Frankenstein“ und „Sexmonster“ die Studio-Saison zu eröffnen. Mut, der sich gelohnt hat.

Haltet die Moral hoch! Foto: Birgit Hupfeld

Haltet die Moral hoch! Foto: Birgit Hupfeld

Jörg Buttgereit hat eigentlich Unmögliches möglich gemacht: Trash-Kultur im Theater, Film auf der Bühne, japanischer Monsterfilm ohne Monster, schmieriges Zitat der Sexploitation-Filme aus den 70ern ohne Nacktheit – der Regisseur bricht in jeder Hinsicht mit Erwartungen und Konventionen. Und hat stattdessen ein Konzept entwickelt, das so folgerichtig wie unterhaltsam ist, dass es sich auf weitere Theaterabende übertragen ließe:

Ausgangspunkt für die beiden Stücke „Green Frankenstein“ und „Sexmonster“ sind von Buttgereit geschriebene Hörspiele. Die Idee des „Kopfkinos“ setzt er konsequent um, indem er die Schauspieler in einem schmuddeligen Bahnhofskino agieren lässt, ständig wechselnd zwischen Zuschauer und Figur, mit Mikrofonen in der Hand und Text, der auf der Leinwand mitläuft.

So spiegelt Buttgereit nicht nur Zuschauer mit Zuschauern. Er sorgt auch dafür, dass das, was wir sehen, hauptsächlich aus uns selbst kommt.

Und das ist bei den verhandelten Themen eine starke Grundsituation: „Green Frankenstein“ erzählt von einem wütenden Monster in Hiroshima, das die Menschen vernichten will, weil sie das ökologische Gleichgewicht gefährden. „Sexmonster“ entführt in das zwielichtige New York, wo der Außenseiter Adam seine Chance wittert, als ihm der riesige Penis seines verstorbenen Freundes transplantiert wird. Doch anstelle eines erfolgreichen Liebhabers wird er zum triebgesteuerten Sexmonster.

Köstlich, wie die Schauspieler – Sebastian Graf, Bettina Lieder, Uwe Schmieder und Annika Meier, Christoph Jöde– sich in diese Abenteuer stürzen, die schrägsten mimischen Varianten testend, musikalisch brillierend, zur Beatbox mutierend, jede Situationskomik auskostend. Der Clou ist die Live-Performance des Geräuschemachers Dieter Hebben: Als er bei der Penistransplantation eine Porreestange ansägt, winden sich die männlichen Zuschauer.

So schräg, witzig, ungewöhnlich ist dieses dennoch cineastische Erlebnis, dass sich das Publikum schier ausschüttet vor Lachen. Unter all dem Trash und der Komik aber versteckt Buttgereit einen überraschend moralischen Subtext: Der Mensch, der sich gegen die Natur stellt und als Gott aufspielt, ist schließlich ein altes (Film)-Thema.

(Der Artikel stand zuerst in der Westfälischen Rundschau)

Teaserfoto: Birgit Hupfeld




Lebenslust – im Krieg?

Krieg – die Hölle auf Erden? Trotzdem verpflichten sich Jahr für Jahr junge Menschen weltweit als Soldaten. In „Embedded – ein Jahr Afghanistan“ forscht Regisseur Jonas Fischer auf der stimmungsvollen Unterbühne des Theater Dortmund ihren Motiven nach und stürzt die Zuschauer in den Ausnahmezustand.

Dunkelheit. Romantische Gitarrenmusik. Worte ausgerechnet aus der Feder Ernst Jüngers, der von dem Zerreißpunkt eines jeden Menschen raunt, vom Flüstern der Wildnis. Zwei Männer legen Kleidungsschicht für Kleidungsschicht wie eine Rüstung an, feierlich, bedeutungsschwer – der eine Journalist, der andere Soldat.

Zahlreiche Kriegsreportagen hat Regisseur Jonas Fischer ausgewertet und aus den Versatzstücken nun eine Meta-Realität gepuzzelt: Die eines Reporters (Ekkehard Freye), der ein Jahr lang amerikanische Soldaten (allesamt gespielt von Randolph Herbst) im brandgefährlichen afghanischen Korengal-Tal begleitet.

Frappantes Anti-Paradies

Gitarristen, Drogendealer, Boxer, Radaubrüder waren diese jungen Männer – jetzt sind sie perfekte Soldaten, die in dreckigen Hütten auf das nächste Feuergefecht warten. In kurzen Sequenzen beleuchtet Jonas Fischer ihren Alltag in diesem „frappanten Anti-Paradies, in dem es nichts zu tun gibt, außer zu töten und zu warten“: Die unerfüllten sexuellen Sehnsüchte, die stumpfsinnige Langeweile, Hoffen und Bangen angesichts des nächsten Angriffs.

Berstend vor gieriger Emotion stürzt Randolph Herbst sich in diese Szenen, mutiert zum tanzenden Partytier, schwitzenden Extremsportler oder Porno-König und lässt die Zuschauer in der Intimität der Unterbühne mitrasen, pulsieren, leben.

Darin liegt zugleich der Kern und die Crux der Inszenierung: Das Stück legt nahe, dass der ständige Existenzkampf, das Abenteuer, die klare Aufgabe und die untrennbare Gemeinschaft dem Leben im Krieg greifbaren Sinn schenken. Angst, Gefahr, Leid, Verlust, Schuld aber kommen nur in den sprachlich distinguierten Reflexionen des Journalisten oder Audio-Sequenzen von Gefechten vor – distanziert wie ein Live-Hörspiel. Kritik, die sich hinter den dumpfen Jünger-Zitaten und dem immer wieder eingespielten Medienstimmen verbergen könnte, bleibt unverbunden stehen. Ein Ungleichgewicht, das nicht aufgelöst wird und deshalb unentschieden wirkt.

„Es wäre sinnlos vorzugeben, dass Krieg nicht auch aufregend wäre“, sagt der Journalist. „Aber nur wenige wollen sich das eingestehen. Krieg muss schlimm sein.“

(Dieser Artikel ist aus der Westfälischen Rundschau).

Foto: Alexander Kerlin




„Ich tauge nicht für die Wirklichkeit“ – Gespräch mit Renan Demirkan, nicht nur über ihren neuen Roman

Von Bernd Berke

Frankfurt. Länger nichts mehr von der Schauspielerin Renan Demirkan gesehen oder gehört? Kein Wunder: Die film- und fernsehbekannte Frau, die von 1982 bis 1984 zum Dortmunder Theaterensemble gehörte und jetzt bei Köln lebt, hat sich eine Zeit lang ihrem zweiten Beruf gewidmet und ihren dritten Roman geschrieben.

Nach „Schwarzer Tee mit drei Stück Zucker“ und „Die Frau mit Bart“ erschien jetzt bei Kiepenheuer & Witsch die durchaus nicht problemfreie Liebesgeschichte „Es wird Diamanten regnen vom Himmel“. Die WR traf Renan Demirkan am Verlagsstand bei der Frankfurter Buchmesse.

Warum muss Ihre Heldin, die allein erziehende Tanztherapeutin Rosa, in ihren Vierzigern ausgerechnet einen Porschefahrer lieben lernen? Und hat diese Frau autobiographische Züge?

Renan Demirkan: Ich komme drin vor in der Rosa, aber ich bin es nicht. Von autobiographischen Momenten können Sie bei mir immer ausgehen. Auch ich bin beispielsweise allein erziehend, bin in diesem Alter. Zentrales Thema des Romans ist die Sehnsucht. In meinem Alter wird der Alltag zum absurden Hindernisrennen auf dem Weg zum Glück, weil die Verpflichtungen so enorm gewachsen sind – durch Kinder, durch den Job. Und und und.

Und dieser Rick, der Mann mit dem Porsche?

Demirkan: Ich wollte zwei ganz unterschiedliche Charaktere haben. Rosa, die Moralistin, die Engagierte – und Rick, der Oberflächliche, der Zyniker. Doch die Sehnsucht der beiden ist dann doch die gleiche. Mich hat interessiert: Wie begegnet man sich ab einem bestimmten Alter? Wie sehen solche Anfänge aus? Ich bin jetzt fast 20 Jahre Schauspielerin. Was mich am Leben gehalten hat und die Lust bewahrt hat, ist, dass ich immer wieder neu anfangen wollte. Egal, wie schmerzlich die persönliche Situation war.

Gibt es denn immer nur Neubeginn? Nichts von Dauer?

Demirkan: Bitte fragen Sie mich diese Frage nicht! Ich kann immer nur vom Scheitern berichten. Ich bin immer weggegangen. Immer. Ich habe es nicht geschafft. Sonst würde ich nicht über Sehnsucht schreiben. Dieses verdammte Glück, dieser Ausnahmezustand. Ich musste mich sogar zwingen, das Buch halbwegs hoffnungsvoll enden zu lassen.

Wollen Sie vom Schauspielberuf Abschied nehmen?

Demirkan: Nee, nee. Es gibt da ein Fernsehspielprojekt mit dem WDR. Für mich ist von der Bühne zum Schreiben kein sehr großer Sprung. Beides gehört zu meiner schlimmen Sehnsucht nach inszenierten Welten. Ich tauge nicht besonders für die „wirkliche“ Wirklichkeit. Ich brauche größtmögliche Freiheit. Als Schauspielerin darf ich alles sein und bin doch innerhalb des Stückes durch die Rolle geschützt. Auch das Schreiben habe ich für mich entdeckt als eine Form des Beschütztwerdens, des Aufgehobenseins.

Erinnern Sie sich noch an Ihre Zeit am Dortmunder Theater?

Demirkan: Oh ja! Ich weiß noch gut, wie ich gewohnt habe: Saarlandstraße, Ecke Ruhrallee, unterm Dach, 90 Stufen hoch jeden Tag. Ich weiß noch genau, was ich gespielt habe. Am schönsten war Tschechows „Onkel Wanja“, da war ich die „Sonja“. Und Adolf Winkelmann hat mich da für meinen ersten Kinofilm „Super“ geholt. Es war eine wichtige Zeit. Ich hab‘ nur gute Erinnerungen.




Die gespenstische Kehrseite des Bürgers – Bühnen-Rarität „Blunt, oder der Gast“ von Karl Philipp Moritz

Von Bernd Berke

Dortmund. Hier rollt der Mond als beleuchteter Ball auf dem Boden, dort duckt sich ein Nachttopf unterm Stuhl. Hier steckt ein Schädel auf dem Stab, dort sieht man Grabkreuz und Schreibpult. Es scheint so, als sei diese Welt in ihre Bestandteile zerstreut worden. Vielleicht ist eine Katastrophe geschehen, sie muß aber auch ihre verzweifelt komischen Seiten gehabt haben.

Mitten in der Dortmunder Szenerie zu »Blunt, oder der Gast“ erhebt sich eine Puppentheaterbühne. Durch die kleine Öffnung stecken Blunt (Achim Conrad) und seine Frau Gertrude (Heidemarie Gohde) die Köpfe und beklagen ihr armseliges Dasein. Grotesk kurzschlüssig, ohne Umschweife des Gewissens, verknüpft sich das Lamento mit Mordgedanken, die Blunt gegen einen reichen Gast (Michael Masula) hegt, den man im Hause beherbergt. Den Kerl abmurksen und ausrauben – schon wäre man samt Töchterlein Adelheid aus dem Gröbsten heraus…

Das „Blunt“-Fragment des Karl Philipp Moritz (1756-1793; Verfasser des berühmten Romans „Anton Reiser“) wurde erst vor wenigen Jahren von Heidelberger Germanistik-Studenten entdeckt und als Laienspiel gegeben. Sodann nahm sich Stuttgarts Schauspiel des erstaunlich modern gezimmerten Textes an, jetzt also ist Dortmund an der Reihe.

Ein Denkmal falschen Familienfriedens

Besagter Blunt setzt seinen Mordplan um – und muß dann erfahren, daß er nicht irgendeinen Logis-Gast, sondern seinen eigenen, seit Jahren totgeglaubten Sohn erstochen hat. Der hätte sich anderntags zu erkennen gegeben, er hätte seinen Reichtum freiwillig teilen und Hochzeit halten wollen. Weh und Ach! Blunts Gejammer ist groß. Regisseur Axel Richter zeigt uns freilich keine wuchtige Tragödie, sondern die Farce, die erschröckliche Moritat.

Wie mondsüchtige Schlafwandler bewegen sich die Figuren. Freilich sind sie allzeit bereit zu überdrehten Posen und zu einer Sprachbehandlung, die jede Silbe geradezu gewaltsam hervortreibt. Hat man es sich da schauspielerisch nicht zu leicht gemacht?

Wir sehen die gespenstische Kehrseite des (Klein)-Bürgertums, auf der Nachtmahre gedeihen. Den treudeutsch-blutrünstigen Verhältnissen werden Leierkasten-Melodien vorgespielt: Mal erklingt die (viel später als das Stück entstandene) Nationalhymne, mal das Liedlein von den Gedanken, die frei sind.

Freie Gedanken? Und wie! Im zweiten Teil wird die Handlung gleichsam zurückgespult, die Bluttat im entscheidenden Moment zurückgenommen. Hernach scheint es ganz so, als wäre gar nichts geschehen. Notorisch deutscher Umgang mit Schuld? Die Beteiligten gruppieren sich zur glorreichen Apotheose, zum lächerlichen Denkmal der Schuldlosigkeit: Friede sei der Familie. Doch es ist ein falscher Friede.

Die Inszenierung könnte etwas Nachbesserung vertragen. Hie und da scheint es, als nehme man den Text nicht für voll und als dürfe man schon mal ein wenig schludern. Das aus Kindern bestehende „Affenorchester“, das die Groteske begleitet, ist natürlich niedlich. Es verleiht aber der Produktion einen Beigeschmack unverbindlicher Nettigkeit. Dabei wollten wir uns doch gar nicht so rasch beruhigen.

Termine: 13., 14. März, 1. April. Karten: 0231 / 50 27 222.




Unterhaltung hat Vorrang im Dortmunder Spielplan – Neuer Schauspielchef Jens Pesel wagt vorerst keine Experimente

Von Bernd Berke

Dortmund. Jens Pesel, neuer Schauspielchef des Dortmunder Theaters, steckt beim Spielplan für seine erste Saison zurück: „Im Grunde könnte ich mir wagemutigere Stücke vorstellen.“ Doch das Publikum in Dortmund sei anders, nämlich wohl nicht so experimentierfreudig wie jenes an seiner vormaligen Wirkungsstätte Darmstadt. Außerdem, so Pesel gestern zur WR, ändere sich das Ensemble zur Saison 1992/93 mit elf neuen Kräften derart grundlegend, daß man erst einmal typische „Ensemblestücke“ spielen müsse, um die neue Schauspieltruppe gleichsam „zusammenzuschmieden“.

Pesel („Ich fühle mich auch für Entertainment zuständig“) legte gestern also einen recht konventionellen Spielplan vor: Den Saisonstart besorgt er selbst mit Brechts „Leben des Galilei“. Es folgt die „Lysistrate“ des Aristophanes. Hier führt Amelie Niermeyer Regie, die – vom Münchner Residenztheater kommend — in Dortmund möglichst an die Tradition einer Annegret Ritzel anknüpfen soll. Pesel wiederum läßt einen unterhaltenden Beitrag folgen: Philip Kings Farce „Lauf doch nicht immer weg“. Dimiter Gotscheff, soeben in Berlin mit dem Kritikerpreis ausgezeichnet, bringt George Taboris „Goldberg-Variationen“ auf die Bühne. Weitere Pläne: Heiner Kipphardts „März“ und vermutlich Arthur Millers „Ein Blick von der Brücke“, wobei es statt Letzterem auch Goethes „Clavigo“ werden könnte – eine Spagat-Alternative, die von Besetzungsfragen abhängt.

„Wir machen das besser als Essen“

Pesel wollte eigentlich auch verraten, was im Schauspiel-Studio ansteht, doch da schnitt ihm Generalintendant Horst Fechner ganz sanft das Wort ab: Diese Dinge wolle man doch lieber später enthüllen. Beide versicherten, sie hätten sich ohne Probleme auf den Spielplan geeinigt. Fechner: „Herr Pesel spricht die gleiche Sprache wie ich.“ Die Zeichen stehen auf Versöhnlichkeit. Fechner unterstrich, daß man den Dortmundern im Theater vorrangig Entspannung bieten wolle: „Wir können das so gut wie das Fernsehen.“ Ein Erfolgsdenken sei gefragt, das an der Kasse überprüft werden könne.

Deutlichster Ausdruck des Erfolgswillens ist wohl ein Großprojekt des Musiktheaters, „La Cage aux folles“ (Ein Käfig voller Narren), das gleich zu Beginn der Spielzeit 92/93 einen Hauch von „Cats“ und „Starlight Express“ nach Dortmund bringen soll. Mindestens 35 Vorstellungen sind vorgesehen. Fechner rechnet schon jetzt mit einem derartigen Besucherandrang, daß eine Übernahme in die Saison 93/94 so gut wie beschlossen ist. Fechner will die Revierkonkurrenz abhängen: „Wir machen es besser als seinerzeit die Essener“. Und Dortmund setzt noch eins drauf: Als zweites Musical-Element steht die (etwas bescheidenere) Show „Girls, Girls, Girls“ auf dem Programm. Wenn das die Besucherringe nicht zufriedenstellt…

Butterfly und Barbier

Natürlich hat man auch „große Opern“ auf der Rechnung: Wagners „Ring“ wird mit der „Götterdämmerung“ komplett (und im Frühjahr 1995 auch zweimal als Zyklus hintereinander gegeben). Mozarts „Cosi fan tutte“, Puccinis „Madame Butterfly“ und Rossinis „Barbier von Sevilla“ runden das Repertoire ab. Immerhin verabschiedet man sich nicht gänzlich vom Zeitgenössischen. Mit Walter Steffens‘ Oper „Die Judenbuche“ (nach Annette von Droste-Hülshoff) steht gar eine Uraufführung ins Haus. Die Tanzsparte schließlich bietet ein „Faust“-Ballett mit Rock- und Pop-Anklängen sowie ein klassisches Handlungsballett zum „Don Quixote“-Stoff.