Museen geschlossen, Frank Goosen ausverkauft: Ärger und Freude liegen im Kulturbetrieb des Reviers nahe beieinander

Von außen sieht man ihm seine charakteristischen Tütenlampen gar nicht an: das Schauspielhaus Bochum, wo Frank Goosen sein „Silvester Spezial“ zur Aufführung brachte. (Foto: Schauspielhaus Bochum/Martin Steffen)

Frank Goosen, das ist mal klar, Frank Goosen hat uns gerettet. Das „Silvester Spezial“ des Bochumer Kabarettisten, dargebracht im Großen Haus des Bochumer Schauspiels, fügte sich exakt in die Erfordernisse des diesjährigen Besuchsbespaßungsprogramms: Beginn um 20 Uhr und um die zwei Stunden lang, so daß es bis zum Jahreswechsel dann nicht mehr weit war. Die Silvesterparty im Schauspielhaus knickten wir uns und strebten hernach den heimischen Dortmunder Fleischtöpfen zu. Guter Abend, gutes Timing, 2025 konnte kommen.

Ruhrgebietskultur

Warum erzähle ich das eigentlich? Nun, weil die Berliner Verwandtschaft in diesem Jahr bei uns zu Gast war und man dann natürlich einen gewissen Ehrgeiz entwickelt, richtig schöne Ruhrgebietskultur vorzuführen. In vielen Vorjahren war – in Berlin – die Komische Oper ein prominenter verwandtschaftlicher Bespaßungsort, aber die wird ja jetzt umgebaut und Barrie Kosky ist auch nicht mehr da und überhaupt. Also finde mal was, hier im Revier, wenn es nicht traditionelle Operette sein soll. Nun, wir fanden, wie gesagt, ihn, Frank Goosen, den man mit seiner grundsoliden Bochumer Erdung nebst gleichzeitiger, hochgradig anregender intuitiver Beweglichkeit und profundem historischen Spezialwissen auswärtigem Publikum durchaus zumuten kann, ja geradezu: sollte.

Andreas Weißert las in Dortmund

Der Fairneß halber sei ergänzt, daß auch andere Bühnen Jahresausklangsprogramme anboten. So las der geschätzte Schauspieler Andreas Weißert auf der Dortmunder Studiobühne wieder etwas vor, Textpassagen von Fontane, Kästner, Fallada und Bernhard unter dem Titel „Es ist ein hübsches Wort, daß die Kinder ihren Engel haben“ (ein Fontane-Zitat). Nur – um 16 Uhr fing er an und anderthalb Stunden später war er fertig, das ist dann noch verdammt viel Zeit bis Mitternacht.

Volle Hütte

Bei Goosen war das Theater voll, ganz offensichtlich giert das Volk nach Jahresendkultur. Da paßt es – Vorsicht, Ironie! – wunderbar ins Bild, daß die heimischen Museen an den letzten Tagen des Jahres einfach zumachen. Das Dortmunder „U“, zentrale Adresse, blieb zwischen 30. Dezember und 1. Januar, also von Montag bis Mittwoch, drei Tage immerhin, geschlossen, und in etliche anderen Städten hielten kommunale Museen es ebenso. Offensichtlich war hier eine Bürokratie am Werke, die die Welt in Brückentagen denkt und nicht in Publikumsinteresse. Warum sollte man an kalten, nassen Winter-Werktagen „zwischen den Jahren“, die wirklich nicht zu Spaziergängen irgendwelcher Art einladen, Museumsbesuche ermöglichen? Und der Montag ist eh sakrosankt, liege er für das ungeliebte Publikum auch noch so günstig zwischen den Feiertagen. Es macht die Sache übrigens nicht besser, daß wir, wären wir in Berlin gewesen, ebenfalls vor größtenteils geschlossenen Häusern gestanden hätten. Die Ignoranz einer selbstgefälligen kommunalen Bürokratie ist ein bundesweites Phänomen.

Offene Türen beim Schraubenkönig

Private Museen hingegen kennen das Publikumsinteresse und haben ihre Angebote angepaßt. So läßt „Schraubenkönig“ Würth die Tore seiner drei Häuser in und um Künzelsau jeden Tag von 10 bis 18 Uhr öffnen, das Potsdamer Museum Barberini, das SAP-Chef Hasso Plattner gehört, bot am 1. Januar zumindest Führungen durch das Haus an, und ebenso hatte die Duisburger Küppersmühle am 1. Januar geöffnet.

Wenigstens haben wir den Kran gesehen

In Dortmund, wo Tage vor Silvester museal nichts mehr ging, blieb als touristische Aktion schließlich noch eine Stadtrundfahrt mit dem eigenen Auto, Borsigplatz, Westfalenhütte (wo große städtebauliche Veränderungen anstehen), Hoesch-Museum (geschlossen wegen Umbau). Weiter über Malinckrodtstraße und Nordmarkt zum Hafen, wo vis-à-vis vom wilhelminischen Hafenamt der alte Kran zu besichtigen ist, den man weiter unten auf dem Hafengelände abgebaut und hier, auf der Vorzeigemeile, wieder aufgebaut hat. Gut, wenigstens diese Besichtigung hat geklappt, umsonst und draußen, wie es sein soll bei einem Freiluftindustriedenkmal.

Und es ging auch vom Auto aus. Mistwetter, wie gesagt.




Unermüdliche Suche nach Benachteiligung – „Cherchez la FemMe“ im Dortmunder Studio

Von links: Linda Elsner, Sarah Yawa Quarshie und Iman Tekle (Bild: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Angekündigt wird die Begegnung mit drei sehr unterschiedlichen Frauen, mit Claude Cahun, Josephine Baker und Eartha Kitt. Doch wenn das Spiel beginnt, läuft es ganz anders als geplant. Offenbar ist das Publikum zu früh gekommen, die auf der Bühne sind noch nicht fertig. Und das Licht ist auch noch nicht an.

Witzig? In Grenzen schon. „Cherchez la FemMe“ heißt das 75-minütige Spektakel im Studio des Dortmunder Theaters, das nach seinem verstolperten Anfang bald an Fahrt gewinnt. Und natürlich ist die orthographisch fragwürdige, selbstverständlich vieldeutige Schreibung des Titels absichtsvoll erfolgt.

„Kochshow“ mit (von links): Linda Elsner, Iman Tekle, Sarah Yawa Quarshie und Christopher Heisler (Bild: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Weibliche Identität

Recht offenkundig geht es, wie mittlerweile oft im Dortmunder Theater, um die geschlechtliche Identität, vor allem jedoch um vorgebliche Unterdrückung, Vermeidung, Diffamierung der weiblichen Anteile eines jeden Menschen. In einer „Kochshow“ ist zu sehen, wie weibliche Identität „seit 800 Jahren“ aus diskriminierenden, minderwertigen Zutaten entsteht, zusammengebraut (vermutlich) von weißen alten Männern. In Wirklichkeit aber soll es eine solche weibliche Identität gar nicht geben, ihre Definition sei lediglich ein Unterdrückungsmechanismus, behauptet diese Szene. Na gut.

Hier dreht es sich um Hannah Arendt. Szene mit (von links) Linda Elsner, Iman Tekle, Christopher Heisler und Sarah Yawa Quarshie (Bild: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Hannah Arendt

Es irritiert, dass wir nun jedoch Hannah Arendt begegnen, von der man zumindest weiß, dass sie eine bedeutende Geisteswissenschaft-lerin war, dass sie ein Verhältnis mit Martin Heidegger hatte, dass sie den Eichmann-Prozess verfolgte, ein Buch darüber schrieb und ihr Satz von der „Banalität des Bösen“ geradezu populär wurde. Auf der Bühne, wo eine Darstellerin Hannah Arendt spielt, während die anderen ohne Rollenzuweisungen bleiben, geht es aber offenbar vor allem um ihr weibliches Selbstverständnis im männlich dominierten Wissenschaftsbetrieb. Sie soll sich wohl nicht benachteiligt gefühlt haben, kann das denn stimmen? Letztlich bleibt die Antwort aus, sie wäre von der Anlage der Szenen her auch kaum möglich. Denn Schauspiel – mit der Betonung auf Spiel – findet an diesem Abend nicht statt. Statt dessen wird in Richtung Publikum deklamiert und monologisiert, meistens solistisch, gelegentlich aber auch im Chor, anklagend und vorwurfsvoll.

Zeigt komisches Talent: Christopher Heisler (Bild: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Zum Glück mit Spaßfaktor

Glücklicherweise haben die Autorinnen vom Kollektiv „Operation Memory“ (Julienne De Muirier, Alexandra Glanc und Maria Babusch, alle auch Regie) einen kräftigen Spaßfaktor in ihren Theaterabend eingebaut. „Cherchez la FemMe“ ist auch eine Bühnenshow, in der die Darsteller, drei Frauen und ein Mann, zu Titeln wie „New York, New York“ erheiternde Tanzeinlagen liefern. Bei Josephine Baker ginge es ja gar nicht ohne. Auch Eartha Kitt, von der man Titel wie „Santa Baby“ oder „C’est si bon“ im Ohr hat und die als gleichermaßen erotische wie wehrhafte Cat Woman Karriere machte, vollzieht ihren Bühneneinsatz höchst körperbetont. Von Leonard Cohen hört man dazu „I’m Your Man“ vom Band.

Eine Produktion mit erheblicher Flüchtigkeit

Textpassagen gelangen zum Vortrag, die die Frauen von „Operation Memory“ den beschriebenen Künstlerinnen biographisch zuordnen, mehr oder weniger jedenfalls, Texte voller Verlusterfahrung und Zorn. Ob das alles so stimmt, und ob das passt, wer weiß? Vielleicht ist der eine oder andere Satz durchaus bedenkenswert. Doch wohnt dieser Produktion erhebliche Flüchtigkeit inne, die ein gründlicheres Nachschmecken schwer macht.

Sehr unglücklich

Ein wenig anders verhält es sich lediglich bei der Fotografin und Schriftstellerin Claude Cahun (1894 – 1954), der sich dieser Abend mit etwas mehr Ernsthaftigkeit widmet und zu der es auch eine projizierte Bilderfolge zu sehen gibt. Sie soll, so legt das Stück uns nahe, mit ihrem Geschlecht, mit Geschlechtlichkeit schlechthin, sehr unglücklich gewesen sein. Und damit wäre man bei der zentralen Frage, nämlich, wie glücklich oder unglücklich Menschen in ihrer konkreten Existenz waren, sind oder sein könnten. Doch dieser Frage stellt sich dieser Abend, na sagen wir mal: kaum.

Fleißiges Bühnenpersonal

Die Schauspielerinnen heißen Sarah Yawa Quarshie, Linda Elsner und Iman Tekle. Einsatzfreude kann allen Darstellern attestiert werden, bei Christopher Heisler, dem einzigen Mann auf der Bühne, blitzt zudem immer wieder dezentes komödiantisches Talent hervor.

Gelangweilt hat man sich nicht, schlauer geworden ist man aber auch nicht. Anhaltender, naturgemäß begeisterter Uraufführungsbeifall.




Hier gibt es für Künstler nichts zu lachen – Milan Peschels „Das Vaudeville der Verzweiflung“ im Theater Dortmund

Szene mit Marlena Keil (liegend), Alexander Dakow, Linus Ebner, Anton Andreew, Bettina Engelhardt und Ekkehard Freye (von links). (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Leicht zugänglich ist dieses Stück nicht, trotz seines munteren Aufspiels. Vieles geht hier durcheinander, Zeitebenen und Rollenzueignungen bleiben unscharf, der Text trägt eher zu weiterer Verwirrung bei, als daß er die erklärenden Bezüge schaffte. Das Dortmunder Theater zeigt „The Head in The Door oder Das Vaudeville der Verzweiflung“; Milan Peschel hat das Stück geschrieben und führt nun auch Regie.

Das Theater steht im Dortmunder Fredenbaumpark

Die Bühne: Ein Vorhang hinter dem Vorhang und dort, auf der Drehbühne, ein holzlattiges Gebilde mit einem weiteren Vorhang. Dies soll das Vaudeville-Theater sein, das die Inszenierung, köstlicher Scherz, nach Äußerungen der Darsteller im Dortmunder Fredenbaumpark angesiedelt hat. Beziehungsweise sind es die Reste davon, denn schon lange verfällt das ganze, einen Besitzer gibt es nicht mehr, nur eine Gruppe von sieben Schauspielern und Schauspielerinnen harrt in den Kulissen aus und ist dabei pausenlos in Bewegung.

Szene mit Nika Mišković, Bettina Engelhardt, Anton Andreew, Alexander Darkow, Ekkehard Freye, Marlena Keil und Linus Ebner. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Das Ende der Vorstadtbühnen

Der Programmzettel gibt eine historische Verortung, genauer gesagt gleich zwei. Einerseits soll das ganze mehr oder weniger in den 1920er Jahren spielen, als in Amerika der Film, der ja bald auch schon sprechen können würde, den kleinen, schäbigen Vorstadttheatern die Luft abschnürte. Daneben wird aber auch die Jahreszahl 1960 genannt – die Sechziger gleichsam als Symbol für den Verlust von Moral, Hoffnung, Vertrauen in der westlichen Welt, von vielem Althergebrachten, besonders im Showgeschäft. Die Filme veränderten sich, die Helden veränderten sich. Und das schauspielende Fußvolk mußte zusehen, wo es blieb. Doch diese Zeitbeschreibung entnehmen wir, wie gesagt, zunächst einmal nur dem Programmzettel.

Theatralische Erregtheit

All dies ist ja auch längst Vergangenheit, wenn wir die sieben Mimen in ihrem Fredenbaum-Vaudeville persönlich kennenlernen. Das Outfit einiger von ihnen läßt klassische Kinogestalten erahnen, Western-Helden, einen Charly Chaplin, eine Joan Crawford usf. Die Atmosphäre ist, so könnte man vielleicht sagen, mit theatralischer Erregtheit aufgeladen. Man schwelgt in Erinnerungen, man streitet darüber, wie Figuren anzulegen sind, wie die Haare frisiert sein müssen, wie man bestimmte Namen ausspricht. Mal auch, ziemlich zu Beginn, spielt man eine üppige Wildwest-Schießerei durch. In seliger Verklärung erinnert man sich an Rollen und Nebenrollen in trashigen Fernsehvielteilern, Ballerfilmen, Spaghettiwestern und so weiter.

Screwball-Komödie

Nach Art der Screwball-Komödien fliegen die Sätze hin und her; Nebensächlichkeiten werden immer wieder zu kontrovers diskutierten Zentralthemen, oft aber auch gleiten die Gespräche ins Absurde ab oder finden im Paradox ihr plötzliches Ende – es ist eine sehr amerikanische Form der Diskussion, Woody Allen oder auch die Marx-Brothers haben in Filmen manchmal ähnliche Dialoge gehabt. Das amerikanische Comic-Magazin MAD hat Gespräche wie diese zu gezeichneten Geschichten gemacht. Hier in Dortmund, in Peschels Stück, bleiben sie aber immer etwas fahrig, münden selten in zündende Pointen. Doch bleibt das Bühnenpersonal bei alledem heiter und immer unter Dampf, und das ist ja auch was.

Auf der etwas abschreckenden Vaudeville-Bühne (von links): Anton Andreew, Linus Ebner, Alexander Dakow. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Blickwinkel ändert sich

Was haben wir noch? Lustige Tanzeinlagen zu gnadenlosen Ohrwürmern der Unterhaltungsmusik, Jonglage, witzige, schreiend bunte Kostüme. Doch den Personen kommen wir bei alledem in den ersten zwei Dritteln dieses Theaterabends nicht wirklich näher. Künstler eben.

Nach etwa zwei Dritteln der Spielzeit allerdings ändert sich der Blickwinkel dieses eigentümlichen Stücks. Aus schwadronierenden, hyperaktiven, pointengeilen Kunstfiguren werden relativ abrupt armselige, bedürftige Gestalten, die in ihrem (unbeheizten!) Vaudeville-Theater auch übernachten, weil sie sich keine Wohnung mehr leisten können. Und irgendwie ist es ja ein Wert an sich, im Theater zu sein, zumal, wenn da auch noch ein Publikum – Geste in den Zuschauerraum hinein – ist. Gepriesen wird nun ein Leben ohne Zeit- und Arbeitsdruck, ein Recht auf Faulheit und auf schlechte Laune. Warum soll man sich schinden? Franz Kafkas Käfer in Rückenlage, vormals bekannt als Mensch Gregor Samsa, bringt es unerwartet zum Ideal, wenn er überhaupt keine Lust hat, die scheinbar hilflose Position mit Fleiß und Zähigkeit zu überwinden. Nun gut. Allerdings kommt das recht unvermittelt und thesenhaft daher, wird nicht entwickelt oder argumentativ begründet. In einem „Vaudeville der Verzweiflung“ – mit der Betonung auf Verzweiflung – haben solche Vorstellungen eines alternativen Lebensentwurfs wohl eh kaum Chancen auf Verwirklichung.

Ob das stimmt?

Man ahnt Absicht und Anspruch, man fühlt sich kurzweilig unterhalten, aber die Message bleibt verschwommen. Vielleicht soll das ja auch so sein, trotz der Behauptung des Programmzettels, Milan Peschel habe Mitte der 60er Jahre „die Zusammenarbeit mit dem Ensemble des Schauspiel Dortmund“ begonnen, um „in einigen Gebieten des nördlichen Amerika aber vor allem in Europa“ für sein Stück zu recherchieren. Wir vermuten hier Fake, und außerdem: Was will er da recherchiert haben? Unzufriedenheit mit der Welt, wie sie eben gerade ist, war auch in den Sechzigern schon keine ganz neue Entdeckung. Die Verbindung aber von Leistungsverweigerung und Anspruchshaltung, heutzutage auch jenseits des Theaters häufiger wahrzunehmen und mit dem Diktum einer vermeintlichen Chancenlosigkeit eher unzulänglich und auch unzutreffend grundiert, muß nicht zwingend Zustimmung finden.

Überzeugendes Ensemble

Bleibt wieder einmal die Darstellerriege zu preisen, die ganzen Einsatz zeigt und sich durch einen Riesenberg Text hindurcharbeiten mußte: Anton Andreew, Alexander Darkow, Linus Ebner, Bettina Engelhardt, Ekkehard Freye, Marlena Keil und Nika Mišković. Sie bekamen reichlichen Applaus, und den haben sie auch verdient.




Alles so schön bunt hier – „Das Spiel ist aus“ nach Jean-Paul Sartre in Dortmund

Pierre und Eve (Adi Hrustemović und Sarah Yawa Quarshie) sind fast ein Traumpaar. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dotmund)

Bunte Neonröhren an Wänden und Decke illuminieren in rhythmisch getaktetem Aufleuchten die Bühne, Wandflächen konturieren sich in pulsierenden Lichtrahmen, harte, schnelle Beats wummern durch den Raum.

Endlich betreten die beiden Hauptpersonen die Bühne. Sie sind, das wird bald klar, durch Farb-, Licht- und Klangwirren hindurch im Totenreich angelangt, wo nun Nummern aufgerufen werden, mit denen die Neuen sich zur Registratur zu begeben haben. Ordnung muß schließlich sein. Man prüft, man sieht: etwas ist hier nicht in Ordnung, ein Fehler der Verwaltung, der korrigiert werden muß. Das ganze nimmt Fahrt auf, und nur am Rande irritiert, daß das Stück „Das Spiel ist aus“ heißt. Denn ganz im Gegenteil folgt nun eine relativ fest gefügte Handlung, die auch Azeret Kouas Inszenierung auf der Studiobühne des Dortmunder Schauspiels nicht verschweigt.

Film aus dem Jahr 1947

Vorlage für diesen Theaterabend ist der Film gleichen Titels aus dem Jahr 1947, für den Jean-Paul Sartre das Drehbuch schrieb und den die Kritik bis heute einhellig lobt. Lediglich das „Handbuch der katholischen Filmkritik“ glaubte 1960 anmerken zu müssen, daß der Film „aber nur für wirklich reife Menschen von Nutzen“ sei. Diese sauertöpfische Einlassung muß man verstehen, geht es doch darum, daß der existentialistische Philosoph Sartre hier den Zwang der Verhältnisse über die gleichsam göttlichen Regelungen von Leben und Tod stellt, die bekanntermaßen zur Kernkompetenz der Kirchen gehören.

Queen und King of Nebenrolle, hier zu sehen im Bürokratiehäuschen des Totenreichs: Antje Prust und Raphael Westermeier. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Eve und Pierre

Die Geschichte erzählt von Eve und Pierre, die beide ermordet wurden und nun im Totenreich aufeinandertreffen. Es stellt sich heraus, daß sie eigentlich füreinander bestimmt waren und ihre Verbindung auf Erden durch einen (quasi himmlischen) Verwaltungsfehler unterblieb; daher bekommen sie die Möglichkeit, innerhalb von 24 Stunden das Versäumte auf Erden nachzuholen. Und was in Hollywood eine himmlische Komödie hätte werden können, endet bei Sartre – zwei Jahre nach Kriegsende recht nachvollziehbar – im Desaster. Zurück auf Erden will Pierre, Arbeiterführer und Revolutionär, seine mißtrauischen Genossen zunächst von einem Aufstand abhalten, von dem er weiß, daß er verraten wurde; Eve muß feststellen, daß ihr Mann sie ermordete, der lange schon ein unbemerktes Techtelmechtel mit ihrer Schwester hatte. Wie unter diesen Umständen die große Liebe finden? Bevor sich Eve und Pierre final in die Arme fallen können ist die Zeit um, und zurück geht es ins Totenreich. Dumm gelaufen.

Streit mit Schwester und mörderischen Gatten, beide links im Bild. Darsteller von links: Raphael Westermeier, Antje Prust, Sarah Yawa Quarshie und Adi Hrustemović (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Einiges zu klären

Heutzutage, da das Fernsehen überquillt von soften Liebesgeschichten mit garantiertem Happy End, wirkt das Scheitern der Liebe von Pierre und Eve auf das Publikum möglicherweise irritierend. Da wäre von der Theaterinszenierung einiges zu erklären, einiges auch zunächst zu klären. Die Dortmunder Produktion jedoch zeigt wenig Interesse daran, Motiv- und Problemlagen ernstlich auszuleuchten. Dabei, es soll nur ganz leise angedeutet werden, ist doch gerade die Liebe zwischen Mann und Frau oft eine recht komplizierte Angelegenheit. Gern bemüht man zur Verdeutlichung das Sprachbild vom Wechselbad der Gefühle; und wenn es die erste (große) Liebe ist, wird es noch schwieriger.

Nach Art des Hauruck-Kaspers

Aber Psychologie kommt auf der Dortmunder Studiobühne nicht vor. Ganz nach Art des Hauruck-Kaspers auf der Kirmes wird die Geschichte in 80 Minuten atemlos und hoch motorisch durchgebolzt. Laut und grell ist das ganze, aber nicht wirklich lustig und auch nicht tragisch, weil den Figuren die individuelle Zeichnung vorenthalten bleibt. Möglichkeiten der Intensivierung durch den direkten Kontakt zum Publikum, über die nur das Theater verfügt, bleiben ungenutzt. Das Geschwurbel schließlich vom „patriarchalen Kapitalismus“ auf dem Programmzettel, mit dem das alles irgendwie zu tun haben soll, wirkt gänzlich abwegig.

Sportlichkeit und Präsenz

Wenn aber Schauspielkunst kaum nachgefragt wird, haben es die Schauspieler schwer. Auf jeden Fall ist Adi Hrustemović, Antje Prust, Sarah Yawa Quarshie und Raphael Westermeier viel Sportlichkeit und Präsenz zu attestieren. Ihnen zu wünschen bleiben Inszenierungen, in denen sie mehr von ihrem Können zeigen können.

  • Weitere Termine
  • 25., 26. Januar, 2., 19. Februar, 5., 24. März
  • www.theaterdo.de



Sozialer Aufstieg hat seinen Preis – Theater Dortmund zeigt „Der Platz“ nach dem Roman von Annie Ernaux

Marlena Keil, Antje Prust, Mervan Ürkmez, Linda Elsner, Lola Fuchs, Raphael Westermeier (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Was, so könnte man zu Beginn vielleicht fragen, macht den Wert einer Biographie aus? Bei Herrschern, Künstlern oder Verbrechern, beiderlei Geschlechts sie alle natürlich, fielen uns schnell Antworten ein; stets gilt es von der Lebensleistung zu berichten, von großen Taten oder großen Irrtümern, von Wahnsinn oder tragischer Verstrickung.

Macht und Reichtum begünstigen fraglos die Entstehung von Biographien, doch auch arme Leute können ein interessantes – und somit berichtenswertes – Leben geführt haben. Wenn aber nur ein zu jeder Zeit ausgesprochen durchschnittliches Leben gelebt wurde, es bis zum etwas frühen Tod mit 68 keine dramatischen Brüche und Wendungen gab – ja was soll man da erzählen? Und vor allem: warum?

Musikerin Houaida (links) (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Laden und Kneipe

Annie Ernaux (Jahrgang 1940), französische Schriftstellerin mit starker Neigung zum Autobiographischen, hat es in ihrem Buch „Der Platz“ (1983) getan. Sie erzählt die Geschichte ihres Vaters, der zuerst Knecht auf einem normannischen Bauernhof war, später Industriearbeiter, und sich schließlich mit einem kleinen Laden nebst Kneipe selbstständig machte. Die kleinbürgerliche Selbstständigen-Existenz wird als sozialer Aufstieg gesehen, wenngleich die Einkommensverhältnisse bescheiden bleiben. Der Vater bemüht sich um ein gewandtes Auftreten, um seine vermeintlich bessergestellte Kundschaft zu beeindrucken, doch Minderwertigkeitsgefühle und die Angst vor dem Zurücksinken in eine proletarische Existenz bleiben lebenslang.

Das ist im Grunde die Geschichte. Erzählt wird sie rückblickend von der erwachsenen Tochter, die Gymnasiallehrerin geworden ist und durch ihre Verbeamtung Teil der bewunderten, beneideten, privilegierten Mittelschicht. Vom Vater hat sie sich dadurch entfremdet, beklagt sie.

Und nochmal, von links: Antje Prust, Linda Elsner, Raphael Westermeier, Lola Fuchs, Marlena Keil, Mervan Ürkmez (Foto: Theater Dortmund/Birgit HupfeldEEei

Endlich im Großen Haus

Im Schauspiel Dortmund hat Julia Wissert Annie Ernaux’ Buch „Der Platz“ nun als Stück auf die Bühne gebracht. Es ist dies die erste Inszenierung von Dortmunds immer noch neuer Intendantin im Großen Haus, wenngleich sie schon seit der vergangenen Spielzeit im Amt ist, Corona hat Schuld.

Gleich sechs Darstellerinnen und Darsteller bietet sie für den Monolog der Annie Ernaux auf, um das Leben des Vaters in recht straff geordneten Rückblenden zu erinnern. In etwa, ganz genau ist das nicht immer zuzuordnen, stehen verschiedene Akteure für die unterschiedlichen Entwicklungsstadien der heranwachsenden, später erwachsenen Tochter. Ihr Leiden unter der Nicht-Intellektualität des Elternhauses, ihre Minderwertigkeitsempfindungen gegenüber Kindern aus dem bürgerlichen Milieu, ihre Trauer um die Förderung, die das eigene Elternhaus ihr trotz gutem Willen nicht geben konnte – das sind, wenn man einmal so sagen darf, wesentliche Befindlichkeiten dieses Vortrags, der die Tochter (oder auch, wenn man so will, die Romanautorin) weitaus gründlicher zum Gegenstand autobiographischer Betrachtung macht als den Herrn Papa: Der schwere Aufstieg aus dem proletarischen Milieu – voilà.

Peinlicher Alter

Noch einmal ketzerisch nachgefragt: Sind solche Biographien es wert erzählt zu werden? Wie gesagt, Besonderes geschieht angeblich nicht. Oder könnte es sein, daß die Tochter an ihrem Vater vieles nicht oder nicht hinreichend wahrgenommen hat? Oder daß sie gar Dinge weggelassen hat, die nicht in das letztlich recht schlichte Konzept von ungebildetem Vater und zu kurz gekommener Tochter paßten? Ein dialektisch grundiertes Verfremdungsgeschehen ist nicht zu erkennen, und das häufige Hantieren mit Zentralbegriffen wie Scham und Entfremdung vermag nicht gänzlich zu überzeugen. Der Alte war ihr peinlich, könnte man respektlos vermuten, auch weit über die Pubertät hinaus. Mehr jedenfalls wird uns nicht berichtet.

Die Frage nach den Ressourcen wird nicht gestellt

Dabei wäre die Frage nach den Ressourcen der erfolgreichen Tochter wichtig gewesen, von denen es ja auch einige gegeben haben muß. Warum zum Beispiel kommt die Mutter mit wenigen kleinen Ausnahmen in all den Lebenserinnerungen nicht vor? Sie dürfte doch auch wichtig gewesen sein für das Kind – und übrigens auch für den gemeinsamen, mutigen Beschluß der Eheleute, eine selbstständige Existenz aufzubauen. Beim Vater wird zumindest deutlich, daß er, wenn er seine Tochter auch nicht intellektuell fördern konnte, doch stolz auf sie war und ihr den sozialen Aufstieg gönnte.

Etwas somnambul und etwas rätselhaft: das Ensemble in steter Bewegung (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Recht ordentlich

Wenn man so schnell bei den inhaltlichen Valeurs eines Stückes anlangt, dann spricht das für die Qualität der Inszenierung. Zwei Männer und vier Frauen tragen in sachlich-engagiertem Ton vor, machen neugierig auf zukünftige Taten des neuen Ensembles: Antje Prust, Linda Elsner, Lola Fuchs, Marlena Keil, Mervan Ürkmez, Raphael Westermeier.

Ihre Körperlichkeit steht dabei in einem gewissen Widerspruch zum nüchternen Textprotokoll. Alle sind sie mehr oder weniger immer in Bewegung, getrieben suchend, schematisch agierend, ein wenig rätselhaft, ein wenig somnambul. Etwas emotionale Aufladung durch feinen Gesang hier und da (Musik: Houaïda) wirkt entspannend. Glücklicherweise widersteht die Inszenierung der Versuchung, Motive von Ausgrenzung, Rassismus, Klassengesellschaft oder ähnlichem einzuflechten. Kluge Theaterbesucher kommen auch von alleine darauf, daß es da Bezüge gibt.

Wenig Publikum

Leider kann nicht unerwähnt bleiben, daß zur fünften Aufführung kaum 30 Zuschauer den Weg ins Dortmunder Theater (Großes Haus!) fanden. Vermutlich war es keine gute Idee, in den letzten Wochen der Spielzeit 2020/2021 nicht mehr zu spielen, als dies bei Beachtung der Hygieneauflagen wieder möglich gewesen wäre. Auch ein abgespecktes Sommerprogramm wäre vorstellbar gewesen, um für Aufmerksamkeit zu sorgen. In Dortmund aber herrschte zu lange zu viel Ruhe. Zudem haben Intendantenwechsel, wie eben in Dortmund, oft auch den Verlust von Teilen des alten Stammpublikums zur Folge. Und Korona hat seinen Schrecken noch nicht verloren. Heißt: Das Theater Dortmund muß sein Publikum zurückgewinnen. Wünschen wir ihm Glück dabei.

 

 




Vom IT-Campus zum „Theatermacher“ – eine kleine Dortmunder Betrachtung in Zeiten des Home-Office

Dort, wo jetzt noch ein markanter Hallenbau am Ufer der Emscher das Bild beherrscht, soll der neue IT-Campus entstehen. (Bild: p)

„Hoesch-Spundwand“, abgekürzt HSP, war viele Jahre ein Sorgenkind unter den Dortmunder Industriebetrieben, bis es dann 2015 endgültig zumachte – keine profitablen Aufträge und keine Aussicht auf Besserung. Was blieb, war im Westen der Stadt ein großes Industrieareal entlang der Emscher mit einer imposanten Halle, von der Emscherallee aus in ganzer Schönheit zu bestaunen. Und dann kamen die Planer.

„Wie das Google-Hauptquartier“

Im Lokalteil der Dortmunder Zeitungen – ja, für die, die nicht von hier sind und es nicht wissen: es gibt nur noch einen Lokalteil in Dortmund, der von den Ruhr-Nachrichten produziert und den die Funke-Titel WAZ und Westfälische Rundschau übernehmen – war nun zu lesen, wie toll das dort alles wird, auf dem ehemaligen HSP-Gelände und darüber hinaus. Rund um die Fachhochschule, die sich hier ansiedeln soll, werden so genannte „Science Factories“ entstehen, die so etwas wie „fliegende Klassenzimmer“ für die Fachhochschulstudenten sein sollen und in denen aus Ideen konkrete Anwendungsfälle werden. In der Informationstechnologie, so Klaus Brenscheidt von der Industrie- und Handelskammer, gelte es, „den Kampf gegen China aufzunehmen“. „Wie das Google-Hauptquartier“ soll die Geschichte funktionieren, Mitte der 2030er Jahre sollen rund 210 Unternehmen mit durchschnittlich jeweils 43 Arbeitsplätzen entstanden sein, was rechnerisch 9030 Arbeitsplätze ergibt und 26 Millionen Euro jährlich in das Dortmunder Steuersäckel spülen soll.

Die Kunst ist schon da: „Zur kleinen Welle“ heißt die archaisch-bedrohliche, gleichwohl begehbare Skulptur, die raumlabor Berlin vor einigen Jahren an den Rand der renaturierten Emscher stellte. (Foto: p)

Lieber zu Hause bleiben

Etwas nüchterner betrachtet ist gemeint, daß die Firma Thelen Gruppe für eine Gesamtsumme von rund zwei Milliarden Euro (immerhin) viel neue Bürofläche schaffen will, in 150 würfelförmigen Gebäuden mit einer Bruttogeschoßfläche von 200.000 Quadratmetern, so genannten Innovationskuben. Das sind beeindruckende Zahlen, keine Frage.

Doch scheint an dieser Stelle ein fußballkaiserliches „Schau’n mer mal“ angebracht. Als man mit diesen Planungen begann, hieß der Oberbürgermeister Sierau, gab es Covid 19 noch nicht, und keiner redete vom Home-Office. Mittlerweile kann man durchaus Zweifel haben, ob die fröhliche Campus-Idee noch funktioniert, oder ob die Damen und Herren Informationstechnologiker nicht lieber zu Hause bleiben zum arbeiten. Dann würde es nichts mit dem innovativen Würfelspiel. Aber wir wollen nicht unken.

Theater im Home-Office

Das Prinzip Home-Office, wir wechseln den Schauplatz, hat die Dortmunder Theaterleitung schon stark verinnerlicht. Seit 2020 ist Julia Wissert im Amt, doch das Große Haus konnte bislang noch nicht bespielt werden, wegen Corona. Als wieder etwas möglich war, hatte die Dortmunder Kulturverwaltung schon beschlossen, es gut sein zu lassen in der Spielzeit 20/21. In einer gewissen Folgerichtigkeit gab es Auskünfte zur anstehenden Spielzeit 2021/22 dann auch nur als Pressetext. Die anderen Bühnen in der Nachbarschaft, stellvertretend sei Bochum genannt, veranstalteten hingegen recht ordentliche Programm-Pressekonferenzen im Internet; für Dortmund bleibt lediglich die Hoffnung, daß im Herbst endlich wieder Leben im Theater einzieht. Wenn die Inzidenzen mitspielen, sozusagen.

Kay Voges, von 2010 bis 2020 Intendant des Dortmunder Theaters und ist seitdem Direktor der Wiener Volksbühne. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Dortmunder „Theatermacher“ für Wien

Schauen wir jetzt noch nach Wien: Dort arbeitet Kay Voges, etliche Jahre Dortmunder Schauspielchef, an seiner Eröffnungspremiere im Oktober. Das Publikum des Wiener Volkstheaters, dessen Chef er seit einiger Zeit ist, will er mit einem, wenn man so sagen darf, überaus österreichischen Stoff in den Bann schlagen, verfaßt von einem erklärten Österreich-Hasser. Der Witz daran ist, daß wir in Dortmund die Inszenierung schon lange kennen – mit dem stattlichen Andreas Beck in der Titelrolle und einigen weiteren bekannten Namen aus Voges’ Dortmunder Zeit (u.a. Uwe Rohbeck). Den „Theatermacher“ von Thomas Bernhard hatte Voges seinerzeit gut begründet auf die Bühne des Dortmunder Theaters gestellt, weil es dort die erste große Produktion nach langem renovierungsbedingtem Exil in der Industriehalle „Megastore“ war.

Die Wiener sind schwierig

Also eine Win-win-Situation – eine Inszenierung, zwei Theater? Gelegentlich wird man mal nachschauen müssen, wie die Wiener es aufgenommen haben. Sie, die Wiener, gelten nämlich als schwieriges, verwöhntes Publikum, kein Vergleich mit den freundlichen Ruhris. Ob die Wiener sich von einem Piefke erzählen lassen wollen, wie sie so sind?

Smartes Rhinozeros

Ach ja, dies soll nicht unerwähnt bleiben: Das bombastische IT-Bauprojekt auf dem HSP-Gelände in Dortmund hat längst auch schon einen innovativen Namen erhalten. „Smart Rhino“ haben sie es genannt. Das klingt nach Kleinwagen mit alternativer Antriebstechnik, soll aber, so ist dem bereits zitierten Lokalteil zu entnehmen, Bezug nehmen auf das Plastik-Rhinozeros, das im Konzerthaus das Licht der Welt erblickte und das das Stadtmarketing der Stadt in vielen bunten Ausführungen als zweites Wappentier verordnet hat. Eigentlich würde der Adler reichen, auch zukünftig. Das wäre dann so etwas wie „Smart Eagle“. Doch vielleicht fällt dem Volksmund noch ganz etwas anderes ein.

 

 




Manchmal sind die Alternativen im Leben bestürzend gering: „Konstellationen“ von Nick Payne im Dortmunder Schauspiel

Was das real gelebte Leben nicht kann, kann das Theater: verschiedene Möglichkeiten des Kennenlernens und des Zusammenlebens durchspielen, alles noch einmal auf Anfang setzen, Dinge geschehen lassen oder eben auch nicht. In seinem Stück „Konstellationen“ wählt der britische Autor Nick Payne einen solchen Ansatz. Das deutschsprachige Ergebnis seiner dramatischen Bemühungen hatte nun im Studio des Dortmunder Schauspiels mit dem Titel „Konstellationen“ in der Regie von Péter Sanyó Premiere.

Louisa Stroux, Frank Genser (Foto: Birgit Hupfeld / Theater Dortmund)

Ob es sich wirklich um Konstellationen (Mehrzahl) oder doch nur um eine Konstellation handelt, wäre allerdings schon zu fragen. Denn eigentlich wird die Geschichte von Roland und Marianne – er Imker, sie Quantenphysikerin – linear durcherzählt. Zwar gibt es kritische Momente in ihrer beider Leben (Fremdgehen, Besäufnisse, Krankheit usw.), doch danach geht es immer auf dem gemeinsamen Gleis weiter – so lange es weitergeht.

Tumor

Schließlich nämlich hat Marianne einen inoperablen Tumor im Kopf und bemüht sich, wir machen das jetzt ganz kurz, um Sterbehilfe. Angst vor dem Tod habe sie nicht, befindet sie, Angst vor dem Sterben schon. Da stellt sich dann die Frage,wann man es hinter sich bringt: So schnell wie möglich, oder erst in ein, zwei Monaten, oder wenn der Anruf kommt? Zumindest macht der Schluß klar, daß die Alternativen im Leben manchmal doch bestürzend gering sind.

Heftig flackernde Neonröhren

Frank Genser, Louisa Stroux (Foto: Birgit Hupfeld / Theater Dortmund)

Frank Genser und Louisa Stroux geben das ungleiche Paar mit Leidenschaft auf nahezu nackter Bühne, die ihre Strukturierung lediglich durch eine Reihe von deckenhängenden Neonröhren erhält, welche entweder durch selektives Leuchten Spielräume abzirkeln oder aber heftig flackernd Handlungsbrüche markieren (Bühne: Daina Kasperowitsch).

Intensives Schauspiel

Gemessen an seinem analytischen Anspruch vermag „Konstellationen“ indes nicht gänzlich zu überzeugen. Um als Tragödie zu funktionieren, fehlen dieser traurigen Alltagsgeschichte, die in einer Stunde 10 Minuten erzählt ist, die dramatischen Weitungen. Was aber auf jeden Fall bleibt ist das Erlebnis intensiven Schauspiels, das schon für sich genommen den Theaterbesuch lohnt.

  • Termine: 9., 21., 29. Februar, 4., 19. März.
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Becketts Klassiker in Dortmund: Das „Warten auf Godot“ könnte ein schwerer Fehler sein

Weite Landschaft, ein mickriges Bäumchen, zwei abgerissene Landstreicher – von der Grundausstattung für Samuel Becketts Theaterstück „Warten auf Godot“ hat man doch recht feste Vorstellungen. In der Inszenierung Marcus Lobbes’, die am Samstag in Dortmund Premiere hatte, werden solche Erwartungen nicht erfüllt. Und bang fragt der Betrachter sich, ob die Vorlage das wohl verkraften wird.

Wladimir (Andreas Beck, links) und Estragon (Uwe Rohbeck) in der Dortmunder Inszenierung von „Warten auf Godot“. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Bedeutende Menschen im Mittelpunkt

Wladimir und Estragon, denen in Dortmund der füllige Andreas Beck und der zierliche Uwe Rohbeck aufs das unterhaltsamste Gestalt verleihen, treten auf in roten Phantasiekostümen und mit federbesetzten Mützen, denen neben der clownesken Anmutung auch eine gewisse Feierlichkeit eigen ist. Spielort ist eine Art Arena, auf der Rückwand gleitet ein projizierter Sternenhimmel vorbei (Bühne und Kostüme: Pia Maria Mackert).

Man sieht, hier stehen bedeutende Menschen im Mittelpunkt, handelnde Subjekte. Einstweilen allerdings handeln sie bekanntlich nicht, abgesehen davon, daß sie auf der Suche nach Eßbarem ihren Bühnenplatz bald schon mit Verpackungsmaterial aus Kühlkisten zumüllen. Sie reden, phantasieren, erklären einander die Welt, doch all die schönen Momente, in denen der Geist, von Träumen und Hoffnungen beflügelt, etwas abhebt, sind im nächsten schon verpufft, denn (wie sattsam bekannt): „Wir warten auf Godot“.

Von links: Lucky (Christian Freund), Wladimir (Andreas Beck), Estragon (Uwe Rohbeck) und Pozzo (Martin Weigel). (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Nach der Vorlage

In ihrem Fatalismus werden bis zum Ende warten, und Godot wird nicht kommen, die Inszenierung bleibt getreulich bei der Vorlage. Trotzdem lassen Wladimir und Estragon den Eindruck entstehen, daß es auch anders sein könnte, daß es ein Ende haben könnte mit der Warterei. Die Begegnung mit Pozzo und Lucky (Martin Weigel und Christian Freund) tut dazu das ihre, zeigen die beiden doch, daß es ein Nicht-Warten auf der Erde gibt. Doch sind sie so bizarr und auch ein bißchen furchteinflößend, daß man lieber wartet.

Absurdes Seil

In der zweiten Hälfte des Spiels (nach der Pause) werden sie wiederkommen, Pozzo wird erblindet sein, doch das Seil, an dem ihn Lucky dann führt, wird sozusagen schon in der ersten Hälfte des Abends verwendet. Es verbindet Herrn und Knecht über einen unsichtbaren Mechanismus in der Weise, daß sie einander nicht wirklich nahekommen können, sich (im bergsteigerischen Sinn) sichern, aber nicht berühren können; eine hübsche ausstatterische Extra-Absurdität, die zudem starke Bilder ermöglicht, wenn die Figuren, jeweils von der anderen gehalten, in extremer Schräglage agieren.

Die Bühne vermüllt, der Planet in Flammen; Szene mit Beck und Rohbeck. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Ein Ritual das nicht glücklich macht

Einen Baum gibt es übrigens nicht; statt dessen aber eine verborgene Hebebühne, die die Hauptfiguren zu Beginn der beiden Akte langsam und mit Unterbrechungen in die Szene hebt. Lange sieht man nur Köpfe, dann Oberkörper; und wie sie so statisch beieinander sind erinnern sie auch an Nagg und Nell in ihren Mülltonnen, in Becketts anderem absurden Erfolgsstück „Endspiel“. An beiden Tagen werden sie so emporgehoben, an den vielen anderen vorher und nachher, die es auch geben mag, wohl ebenso: ein Ritual, das nicht glücklich macht, leidenschaftlich wird Selbstmord durch Erhängen diskutiert. Nein, sie sollten nicht länger auf Godot warten, das Murmeltier grüßt täglich. Es wäre sogar falsch, ja lebensgefährlich. Sagt diese Inszenierung.

Der Planet explodiert

Denn zum Ende hin verwandelt sich der projizierte Bühnenhintergrund – lange Zeit ein beruhigender Sternenhimmel – in einen zunächst glühenden, dann explodierenden Planeten. Will ja möglicherweise sagen: Wartet nicht, ihr Wladimirs und Estragons im Publikum und in anderen Teilen der Welt, bis es zu spät ist. Es rettet euch kein höh’res Wesen, auch kein Godot. Der kommt ja sowieso nicht.

Dortmunder Sprechchor, Andreas Beck, Uwe Rohbeck. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Machtvoller Chor

Naja, jedenfalls kann man das mit gutem Willen so lesen. Und sich überdies bestätigt fühlen durch den Dortmunder Theaterchor, der mit beeindruckender Kopfzahl und in Endlosschleife das Lied „Ein Hund kam in die Küche und stahl dem Koch ein Ei…“ zum Besten gibt – erste im Foyer, dann im Zuschauerraum, schließlich auf der Bühne.

Vier Personen wirken überdies als Hund, Koch, Ei und Huhn kostümiert mit, was für das Stückverständnis nicht zwingend erforderlich wäre. Hingegen steigert die Klangarbeit des Herrn von Finckenstein die Intensität dieser Bühneneinrichtung erheblich, und auch Tobias Hoeft und Laura Urbach haben mit ihrer konzentrierten, unaufdringlichen Video-Arbeit Anteil daran.

Marcus Lobbes’ Inszenierung von „Warten auf Godot“ ertastet auf kluge Art Dimensionen dieses modernen Klassikers, die – vielleicht – der angemessenen Würdigung noch harren. Eine intelligente, sehr unterhaltsame Theaterarbeit, die das dankbare Publikum mit reichem Applaus bedachte.

  • Termine: 21., 29.2., 13., 19.3., 26.4., 17., 27.5.
  • Karten: Tel. 0231/50 27 222 und www.tdo.li/godot.
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„Helden wie wir“ – Andreas Beck erklärt im Dortmunder Studio, wie er die Mauer zum Einsturz brachte

Andreas Beck (Foto: Birgit Hupfeld / Theater Dortmund)

Dieser Abend im Studio des Dortmunder Theaters gehört der Vortragskunst. Andreas Beck spricht, spielt, erleidet den Text „Helden wie wir“, dessen Bühnenfassung Peter Dehler nach dem gleichnamigen Roman des DDR-Schriftstellers Thomas Brussig verfaßte.

Steile These des Stücks ist die Überzeugung des Titelhelden, er habe vor 30 Jahren die Berliner Mauer geöffnet. Mit seiner Posaune. Klaus Uhltzsch heißt die Figur, und der Name spricht sich genau so schwierig aus, wie er sich schreibt.

Das Glied schwillt

Aber das mit der Mauer kommt erst ganz am Schluß. Der Großteil von Andreas Becks beeindruckendem Vortrag (eine Stunde 25 Minuten) beschreibt die Nöte des männlichen Heranwachsenden, dem bedrohlich sein Glied schwillt, was er kaum verbergen kann. Der Vater bei der Stasi, die Mutter Hygienebeauftragte des Kreises – das ist nicht unbedingt ein hilfreiches Elternhaus für die kindliche Entwicklung, zumal die Mutter (Vater und Mutter sind im Theaterstück nur Stimmen aus dem Off) dem Knaben auch mit einer gewissen Lust nachzuspionieren scheint, was sie natürlich niemals zugeben würde. In der Reinlichkeitserziehung jedenfalls ist schon manches schiefgelaufen; Klaus geht nur mit größeren Mengen Klopapier auf Reisen und pflegt fremde Klodeckel vor ihrer Benutzung mit Klopapier zu umwickeln. Wahrscheinlich hat er schon eine Unzahl von Kloschüsseln verstopft, und irgendwann werden sie ihn dafür drankriegen, da ist er ganz sicher.

Andreas Beck (Foto: Birgit Hupfeld / Theater Dortmund)

Wenn Mutter guckt

Mit beginnender Pubertät sind Minderwertigkeitskomplex und Größenwahn Klaus’ treue Begleiter. Die Stasi tritt an ihn heran, Klaus phantasiert, ein hochkarätiger Agent zu sein und eine wichtige Aufgabe auszuführen. Doch wird er nur mit Belanglosem beauftragt. Sein Glied, wenngleich doch sehr präsent, kommt ihm bedrückend klein vor, vor allem, wenn Mutter einen abschätzigen Blick darauf wirft. Dann aber erleidet Klaus einen Unfall, bei dem sich wiederholt ein Besenstiel in sein Gemächt bohrt – während eines Stasi-Einsatzes, im unruhigen Jahr 1989.

Lag es wirklich am Besenstiel? Plötzlich ist aus Klaus’ eher mittelmäßigem Organ etwas wirklich Großes worden, eine „strahlende Posaune“, die gleich den Posaunen von Jericho Mauern einstürzen lassen kann. Mit ihr arbeitet Klaus seinen großen vaterländischen Auftrag ab und öffnet die Mauer. Und er weiß: „Ich war’s. Nicht Schabowski!“

Erfolgsstück

Brussigs launiger Monolog lief seit seiner Entstehung 1996 an vielen Bühnen erfolgreich. Auch Andreas Becks Vortrag, der ganz leicht pendelt zwischen treuherziger Naivität und jener kleinen Bitternote, die die Unzulänglichkeit der Verhältnisse mitunter mit sich bringt, ist ein unvergeßliches Bühnenerlebnis. Einwenden könnte man vielleicht, daß der allegorische Schlußakkord hinter den Schilderungen der Nöte des Heranwachsenden weit zurücktritt. Aber warum auch nicht.

Wir erleben eindrucksvolles Sprechtheater auf gänzlich ungestalteter Bühne, sieht man von ein wenig Lichtregie, Nebel und jenem eindrucksvollen „Rednerpult“ als einziger Kulisse ab, welches fallweise auch als Schreib- und Küchentisch dienen muß. Frenetischer Beifall für den Mann auf der Bühne und seinen vollen Einsatz.

Weitere Termine: 25.12.2019, 15.1.2020

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Monströse Erkenntnisse: „Der Widersacher“ von Emmanuel Carrère im Dortmunder Studio

Szene mit Alida Bohnen und Max Ranft (Foto: Birgit Hupfeld / Theater Dortmund)

Szene mit Alida Bohnen und Maximilian Ranft (Foto: Birgit Hupfeld / Theater Dortmund)

Offenbar hat es sich wirklich so abgespielt: Jean-Claude Romand, ein geachteter Mediziner in Diensten der WHO, bringt 1993 Frau, Kinder, Eltern und sogar deren Hund um, bevor er sein Haus anzündet und eine große Menge Schlaftabletten nimmt. Den Selbstmordversuch überlebt er, weil die Tabletten alt sind und deshalb kaum wirken. Fassungslos fragt das gutbürgerliche Umfeld der Romands nach Gründen, und was in der Folge an Erkenntnissen zu Tage tritt, ist monströs.

Romand führte seit vielen Jahren ein Doppelleben, war gar kein Arzt und auch nicht bei der WHO in Genf beschäftigt. Freunde und Familie hatte er glauben lassen, er studiere Medizin, während er tatsächlich längst schon mit dem Studium aufgehört hatte. Später dann fuhr er jeden Tag zur Arbeit, war ab und zu auf mehrtägigen Dienstreisen – tatsächlich jedoch machten lange Waldspaziergänge einen Gutteil seiner Arbeitszeit aus.

Für die Morde gab es, wenn man einmal so sagen darf, rationale Begründungen: Romand hatte in der Familie viel Geld eingesammelt, angeblich, um es „als Diplomat“ in der Schweiz mit sagenhaften 18 Prozent anzulegen. Tatsächlich aber lebten er und seine Familie von dem Geld. Als sein Vater einen Teil seiner Einlage für den Kauf eines Autos haben wollte, lief das Finanzierungsmodell Gefahr, aufzufliegen. Deshalb mußte der Vater und mußten die anderen sterben.

Szene mit (von links) Marlena Keil, Alida Bohnen und Uwe Rohbeck (Foto: Birgit Hupfeld / Theater Dortmund)

Tatsachenroman

Emmanuel Carrère erzählt diese Täuschungs- und Betrugsgeschichte in seinem Tatsachenroman „Der Widersacher“ nach, Regisseur Ed. Hauswirth machte die Übersetzung aus dem Französischen von Claudia Hamm zur Grundlage seiner Stückfassung, die derzeit im Studio des Dortmunder Schauspielhauses gezeigt wird.

Uwe Rohbeck, mit blonder Perücke kaum wiederzuerkennen, gibt den Buchautor und Erklärer Carrère, weitere Rollen im Stück sind mehrfach besetzt, was gewisse Chor-Effekte und Verstärkungen ermöglicht. Bis zu sieben Personen stehen (sitzen, liegen) auf der Bühne und erzählen, was da passiert ist, wie unglaublich ihnen diese Enthüllungen zunächst waren, wie ihnen die Ungeheuerlichkeit des ganzen zunehmend dämmerte. Rohbeck/Carrère strukturiert mit seinen nüchternen Erklärungen wiederholt die Erzählung, die Personen auf der Bühne hingegen spielen, sprechen, streiten kraftvoll, und immer unausweichlicher schiebt die Frage in den Raum, warum niemandem etwas aufgefallen ist, obwohl man Romand nie anrufen konnte, er nie Kollegen vorstellte und so fort.

Szene mit (von links) Marlena Keil, Björn Gabriel, Caroline Hanke und Uwe Rohbeck (Foto: Birgit Hupfeld / Theater Dortmund)

Erklärungen

Susanne Priebs (Bühne und Kostüme) hat zwei sehr zerbrechlich wirkende Stapel von Sammeltassen auf der Bühne platziert, die jedoch stabiler sind als befürchtet und den Theaterabend unbeschadet überleben; Es gibt ein paar widerborstige Stühle ohne Sitzflächen, ein paar eher gestische als pantomimische Einlagen, doch all das ist Beiwerk.

Im Zentrum dieser Inszenierung steht ein unbedingtes Interesse an der unglaublichen Geschichte des Jean-Claude Romand, steht das Bestreben, dem Publikum diesen Inhalt getreulich zu erklären. In der Form erinnert das, so verschieden der Gegenstand der Stücke auch ist, an einige Bühneneinrichtungen von Houellebecqs „Unterwerfung“ (etwa an jene des Westfälischen Landestheaters in Castrop-Rauxel), bei denen es ebenfalls vor allem darum ging, nicht ganz unkomplizierte Sach- und Sinnzusammenhänge schlüssig zu erklären. Dieses Theaterstück hat ein Anliegen, erschöpft sich nicht in formalen Spielereien.

Die Frage nach dem Warum

Bleibt die Frage nach dem Warum. Hauswirths Inszenierung weicht ihr nicht aus, versucht Antworten aber mit wohltuender Dezenz. Von den Annehmlichkeiten des bildungsbürgerlichen Milieus wäre hier sicherlich zu reden, vom guten Leben in vermeintlich vorgezeichneten Lebensbahnen. Zudem gab es in Romands Leben fraglos auch den Point of No Return, wo das Geflecht aus Lügen und Betrug übermächtig geworden war und seine eigene Dynamik entwickelt hatte. Aber es fragt sich doch, warum Jean-Claude nicht zur Zwischenprüfung ging, sondern statt dessen sein Doppelleben begann. Er hätte sogar durchfallen können, eine Wiederholung der Prüfung wäre möglich gewesen. Daß auch hier eher so etwas Banales wie Prüfungsangst die entscheidende Rolle gespielt haben könnte und (vorstellbar jedenfalls) keine manifeste psychische Macke, kann uns angesichts der folgenden Geschehnisse nicht wirklich beruhigen.

Viel Applaus für einen bewegenden Theaterabend mit spannendem Inhalt und anspruchsvoller Sprechkultur.

  • Termine: 13. und 29.12.2019 – 12., 16. und 26.1.2020 (Anfangszeiten wechseln!)
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Im hitzigen Aktionismus verpufft – Dostojewskijs „Dämonen“ enttäuschen in Dortmund

Szene mit Annou Reiners, Jakob Benkhofer, Frank Genser (Foto: Birgit Hupfeld / Theater Dortmund)

Szene mit Annou Reiners, Jakob Benkhofer und Frank Genser (Foto: Birgit Hupfeld / Theater Dortmund)

Nein, das leicht verdauliche Zwei-Stunden-keine-Pause-Format hat Sascha Hawemann für seine Dortmunder Bühnenfassung von Dostojewskijs Roman „Die Dämonen“ nicht gewählt. Deutlich mehr als vier Stunden (plus eine Pause) werden dem Publikum bis zum Ende der Unruhen und des Protagonisten Werchowenskij abverlangt – vorausgesetzt, es hält bis zum Ende durch. Viele Besucher der Premiere taten dies nicht und verschwanden in der Pause, manche auch schon vorher. Verdenken kann man es ihnen nicht.

Szene mit (v.l.) Christian Freund, Annou Reiners, Alexandra Sinelnikova, Jakob Benkhofer (Foto: Birgit Hupfeld / Theater Dortmund)

Dekonstruktion

Charakterisierungen und Spannungsbögen fehlen weitgehend, dafür sind Deklamationen in den Zuschauerraum hinein zahlreich. Die Akteure werden mit Rampenlicht und Neonröhren diffus erhellt, manchmal schwebt ein Gestell mit Extraneonröhren vom Schnürboden herab. Vermutlich akzentuiert das dann einen Handlungs-Höhepunkt, und mit sehr viel gutem Willen könnte man in alledem entlarvende Dekonstruktion entdecken, wie sie seit einigen Jahrzehnten in Mode ist an vielen deutschen Theatern. Aber es entdeckt sich nichts. Weitere Beigaben, nur der Vollständigkeit halber erwähnt, sind einige Säcke Erde und ein Eimer Kotze (ist natürlich nur Bühnenkotze und stinkt auch nicht), in die jemand zu gegebener Zeit seinen Kopf stecken muß.

Atemlose Hektik

Uwe Schmieder hat zu Beginn und dann einige weitere Male Auftritte als Erzähler Lawrentjewitsch, muß eine gewaltige Menge Text bewältigen, und aus Gründen, die, wie vieles andere hier, nicht recht klar werden, wird ihm dabei atemlose Hektik abverlangt. Weil er aber ein guter, unverwechselbarer Schauspieler ist und seine Vorgaben mit alerter Körperlichkeit erfüllt, gewinnt er mehr Kontur als die meisten anderen auf der Bühne.

Szene mit Andreas Beck, Friederike Tiefenbacher (Foto: Birgit Hupfeld / Theater Dortmund)

Unscharfe Positionen

Kontur erlangen neben Schmieder am ehesten noch Werchowenskij und die Stawrogina, die beiden „Alten“; wiederum liegt das vor allem wohl an den beiden Künstlerpersönlichkeiten Friederike Tiefenbacher und Andreas Beck, bei letzterem zudem aber auch an seiner Leibesfülle, die ihn deutlich vom Rest des Ensembles unterscheidet.

Die anderen jedoch bleiben eher blaß und wirken austauschbar, was, wie bereits bedauert, an der Inszenierung und nicht an den Darstellern liegt. Nur der Vollständigkeit halber sei daher zumindest angemerkt, daß eigentlich natürlich alle Dostojewski-Figuren für unterschiedliche moralische, politische, religiöse, was auch immer Positionen und Unzulänglichkeiten stehen, daß ihre Reflektion das literarische Gewicht des Romans zu einem Gutteil ausmacht. Wenig, sehr wenig davon hat in dieser Dortmunder Inszenierung überlebt.

Vergewaltigung

Immerhin kann man Sascha Hawemann, der hier neben der Regie auch, zusammen mit Dirk Baumann, für die Bühnenfassung verantwortlich zeichnet, nicht vorwerfen, am Text gespart zu haben. Seiner Fassung liegt die Übersetzung Swetlana Geiers mit dem Titel „Böse Geister“ zugrunde. Vermutlich zog er sie bereits bestehenden Dramatisierungen vor (Albert Camus zum Beispiel verarbeitete Dostojewskijs „Dämonen“ 1959 zum Theaterstück „Les possédés“), um in einer eigenen Dramatisierung ungehemmt eigene Schwerpunkte setzen zu können. Der zurückliegenden Vergewaltigung der minderjährigen Matrjoscha durch den Umstürzler und Gutsbesitzerinnensohn Stawrogin wird somit gehörig Raum gegeben, doch revolutionäre Diskussionen verpuffen im hitzigen Aktionismus, müssen schlimmstenfalls die Grundierung abgeben für kindischen Bühnenklamauk, wenn etwa die Revolutionäre sich unfähig für eine Abstimmung zeigen.

Strahlendes Ich

Prägendes Element im Bühnenbild (Wolf Gutjahr) ist übrigens ein in weißem LED-Licht erstrahlender, etliche Meter hoher russischer Buchstabe, der aussieht wie ein auf links gewendetes lateinischen „R“. Er wird „ja“ ausgesprochen und heißt auf deutsch „ich“. Wahrlich bedeutungsschwer, betroffen machend geradezu, wenn man es denn weiß.

  • Termine: 6., 12., 13., 21. Dezember 2019
  • 12., 16., 26. Januar 2020, 22. Februar 2020.
  • Beginn wegen Überlänge bereits um 18:00 Uhr
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Alles anders am Dortmunder Schauspiel? Neue Intendantin Julia Wissert kündigt deutlichen Kurswechsel an

Dortmunds neue Schauspielchefin Julia Wissert (2. v. li.) und die Dramaturgin Sabine Reich, flankiert vom Kulturdezernenten Jörg Stüdemann (links) und dem Geschäftsführer des Fünf-Sparten-Theaters, Tobias Ehinger. (Foto: Bernd Berke)

Im Rathaus der Stadt: Dortmunds neue Schauspielchefin Julia Wissert (2. v. li.) und die Dramaturgin Sabine Reich, flankiert vom Kulturdezernenten Jörg Stüdemann (links) und dem Geschäftsführer des Fünf-Sparten-Theaters, Tobias Ehinger. (Foto: Bernd Berke)

Fürs Dortmunder Sprechtheater brechen offenbar ganz neue Zeiten an. Zwar weiß man noch nichts Genaues, doch ließ die künftige Schauspielchefin Julia Wissert (34) heute bei ihrer Vorstellung in Dortmund bereits generell durchblicken, dass sie manches anders zu machen gedenkt als das bisherige Team unter Kay Voges.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Dortmund sei schon lange vor ihrer Berufung eines der ganz wenigen Theater gewesen, für deren Inszenierungen sie eigens aus Berlin angereist sei. Hier sei ein großartiges, ja „sensationelles“ Ensemble zusammengewachsen, befand Julia Wissert, deren Berufung der Dortmunder Stadtrat mit überwältigender Mehrheit bestätigt hat. Somit wird die gebürtige Freiburgerin eine der jüngsten Intendantinnen in ganz Deutschland sein. Fast surreal schnell sei das alles gegangen, wundert sich Wissert. Sie hat jetzt relativ wenig Zeit, um ihren ersten Spielplan vorzubereiten. Wer derweil vom jetzigen Ensemble bleibt, wer geht und wer neu hinzu kommt, das wird sich in vielen Gesprächen weisen müssen.

Alles soll auf den Prüfstand kommen

Ungeachtet ihrer Wertschätzung für die jetzige Dortmunder Theaterarbeit gibt Julia Wissert schon mal Signale zum abermaligen Aufbruch. Wolle man wirklich „Theater für die Stadt“ machen, so müsse man grundsätzlich alle Inhalte, Formen und Strukturen auf den Prüfstand stellen. Dabei wird wohl auch der herkömmliche Begriff „Sprechtheater“ anders aufzufassen sein. Julia Wissert spricht von neuen Erzählformen, die immer wieder auch Performance-Projekte einschließen sollen. Beispielsweise.

Die Dramaturgin Sabine Reich, die gleichfalls der neuen Theaterleitung angehören wird, ergänzte, auch ein gemeinsames Frühstück mit Publikum könne eine utopische Anmutung haben und somit quasi ein künstlerischer Akt sein. Wer will, mag da vielleicht an Joseph Beuys‘ Begriff „Soziale Skulptur“ denken. Die im Revier aufgewachsene Reich, die u. a. in Wien, Essen und Bochum tätig war, hält dafür, dass das sich stetig wandelnde Ruhrgebiet auch ein idealer Nährboden für experimentelles Theater sei.

Mehr Frauen, mehr „queere“ Inspiration

Doch nicht nur der Kunstbegriff soll in mancherlei Richtungen erweitert werden, das hatte sich ja auch schon Kay Voges mit seinen kraftvollen Digitalisierungs-Impulsen auf die Fahnen geschrieben. Auch das Innenleben des Theaters soll sich – gesellschaftlichen Entwicklungen entsprechend – gründlich ändern. Mit Sicherheit werden auf allen Ebenen mehr Frauen zum Zuge kommen, auch müsse man endlich vielerlei „diversen“ und „queeren“ Realitäten Raum geben. Das alles sei doch in der Stadtgesellschaft vorhanden.

Die stärkere Einbeziehung etwa der LGBT-Communities wird bestimmt andere Spielformen und andere Theaterstoffe nach sich ziehen. Gleiches gilt für ein Theater, das sich im weitesten Verständnis an Formen und Folgen der Migration orientiert. Wünschenswert wär’s übrigens, wenn bei aller Ernsthaftigkeit auch dieses oder jenes ausgefeilte Stück Lachtheater dabei wäre. Darf man hoffen?

Die Klassiker ganz neu entdecken

Auf die (bange?) Frage, ob das Abo-Publikum denn auch künftig sein Schiller-Stück oder Vergleichbares erleben werde, hieß es, dass auch künftig solche Stoffe verhandelt würden, allerdings im Sinne eines unverwechselbaren Profils. Schiller neu entdecken, wäre dann die Parole. Wissert stellt klar: „Ich habe produktive Reibungen lieber als jedes Mittelmaß.“ Und ja, es könne sein, dass sie mit ihren Programmen bei manchen Leuten anecken werde. Ob wir uns schon mal auf Schiller oder Goethe als Performance gefasst machen sollen? Abwarten! Die beiden Klassiker haben ja schon manches überstanden und haben sich bei jedem Zugriff immer wieder anders gezeigt. Greift nur hinein ins volle Bühnenleben…

Über eine Anti-Rassismus-Klausel reden

Auch hinter den Kulissen, so Julia Wissert weiter, sei jedenfalls eine umfassende Selbstbefragung nötig. Allgemeine, noch zu konkretisierende Leitlinie: „Wie gehen wir im Theater miteinander um“? Hier spielt denn auch die (nach wie vor erklärungsbedürftige) Anti-Rassismus-Klausel hinein, mit der Julia Wissert zu Jahresbeginn bundesweit Aufsehen erregt hat. Ein zentraler Punkt der Regelung, die sie mit der Anwältin und Dramaturgin Sonja Laaser ausgearbeitet, aber noch nirgendwo erprobt hat: Im Falle rassistischer (oder sexistischer) Zumutungen jeglicher Art sollen Theaterangehörige demnach das Recht haben, ihr Engagement zu beenden – übrigens im Einklang mit dem Grundgesetz, wie Wissert betont. Bevor am Theater nun neue Verträge aufgesetzt werden, werde man über alles reden. Dabei lässt sie keinen Zweifel daran, dass es „viele neue Verträge“ sein werden, die sie demnächst zu unterzeichnen hat.

Was eine Anti-Rassismus-Klausel im Einzelnen (menschlich wie rechtlich) bedeutet, wäre freilich noch auszugestalten. Wissert stellt klar, dass es nicht um vorschnelle Schuldzuweisungen oder „Bestrafung“ gehe, sondern um intensive Dialoge, um lehrreiche Workshops und dergleichen. Überhaupt will sie entschieden nach vorn denken und sich nicht mit Details der oft misslichen Gegenwart aufhalten, die das Theater schwerlich weiterbringen.

„Geniekult“ um Männer ist vorbei

Dortmunds Kulturdezernent und Stadtkämmerer Jörg Stüdemann hieß die neue Intendantin willkommen und lobte die Arbeit der Findungskommission. Auch er findet, dass es an der Zeit sei, das Theater noch einmal neu aufzustellen – ganz im Sinne von Julia Wissert. Der einstmals gepflegte, allzeit männerdominierte „Geniekult“ sei vorbei. Dem müsse man Rechnung tragen. Auch Tobias Ehinger, geschäftsführender (Verwaltungs)-Direktor des Dortmunder Fünf-Sparten-Hauses, zeigte sich vorbehaltlos offen für Künftiges.

Neben obligatorischen Blumensträußen überreichte Jörg Stüdemann Präsent-Tütchen an die beiden neuen Dortmunder Theaterfrauen. Inhalt u. a.: Dortmunder Schoko-Kreationen und je eine Flasche Bergmann-Bier. Wohl bekomm’s!




Jonathan Meese mit „Lolita“ – und manches mehr: Theater Dortmund stellt sein Programm für die nächste Spielzeit vor

Die Optik betont die Unterschiede. Hier die neuen Programmhefte von Philharmonikern, Schauspiel und Ballett (Foto: Pfeiffer)

Was hat Jonathan Meese mit Dortmund zu tun? Nun, bisher eigentlich nichts. Allerdings hätte sich das in diesem Jahr ja ändern sollen, weil Edwin Jacobs – noch, aber nicht mehr lange Chef des „Dortmunder U“ – den Künstler eingeladen hatte, die Sammlung nach seinem Geschmack neu zu hängen. Daraus wird jedoch nichts.

 

Den Meese soll es aber auf jeden Fall geben, wenn auch im Theater und erst im nächsten Jahr. Für den 15. Februar 2020 plant das Schauspiel die Uraufführung des Stücks „Lolita (R)evolution (Rufschädigendst) – Ihr Alle seid die Lolita Eurer Selbst!“ aus der Feder des nämlichen Artisten. Man ahnt: Das wird konzeptionell. Erste Absichts-Erklärungen waren jetzt im Theater zu hören, bei der Spielplanpräsentation für 2019/2020, im Programmheft kann man sie nachlesen. Wie immer es auch werden mag – Meeses (erhoffter) Auftritt ist fraglos ein Höhepunkt im ansonsten nicht unbedingt prickelnden neuen Programm.

Wolfgang Wendland kommt wieder. Hier ist er noch in „Häuptling Abendwind“ zu sehen, in der neuen Spielzeit erleben wir ihn und seine Kapelle „Die Kassierer“ in der Punk-Operette „Die Kassierer und Die Drei von der Punkstelle“. Das kann ja heiter werden. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Voges hält Rückschau

Schauspielchef Kay Voges verabschiedet sich mit „PLAY / Abriss einer Reise“ von Dortmund, einer Produktion, in der Rückschau gehalten wird auf fast 10 Jahre Theaterarbeit in dieser Stadt. Uraufführung soll am 11. Oktober sein, und ganz unsentimental wird es dabei wohl nicht abgehen, denn das Ende einer Intendanz bedeutet fast immer auch das Ende für das Ensemble. Mit Spannung sehen wir den Plänen von Julia Wissert entgegen, die Voges’ Nachfolge antreten wird, besonders in Hinblick auf das Bühnenpersonal.

Neuer Schimmelpfennig

Dostojewskis „Dämonen“ kommen auf den Spielplan, ebenso „Hexenjagd“ von Arthur Miller und ein neues Stück von Roland Schimmelpfennig. „Das Reich der Tiere“ erzählt von fünf Schauspielerinnen und Schauspielern, die in einer mäßig erfolgreichen Tier-Show auftreten und sich Sorgen um ihre Zukunft machen. Eine „Komödie mit Live-Musik“, die hervorragend in die Dortmunder Wechselsituation paßt.

Beethoven zum 250. Geburtstag

Die zehn Konzerte der Philharmoniker sind in dieser Spielzeit Weltstädten gewidmet, beginnend mit New York und endend mit (na?) Dortmund und Belgrad. Gegeben wird am 28. Juni 2020 der „Beethoven-Marathon 2020“, alle neun Sinfonien an einem einzigen Tag, weil Ludwig van Beethoven 2020 vor 250 Jahren geboren wurde. Um 10 Uhr fangen die Dortmunder Philharmoniker an, um 20 Uhr schließlich wird die neunte Sinfonie angestimmt. Dann arbeiten die Dortmunder mit den Belgrader Philharmonikern, dem Slowakischen Philharmonischen Chor Bratislava und vier Solisten zusammen. Die Ost-Beziehungen haben ihren Grund darin, daß Dortmunds Generalmusikdirektor Gabriel Feltz auch Chefdirigent der Belgrader Philharmoniker ist.

Die Optik hat sich stark verändert

Was in den unterschiedlichen Sparten gespielt wird, suche man im Internet (www.theaterdo.de). Es steht aber auch in den gedruckten Programmheften, die es jetzt gibt und die beinahe die größte Überraschung der Präsentation sind. Das Theater Dortmund hat seinen medialen Auftritt grundlegend überarbeitet, was dazu führt, daß es jetzt fünf Programmhefte gibt statt eines einzigen dicken Programmbuchs wie bisher, und daß die Sparten Philharmoniker, Ballett, Oper, Schauspiel, Kinder- und Jugendtheater sich nun in ihrem optischen Erscheinungsbild deutlich voneinander unterscheiden.

Geschwundene Liebe zum Orange

Mit unterschiedlichen feinen Serifenschriften auf dem Cover und in den Überschriften präsentieren sich Oper, Philharmoniker und Ballett, während die Theaterabteilungen eine fette serifenlose Typographie bevorzugen. Das knallige Orange, lange Jahre „Logo-Farbe“ des Theaters Dortmund, dominiert nur noch das auf orangefarbenes Papier gedruckte Service-Heft. Übrigens ist es eine gute Idee, so all die Service-Angaben (Kartenvorverkauf, Preise, Aboreihen etc.) zu bündeln und in den Programmheften uneingeschränkten Raum für die Kunst zu lassen. Sinnvoll war überdies, die summa sechs Hefte in einen wertig wirkenden weißen Standschuber zu stecken. Vielleicht etwas teuer, sieht aber wirklich gut aus.




Burleskes Puppentheater – Henrik Ibsens Drama „Hedda Gabler“ auf der Bühne des Dortmunder Schauspiel-Studios

Hedda Gabler (Bettina Lieder) in Video-Projektion auf Kulisse (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Hedda Gabler (Bettina Lieder) in Video-Projektion auf Kulisse (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Wenn eine veritable Hedda Gabler den Weg auf den Dortmunder Theaterspielplan findet, dann weckt das Interesse. Ibsens grundwütige, die Konventionen mißachtende, todunglückliche und dramatisch starke Frauenfigur in den Händen eines 27jährigen Jungregisseurs – was muß man da befürchten? Nun, bald merkt man schon: nichts. Hedda Gabler interessiert ihn anscheinend kaum. Gewiß, sie ist allemal gut dafür, die qualvolle, allseitig begrenzte norwegische Gutbürgerlichkeit am Ende des 19. Jahrhunderts zu entlarven, aber damit hat es dann auch sein Bewenden.

Wenn es also intensiv wird, wenn etwa Hedda Gabler in höchstem Zorn verkündet, keinen Kinderwunsch zu haben und gewiß zukünftig auch keinen zu entwickeln, dann muß lautes Geschrei für die Dramatisierung reichen, von gestufter Tragödie keine Spur. Bettina Lieder gibt die Gabler, und einmal mehr ist es ärgerlich, Ensemblemitglieder wie sie so unter ihren schauspielerischen Möglichkeiten agieren zu sehen.

Ein Störfaktor

Die vielschichtige, widersprüchliche Figur wirkt nurmehr wie ein Störfaktor für diese Inszenierung, der den Regisseur (natürlich nicht) daran hindern könnte, sein persönliches Stückverständnis vorzuspielen. Der Vermerk „in einer Fassung von Jan Friedrich“ auf dem Programmzettel ist wohl in diesem Sinne zu verstehen, auf jeden Fall ist er zutreffend.

Lustiges Puppenspiel mit (von links und kaum wiederzuerkennen) Bettina Lieder, Marlena Keil und Ekkehard Freye (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Wie Playmobil-Figuren

Heftig wird mit der Videokamera hinter der Bühne gefilmt und auf die Kulisse projiziert, was mit mehr Gewinn man auch an der (im Studio nicht vorhandenen) Rampe hätte spielen können, doch das ist, weil es in den Stadttheatern viele so machen, kaum noch der Rede wert.

Nein, der Clou dieser „Hedda Gabler“ ist, daß das Drama passagenweise ein Puppentheater ist. Stück-Einrichter Friedrich läßt, so könnte man vielleicht sagen, die Szenen gesellschaftlicher Konvention von Darstellern mit kitschig idealisierten Puppenköpfen spielen, die ähnlich wie Playmobil-Figuren durch den Raum staksen. Schauspieler am Bühnenrand, was für ein Verfremdungseffekt, geben ihnen ihre Stimme.

Es droht ein böses Ende mit der Handfeuerwaffe. Szene mit Bettina Lieder (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Leidende Barbiepuppe

Sobald der Konversationston Pause hat, wenn es verbindlich und konflikthaft wird, spielen Realmenschen vor und hinter den Kulissen. Wenn aber Hedda ihrer Konkurrentin Elvsted an die Wäsche und vor allem an die roten Haare geht, dann muß eine Barbiepuppe leiden, wehrloses Objekt der heftigen aggressiven Impulse unserer Titelheldin. Verstanden hätte man das naturalistische Stück natürlich auch ohne Puppenspiel, und es fällt schwer, in dieser penetranten Trennung der Ebenen inszenatorischen Mehrwert zu entdecken. Für städtische Bühnen, für das Erwachsenen-Theater also, ist diese Puppenhaus-Inszenierung unerfreulich schlicht.

Japsen und Piepsen

Was die Darsteller am Bühnenrand an Stimmen aus dem Off produzieren, wirkt allerdings beeindruckend. So stöhnt, schnauft, japst, hechelt Christian Freund als Ejlert Lövborg auf bewunderungswürdige Weise einen eher unsichtbaren, aber fraglos heftigen Koitus mit der Titelheldin in den Zuschauerraum; Marlena Keil, vollschlanker Neuzugang und unbedingt ein Gewinn, macht die Barbiepuppenfolter zu einem respektgebietenden Fiepsstimmensolo, und Uwe Rohbeck vertont, hoch präsent wie immer, den piefig-tumben Tesman (Ekkehard Freye), der Hedda eigentlich nicht verdient hat. Das sorgt für Heiterkeit und Kurzweil, immerhin.

Wünsch dir was

Ach ja, die Gabler. Wie Flauberts Madame Bovary, an die Hedda Gabler durchaus denken läßt, bleibt sie bis zuletzt unverstanden und einsam. Vielleicht fragt demnächst ja mal eine Inszenierung nach Frauenbild und Frauenrollen, nach Heute-Bezug, „Me too“-Bewegung, Quoten oder ähnlichem. Nicht eine Aktualisierung mit der Brechstange wäre wünschenswert, sondern die möglichst intelligente Fortschreibung der Befassung mit einem keineswegs erledigten Themenfeld. Für eine Burleske ist Hedda Gabler eigentlich zu schade.




Die Spitze eines grausamen Eisbergs: Der Japaner Tomo Sugao inszeniert Puccinis Oper „Turandot“ in Dortmund

Die eisumgürtete Prinzessin Turandot (Stéphanie Müther). (Foto: Björn Hickmann)

Die eisumgürtete Prinzessin Turandot (Stéphanie Müther). (Foto: Björn Hickmann)

Einem großen Dilemma musste Giacomo Puccini bei der Komposition seiner Oper „Turandot“ ins Auge sehen. Wie sollte er die Verwandlung einer Männer mordenden, unerbittlich grausamen Prinzessin in eine liebende Frau glaubhaft machen? Das Problem war ungelöst, als Puccini am 29. November 1924 starb. Seine „Märchenoper“ blieb Fragment und wurde auf Bitte des Dirigenten Arturo Toscanini von Franco Alfano zu einer Fassung ergänzt, die bis heute aufgeführt wird.

Von der Eiskalten angezogen wie die Motte von der Flamme, singt Prinz Calaf unentwegt von Liebe. Indessen glaubt ihm der japanische Regisseur Tomo Sugao kein Wort. Das zeigt seine Neuinszenierung am Theater Dortmund, in der Turandot dem Prinzen letztlich nicht mehr ist als der Schlüssel zur Macht. Aus Sicht der Regie geschieht es nicht zum ersten Mal, dass sie auf derart unmenschliche Weise benutzt wird. Vielmehr behauptet Sugao im 2. Akt, dass die drei Minister Ping, Pang und Pong die Prinzessin bereits im Kindes- und Jugendalter sexuell missbraucht haben. Turandots Traumatisierung erfolgt damit nicht auf dem Umweg über ihre Ahnin, sondern ganz direkt.

Wie allen Bewerbern, stellt Turandot (Stéphanie Müther) auch Calaf (Andrea Shin) drei Rätsel. (Foto: Björn Hickmann)

Um die angeblich aufblühende Liebe muss der Regisseur sich auf diese Weise nicht kümmern. Turandot und Calaf bleiben einander körperlich fern, auch im dritten Akt, der keine Annäherung zeigt und erst recht keinen Kuss – mag das Libretto auch anderes schildern.

Hier geht es um die Macht in einem Menschenfresser-Staat: Nicht zufällig sind die Chöre in dieser Produktion gekleidet wie zu Maos Zeiten. Trotz langer Geheimhaltung ist heute bekannt, wie Maos „Großer Sprung nach vorne“ manche Provinz so sehr in Hungersnöte trieb, dass tatsächlich Menschen gekocht und gegessen wurden.

Gewaltbereiter, aufgepeitschter Mob

Als wogende Masse sind Opernchor, Statisterie und Kinderstatisterie des Dortmunder Theaters an diesem Abend in ständiger Bewegung. Von drohenden Gesten leicht zu nackter Gewalt und animalischer Gier übergehend, bildet dieser aufgepeitschte Mob die bedrohliche Folie für Puccinis „Dramma lirico“. Turandot ist, so gesehen, nur die Spitze eines abstoßend antihumanen Eisbergs. Prinz Calaf, sein blinder Vater Timur und die Sklavin Liù stolpern wie Fremdkörper durch diesen chinesischen Albtraum. Dass die Personenführung der Hauptfiguren eher statisch ist, fällt bei diesem Gewusel nur wenig auf.

Pang, Ping und Pong (Fritz Steinbacher, Morgan Moody, Sunnyboy Dladla v.l.) versuchen Calaf (Andrea Shin, vorne) von seiner Bewerbung um Turandot abzubringen. (Foto: Björn Hickmann)

Pomp und Pracht gehören offenbar zu „Turandot“-Aufführungen wie das Feuerwerk zu chinesischen Festlichkeiten. Frank Philipp Schlößmann (Bühne) und Mechthild Seipel (Kostüme) enttäuschen die Erwartungen nicht: vom großen Glücksdrachen bis zur riesigen Mondscheibe, von prachtvollen Gewändern bis zum exotischen Kopfputz bekommt das Auge viel geboten.

Das große Podest als Spielfläche und die wuchtigen, zuweilen schräg gestellten Wand- und Deckenelemente taucht Ralph Jürgens stimmungsvoll in rotes und blaues Licht. Der von Fabio Mancini einstudierte Chor agiert vorzüglich und ist auch stimmlich gut disponiert, neigt am Premierenabend aber zuweilen zu exzessiver Lautstärke.

Blockhafte Wucht der Philharmoniker

Das liegt auch an den Dortmunder Philharmonikern, die unter der Leitung von GMD Gabriel Feltz exotisch kolorierte Tableaus entfalten, aber mehr Interesse an blockhafter Wucht zeigen als an Lautstärken, die sich vom Fortissimo aufwärts noch differenzieren ließen. Puccinis pentatonische Harmonien entfalten verlässlich ihre Wirkung, und das Xylophon setzt sich mit seinen trockenen Akzenten stets gut durch. Aber die Vielzahl der verschiedenen Gongs kommt kaum zur Geltung, und die markerschütternden Schläge auf das Tamtam, mit der Calaf seine Bewerbung um Turandot verkündet, gehen im Tutti nahezu unter – womöglich auch deshalb, weil das Instrument nicht auf der Bühne steht. Die Rhythmen im grotesken Masken-Terzett des 2. Akts, von Puccini bewusst holprig gestaltet, verrutschen in Dortmund nahezu ins Durcheinander. Am Ende bleibt mehr orchestraler Bombast im Ohr als Zauber.

Am Ziel seiner Wünsche: Calaf (Andrea Shin) hängt sich den Mantel des alten Kaisers um (Foto: Björn Hickmann)

Sängerisch kann diese Produktion mit einem Calaf punkten, der Strahlkraft und stimmliches Durchhaltevermögen vereint (Andrea Shin), und mit einer Turandot, die ihre eisigen Höhen bis zu einschüchternder Dramatik steigert (Stéphanie Müther). Als Liù wird Sae-Kyung Rim gefeiert. Sie erreicht mit ihrem harten Sopran große Lautstärken, ist damit aber kein glaubhafter Gegenpol zur Turandot. Vielmehr erhält die Eisumgürtete eine Stählerne an ihre Seite, der warme, mädchenhafte oder gar sehnsuchtsvolle Töne am Premierenabend gänzlich fehlen. Was Karl-Heinz Lehner aus der kurzen Szene des um Liù trauernden Timur macht, zeugt von beachtlicher stimmlicher und darstellerischer Kunst.

In der Schluss-Szene schleicht Turandot still davon, während Calaf sich den Kaisermantel des verstorbenen Altoum um die Schultern legt. In triumphaler Pose vor dem Chor verharrend, feiert er seinen Durchbruch zur Macht. So sehen sie wohl aus, die Sieger. Die Titelheldin hat uns mehr interessiert.

  • Termine und Informationen: https://www.theaterdo.de/detail/event/turandot/



Schrill, schnell, schlau: „Im Studio hört Dich niemand schreien“ – und zwei weitere Stücke auf Dortmunds kleiner Bühne

Szene mit Ekkehard Freye und Marlena Keil (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Man könnte sagen, daß er ihnen verfallen ist: den frommen katholischen Jugendbüchern, die Heranwachsende mit Drastik vor den Gefahren der fleischlichen Lust zu bewahren suchen, zum einen, den bunten Heftchen mit den immer ähnlichen blutrünstigen Horror-geschichten zum anderen. Und natürlich ist Jörg Buttgereit (Jahrgang 1963) längst auch dem verfallen, was das Kino aus den Heftchen-Vorlagen machte: Slasherfilme mit schlichter Handlung, schrillen Schreien, Blut und sexualisierter Gewalt, gefragte Unterhaltung eben. Im Italien der 70er Jahre waren die „Schundhefte“ (ein Begriff von früher, sagt man heute noch so?) vorwiegend gelb, und das italienische Wort für Gelb gab der Gattung den Namen: Giallo.

Giallo

Giallo – Trash von gestern, wenn man so sagen will. Eine erste Hommage an das Giallo-Genre war Peter Stricklands Film „Berberian Sound Studio“ von 2012, und er findet in der neuesten Buttgereit-Produktion im Dortmunder Theater-Studio seine eigenwillige Nacherzählung. Erarbeitet hat Buttgereit das Stück zusammen mit Anne-Kathrin Schulz, und der Titel gefällt sich in genretypisch schaurigem Anraunen: „Im Studio hört Dich niemand schreien“. Doch eigentlich hat das gar nichts zu bedeuten.

Der Geräuschmann braucht Beruhigung. Szene mit (von links) Caroline Hanke, Christian Freund, Uwe Rohbeck, Ekkehard Freye, Alexandra Sinelnikova. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Geräuschemacher

Alles fängt ganz sachlich-nüchtern an. Wir lernen den deutschen Tontechniker Maximilian Schall (!) kennen, einen schüchternen Geräuschemacher, den der Filmproduzent Dario Winestone nach Mailand geholt hat, damit er den Sound des neuesten Slasherfilms ordentlich pimpt. Der Sound, erfährt man, ist bisher nämlich eher mäßig; es braucht mehr todesängstliches Gekreisch, mehr gruseliges Krachen und Schmatzen, wenn auf der Leinwand die Knochen brechen. Die Bilder des Films sind hingegen Spitze, blankes Entsetzen zeigt sich bei der Vorführung auf dem Gesicht des zerbrechlichen Tonmannes, dem Uwe Rohbeck Gestalt verleiht. Sein schmieriges Gegenüber Winestone gibt Ekkehard Freye, den man unter seinem teppichartigen Schwarzhaartoupet erst gar nicht erkennt, und zusammen sind die beiden ein komödiantisches Dreamteam, wie Dortmund lange keins mehr hatte.

Selbsterklärend. Maximilian Schall (Uwe Rohbeck, links) , Dario Winestone (Ekkehard Freye) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Kreischtöne

Zwar funktioniert erwartungsgemäß und Heiterkeit hervorrufend vieles zu Anfang nicht, doch trotzdem wird bald schon kräftig nachvertont. Eine hinreißende Damenriege aus Sekretärin, zweiter Ehefrau und Tochter aus erster Ehe (Marlena Keil, Caroline Hanke und Alexandra Sinelnikova) übt sich trommelfellzerfetzend in hohen Kreischtönen, Maximilian Schall steuert ein, zwei Male Geräusche eines „sabbernden Sexzwergs“ bei, und irgendwie geht es voran und vielleicht wird es auch mal fertig, doch das ist ja eigentlich bedeutungslos.

Buttgereit packt in diese „Rahmenhandlung“ (das Wort ist eigentlich zu anspruchsvoll) jede Menge Trivialmaterial über Kunst und Kino, und auch anspruchsvolleres Kultmaterial ist vor seiner perfiden Lust am Überdreh nicht sicher. So gerät die berühmte Abschaltszene des menschenmordenden Computers HAL aus dem Kultfilm „2001. Odyssee im Weltraum“, in der der demente Rechner am Ende Hänschen klein singt, zu einer naturgemäß heiteren, aber auch unerwartet nachdenklichen dramatischen Miniatur innerhalb des Stücks. Daß Rollennamen wie – eben – Maximilian Schall, Dario Winestone oder später Rock Hammond Spaß sind, ist ja klar. Rock Hammond, der im wirklichen Leben vielleicht Rock Hudson hieß und hier von Christian Freund mit maßvoll schwuler Attitüde gegeben wird, ist Sohn und fallweise natürlich, wie alle anderen Familienmitglieder, Mitwirkender.

Winestone und Argento

Darüber hinaus aber hat es Buttgereit gefallen, diesen Sohn als aufmüpfigen Verächter der väterlichen Softpornoproduktion zu zeichnen. Auch Schwester Asia Winestone liest dem Vater die Leviten, während man Spaghetti ißt. Und die Freunde bunter (gelber!) Nachrichten werden natürlich wissen, daß die Winestones im italienischen Filmproduzenten Dario Argento und seiner Tochter Asia reale Vorbilder haben. Wer indes im Stück der von Péter Sanyó gespielte Donatello Diablo (!) ist, war mir nicht zu klären möglich. Sanyó ist definitiv ein nicht googlebarer Nachname.

Maximilian Schall (Uwe Rohbeck) landet in der Zwangsjacke. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Der Bechdel-Test

Im Verlauf des Spaghettiessens, kehren wir an den Familientisch zurück, haut Tochter Asia ihrem Vater den Bechdel-Test um die Ohren. Mit diesem Test, den die amerikanische Zeichnerin Alison Bechdel 1985 in einen ihrer Cartoons einbaute, läßt sich ziemlich frappant feststellen, ob Frauen in einem Film mehr Bedeutung als nur die von Sexualobjekten haben. Die Fragen sind beschämend einfach und lauten:

  • Gibt es mindestens zwei Frauenrollen?
  • Sprechen sie miteinander?
  • Unterhalten sie sich über etwas anderes als einen Mann?

In jüngeren Varianten des Tests wird zusätzlich gefragt, ob die beiden Frauen im Film einen Namen haben. Sollte die Antwort auf alle Fragen ja lauten, hat der Film den Test bestanden. Natürlich würde kein einziger von Winestones Filmen diesen Test bestehen, das würde den Produzenten in tiefe Selbstzweifel stürzen.

Rock Hudson und Doris Day

Mit dem Bechdel-Test kommt fast so etwas wie ein reflektorisches Element in die Inszenierung, das ist man von Buttgereits Stücken gar nicht gewohnt. Bevor Verunsicherung Platz greift, deshalb schnell noch eine Dosis Doris Day – Rock Hudson ist ja schon im Spiel – und ein bißchen Anspielung auf derer beider geistreiche Liebeskomödien der 60er Jahre. Und selbstverständlich, an dieser Stelle darf der Hinweis nicht fehlen, gibt es der mehr oder weniger augenzwinkernden Anspielungen viele mehr, die nicht alle Erwähnung finden können.

Gute Unterhaltung

Anspruchslos nicht ohne Anspruch, schrill, schnell, platt, intelligent und manches andere mehr: „Im Studio hört Dich niemand schreien“ ist von Anfang bis Ende wunderbar unterhaltsames Unterhaltungstheater, und dem Publikum bleibe überlassen, ob es darin eher Komödie oder Comedy erkennen will. Wenn Jörg Buttgereit seinen trashigen Obsessionen weiterhin solche Stücke abringt, hat er jedenfalls ernsthafte Aussichten auf die große Bühne im Haus.

Szene mit (von links) Mario Lopatta, BéŽréŽnice Brause und Frieder Langenberger (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Was gab es sonst noch im Studio des Dortmunder Schauspiels zu sehen?

Zum Beispiel die Uraufführung von „Everything Belongs to the Future“ am 12. Oktober. Das Stück entstand aus einer Novelle der britischen Autorin Laurie Penny (Jahrgang 1986), die die Dortmunder Dramaturgin Anne-Kathrin Schulz aus dem Englischen übersetzte. Die dramatische Fassung schließlich stammt von Laura N. Junghanns (auch Regie). Bérénice Brause, Mario Lopatta, Kevin Wilke und Frieder Langenberger heißen die vier Akteure auf der Bühne. Sie sind Schauspielstudenten und kommen aus Graz, weil es in Dortmund etwas Neues gibt, was aber nicht so ohne Weiteres verständlich ist. „Mit Everything Belongs to the Future“ stellt sich das neu am Schauspiel Dortmund beheimatete Schauspielstudio am Theater Dortmund vor“, verlautet die Anstalt. Alles klar?

Ein Medikament verspricht ewiges Leben

Das Stück spielt 2098 in Oxford und dreht sich um das sensationelle Medikament „The Fix“, das regelmäßig eingeworfen ewiges Leben verspricht. Die ewig jugendlichen Reichen feiern endlos Party, das alternde Proletariat darbt. Und die Revolutionäre, irgendwie natürlich personell auch mit der Oberschicht verflochten, planen einen Anschlag. Tja.

Viel passiert nicht mehr

Das ist alles in allem recht ordentlich inszeniert, vielleicht sollte man den jungen Leuten raten, weniger zu überspielen. Doch vom Hocker reißt die Geschichte einen nicht, weil die Handlung kaum mehr als die beschriebene Grundkonstellation zu bieten hat, originelle Wendungen unterbleiben und thematischer Leere oft mit einem Übermaß an Emotion begegnet wird.

Einmal Goebbels, zweimal Hitler; Szene mit (von links) Alexandra Sinelnikova, Uwe Rohbeck und Ekkehard Freye (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Hitler spielen

Nach wie vor ist „Ein bisschen Ruhe vor dem Sturm“ von Theresia Walser im Angebot (Premiere im Mai). Zwei Herren in Nazi-Uniformen sitzen hier am runden Tisch, Dritte im Bund ist eine junge Dame in einer Art BDM-Outfit, hoch geschlossen, Gretchenzöpfe. Auch sie, gespielt von Alexandra Sinelnikova, gibt hier einen Mann. Er heißt Ulli Lerch und hat schon mal den Goebbels gespielt.

Die anderen beiden aber waren veritable Hitler-Darsteller, was doch etwas ganz anderes ist! Der ältere Franz Prächtel (Uwe Rohbeck) gab ihn quasi naturalistisch, der jüngere Peter Soest eher distanziert. Oder wie oder was? Gleichsam überleitungslos startet, kaum daß das Publikum sitzt, eine diskursive Achterbahnfahrt, bei der es um schauspielerische Eitelkeiten ebenso geht wie um Regietheater und „Naturalismusgeschwuchtel“ und natürlich um die Frage, ob man Hitler überhaupt spielen darf. Und wenn ja, dann wie? Und darf man dafür Geld nehmen? Auf jeden Fall ist Hitler spielen viel verdienstvoller als Goebbels, irgendwie. Und was Dieter Fels daraus gemacht hätte.

So eine Art Verfremdungseffekt. Szene mit Ekkehard Freye (vorn), Uwe Rohbeck und Alexandra Sinelnikova (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Nicht ohne Tragik

Hätte Thomas Bernhard diesen Trialog geschrieben, wäre es sicher bald schon trostlos auf der Bühne, verfinge sich ein jeder hoffnungslos in den für diesen Autor typischen Redundanzschleifen.

Theresia Walser geht mit ihren Figuren und auch mit dem Publikum gnädiger um, ohne indes die tragische Dimension dieser Gesprächsrunde wegzublenden, gerade auch dann, wenn es scheinbar nur um das Theater und die Schauspielkunst geht. Dann hat Uwe Rohbeck als Prächtel unser Mitgefühl, wenn er sich darüber erregt, daß man den Hamlet (in einer modernen Inszenierung) jetzt in sieben Rollen aufteilt. „Hämlet“ spricht er ihn, mit ä, so sei es eigentlich richtig, das wisse man, wen man dieser Figur so nahe sei wie er. Und dann rezitiert er, der alte, gestrige Prächtel, und er erinnert sich an seine ersten innigen Kontakte zur Literatur, als er kostbare Sätze hörte, „die mir vorkamen wie eine Beute“.

Kluges Schauspielertheater

Das Stück lädt ein, Analogien zwischen dem Theaterbetrieb und der Nazi-Diktatur zu erkennen, den peinlichen Drang zur Selbstrechtfertigung („Danach habe ich einen KZ-Insassen gespielt“), das Schwanken nachzuempfinden zwischen Faszination und Ekel. Ein kluges Stück Schauspielertheater, das Thorsten Bihegue (auf einer Bühne von Susanne Priebs) klug inszeniert hat. Und bevor es sich in Wiederholungen verliert, ist schon Schluß, nach einer Stunde 25 Minuten. Ein übersichtlicher, aber keineswegs oberflächlicher Theatergenuß also, dem geneigten Publikum vorbehaltlos anempfohlen.

  • Nächste Termine:
  • „Im Studio hört Dich niemand schreien“: 11., 16. November, 23. Dezember 2018. Weitere Termine folgen 2019.
  • „Everything Belongs to the Future“: 17., 25. November. Weitere Termine stehen noch nicht fest.
  • “Ein bisschen Ruhe vor dem Sturm”: 28. Dezember. Weitere Termine folgen 2019.
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Abgründige Liebesgeschichten einer Dienstmagd – Marlena Keil als „Zerline“ im Theater Dortmund

Wenn das Publikum den Raum betritt, steht sie schon da: Marlena Keil, Rock und Bluse unvorteilhaft eng. Schließlich stellt sie sich vor. Sie sei die alte Magd Zerline, die beim verstorbenen Herrn Baron und seiner Gattin in Diensten war und einst eine leidenschaftliche Affäre hatte.

Marlena Keil als Magd Zerline (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Der schneidige Herr von Juna

Es sei eine, wenn man so will, vertrackte Vierecksgeschichte zwischen dem schneidigen Herrn von Juna, der Baronin, einer weiteren, weitgehend ungezeichnet bleibenden Geliebten von Junas und eben ihr, Zerline, gewesen. Das Kind Hildegard sei aus dieser Beziehung hervorgegangen, das die Baronin zu ihrem machte. Und Zerline weiß, daß das Kind ein Bastard ist und erzählt dies und alles andere mit grimmiger Genugtuung. Betrug und Selbstbetrug prägten die Geschehnisse, einen ungeklärten Todesfall gab es sogar, die unbekannte Geliebte des Herrn von Juna starb unter rätselhaften Umständen. Doch der Prozeß verlief im Sande.

Täter und Opfer

Dies und mehr, ungeheure Dinge, erzählt Zerline in ihrem kurzweiligen Monolog, der übrigens dem Roman „Die Schuldlosen“ von Hermann Broch entstammt und schon mehrfach dramatisiert wurde.

Ob Zerline selber eher Täter oder Opfer war, ob sie für das Geschehen überhaupt „wichtig“ war, klärt sich trotz offenkundiger Verpeiltheit der Protagonistin nicht gänzlich. Einerseits war sie, das süße Zimmermädchen, gewiß kaum mehr als eine kleine Entspannung für den noblen Herrn von Juna; andererseits wußte Zerline auch damals schon um die Wirksamkeit von Intrige und Denunziation. Etwas kriminell war sie auch; und gewiß war es ein Fehler, ihr, der Beteiligten, das Kleinkind Hildegard zu überlassen.

Marlena Keil als Magd Zerline (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Diplominszenierung

Zerlines Monolog verlangt der Darstellerin viel ab, viel Durchdringung, viele Positionswechsel innerhalb ihrer Rolle. Um so bemerkenswerter ist der mutige Entschluß Marlena Keils, dieses dichte Stück Theater zu ihrer Diplominszenierung zu machen. Mit ihm schloß sie 2012 am Wiener Max-Reinhardt-Seminar ab, und zu sehen war sie mit der Produktion (Regie und Bühne: Matthias Rippert), die jetzt in den Dortmunder Spielplan aufgenommen wurde, auch schon im Pumpenhaus Münster. Seit der Spielzeit 2015/2016 ist Marlena Keil fest im Ensemble des Schauspiels Dortmund engagiert.

Etwas Heiterkeit

Daß dieser Soloabend sozusagen eine Diplomarbeit ist, steht im Programmheft, sonst hätte man es nicht gemerkt. Der Spannungsbogen wird souverän gehalten, die Einbettung in ein Rahmenhandlungsmotiv – die Begegnung mit dem immer müden Untermieter Herrn Andreas, dem Zerline ihr Herz ausschüttet – ist fein gewichtet. Ein, wo die Geschichte es zuläßt, pointenreicher Vortrag und zwei, drei zappelige Slapstickeinlagen sorgen für das nötige Quentchen Heiterkeit, ohne das tragische Geschichten nur schlecht funktionieren würden.

Ohne Überspielen

Marlena Keil gibt ihre Zerline intensiv, ohne zu überspielen, und mit großer Suggestion. Erstaunt stellt man fest, daß einem ein auf den ersten Blick so ferner, abgedrehter Stoff durchaus Vergnügen bereiten kann, wenn er so gegeben wird wie hier. Viel liebevoller Applaus.

 




Parallelwelt, Schwanensee, Taubensuppe – Theater Dortmund stellt sein Programm für die kommende Spielzeit vor

Auch wenn es auf diesem Foto nicht so scheint – im Dortmunder Opernhaus tobt in der kommenden Spielzeit wieder das Leben (Foto: Philip Lethen / Theater Dortmund)

Gabriel Feltz fehlte. Ein wichtiger Termin auf dem Balkan hinderte den Orchesterchef  daran, an der Programmpressekonferenz des Theaters Dortmund teilzunehmen. Doch Feltz hatte ein sehr nettes Video mit Musikumrahmung vorbereitet, in dem er seine Pläne schilderte. „Krieg und Frieden“ sei das Leitthema des Orchesters in der kommenden Spielzeit, verkündete er, und deshalb gelangt nun viel Musik zur Aufführung, die auf die eine oder andere Weise damit zu tun hat – von Beethovens „Eroica“ bis zu Schostakowitschs „Leningrader“.

Thorsten Schmidt und Philip Pelzer in „Tschick“. Das Stück wird auch in der Spielzeit 2018/2019 im Kinder- und Jugendtheater gespielt (Foto: Birgit Hupfelf/Theater Dortmund)

Konzert zu „Panzerkreuzer Potemkin“

Die Reihe Wiener Klassik macht die europäischen Metropolen Wien, Paris und Berlin zu Themenschwerpunkten der einzelnen Abende und bedient so das Thema ganz mustergültig, weil Metropolen immer mit Krieg und Frieden zu tun haben. Start ist in „Wien“ am 3. Dezember 2018 mit Beethovens „Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria op. 91“, immerhin.

Ansonsten im Programm: schöne Sonderkonzerte, unter denen das Stummfilmkonzert „Panzerkreuzer Potemkin“ (26.3.2019) besonders auffällt, Kammerkonzerte, Familienkonzerte, Babykonzerte („Maxi“ und „Mini“). Es findet sich alles im einwandfrei strukturierten Programmbuch und im Netz, deshalb erspare ich mir hier das Aufzählen der weiteren Highlights und Merkwürdigkeiten.

Auslastung nahe an 80 Prozent

Das Orchester habe zahlreiche Gastspiele in fernen Landen absolviert, Mahler und Rachmaninow seien jetzt gänzlich eingespielt, die 80-Prozent-Marke bei der Auslastung sei so gut wie erreicht. Als Feltz in Dortmund anfing, erinnert er sich, lag die Marke bei 65 Prozent. Da kann man schon stolz sein.

Das Ballett plant wieder zwei Premieren. Zum einen gibt sich Chef Xin Peng Wang an Dantes Göttliche Komödie und inszeniert im ersten Teil „Inferno“. Bis 2021 soll jedes Jahr ein weiteres Teilstück hinzukommen (Musik von Michael Gordon und Kate Moore, Uraufführung Samstag, 3.11.2018).

Die zweite Premiere ist wieder ein Gemeinschaftswerk dreier Choreographen. Douglas Lee, Jacopo Godani und Wubkje Kuindersma haben „Visionen“ (erstmalig am 9.3.2019).

Wiederaufnahme des Balletts: „Alice“ (Foto: Theater Dortmund)

„Alice“ bleibt

„Schwanensee“, in Xin Peng Wangs Einrichtung erstmalig 2012 in Dortmund zu sehen, ist ebenso bei den Wiederaufnahmen wie „Alice“ nach Lewis Carrolls „Alice’s Adventures in Wonderland“, ein Ballett von Mauro Bigonzetti mit Musik der Gruppe Assurd. Zwei internationale Ballettgalas sind für Mitte Oktober 2018 und Juli 2019 eingeplant. Außerdem, in Stichworten: Sommerakademie, Seniorentanztheater, Open Classes und etwas Drumherum.

„Echnaton“ von Philip Glass

In der Oper „Aida“, Der Barbier von Sevilla“, „Das Land des Lächelns“, „Turandot“ und (immerhin) „Echnaton“ von Philip Glass. Regie und Choreographie bei „Echnaton“ führt Demis Volpi, und es steht zu hoffen, daß ihm Besseres gelingt als Laura Scozzi in Bonn mit ihrer verunglückten Verlagerung des Stoffes in eine Schulklasse mit submotivierten Pubertierenden.

Neben den erwähnten unverwüstlichen Ohrwürmern findet sich mit „MusiCircus“ nach John Cage oder „Fin de partie – Endspiel“ von György Kurtág auch Experimentelles im Spielplan, doch ist so etwas wie ein Stil des Hauses nicht recht erkennbar. Anders als sein Vorgänger Jens Daniel Herzog inszeniert der neue Intendant Heribert Germeshausen nicht selber, sondern plant in großen Würfen. Die Oper werde sich zukünftig in die Stadtgesellschaft öffnen, sagt er, und ab 2020 stehe Wagner verstärkt im Fokus. Von 2021 bis 2024 soll ein kompletter „Ring“ neu entstehen.

Neue Ästhetik im Sprechtheater?

Im Sprechtheater arbeitet Schauspielchef Kay Voges an einer Koproduktion mit dem Berliner Ensemble, Titel „Die Parallelwelt“. Das Projekt, erläutert er, basiere auf der Grundkonstellation, daß an zwei Orten zur gleichen Zeit zwei identische Aufführungen stattfinden. Und daß diese miteinander, via Glasfaserkabel und Videokunst, miteinander in Verbindung treten. Nach dem Weggang Claus Peymanns steht der neue Intendant des Berliner Ensembles, Oliver Reese, solchen experimentellen Projekten positiv gegenüber. Man darf also gespannt sein, ob es beim technischen Spiel bleibt oder ob mit seiner Hilfe eine neue Ästhetik, neue Kunst mithin, erwächst.

Das Schauspiel zeigt weiterhin „Das Internat“. Bild mit Ensemble und Studenten der Folkwang UniversitäŠt der KŸünste (Foto: Birgit Hupfeld  /Theater Dortmund)

Horror – frei ab 18

Jörg Buttgereit, „der Papst des deutschen Horrors“ (O-Ton Voges), setzt mit dem Stück „Im Studio hört Dich niemand schreien“ zu neuen Schandtaten an, und sicherheitshalber hat das Theater hinter diese Ankündigung schon mal den „ab 18 Jahren“-Vermerk geschrieben. Eine „Hedda Gabler“ sticht ins Auge, die der Regisseur Jan Friedrich im Studio zur Aufführung bringen will, ebenso ein Stück des Dortmunder Sprechchores, in dem es „über Fußball und heimliches Begehren“ geht. Genauer gesagt geht es in „Echte Liebe“ um Homosexualität, die im Fußball nach wie vor kaum akzeptiert wird.

Viele Wiederaufnahmen

Diverse größere und kleinere Sachen stehen in der Ankündigung, einige noch etwas unfertig, daneben etliche Wiederaufnahmen: „Das Internat“, „Biedermann und die Brandstifter/Fahrenheit 451“, „Der Theatermacher“, „Die Show“, „Zerline“, „Der Kirschgarten“, „Endspiel“, „4.48 Psychose“ und weitere.

Gerburg Jahnke führt Regie

Ja und dann ist da Gerburg Jahnke, die man vielleicht noch als eine Hälfte der „Missfits“ in Erinnerung hat, die treffsicheres Frauenkabarett macht und regelmäßig auch Regie führt. Jetzt tut sie das in Dortmund, im Stück „Als die Omma den Huren noch Taubensuppe kochte“. Das Stück entstand nach dem gleichnamigen Roman von Anna Basener und beschreibt launig das Aufeinandertreffen der hippen Nichte aus Berlin, die eine vielversprechende, aber erfolglose Designerin von Damenschlüpfern ist, mit – eben – Oma, die einen Großteil ihres Erwerbslebens als Puffmutter verbrachte. Die Musik macht, wie in vielen anderen Produktionen auch, Tommy Finke, und den Kostümverantwortlichen, wenngleich er schon lange im Geschäft ist, muß man einfach seines „märchenhaften“ Namens wegen einmal wieder nennen: Michael Sieberock-Serafimowitsch, die Bühne gestaltet er auch.

Anke Zillich wechselt vom Schauspielhaus Bochum an das Theater Dortmund (Foto: Schauspielhaus Bochum)

Abiturstoff im Kinder- und Jugendtheater

Das Kinder- und Jugendtheater (KJT) schließlich tritt mit acht Premieren an, von denen zwei – „Fast Faust“ nach Goethe und „Der Sandmann“ nach einer Erzählung von E.T.A. Hoffmann – demnächst auch Abiturstoff sein sollen. Alle Produktionen sind präzise auf Altersgruppen zugeschnitten, was durchaus auch als künstlerische Herausforderung gesehen werden muß.

„Cinderella“ ist das neue Weihnachtsmärchen (ab 6 Jahren). Als Autor zeichnet KJT-Chef Andreas Gruhn selbst, und er bediente sich der Vorlage Charles Perraults. Uraufführung ist am 15. November, glücklicherweise jetzt wieder im renovierten Schauspielhaus, wo hoffentlich genug Platz für die erwarteten Besucherscharen sein wird.

Weitere Programminfos, noch einmal sei es gesagt, stehen im dicken Programmbuch. Lediglich eine Personalie sei noch erwähnt: Schauspielerin Anke Zillich wechselt vom Bochumer Schauspielhaus nach Dortmund. Fraglos eine Bereicherung des Ensembles.

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Suche nach dem sicheren Ort: „Maxim“ von „Stücke“-Gewinnerin Anne Lepper für Kinder ab 9 in Dortmund

Das Bett ist zum Expreßballon geworden. Szene mit (von links) Philip Pelzer, Ann-Kathrin Hinz, Andreas Ksienzyk und Rainer Kleinespel (Foto: Edi Szekely/Theater Dortmund)

Das Stück heißt „Maxim“ und ist jetzt im Dortmunder Kinder- und Jugendtheater uraufgeführt worden. Geschrieben hat es Anne Lepper, und weil sie im letzten Jahr in Mülheim mit ihrem („Erwachsenen“)-Stück „Mädchen in Not“ den Stücke-Wettbewerb gewonnen hat, war von Interesse, wie nun ihr erstes Kinderstück (für Kinder ab 9 Jahre) geworden ist.

Mobbing und Anderssein

Mehrere Zeitungs- und Rundfunkkritiker hatten sich eingefunden, und überhaupt saßen mehr Erwachsene als Kinder im Zuschauerraum – ein Umstand, der im Kinder- und Jugendtheater nachdenklich stimmt. Möglicherweise waren besonders viele Lehrer zugegen, die prüfen wollten, ob das Stück für ihre Klassen geeignet sein könnte. Man sollte gelegentlich mal nachfragen.

Das Stück dreht sich, ganz grob beschrieben, um Mobbing und Anderssein, um Autonomie und Akzeptanz, um die Macht der Phantasie. Handlungsgang, Bezüge und Personen sind, für die pädagogische Arbeit wohl, stark und eindeutig gezeichnet, das Geschehen schreitet forsch voran, Langeweile kommt in den rund 70 Minuten Spielzeit nicht auf.

Sie sind die Mondelfen: Bettina Zobel, Bianka Lammert und Johanna Weißert (Foto: Edi Szekely/Theater Dortmund)

Mit Fußtritten

Die Dortmunder Inszenierung des Hausherrn Andreas Gruhn kommt brutal zur Sache. Auf dem Schulhof wird Mary-Lou (Ann-Kathrin Hinz) von den anderen mit Fußtritten malträtiert, selbst noch, als sie schon auf dem Boden liegt. Es ist nicht das erste Mal. Mary-Lou ist angeblich zu dick und gehört deshalb nicht dazu.

Auch Max (Philip Pelzer) gehört nicht dazu, weil er immer noch mit Puppen spielt. Die anderen wenden sich von ihm ab, trotz seiner leckeren Salamibrote. Max beschließt die Flucht zum Mond, im Expreßballon, zusammen mit Bär und Hund (Andreas Ksienzyk und Rainer Kleinespel). Denn der Mond ist angeblich repressionsfrei. Auch Mary-Lou kommt mit, doch muß sie zunächst einmal die Vorurteile der drei anderen gegen dicke Mädchen niederkämpfen („Dicke Mädchen wollen immer Blumen geschenkt haben“).

Mond ist auch keine Lösung

Auf dem Mond verheißen die Mondelfen (Bianka Lammert, Johanna Weißert, und Bettina Zobel) völlige Freiheit, doch die Mondpolizei (Thorsten Schmidt) trachtet den Neuankömmlingen nach dem Leben, weshalb sie im letzten Augenblick zur Sonne flüchten. Die ist aber auch nicht begeistert und außerdem sehr, sehr heiß. In letzter Konsequenz bleibt nichts als die gute alte Erde, wo jeder Mensch das Recht hat, so zu sein, wie er eben ist. „Was wir bräuchten, wäre Liebe“,sagt der weise Bär.

Das magische Bühnengeschehen ist sinnhaft mit Pop-Musik von David Bowie („Space Oddity“, „Starman“), Hubert Kah (Sternenhimmel“) und anderen angereichert worden, die die Stimmungen und Sehnsüchte der Personen spiegelt und verstärkt. Bemerkenswert ist der selbstverständliche Einsatz englischer Song-Texte, die unübersetzt bleiben. Können die Kinder in dem Alter schon so viel Englisch? Vielleicht die falsche Frage.

Mary-Lou tanzt; Szene mit (von links) Rainer Kleinespel, Philip Pelzer, Ann-Kathrin Hinz, Andreas Ksienzyk, Bianka Lammert, Johanna Weißert, Bettina Zobel (Foto: Edi Szekely/Theater Dortmund)

Mäßig originell

Alles im grünen Bereich; höchstens hätte man von einer „Stücke“-Preisträgerin etwas mehr Originalität erwartet, als hier an der Dortmunder Sckellstraße sichtbar wird. Auf einen neuen Stoff nach Art Wolfgang Herrndorfs hatten manche gehofft, eine Geschichte à la „Tschick“ für die etwas Jüngeren. Das wäre einfach schön gewesen, auch wenn dieser kritische Einwurf letztlich unzulässig ist, weil „Maxim“ für Kinder geschrieben wurde und sich deren Problemen mit großer Redlichkeit nähert. Sei’s drum.

Tanz ist Freiheit

Es wird viel getanzt auf der Bühne mit ihren drei großen Ballons und der anspruchsvollen Videoprojektion (Ausstattung: Oliver Kostecka, Video und Sound: Peter Kirschke, Choreographie: Joeri Burger). Tanz ist Freiheit, wer tanzt, ist bei sich selbst, eine Botschaft, die wohl auch über den recht konkreten Rahmen dieses Stücks hinausgeht. Und wenn Hund und Bär mit ihren ungelenken Stofftier-Riesenfüßen herumstapfen, ist das auch ausgesprochen lustig.

Bemerkenswert schließlich ist der Programmzettel, der in einigen Stichworten auf das Stück eingeht und auch noch ein kleines Glossar mit möglicherweise nicht bekannten Begriffen liefert, „Epidemie“, „zivilisiert“, „Regression“… . Sogar die „Heteronomie“ hat es bis auf die Liste geschafft, als Gegensatz zur Autonomie. Ganz schön anspruchsvoll, für Kinder ab 9.

Der lange, kräftige Schlußapplaus galt nicht zuletzt den acht Darstellerinnen und Darstellern, die in bis zu drei Rollen auf der Bühne standen, spielten, tanzten. Konzentration und eine im besten Sinne angemessene Ernsthaftigkeit prägten ihrer aller Spiel ebenso wie eine geradezu ansteckende Spielfreude.

  • Nächste Termine: 2., 3., 6. Mai, 4., 5. Juli.
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„Memory Alpha“ und „Schöpfung“ – digitale Überlegenheit und die Schönheit des Gehirns im Dortmunder Theater

Hirn, Schöpfung, Erinnerung, digitale Zukunft – mit großer Anstrengung arbeitet sich das Dortmunder Theater in seinen jüngsten Produktionen an den allerletzten Menschheitsfragen ab, die hier nicht mehr jenseitiges Sein oder Jüngstes Gericht zum Thema haben, sondern die Existenz in der Informationsgesellschaft, mit all ihren Ungeheuerlichkeiten, vielleicht aber auch Chancen und Verheißungen.

Nach Unfall im Schlüpfer: Institutsleiter Dr. Gerd Stein (Uwe Schmieder) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Großes Rad

Den Anfang machte am Freitag das Stück „Memory Alpha oder Die Zeit der Augenzeugen“ von Anne-Kathrin Schulz auf der Studiobühne. Am nächsten Tag folgte im Großen Haus eine „Schöpfung“, die in der Tat Joseph Haydns Oratorium (samt Text) mit einer Art Handlung verbindet, inklusive ein machtvoller, aber doch etwas unvermittelter Monolog zum Ende hin. Fraglos drehen sie hier das ganz große Rad. Oder sagen wir lieber: Der Versuch ist erkennbar.

Totalüberwachung

„Memory Alpha“ ist etwa zehn Minuten länger als „Schöpfung“, und in den gut 100 Minuten Spielzeit läßt Anne Kathrin Schulz ihre vier Darsteller eine Menge von dem vortragen, vorspielen, was auf dem großen Themenfeld zwischen Autonomie, Manipulierbarkeit und vorgeblich freier Forschung derzeit so alles zu erzählen wäre.

Da gibt es natürlich die Chinesen, die der Totalüberwachung durch ihre Regierung freudig entgegensehen, da gibt es Forschungen, die Menschen falsche Erinnerungen einpflanzen, welche sie in der Folge zu falschen, möglicherweise gar kriminellen Handlungen verleiten werden, da gibt es einige Wenige, die HSAM haben und deshalb gegen solche Manipulationen immun sind (HSAM, der Begriff taucht auch im Bühnenbild auf, steht für Highly Superautobiographical Memory und bezeichnet Menschen mit ausgeprägtem episodischem Erinnerungsvermögen, die gleichsam jeden Tag ihres Lebens im Format eins zu eins zu memorieren vermögen).

Gedächtnisforscherin Prof. Johanna Kleinert (Friederike Tiefenbacher), Proband Sebastian Grünfeld (Christian Freund) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

So viele Verknüpfungen

Wäre der kriminelle Datendeal bei Facebook schon auf dem Markt gewesen, als Schulz ihr Stück schrieb, hätte er sicherlich auch gebührende Erwähnung im Stück gefunden (Spekulation). Kurz: Hirn und Digitalität sind in den falschen Händen saugefährlich und deshalb müssen wir alle achtsam sein. Weil das menschliche Gehirn doch so einzigartig ist, und so schön, mit seinen Milliarden von neuronalen Verknüpfungen, die nirgendwo sonst in der Natur so eng und komplex sind.

Tödlicher Autounfall

Es ist an Friederike Tiefenbacher, die Schönheiten des Gehirns in einer Art Prolog zu preisen. Ihre Ansprache leitet über in den Handlungsteil des Stücks, denn tatsächlich gibt es hier eine Handlung, oder doch zumindest die Andeutung davon. In dieser Handlung ist Frau Tiefenbacher die Gedächtnisforscherin Prof. Johanne Kleinert, die traurig zu vernehmen hat, daß ihr Chef bei einem Autounfall in Brüssel ums Leben gekommen ist, „zwischen Borke und Stoßstange“.

Uwe Schmieder, bekleidet lediglich mit einer Unterhose, gibt den Institutsleiter Dr. Gerd Stein, der nun gefälligst ins Totenreich zu wechseln hat, das aber gar nicht will. Also hält er eine flammende Rede, dieselbe, die er auch schon erfolgreich vor dem Europaparlament gehalten hat und in der er einen Großteil dessen, was dem Stück ja offenbar ein Anliegen ist, vor Fachpublikum referierte. Hütet euch vor Manipulationen, könnte man den Kern seiner Botschaft umreißen – und vielleicht haben seine Appelle finstere Mächte bewogen, ihm nach dem Leben zu trachten. Vielleicht war es aber auch einfach nur Pech, zur falschen Zeit am falschen Ort usw.

Ensemble (v.l.): Uwe Schmieder, Christian Freund, Friederike Tiefenbacher, Caroline Hanke vor der Videowand von Julia Gründer  (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Herrlich aufgedreht

Die anderen beiden Mitspieler sind Caroline Hanke als HSAM-Expertin und Christian Freund als Proband 42, der bei den Erinnerungsversuchen Streß macht und einen Hund umgebracht haben soll. Wenn die Erinnerung nicht täuscht.

Das durchgängig präsente Spiel dieser Darstellerriege, vor allem das des herrlich aufgedrehten Uwe Schmieder unter seiner putzigen Glatzenperücke, bereitet großes Vergnügen und sorgt passagenweise für Heiterkeit.

Mit der Botschaft des Abends indes tun wir uns schwer. Vieles, was Darstellerinnen und Darsteller aufsagen müssen, ist eifrig mitgeschriebenes Wissenschafts-Feuilleton, Internetweisheit, Biologieunterricht und alles in allem recht wohlfeil. Wenn Frau Tiefenbacher ihren Prolog über die Wunderbarkeit des menschlichen Gehirns am Schluß, wenig variiert, noch einmal aufsagt, so wirkt dies trotz untadeliger Vortragskunst deshalb eher wie ein unentschlossener Versuch nachlaufender Sinnstiftung.

Eindrucksvolle Videotechnik

In besonderer, guter Erinnerung bleibt die im Grunde leere Bühne (Susanne Friebe) mit ihrer bemerkenswerten Decken- und Rückwandkonstruktion aus 36 bzw. neun in etwa quadratmetergroßen Projektionsflächen in einem solide wirkenden Holzgestell. Hier tauchen – sinnhaft und maßvoll gesetzt – Bilder auf: Köpfe, Dortmunder Stadtlandschaften, unvergeßliche Katastrophenszenen (Breitscheidplatz, Lady Dis Unfall, 9/11 etc.). Das Programmheft nennt Julia Gründer für die Videotechnik und Lucas Pleß für „Engineering“, was immer damit gemeint sei.

„Die Schöpfung“, ganz am Anfang (v.l.): Bjöšrn Gabriel, Uwe Rohbeck, Bettina Lieder, Ekkehard Frey, Frank Genser, Marlena Keil  (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Aus der Tiefe

Die „Schöpfung“ bot am nächsten Abend noch etwas mehr für Auge und Ohr, und einmal mehr sei der Freude darüber Ausdruck verliehen, daß das Dortmunder Theater wieder in einem funktionierenden Haus spielen kann.

Langsam hebt die Technik aus dem Bühnenboden eine Menschengruppe empor (Bühne: Andreas Auerbach), den Chor und die Sänger, wie bald schon deutlich wird. Sängerin und Sänger – Maria Helgath (Sopran), Ulrich Cordes (Tenor) und Robin Grunwald (Baß) – werden ihrem Haydn weitestgehend treu bleiben, indes wird Pianistin Petra Riesenweber an der elektronischen Orgel ab und zu auch die undankbare Aufgabe haben, den Gang der Schöpfung mit mißlichen Rhythmen zu stören. Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß der naturgemäß nicht immer verständliche Text bei alledem sorgfältig über die Bühne projiziert wird.

Ulkige Nummer

Der Chor (also die Schauspieler) nun ist „die Schöpfung“, und da es während der Schöpfung bis zur Individualisierung der Geschöpfe ja einige Tage dauert, ist er zunächst quasi amorphe Masse. Claudia Bauer (Regie) macht eine ulkige Nummer daraus, wenn sich die Chormitglieder gegenseitig als „Schöpfung“ vorstellen.

Ensemble im Video (oben) und in der Video-Kiste (links), rechts (sitzend) die Sänger (v.l.) Ulrich Cordes, Maria Helgath, Robin Grunwald. Am Piano sitzt Petra Riesenweber, die musikalische Leitung hat T.D. Finck von Finckenstein. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Überhaupt finden sich die Damen und Herren der Schöpfung – Ekkehard Feye, Björn Gabriel, Franke Genser, Marlena Keil, Bettina Lieder und Uwe Rohbeck – immer wieder zu putzigen Konstellationen zusammen, die wir leider jedoch, zunächst jedenfalls, nur auf der Videoleinwand sehen (Video: Tobias Hoeft). Tatsächlich finden sie in einer Art Holzhütte auf der Drehbühne statt, doch die hat nach vorne hin nur zwei Bullaugen. Später allerdings sind doch direkte seitliche Einblicke möglich, immerhin.

Eva digital

Nun ja. Der Herr schöpft und schöpft, und schließlich hat er den Menschen nach seinem Ebenbild erschaffen, der aber erstaunlicherweise, es muß etwas Zeit vergangen sein, auf eine Computerfrau trifft. Die ist zwar nett, aber eben nur digital, auf jeden Fall jedoch: überlegen. Und das liegt daran, daß bei der Schöpfung so viele Pannen passiert sind und die Krone der Schöpfung nichts weniger ist als dies. Bettina Lieder erklärt es ihrem unglücklichen Adam und dem Publikum in einem ausführlichen Video, und da dieses „hybride“ (Programmankündigung) Stück aus Theater und Musik „unter Verwendung von Szenen aus ,Die Ermüdeten’ von Bernhard Studlar“ entstand, wollen wir ihr die Zwangsläufigkeit der Dinge einmal glauben.

Unterhaltsam

Was auf jeden Fall in guter Erinnerung bleibt, sind einige schöne Bühnenbilder ohne Video, etliche kongeniale Regieideen und zu Herzen gehender Gesang, der die elektronische Verstärkung via Mikroports gewiß nicht nötig gehabt hätte. Kurz, der Theaterabend war unterhaltsam und vergnüglich. Viel freundlicher Applaus für Sänger und Ensemble.

  • “Memory Alpha“. Termine: 13.4., 4. und 20.5., 2. und 22.6., 4. und 12.7.
  • “Schöpfung“. Termine: 13. und 29.4., 20.5., 2. und 22.6., 4. und 12.7.
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Wie sag ich’s meinem Publikum? – Dortmunder Annäherungsversuche an Bernhards „Theatermacher“

Theatermacher Bruscon (Andreas Beck, links) und Wirt (Uwe Rohbeck) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Kay Voges, Dortmunder Schauspielchef, hat Thomas Bernhards grandioses Stück „Der Theatermacher“ wohl nicht gänzlich ironiefrei ausgesucht, um sich mit einer Inszenierung im renovierten Dortmunder Schauspielhaus zurückzumelden.

Der schwergewichtige Andreas Beck spielt die Titelrolle, Uwe Rohbeck ist sein quirliger Widerpart, im Textbuch nur „der Wirt“ geheißen. Und natürlich nicht brav von Anfang bis Ende nach Vorlage auf die Bretter gestellt, sondern, nun ja, bearbeitet.

Andreas Beck als Theaterdespot

Doch hält diese Produktion dem Sprachberserker Bernhard bemerkenswert lange Zeit die Treue. Mit Verve und Besessenheit wütet Beck sich durch die redundanten Obsessionen des Theatermachers Bruscon, schwadroniert das Blaue vom Himmel herunter, verletzt und entwertet Frau und Kinder (sein einziges Ensemble), verlangt nach Frittatensuppe, erregt sich über die nicht vorhandene Genehmigung des örtlichen Feuerwehrchefs zum Lichtabschalten, und so fort. Sein Stück „Das Rad der Geschichte“ ist monströs, seine Wahnvorstellungen von der Inszenierung sind es, und daß die ganze Welt monströs ist, wer wollte daran zweifeln.

Der unverwechselbare Stil Thomas Bernhards, der oft durch Verflechtung und vielfache Wiederholung thematischer Stränge gekennzeichnet ist, durch ein zorniges Anrennen gegen die Widernisse dieser Welt, das außer Erschöpfung keinerlei Resultate zeitigt, findet im „Theatermacher“ eine seiner schönsten Ausprägungen, und vielleicht, das aber ist Spekulation, darf Andreas Beck auch deshalb so lange den „altbekannten“ Bruscon geben. So lange, bis ihm – in Bernhards Text, in einer Anwandlung ungeschminkter Erkenntnis – Zweifel an sich selbst und seinem Tun kommen. Nun aber donnert’s, und das Spiel bricht ab.

Nach Rollentausch und Kleiderwechsel gibt Uwe Rohbeck den Theatermacher Buscon. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Wo bleibt der Zeitbezug?

Und wieder stürmt Bruscon aus dem Zuschauerraum auf die Bühne, und das Spiel beginnt von vorne. Doch alles geht schneller; von nun an scheint die Frage im Mittelpunkt zu stehen, was man heutzutage aus diesem Stück machen sollte, 34 Jahre nach der Uraufführung. Es sind dies offenbar Fragen, die um Konflikt, Gewichtung, Moral, Ästhetik, Deutung, Vermittlung usw., aber auch um Ausstattung, Kurzweil und Spaßfaktor kreisen und die in der Tat gerade bei einem Autor wie Thomas Bernhard, der mit starkem Zeitbezug schrieb, unausweichlich sind. Aus diesem Grund ist es wohl auch, wenngleich mit Bedauern, hinzunehmen, daß in der Dortmunder Einrichtung Österreich gegen Westfalen getauscht wurde und Bernhards ätzende Heimatkritik harmlosen Westfalen-Späßen weichen mußte. Doch das Publikum lacht, wenn es von Bruscons Gastspiel in Hörde hört.

Rollentausch zum Donnerwetter

Der zweite Durchgang arbeitet sich – bei gleicher Rollenverteilung – anscheinend etwas stärker an Textmarken wie „Blutwursttag“, „Erna kommt“ oder „Gastronomie“ voran. Dann – Donnergewitter wiederum – tauschen Beck und Rohbeck Rollen, Oberbekleidung und Lockenperücke (Kostüme: Mona Ulrich). Der kleine Alerte ist nun wütender Theatermacher und der Massige in sich ruhende Wurstigkeit, erstaunlicherweise mit norddeutschem Akzent. Der erschließt sich ebenso wenig wie Rohbecks tuntige Attitüde, wenn er doch in längeren Passagen die gänzliche Unzulänglichkeit der Gattin (Janine Kreß) beklagt. Ist aber egal, einige im Publikum haben auch an so etwas ihren Spaß.

Familienaufstellung mit (von links) Xenia Snagowski, Andreas Beck, Uwe Rohbeck, Christian Freund und Janine Kreß. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Von Webber bis Hitler

In weiteren Durchgängen werden sozusagen die Gewichtungen der Rollen im Stück getauscht, werden mal die Kinder (Christian Freund und Xenia Snagowski) zu Theatertyrannen, mal die beiden Frauen. Mal nimmt das Bühnengeschehen die Gestalt eines Andrew Lloyd-Webber- Musicals an, mal die eines sehr lauten Punk-Acts.

Schließlich geben die Damen mit typischem Lippenbärtchen, Schirmmütze und schwarzem Tutu noch den Adolf Hitler, und ganz am Schluß darf Andreas Beck/Bruscon, arg derangiert auf einem Tische liegend, die Seinen flehentlich bitten, einmal lieb miteinander zu sein. Der Mann hat ja so recht. Aber Trost und Frieden sind bei Thomas Bernhard ausgeschlossen. Das Leben, das Theater und die ganze schreckliche Welt mit Krieg und Nazis und Katholizismus sind für ihn nur in endloser rhetorischer Wiederholungsschleife zu ertragen, wenn überhaupt. So gesehen offenbaren Becks flehentliche Schlußworte tiefes Textverständnis.

„Der Theatermacher“ in der Punk/Hitler-Version mit (von links und kaum zu erkennen) Uwe Rohbeck, Xenia Snagowski, Andreas Beck, Janina Kreß und Christian Freund. Die Video-Art ist von Mario Simon und Tobias Hoeft. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Kunstfeindliche Orte

Die musikalischen Anreicherungen dieses Theaterabends stammen wieder einmal von T. D. Finck von Finckenstein und fügen sich gut in ein Konzept der unterschiedlichen Annäherungen ein.

Das Bühnenbild von Daniel Roskamp zeigt in Dortmund nicht den abgeranzten Festsaal eines glanzlosen österreichischen Landgasthofes mit Hitler-Portrait an der Wand, sondern eher einen Rohbau mit vielen roten Feuerlöschern, der an die temporäre Ausweichspielstätte „Megastore“ im Industriegebiet denken läßt. Kunstfeindliche Orte sind sie alle beide, könnte man vielleicht deuten, vielleicht auch einfach erschauerndes Erinnern nach den Zumutungen des langen Theaterumbaus herauslesen.

Das „Rad der Geschichte“ übrigens wird tatsächlich einmal hereinrollt. Es ist ein Stück Kulisse und hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Logo der „alten“ Berliner Volksbühne, die nach der Verrentung des Intendanten Frank Castorf gnadenlos und radikal abgewickelt wurde. Spekulationen über die Bedeutung der Räder, über Vermessenheiten auf der einen oder anderen Seite erspare ich mir an dieser Stelle.

Eindruck von Unentschlossenheit

Man verläßt das Theater mit gemischten Gefühlen. Die Sinnhaftigkeit dieser Reihung verschiedener Annäherungen an den „Theatermacher“ will sich letztlich nicht recht erschließen. Es bleibt ein Eindruck von Unentschlossenheit. Doch dem Publikum gefiel es, im restlos ausverkauften Großen Haus. Nicht erst am Ende, sondern in einigen Szenen schon spendete es der tadellos und mit großem Körpereinsatz aufspielenden fünfköpfigen Darstellerriege reichen Applaus.

  • Termine: 11., 14., 15. April, 6. Mai, 7., 24. Juni, 6., 13. Juli
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Gruselig und wie gemalt – Theater Dortmund zeigt „Das Internat“ von Ersan Mondtag in eindrucksvoller Kulisse

(Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Das Bühnenbild ist beeindruckend. Da steht, so muß man wirklich sagen, eine machtvolle Ritterburg auf der Drehbühne, ein gruseliges gotisches Gemäuer mit Playmobil-Anklängen. Im bildbeherrschenden unteren Bereich ein Schlafsaal mit grotesken Hochbetten, ein Duschraum, ein Speiseraum, ein Raum fürs Foltern und anderes mehr, oben auf dem Burggebilde eine verwunschene Landschaft mit Zäunen und toten Bäumen. Im bedrohlichen Halbdunkel der meisten Szenen wirkt diese Bühneninstallation wie eine materialisierte Graphic Novel (das Wort „Comic“ würde es nicht treffen), gothic, zum Fürchten.

Rotierende Gotik

Die Personen, die namenlos bleiben und meistens in Gruppen zu sehen sind, vervollständigen in ihren wilhelminischen (könnte man vielleicht sagen) Uniformen und in grobstrichiger Überschminkung den Eindruck der zeichnerischen Stilisierung, die in ihrer Radikalität an Inszenierungen Robert Wilsons erinnert. Gut gesetztes Licht (Rainer Casper) und feine Videoprojektionen (Tobias Hoeft) verstärken die beunruhigende Wirkung der meistens rotierenden Ritterburg überdies.

(Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Texte nachgereicht

Das Bühnenbild steht am Anfang, weil es so etwas wie der Hauptdarsteller des gut 90-minütigen Abends im Dortmunder Schauspiel ist. Geschaffen hat es der Autor des Stücks, Ersan Mondtag, ebenso die Kostüme, und er führt auch Regie. Den Text hat er allerdings nicht geschrieben. Was vom Chor der Internatskinder, vom „toten Kind“ (aus dem Off) oder vom „gestürzten Anführer“ zu hören ist, haben Alexander Kerlin und Matthias Seier erarbeitet, unter Zuhilfenahme unter anderem des Eichendorff-Gedichts „Zwielicht“. Diese Form der Autorenschaft, bei der die Texte von der Dramaturgie des Hauses nachgereicht werden, ist ungewöhnlich, doch das Resultat wirkt homogen.

Die Pistolen knallen

Angesichts von so viel Form traut man sich kaum noch, nach dem Inhalt zu fragen. Offenbar geht es um Reifung, Emanzipation, Adoleszenz, was in eine Art Aufstand mündet, der folgenlos bleibt. Doch könnte dies alles auch militärisch grundiert sein, im Ersten Weltkrieg gar (die Uniformen lassen daran denken). Auf jeden Fall blitzen einige Male die Degen, und die Pistolen knallen kräftig. Und offenbar haben das „tote Kind“, das einer Sirene gleich die Schüler lockt, und der „gestürzte Anführer“ das gleiche Schicksal erlitten: Man hat sie nackt und gefesselt in den Schnee geworfen, wo sie erfroren.

(Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Vieles klingt an und erscheint möglich in diesem fiebrigen Bühnen-Alptraum, und irgendwann im Lauf des Abends verliert sich der Wunsch, so etwas wie den roten Faden zu halten. Diese Theaterarbeit sucht ihr Publikum mit Stimmungen, mit Ahnungen von Grauen und Angst. Sprache ist Beiwerk, das nichts bewirkt. So ein Konzept ist etwas gewöhnungsbedürftig, aber keinesfalls reizlos.

Nacktheit dient hier als dramatisches Signal, bedeutet Wehrlosigkeit und Ausgegrenztheit, aber auch Empfänglichkeit und Autonomie. Ein nackter junger Mann steht gleich zu Beginn im Mittelpunkt. Er wird bestraft und geschmäht, ist aber späterhin auch der, der die Stimme des „toten Kindes“ hören kann, die ebenso Weckruf zur Obsession und zur Verweigerung ist wie auch sexuelle Initiation.

(Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Nackt auf der Bühne

Zeichen der Auflehnung ist der zum Schweigen auffordernde Zeigefinger vor den Lippen, das tote Kind sagt es dem nackten Jungen, und immer mehr Zöglinge übernehmen es. Außerdem ist die Internatszeit ja auch die der körperlichen Exploration. Nackte – nachher werden es noch ein paar mehr – tragen hier auf der Bühne folgerichtig eine Art „Nacktheitskostüm“ mit beinahe lebensecht applizierten männlichen und weiblichen Geschlechtsmerkmalen. Eine wirklich nackte Frau gibt es später auch, sie kommt, ist da, verschwindet wieder. Für Internatszöglinge wie Rekruten eine unerreichbare Verheißung.

Bedrohlicher Soundtrack von Finckenstein

Und dann wäre da noch die Musik. Oder besser vielleicht der Klangteppich, der dieser Produktion unterlegt ist und der an der düsteren, gruseligen und bedrohlichen Stimmung keinen geringen Anteil hat. Geräusche der Nacht erklingen, Flügelschläge, Krähenkrächzen, Käuzchenrufe, Donnergrollen – und immer wieder ein kurzer, menschlicher Schrei, der in die Knochen des geneigten Publikum fährt.

Gut, dieser Soundtrack hätte auch manchem alten Edgar-Wallace-Film zur Ehre gereicht und trägt ein bißchen dick auf, manche würden ihn gar kitschig nennen. Doch ergänzt er das optisch-akustische Gesamtkunstwerk hervorragend, das ja so radikal auf Stimmung setzt. T.D. Finck von Finckenstein hat das komponiert, Musiker und Klangtüftler aus Bochum und seit einigen Jahren und in einigen Produktionen für das Theater Dortmund tätig. Und mit Sicherheit jemand, der in seinem künstlerischen Schaffen für weitere Überraschungen gut sein dürfte.

(Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Und die Darsteller, die gegen Ende des Artikels gepriesen werden sollen? Nun, das stringente Bühnenkonzept von Ersan Mondtag bietet ihnen leider kaum Möglichkeiten zur schauspielerischen Entfaltung. Sie agieren anonym und uniform, sind an Aussehen oder Spiel kaum zu identifizieren. Ganz selbstsüchtig hoffe ich auf etwas mehr Schauspieler-Theater in nächster Zeit (und Schauspieler-Innen natürlich).

Das Publikum im ausverkauften Haus applaudierte freundlich und ausgiebig. Doch war in anschließenden Gesprächen auch von Ratlosigkeit die Rede. Warum auch nicht. Auf jeden Fall ist „Das Internat“ eine grandiose, stark beeindruckende Neuproduktion, mit der das Theater Dortmund sich selbstbewußt an seiner alten Wirkungsstätte zurückmeldet.

Weitere Termine: 16. Februar, 10., 11. März, 27., 28. April, 2., 3., 13. Mai, 8., 23. Juni, 8., 11. Juli.

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Das Schöne muß sterben: „Übergewicht, unwichtig: Unform“ von Werner Schwab im Dortmunder Theater

Leichenschmaus. Szene mit (von links) Christian Freund, Andreas Beck, Marlena Keil, Frank Genser, Amelie Barth und Uwe Rohbeck. (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

„Übergewicht, unwichtig: Unform“: Das alliteriert sehr schön und sollte einen auf keinen Fall zu einem Deutungsversuch verleiten. Was nicht bedeutet, daß diesem Stück und seinem Titel kein Sinn innewohnte, doch der erschließt sich besser im Zusammenhang, und dann auch eher assoziativ. Am Sonntag war Premiere von Werner Schwabs „Übergewicht…“ auf der Dortmunder Studiobühne.

Schwab, der 1994 mit gerade einmal 36 Jahren starb, schrieb Erfolgsstücke wie „Die Präsidentinnen“, „Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos“ und eben „Übergewicht…“ in seinen letzten Lebensjahren. Er galt unter den Theaterautoren als Enfant terrible, Provokateur und Punk, in seinen Stücken wird viel gekotzt, geprügelt, geblutet, gemordet und gestorben, gesellschaftliche Fallanalysen sind sie mit maximaler Negativwertung.

Kneipenszene mit (von links) Wirtin (Amelie Barth), Karli (Frank Genser) und Schweindi (Andreas Beck). (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Nüchterne Kneipe

Da ist es geradezu erstaunlich, in welchem vergleichsweise nüchternen Setting Regisseur Johannes Lepper sich dem Schwabschen Kosmos der Abgründigkeiten nähert. Spielort – Lepper sorgte auch für das Bühnenbild – ist eine auch auf den zweiten Blick noch ganz anheimelnde Kneipe, in der ein Fernseher unbeachtet vor sich hin flimmert, zwei Paare an Tischen hocken, ein graues Männchen über gesellschaftliche Verhältnisse doziert und ein Mensch namens Fotzi mit obszön kurzem Kleid in der Ecke hockt.

Verkommene Gesellschaft

Lehrer Jürgen (Uwe Rohbeck) und Fotzi (Christian Freund) sind auf ihre Art auch so etwas wie ein Paar, „Es“ und „Über-Ich“ könnte man in trivial-freudianischer Terminologie vielleicht sagen, einander bedingend. Das Paar zur Linken sind Karli und Herta (Frank Genser und Friederike Tiefenbacher), er schlägt sie, wenn er sie vögelt, und auch, wenn er sie nicht vögelt.

Die anderen beiden sind Schweindi und Hasi (Andreas Beck und Marlena Keil), beide adipös. Beide stricken Strampler, doch mit der Elternschaft will es nichts werden, weil Schweindi bei Hasi keinen hochkriegt, er scheint eher pädophile Neigungen zu haben. Amelie Barth schließlich ist die Wirtin und als solche zunächst in einer Art Moderatorenrolle, kurzum: ein repräsentativer Querschnitt durch Werner Schwabs verkommene, verrohte, verlogene (europäische?) Gesellschaft.

Ach ja, nicht zu vergessen das dritte (bzw. vierte) Paar: Verliebt hocken sie lange Zeit weiter hinten, haben Augen nur füreinander (Edith Voges Nana Tchuinang und Raafat Daboul).

Karli (Frank Genser, stehend) ist gewalttätig. Szene mit Herta (Friederike Tiefenbacher, vorn), Wirtin (Amelie Barth, hinterm Tresen) und dem verliebten namenlosen Paar (Edith Voges Nana Tchuinang und Raafat Daboul, im Hintergrund (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

„Schwabisches“ Schwafeln

Nun, Schwabsches Kneipengeschwafel weist in Schwabs kunstvollem, an eigenen subtil-treffsicheren Wortneubildungen reichen „Schwabisch“ durchaus einige Leckerbissen für Sprachverliebte auf, ist aber für sittenstrenge Theatergänger auch eine Last. Denn ebenso ist „Schwabisch“ grob sexualisierte Fäkalsprache. Beleidigungen, Entwertungen und Entwürdigungen reihen sich, und irgendwann fragt man sich auch als hartgesottener Theatergänger, warum sie nicht endlich mal aufhören mit dem ätzenden Streß, wenn doch endgültig, endgültig alles gesagt, geflucht, geschrieen und herausgekotzt ist.

Gleichzeitig empfindet man Mitleid mit diesem Autor, der nicht lassen kann von seinen Obsessionen und dem auch die Sprache nicht zur Überwindung hilft, so kunstvoll sie ist.

Der Leib des Herrn

Ein Thema zum mindesten gibt es bei alledem schon, und das nicht erst, wenn die Kneipenbande das verliebte Paar im Hintergrund massakriert und auffrißt. Der Untertitel weist den Weg. „Ein europäisches Abendmahl“ hat Schwab sein Stück da genannt, und tatsächlich kreisen die wüsten Phantasien und Gewaltexzesse, weihnachtlich passend, relativ konstant um das christliche Motiv der Hingabe des Leibes zum Zwecke der Erlösung und um die Inkorporation desselben – hier nur eben nicht in Gestalt der Abendmal-Oblate, sondern entschieden realistischer.

Das wirft die Frage auf, warum das unschuldige Opferpaar dran glauben muß, aber wahrscheinlich ist eben gerade ihre (gemutmaßt) unschuldige Liebe dem Kneipenvolk so unerträglich, und von der geringen Lebenserwartung schöner, wilder Rosen weiß man nicht erst seit Nick Caves Lied. Schönheit muß sterben; warum soll man immer nur Toastbrotscheiben essen, wie Schweindi nicht müde wird zu postulieren, wenn man es auch in echt haben kann?

Und so läßt sich recht mühelos assoziativ einiges weiterspinnen von dem, was im Stück angelegt ist und was Johannes Lepper mit dieser Einrichtung übersichtlich und notabene nur mit den traditionellen Mitteln des Sprechtheaters (ohne Video) auf die Bühne stellt.

Fotzi (Christian Freund) provoziert das namenlose Paar (Edith Voges Nana Tchuinang und Raafat Daboul). (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Herta hat nicht mitgemacht

Herta übrigens hat nicht mitgemordet, um auch das noch zu erzählen, sondern nur vom Kneipentresen aus das kannibalische Gemetzel mit angesehen und kommentiert. Mit dem Fortgang der Handlung macht sie das nun zur Heiligen im Brautkleid, der die anderen die Füße küssen müssen. Die derben Anspielungen auf Schweißfüße und flutschigen Hundekot, in den Herta so gerne tritt, sind nur schlichte Ablenkungsmanöver und verfangen nicht; tatsächlich sind wir auch hier wieder mittendrin in der christlichen Schuld-Unschuld-Erlösungs-Mythologie, die dem Autor offenbar keine Ruhe gibt. Vielleicht, weil sie nicht funktioniert und nichts Schreckliches verhindert hat in den zweitausend Jahren ihres Bestehens. Da hätte er natürlich recht mit seiner unstillbaren Wut.

Doch im Jahr 1991 ist Schwab damit eigentlich spät dran, 20, 30 Jahre früher hätte man sich trefflicher und letztlich auch überzeugender über diese Dinge echauffieren können. Man denke da nur an Thomas Bernhards bebende Wut auf Pfaffen, Lungenärzte und Bürokraten, die trotz eindrucksvoller Sprachgewalt nie zu besiegen, höchstens für einige Zeit zu bändigen war.

Wiederauferstehung

In der letzten Szene ist das nette Paar dann wieder da, sitzt jetzt sogar an einem Tisch in der Mitte der Bühne und tritt entschieden offensiver auf als zuvor. Über die anderen Gäste, hilflos und lächerlich in ihren Obsessionen verfangen, lachen sie, und schließlich gehen sie wie Sieger aus der Kneipe. Das Motiv der Wiederauferstehung hat Schwab ähnlich auch in der „Volksvernichtung“ bemüht, alles nur Theater, man mag seine Schlüsse daraus ziehen.

Fazit: Johannes Leppers Inszenierung vermag in Dortmund mehr zu überzeugen als das mit seinen 26 Jahren schon etwas angestaubt wirkende Stück. Eine Freude ist die Wiederbegegnung mit geschätzten „alten“ Ensemblemitgliedern: Uwe Rohbeck, Andreas Beck, Marlena Keil, Frank Genser und Friederike Tiefenbacher.

Doch auch einige neue Gesichter bleiben in guter Erinnerung: Amelie Barth, Edith Voges Nana Tchuinang und Raafat Daboul. Christian Freund schließlich ist seit dieser Spielzeit Mitglied des Dortmunder Ensembles.

  • Weitere Termine „Übergewicht, unwichtig: Unform“:
  • 23.12.2017 — 7., 10., 21., 26.1., 18.2., 8.3. und 10.6.2018
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Zwei magere Jahre sind vorbei – nach Renovierung spielt das Theater Dortmund endlich wieder im angestammten Haus

Das Leben kehrt zurück. Nach fast zweijähriger Umbaupause wird im Dortmunder Theater endlich wieder Theater gespielt, auf großer und auf kleiner Bühne, und einen leichten Anflug von Freude darüber kann der Verfasser dieser Zeilen nicht verhehlen. Der Mensch braucht eben sein Stadttheater, das auch deshalb so heißt, weil es in der Stadt ist (und nicht im Gewerbegebiet).

Ansicht des Dortmunder Schauspielhauses - Aufnahme von 2009. (Foto: Bernd Berke)

Ansicht des Dortmunder Schauspielhauses – Aufnahme von 2009. (Foto: Bernd Berke)

Trotzdem darf natürlich auch an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, daß sich das Theater in seiner Ausweichspielstätte „Megastore“ wacker behauptet hat und daß dem Intendanten Kay Voges dort mit der „Borderline Prozession“, die Inszenierung ebenso wie Rauminstallation und Video-Arbeit war, definitiv Außergewöhnliches gelungen ist.

Doch im „eigenen Haus“ mit aufgefrischter Technik und optimiertem Brandschutz kann man einfach mehr machen. Und im übrigen auch mehr Publikum bespielen. Eine bange Frage für den Rest der Spielzeit wird daher sicherlich sein, ob das Publikum jetzt wieder in so reicher Zahl wie vordem strömen wird, oder ob es sich möglicherweise anderswo hin, nach Bochum beispielsweise, orientiert hat. Das hängt natürlich auch von dem ab, was geboten wird.

Warten auf den „Theatermacher“

Als erste Produktion gelangte am Samstag „Biedermann und die Brandstifter“ von Max Frisch zur Aufführung, sinnfällig kombiniert mit Ray Bradburys düsterer Zukunftsvision „Fahrenheit 451“, wo es ebenfalls um Feuer und Verbrennen (von Büchern) geht. Regie führte Gordon Kämmerer.

Kurz vor Jahresende steht das nächste Premierenwochenende in Dortmund an. Tschechows „Kirschgarten“ kommt als Studio-Produktion in der Regie von Sascha Hawemann am 29. Dezember heraus. Und erst am 30. Dezember wird der Chef selbst Regie im frisch renovierten Schauspielhaus führen. Der Theatermacher inszeniert den „Theatermacher“: In der Regie von Kay Voges gelangt Thomas Bernhards bittere Komödie zur Aufführung, mit Andreas Beck (wem sonst!) als Theatermacher Bruscon und Uwe Rohbeck als Wirt. Auch am Silvesterabend läuft die Produktion, und sie ist fast schon ausverkauft.

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Pressemitteilung des Dortmunder Schauspiels vom 27.12.2017:
Premiere „Der Theatermacher“ wird verschoben
„Das Schauspiel Dortmund muss die für den 30. Dezember geplante Premiere von „Der Theatermacher“ aufgrund von Erkrankungen im Ensemble verschieben. Der neue Premierentermin wird noch bekannt gegeben. Die Silvester-Vorstellung muss leider ersatzlos entfallen. Aufgrund des späten Spielzeitbeginns nach dem Rückzug aus dem Megastore kann das Schauspiel keine Ersatzvorstellung anbieten. Bereits gekaufte Karten können an der jeweiligen Vorverkaufskasse zurückgegeben oder umgetauscht werden. Das Schauspiel Dortmund bedauert den kurzfristigen Ausfall und die Unannehmlichkeiten für das Publikum sehr.”
Nachtrag:
Neuer Premierentermin ist Samstag, 3. März 2018 (Schauspielhaus, 19.30 Uhr).




Fünf Sparten des Dortmunder Theaters präsentieren für 2017/18 ein üppiges Programm – Personalkarussell dreht sich

Das Programm ist üppig, das Programmbuch ein Schwergewicht. Wenn das Theater Dortmund seine Pläne für die neue Spielzeit vorstellt, mangelt es an Masse nicht. Trotzdem aber wohnt der munteren Zusammenkunft im Opernfoyer, wo die fünf Sparten Oper, Ballett, Philharmoniker, Schauspiel sowie Kinder- und Jugendtheater ihre Pläne dartun, etwas Passageres, Flüchtiges inne. Das ist auch kein Wunder, denn das Personalkarussell dreht sich.

Wie berichtet, wechselt Opernchef Jens Daniel Herzog nach der kommenden Spielzeit 2017/18 als Intendant an das Nürnberger Staatstheater, und wenige Stunden vor der Konferenz wurde bekannt, daß die langjährige Dortmunder Verwaltungschefin Bettina Pesch bereits zur kommenden Spielzeit nach Magdeburg geht. Verwaltungsdirektorin und stellvertretende Generalintendantin ist sie dann dort. Ihre Nachfolge ist noch nicht geregelt, während der Nachfolger Herzogs feststeht. Heribert Germeshausen, bislang noch Heidelberger Operndirektor, soll ihm – wie berichtet – nachfolgen.

Pesch dankte Herzog, Herzog dankte Pesch, wie sich das gehört.

Megastore ist bald Vergangenheit

Schauspielchef Kay Voges ist zwar nach wie vor im Dortmunder Boot, war aber durch die Bauarbeiten im Schauspielhaus für längere Zeit auch mehr oder weniger abwesend. Gänzlich schuldlos, wohlgemerkt, war sein Schauspiel doch gezwungen, in einer unfreundlichen Industriehalle mit dem sinnreichen Namen „Megastore“ zu spielen, wo manches gar nicht und vieles nur mit Abstrichen lief. Am 16. Dezember aber soll es jetzt wirklich wieder im Schauspielhaus losgehen, ein „Doppelabend“ aus Max Frischs „Biedermann und die Brandstifter“ und Ray Bradburys „Fahrenheit 451“ macht den Anfang, erstaunlicherweise nicht in der Regie von Voges.

Musentempel in Schwarz-Gelb: Die Ausweichspielstätte „Megastore“ im Hörder Gewerbegebiet (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Kay Voges ist, gleichermaßen erstaunlich, auch nur ein einziges Mal für Regie eingetragen, Thomas Bernhards „Theatermacher“ hat er sich vorgenommen, Premiere am 30. Dezember. Grund für diese Abstinenz, so Voges, seien alte Verträge mit Gastregisseuren, die man abgeschlossen habe – lange bevor man um die sich endlos hinziehenden Bauarbeiten wußte. Jetzt sollen die engagierten Kräfte auch das Vereinbarte liefern, sonst werden Vertragsstrafen fällig, muß ja nicht sein.

Voges hat aber noch so einiges im Sack, deutet er an, will aber noch nicht darüber sprechen. Auf jeden Fall steht zu hoffen, daß das Schauspiel Ende des Jahres wieder unter zumutbaren Bedingungen in ein ruhiges, produktives, kreatives Fahrwasser zurückfindet. Angekündigt werden unter anderem „Übergewicht, unwichtig: Unform – Ein europäisches Abendmahl“ von Werner Schwab im Studio (Premiere 17.12.), ein Tschechowscher „Kirschgarten“ als opulentes Ensemblestück ebenfalls im Studio (29.12.), „Orlando“ nach Virginia Woolf (ab 11.2.2018) und leider auch wieder „Die Kassierer“.

Die Kassierer mit ihrem Frontmann Wolfgang Wendland (vorn) kommen wieder. Ihr neues Stück heißt „Die Drei von der Punkstelle“ (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

„Die Drei von der Punkstelle“

Die Punk-Rentnerband um Wolfgang „Wölfi“ Wendland droht die „Punk-Operette“ „Die Drei von der Punkstelle“ an (ab 26.5.2018). Und wo wir schon dabei sind: Unter den Extras und noch ohne festes Datum kündigt sich in der „Gesprächsreihe für wahre Freunde der Trashkultur“ Jörg Buttgereits Beitrag „Nackt und zerfleischt“ an. Freut euch drauf!

Auf dem Opernzettel stehen „Arabella“ von Richard Strauss (ab 24.9.), „Eugen Onegin“ von Peter Tschaikowski (ab 2.12.), „Nabucco“ von Verdi (ab 10.3.2018) und schließlich „Die Schneekönigin“ von Felix Lange als „Familienoper“ (ab 8.4.2017). Die Abteilung Leichte Muse wird von Paul Lincke, dem Erfinder des Lincke-Ufers, mit der Revue-Operette „Frau Luna“ beschickt (ab 13.1.2018), und als obligate Musicalproduktion erwartet ein geneigtes Publikum „Hairspray“ von Marc Shaiman (ab 21.10.). Kammersänger Hannes Brock, Dortmunder (Verzeihung) „Opern-Urgestein“, Homeboy, Publikumsliebling und was nicht sonst noch alles wird sich mit dieser Produktion in den wohlverdienten Ruhestand verabschieden. Eine festliche Gala mit Philharmonikern und Band ist zudem am 17. Februar 2018 für Hannes Brocks Verabschiedung geplant, der Titel ist, wenn ich nicht irre, ein Satz des letzten österreichischen Kaisers Franz-Josef I.: „Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut“ sprach er einstmals in einen Edison-Phonographen, die Aufnahme ist erhalten.

Xin Peng Wangs Ballett „Faust II – Erlösung!“ bleibt im Programm (Bild: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Abstraktes Ballett

Drei Klavierkonzerte von Rachmaninow, 6 Symphonien von Tschaikowski liefern das musikalische Material, mit dem Dortmunds Ballettchef Xin Peng Wang ein neues, abstraktes Ballett gestalten will, das die Namen dieser beiden Komponisten zum Titel hat. Außerdem kommt „Alice“, ein Ballett von Mauro Bigonzetti nach Lewis Carrolls „Alice’s Adventure in Wonderland“, zu dem die italienische Frauenband Assurd die Musik machen wird (ab 10.2.2018). Wiederaufnahmen sind „Der Nußknacker“, ein Ballett von Benjamin Millepied, sowie „Faust II – Erlösung!“ von Xin Peng Wang. Und die traditionsreiche Internationale Ballettgala trägt mittlerweile hohe Ordnungsziffern, XXVI und XXVII (30.9. u. 1.10.2017, 30.6. u. 1.7.2018).

Mahlers Vierte und Achte

Den meisten Platz in den gedruckten Programmankündigungen, so jedenfalls scheint es, beansprucht jedes Jahr Generalmusikdirektor Gabriel Feltz. Das liegt aber einfach daran, daß die Philharmoniker schon lange vor Spielzeitbeginn festlegen, was sie spielen werden, Reihe für Reihe, Konzert für Konzert. Und das schreiben sie dann eben auch schon auf, daher der Umfang.

Zweimal ist in der Konzertreihe nun Mahler im Angebot (die Vierte im Oktober 2017, die Achte im Juli 2018). An Mahler habe er sich in seinen ersten Dortmunder Jahren nicht herangetraut, erklärt Feltz, erst wollte er den Klangkörper besser kennenlernen. Nun aber traut er sich; auch an die Achte, die gern die „Sinfonie der Tausend“ genannt wird. Gut, tausend Mitwirkende wie bei der Uraufführung bringt Dortmund nicht auf die Bühne, aber 330 sind es schon, vor allem wegen der machtvollen Chöre. Neben dem Knabenchor der Chorakademie Dortmund werden der Tschechische Philharmonische Chor Brno und der Slowakische Philharmonische Chor Bratislava zu hören sein.

Blick in das Dortmunder Konzerthaus (Foto: Anneliese Schuerer/Theater Dortmund)

90 Prozent Auslastung im Blick

Um die 80 Prozent Auslastung können die Philharmoniker derzeit vorweisen, das ist nicht schlecht. Wäre es da nicht an der Zeit, den Montagstermin wieder aufleben zu lassen? Feltz’ Vorgänger Jac van Steen hatte den dritten monatlichen philharmonischen Aufführungstermin wegen mangelnder Nachfrage abgeschafft, was die Dortmunder nicht begeisterte. Feltz sagt, er sei in dieser Frage unentschieden, im Orchester werde die Frage kontrovers diskutiert. Unter einer Auslastung von 90 Prozent allerdings sei ein weiterer regelmäßiger philharmonischer Termin schwer vorstellbar. Aber bei Mahlers 8. Sinfonie mit ihrem aberwitzigen Aufwand sollte man vielleicht mal eine Ausnahme vom Zweierzyklus machen – zumal nicht so viele Menschen ins Konzerthaus paßten wie sonst, der großen Chöre wegen.

Die Violinistin Mirijam Contzen (Foto: Mirijam Contzen/Tom Specht)

Übrigens: Die beiden Mai-Konzerte der Dortmunder Sinfoniker waren restlos ausverkauft, zweimal 1260 Plätze. Grund war, wie wir vermuten wollen, der Auftritt der Violinsolistin Mirijam Contzen, die familiäre Wurzeln in Asien, Lünen und Münster hat. Ein „Home-Girl“, wenn der Ausdruck erlaubt ist. Sie spielte Tschaikowskis Violinkonzert d-Dur op. 35.

Meinung aus zweiter Hand

Schließlich das Kinder- und Jugendtheater unter Leitung von Andreas Gruhn, das mit sorgfältiger Alterszuordnung eine erstaunliche Vielzahl von Stücken stemmt. Kafkas „Verwandlung“ bringen sie für Menschen ab 14 heraus (ab 22.9.), den „Gestiefelten Kater“ (ab 10.11.) finden wir – als Weihnachtsmärchen – auf der Liste der Premieren ebenso wie etliche pädagogisch unterfütterte Projekt-Stücke, Stück-Projekte, die sich um Themen wie Leistungsdruck, Selbstoptimierung und Existenzangst drehen, um Schwierigkeiten und Chancen und manchmal auch um dumme Rollenbilder. Von Omas und Opas in meinem Alter, die dort mit den Enkeln hingehen, höre ich immer wieder begeisterte Berichte über die Qualität des Kinder- und Jugendtheaters. Ich gebe das mal so weiter, Meinungen aus zugegeben zweiter Hand, trotzdem recht seriös in meinen Augen.

So viel erstmal in groben Zügen. Natürlich wird in allen Sparten noch viel mehr gemacht, als in diesem Aufsatz erwähnt werden konnte. Das dicke Programmbuch, das man mit seiner Orange-Dominanz und seinen 60er-Jahre-Schriften gestalterisch nicht unbedingt gelungen nennen muß, liefert eine Menge Informationen zur kommenden Spielzeit, die Lektüre ist ausdrücklich anempfohlen. Dem Schauspiel schließlich sei gewünscht, daß dessen karge Megastore-Zeit nun recht bald enden möge und sich der Vorhang wieder im angestammten Theater hebt.

 




Liebe versinkt im Bühnengeschrei – „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ im Dortmunder Schauspiel

Frank Genser, Friederike Tiefenbacher (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Würde man die Machart des Stücks beschreiben wollen wie das Cuvée eines französischen Rotweins, könnte man vielleicht sagen: 40 Prozent 70er-Jahre-Botho-Strauß, 40 Prozent Yasmina Reza, 20 Prozent Loriot.

Kurze, kleine Beziehungsszenen reihen sich aneinander, denen eigen ist, daß die Protagonisten stets auf die eine oder andere Weise scheitern. Dargeboten werden sie als munteres Gesellschaftstheater, was an die eingangs aufgezählten prominenten Autoren denken läßt, ohne indes deren dramatische Produktionstiefe jemals auch nur annähernd zu erreichen. „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ heißt das Stück von Joël Pommerat, das nicht mehr ganz neu auf dem Markt ist und jetzt auch, unter der Regie von Paolo Magelli, im Dortmunder Theater eingeübt wurde, aufgeführt in der Ausweichspielstätte „Megastore“.

Stetes Scheitern

Der Titel des Stücks, keine Rezension kommt um diese Erläuterung herum, hat mit den politischen Verhältnissen in Fernost nichts zu tun, sondern beschreibt (in einer Szene, in den Worten eines Liebenden) metaphorisch die ungeheure Wucht einer vergangenen Liebe, so unvorstellbar wie das bezeichnete politische Ereignis. Diese Szene ist noch eine der glücklicheren, wenngleich auch sie ihr Glück in der Erinnerung findet, während die Gegenwart Langeweile prägt.

Von links: Marlena Keil, Caroline Hanke, Ekkehard Freye, Merle Wasmuth, Sebastian Kuschmann, Julia Schubert (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Andere Geschichtchen drehen sich um das lange geplante Ende der Beziehung, nachdem die Kinder aus dem Haus sind (nebst Suizid); um eine Psychiatriepatientin, die nicht schon wieder abtreiben will, weil sie den Vater des Kindes (ebenfalls Patient) liebt; um die Beziehung eines Mannes zu einer Prostituierten, die glaubt, daß es um Liebe ginge, bis der Mann Schluß machen und finanziell abrechnen will; um eine Hochzeit, die eine Rivalin der Braut verhindern will; um einen Mann, der mit seiner dementen Frau (Heim, Rollstuhl) schläft, was diese am nächsten Tag aber nicht mehr weiß, und so fort, und so fort.

Von links: Merle Wasmuth, Sebastian Kuschmann, Marlena Keil, Friederike Tiefenbacher (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Keine Entwicklung

Nett herausgespielt, würden diese Szenen trotz düsterer Grundierung doch muntere Unterhaltung erhoffen lassen. Doch kranken Vorlage wie Dortmunder Umsetzung daran, daß den Szenen kaum Entwicklung innewohnt. In den ersten beiden Sätzen eines Dialogs ist eigentlich jedes Mal schon alles gesagt, dann gibt es eine Weile Action, und die nächste Nummer folgt.

Zur Ödnis nicht vorhandener Handlungsgänge gesellt sich der Verzicht auf dramatische Durcharbeitung des Geschehens. Darstellerisches Crescendo ist Regisseur Magelli offensichtlich fremd, Intensität wird als Schreitheater gegeben. Da aber (zumal dieses) Theater eigentlich immer intensiv ist, es ja geradezu zu den unverzichtbaren Eigenheiten des Theaters gehört, intensiv zu sein, wird folgerichtig fast immerzu geschrieen. Man schreit sich an, man schreit ins Publikum und manchmal auch in die Kulisse – ein inkompetenter Regiestil, der das Stück endgültig hinrichtet.

Ensemble (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Wie die Jünger

Warum die 10 Männer und Frauen im Bühnenbild von Christoph Ernst manchmal ähnlich der Jüngerschar an einem langen Tisch sitzen, mag interpretieren wer will. Irgendeinen Sinn wird es schon haben, vielleicht ein Symbol für Gesellschaft. Oft bleiben die Plätze am Tisch leer, denn gespielt, gelaufen, gerungen und natürlich geschrieen wird vor dem langen Tisch und an etlichen weiteren Orten in und über dem Bühnenraum.

Mangelnden Einsatz kann man der Darstellerriege bei alledem nicht vorwerfen, einmal mehr beeindruckt ihrer aller Sportlichkeit. Doch könnten sie auch ein viel schöneres, vielschichtiges, tragisches, psychologisches Sprechtheater geben, wenn man sie denn nur ließe. Das Potential ist in diesem Ensemble, das wir nun auch schon seit Jahren kennen, fraglos vorhanden. Und es wurmt, daß die (überwiegend) jungen Leute in dieser Produktion so unter ihren Möglichkeiten bleiben müssen.

  • Termine: 4., 28. Mai – 4., 14., 23. Juni – 1., 9. Juli
  • Karten 10,00 bis 19,00 Euro
  • Informationen und Karten Tel. 0231 5027 222
  • www.theaterdo.de



Ein neuer Opernchef, der nicht Regie führt – Heribert Germeshausen wird 2018 Intendant in Dortmund

Heribert Germeshausen tritt sein Amt als Intendant der Oper Dortmund mit der Saison 2018/19 an. (Foto: Annemone Taake)

Heribert Germeshausen redet schnell. Er wirkt freundlich, energisch, als ein Mensch voller Tatendrang, versehen mit einer gehörigen Portion Selbstbewusstsein. Gleichzeitig strahlt der 46Jährige eine nahezu jungenhafte Neugier aus. Wie einer, der sich mit Lust großen Herausforderungen stellt. Dazu hat er jetzt alle Gelegenheit: Germeshausen wird ab der Spielzeit 2018/19 neuer Intendant der Dortmunder Oper. Er erhält, so hat es der Rat der Stadt beschlossen, zunächst einen Fünfjahresvertrag und löst damit Jens-Daniel Herzog ab, der nach Nürnberg wechselt.

Germeshausen also ist bei seinem ersten öffentlichen Auftritt, flankiert von Oberbürgermeister Ullrich Sierau und Kulturdezernent Jörg Stüdemann, kaum zu bremsen. Die neuen Impulse, mit denen er das Musiktheater weiter nach vorn bringen will, seien einerseits struktureller, zum anderen inhaltlicher Art, führt er aus. Dabei sei ihm die Größe des Hauses (mit mehr als 1100 Plätzen) durchaus bewusst. Soll wohl heißen, es bedarf mancher Kraftanstrengung, diesen Raum regelmäßig zu füllen.

Derzeit ist Germeshausen noch Operndirektor in Heidelberg, in einem feinen, aber weit kleineren Theater. Doch es gebe auch Parallelen: Beide Städte hätten in ihrem Umfeld nicht wenig Konkurrenz. Und deshalb gelte es, demnächst also in Dortmund, einen möglichst unverwechselbaren Spielplan zu gestalten.

Darüberhinaus will der neue Mann das Haus noch stärker in der Stadtgesellschaft verwurzeln. „Viele Menschen haben keinen natürlichen Zugang zur Oper“, sagt Germeshausen. Es ist einer von wenigen Standardsätzen, die er bemüht. Allerdings verbindet er diese Erkenntnis mit dem gewiss ehrgeizigen Ziel, ein Publikum anzulocken, das die vielfältige Struktur der Bevölkerung widerspiegelt. Dabei sollen auch neue partizipative Projekte helfen – durch Teilhabe zu mehr Genuss, mag dies übersetzt heißen. Oder doch nur das etwas abgedroschene Oper für alle?

Germeshausen, 1971 in Bad Kreuznach geboren, studierte Jura und Betriebswirtschaft, begann seine Laufbahn als Dramaturg am Theater Koblenz. Später wechselte er in gleicher Funktion nach Bonn; als Opernchef wirkte er in Dessau und zuletzt eben in Heidelberg. Das Dortmunder Haus, so erzählt er, habe er oft besucht, als Christine Mielitz dort noch Intendantin war. Damals allerdings war die Oper, mit Blick auf die Auslastungszahlen, nicht in bester Verfassung. Nun aber will der neue Intendant auf die Konsolidierungsarbeit von Jens-Daniel Herzog weiter aufbauen.

Blick auf das Dortmunder Opernhaus. Foto: Theater Dortmund

Inhaltlich lässt sich Germeshausen wenig in die Karten schauen. Er strebt, wie bisher, acht neue Produktionen pro Saison an, ohne die populären Gattungen Operette und Musical zu vernachlässigen. Die Kooperation der Jungen Oper mit der Rheinoper Düsseldorf/Duisburg und der Oper Bonn wird fortgesetzt. Insgesamt will Germeshausen seinen Spielplan individuell auf das Dortmunder Haus zuschneiden, mit einem „sehr speziellen Zyklus“, wie er kryptisch hinzufügt. In Heidelberg hat er sich vor allem mit kaum gespielten Barockopern einen Namen gemacht, dieses Projekt sei aber nicht auf das Musiktheater in der Westfalenmetropole übertragbar.

Fest steht, dass der neue Opernchef nicht selbst inszeniert. Und er versichert, die Dortmunder Wagner-Tradition fortzuführen. Zuletzt erklangen „Der fliegende Holländer“, „Tristan und Isolde“ sowie „Tannhäuser“. Will Heribert Germeshausen vielleicht gar einen neuen „Ring“ herausbringen? Wir sind gespannt.

 

 




Ein Herz für Hassende im Internet – „Flammende Köpfe“ von Arne Vogelsang im Dortmunder Theater

Arne Vogelgesang, Autor, Regisseur und Darsteller von „Flammende Köpfe“ (rechts), neben Videoprojektion (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Theater ist das eigentlich nicht. In der „Video-Lecture“ mit dem Titel „Flammende Köpfe“ von und mit Arne Vogelsang, jetzt zu sehen im Dortmunder „Megastore“, sitzt der Nämliche in Bühnenraummitte hinter seinem Schreibtisch am Computer, erzählt (bzw., es ist ja eine lecture, liest sein Manuskript vor) und bespielt zwei große Projektionswände links und rechts von sich mit Ausschnitten aus YouTube-Videos, in denen Haß-Menschen Haß-Reden halten.

Vogelsang ist, wie er selbst beschreibt, fasziniert von diesen oft wutschnaubenden, manchmal mahnenden, manchmal larmoyanten Selbstdarstellern aus der, wie man wohl sagen kann, rechten bis ganz rechten Ecke. Mit ihnen und ihresgleichen verbringt er (am Computer) mehr Zeit als mit seiner Frau, sagt er. Sein Verhältnis zu ihnen ist geradezu zärtlich, er weiß unglaublich viel über sie und nennt sie bei ihren Vornamen.

Zart und verletzlich: „jugendlicher“ Avatar (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Animierte Avatare

Aus seiner lange schon währenden Computer- und Internet-Obsession hat der 40jährige Autor, der in Berlin (Ost) zur Welt kam und in Wien Regie am Max-Reinhardt-Seminar studierte, eine Art Soloabend gemacht, zu dessen besonderen Ausschmückungen es gehört, daß Vogelsang die Köpfe seiner Haßprediger am Computer nachbaut und zu animierten Avataren macht. Sie bilden eine Art Ahnengalerie über der Bühne, die sich (qua Projektion) im Laufe des Abends immer weiter füllt.

Die animierten Köpfe sehen putzig aus, wenn sie sich bewegen, ein weiterer Sinn des Nachbaus erschließt sich indes nicht. Daß sie sich alle recht ähnlich sind, ist für sich genommen noch keine aufrüttelnde Message. Ebenso erschließt sich nicht recht der Mehrwert einer weiteren inszenatorischen Maßnahme: Statt den O-Ton zu bringen, spricht Vogelsang manche Textpassagen seiner Figuren. Das ist nett, der Mann kommt ja vom Theater, aber doch weit entfernt von jeder Anmutung eines Erkenntnis befördernden Brechtschen V-Effekts.

Arne Vogelgesang, Video eines Haßredners (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Was sind das bloß für Leute?

Und jetzt muß ich mal kurz persönlich werden. Für jemanden wie mich, der das Internet eher lästig findet, das iPhone verschmäht und seit ewigen Zeiten um 20 Uhr Tagesschau guckt, ist Vogelsangs Typen-Panoptikum der Ausflug in eine fremde Welt. Was sind das für Leute, die in reicher Zahl Wut- und Haß-Videos von sich drehen und sie ins Netz stellen? Hat es die früher auch gegeben? Sind sie von Moskau ferngesteuert (wie man zu Zeiten des Kalten Krieges hätte mutmaßen können)? Sind sie gefährlich? Sind sie das Volk (wie viele von ihnen auf die eine oder andere Weise behaupten)?

Der große Stammtisch im Internet

„Es genügt nicht, keine Meinung zu haben; man muß auch unfähig sein, sie auszudrücken“, formulierte vor vielen Jahren der große Kabarettist Wolfgang Neuss. Er meinte die geradezu empörend unpolitisch sich gebende Bundesrepublik der frühen Jahre, die „Weiter so“- und „Schwamm drüber“-Volksgenossen nach der Weltkriegskatastrophe. Geäußert werden die Menschen sich indes damals schon haben, am notorischen Stammtisch vermutlich, an Orten, wo man unter sich war. Und ein bißchen was hat das Internet ja wirklich von einem großen Stammtisch, an dem allerdings der direkte Dialog nicht mehr möglich ist. Das gebiert einen spezifischen Autismus, der mehr oder minder allen Monologisierern in diesen Videos eigen ist. Dieser Autismus enthemmt, was logisch ist, weil die sozialen Regulationen wegfallen.

Arne Vogelgesang am Schreibtisch, Avatar-Typenkabinett in der Hintergrundprojektion (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Keine Kommunikation

In gewisser Weise – ich hoffe, ich kriege die Kurve noch – paßt Wolfgang Neuss’ Beobachtung aus den frühen 60er Jahren bruchlos auf die Redenschwinger im Internet. Ob sie wirklich eine Meinung haben oder nur Objekte ihrer düsteren Affekte sind, wird nicht wirklich klar. Auf jeden Fall aber haben sie eigentlich alle ein Vermittlungsproblem. In nahezu jedem Vortrag fällt auf, wie schlecht sie die vermeintlichen Mißstände beschreiben. Was soll man beispielsweise damit anfangen, daß jemand sich über „den Tagesspiegelkommentar im Deutschlandfunk“ unglaublich erregt? Man müßte den Kommentar ja erst einmal lesen, um ihn verstehen zu können. Am ehesten noch werden Haßtiraden verständlich, wenn ihre Ausgangspunkte mit Schlagworten zu benennen sind, „Ausländer“, „Kölner Ereignisse“, „Deutschland in Gefahr“, „Merkel muß weg“ und ähnliches. Doch Begründungen, saubere thematische Ableitungen oder was immer des denkenden Menschen Verstand erfreuen könnte, bleiben seltene Ausnahmen. Man gewahrt Irre, denen normale verbale Kommunikation nicht mehr zur Verfügung steht.

Nicht ohne Küchenpsychologie

Das Unbewußte, à propos, bricht sich natürlich immer wieder Bahn. Die Frau, die sich in „Merkel muß weg“-Tiraden ergeht, wird plötzlich ganz süffisant: Nein, den Tod wünsche sie der Verhaßten nicht, sondern ein langes, langes Leben. In Ketten. In einer engen Zelle, in der es keine Kommunikationsmaschinen gibt, mit einem taubstummen Wärter. Küchenpsychologisch könnte man sagen, daß diese Folterphantasien der realen Existenz vieler Haß-Redner in ihrem autistischen Alltagsdasein recht nahe kommen dürften, der diffusen Wahrnehmung ihres qualvollen Kommunikationsdefizits in der Projektion auf das Haßobjekt.

Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, hat Vogelsang in seiner Einleitung gesagt, daß der Bestand an YouTube-Material weltweit in jeder Sekunde um fünf Stunden zunimmt. Es war jedenfalls eine imponierende Zahl, die auf ihre Art auch tröstlich ist; sagt sie doch aus, daß der Wert jedes einzelnen Haß-Beitrags kontinuierlich an Bedeutung verliert. Aber verstörend sind diese Verstörten schon, keine Frage.




Das Elend hat ein Ende: Ab 16. Dezember 2017 spielt das Dortmunder Theater wieder im Schauspielhaus

Kein sehr einladender Ort: Der „Megastore“, bevor die Theaterleute kamen. (Foto: Theater Dortmund)

Am 16. Dezember 2017, einem Samstag, spielt das Theater Dortmund nach fast zweijähriger Umbauzeit erstmalig wieder im Schauspielhaus.

Der Umzug aus der Ausweichspielstätte „Megastore“ in Dortmund-Hörde beginnt am 1. August 2017.

Im „Megastore“ spielt das Theater am 22. Oktober 2017 zum letzten Mal. Das Gebäude bleibt bis 18. Februar 2018 angemietet, damit ein zeitlicher Puffer nach hinten bleibt und der Auszug ohne zusätzlichen Streß erfolgen kann.

Dortmunds Schauspiel-Intendant Kay Voges kann jetzt planen. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Büro- und Funktionsräume im Theater werden aufgehübscht und instand gesetzt, so daß die geschundene Schauspieltruppe um Intendant Kay Voges in ein wirklich voll funktionsfähiges Schauspielhaus einziehen kann.

So weit die wichtigsten Fakten, die Kulturdezernent Jörg Stüdemann heute (Freitag) Nachmittag in einem kleinen Konferenzraum des „Megastore“ der zahlreich erschienenen Fachöffentlichkeit mitteilte.

Es tat schon ziemlich weh

Mit diesem Zeitplan ist sozusagen das Damoklesschwert verschwunden, das in den letzten Tagen über dem Dortmunder Theater drohend hing: Wegen diverser Verzögerungen bei Renovierung bzw. Neubau des Werkstattkomplexes war, wie im Lokalteil einer Dortmunder Zeitung zu lesen stand, erwogen worden, die gesamte kommende Spielzeit im „Megastore“ zu bleiben.

Dann wären aus dem ursprünglich geplanten halben Jahr Bauzeit zweieinhalb Jahre geworden, was die Theaterleute zu Recht als Zumutung empfanden. „Als es anderthalb Jahre wurden, fing es an, weh zu tun“, sagt Kay Voges. „Improvisieren ist für kurze Zeit ja ganz schön, aber als Dauerzustand…“

Zwei Millionen für ein Provisorium

Gleichwohl hat das Theater, als die Verlängerungsdrohung im Raum stand, mal nachgerechnet und die erforderlichen „Megastore“-Investitionen in Heizung, Magazin, Sanitäranlagen und Technik auf mindestens zwei Millionen Euro beziffert. Zwei Millionen für wenige Monate in einem auch dann noch schlechten Provisorium? Die Rechnung aber war wohl nicht ganz falsch, und sie mag ihren Anteil daran gehabt haben, daß sich das Verwaltungshandeln aufs Erfreulichste beschleunigte und schließlich der von Stüdemann vorgetragene Zeitplan stand. Zudem hatten die Besitzer des „Megastore“-Gebäudekomplexes in Verhandlungen keine Bereitschaft signalisiert, baulichen Veränderungen zuzustimmen. Sie haben für das Gebäude andere Pläne.

Dem Dortmunder Schauspiel sind im „Megastore“ immer wieder eindrucksvolle Produktionen gelungen; Szene aus „Disgraced“ mit (von links) Merle Wasmuth, Merlin Sandmeyer, Carlos Lobo, Bettina Lieder und Frank Genser (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

„Differente Auffassungen“

Doch wie kam es zu dieser wundersamen Beschleunigung des Verwaltungshandelns? „Imponderabilien haben sich aufgelöst. Wir konnten konkret planen“, sagt Theater-Verwaltungschefin Bettina Pesch, und wenn man fragt, was da gemeint sei, wird es schnell sehr kleinteilig. Jedoch so viel: Es gab „differente Auffassungen zur Standstatik“, so Stüdemann. „Diese Sorge hat sich aufgelöst.“ Gute Nachrichten gab es auch hinsichtlich des rechtzeitigen Einbaus der Aufzüge, das Brandschutzprogramm wurde planmäßig abgearbeitet, und neue Probleme sind jetzt einfach nicht mehr vorgesehen.

Voges hat Pläne, verrät aber noch nichts

Wenngleich, Frau Pesch ist Realistin genug, dies anzumerken, man eben im Bestand arbeite, da gebe es immer das Risiko des Unvorhergesehenen. Sehr groß ist es aber nun, da man die Rohbauphase hinter sich hat, wohl nicht mehr. Zur Erinnerung: Die Bauarbeiten gerieten in heftigen Verzug, weil man bei der Gründung des neuen Bauwerks auf nirgendwo verzeichnete Fundamentreste im zweiten Kelleruntergschoß stieß, außerdem auf unbekannte Rohre, die überdies noch asbestisoliert waren.

„Heute ist ein guter Tag“, sagt Kay Voges, „Ab heute kann wieder zuverlässig geplant werden.“ Und hat er schon Pläne für den Eröffnungstag, den 16. Dezember? „Ja“, sagt er, „aber die verrate ich nicht.“

Hals- und Beinbruch! Und nicht pfeifen.




Kaputte Theater, alte Säcke – eine betrübliche Wanderung durch die NRW-Theaterlandschaft

Um die nordrhein-westfälische Theaterlandschaft steht es nicht gut. In Köln und Dortmund werden die Gebäude saniert, und in beiden Städten dauert das länger als geplant. Doch wenigstens stellt hier noch keiner die Häuser als solche in Frage. In Düsseldorf hingegen, der Landeshauptstadt, ist nichts mehr sicher. Ebenfalls wird hier das Haus saniert, die Kosten der Sanierung laufen davon, und ein „kunstsinniger“ Oberbürgermeister stellt sich und seinen Genossen laut die Frage, ob das denn wirklich alles sein müsse.

Ab 2018 für die RuhrTriennale verantwortlich: Stefanie Carp und Christoph Marthaler beim Pressetermin in der Bochumer Jahrhunderthalle. (Foto: Bernd Berke)

Auch nicht mehr die Allerjüngsten, doch ab 2018 für die RuhrTriennale verantwortlich: Stefanie Carp und Christoph Marthaler. (Foto: Bernd Berke)

Man könne das Filetgrundstück, auf dem das Theater derzeit noch die Stirn zu stehen hat, doch viel besser vermarkten. Und wenn man die alte Bude aus der Nachkriegszeit wegen Denkmalschutz schon stehenlassen müsse, könne man dort doch wenigstens etwas Interessanteres machen als ausgerechnet Theater. Kongresse abhalten zum Beispiel. „Eventbude“ wäre der passende Kampfbegriff, auf den, wie bekannt, Claus Peymann das Copyright hat.

Düsseldorfer Misere

Immerhin würden Abriß oder Umwidmung des Theaters in der Stadt, in der einst Gustaf Gründgens wirkte, keinen Intendanten arbeitslos machen, denn Wilfried Schulz, der aus Dresden an den Rhein kam, ist Jahrgang 1952 und könnte wahrscheinlich mit geringen Abzügen vorzeitig in Rente gehen (bitterer Scherz!). Allerdings hatte er wohl andere Vorstellungen von Theaterarbeit, als er aus Dresden in den tiefen Westen wechselte, hatte Ideen, wie er in Düsseldorf die Karre aus dem Dreck ziehen würde, die dort seit dem Abgang Amélie Niermeyers 2011 und dem „Burnout“ ihres Nachfolgers Staffan Valdemar Holm steckt.

Ein tapferer Senior hatte zwischenzeitlich die Stellung gehalten: Günther Beelitz (75), der das Haus schon einmal von 1974 bis 1986 geleitet hatte. Doch nun? Nun befindet OB Thomas Geisel (und mit ihm fraglos etliche weitere kunstsinnige Lokalpolitiker), daß das Schauspiel im „Central“, der Ausweichspielstätte in Bahnhofsnähe, sehr gut aufgehoben sei.

Das Land schweigt

Irgendwie fragt man sich da schon, welche Vorstellung die Düsseldorfer Lokalpatrioten von Urbanität haben, von städtischem Leben und städtischer Kultur. In der Antwort, fürchte ich, wäre viel weißes Rauschen. Und eine zweite Frage drängt sich auf: Würden kulturlose Lokalpolitiker wie die in Düsseldorf auch so dreist auftreten, wenn sie es mit selbstbewußten, erfolgreichen Theaterleuten zu tun hätten statt mit personellen Notnägeln? Wilfried Schulz ist damit ausdrücklich nicht gemeint. Zwischen Niermeyers Abgang und Schulz‘ Dienstantritt sind fünf Jahre verstrichen, in denen das Düsseldorfer Schauspielhaus langsam aber sicher in den Bedeutungsverlust trieb.

Hat in diesem Zusammenhang übrigens jemand etwas von der Landesregierung gehört? Das Theater der Landeshauptstadt wird nämlich von Land NRW mitfinanziert, ist somit auch ein Staatstheater, und eigentlich müßte das Land ein vehementes Interesse an diesem kulturellen Aushängeschild haben. Hat es aber wohl nicht. Kulturelle Präferenzen dieser Landesregierung sind ja eh kaum auszumachen, und wenn doch, dann liegen sie eher im pädagogischen Bereich, dann hat man es in der Kunst lieber breit als hoch. Mit etwas Wehmut denkt man da an alte Zeiten, in denen ein Ministerpräsident Jürgen Rüttgers die Verdoppelung der Kulturausgaben verkündete und ein Kulturstaatssekretär mit Namen Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff in den Spielstätten des Landes fast allgegenwärtig war.

Den Namen der amtierenden Kultusministerin mußte ich googeln: Christina Kampmann heißt sie, Jahrgang 1980, seit 2015 im Amt und außer für Kultur auch für Familie, Kinder, Jugend und Sport zuständig. Ihre Vorgängerin (wieder gegoogelt) war Ute Schäfer, Jahrgang 1954, die jetzt ihren (Vor-) Ruhestand genießt. Beide keine politischen Schwergewichte. Ob von Frau Kampmann noch was kommt? (Detaillierte Bemerkungen über eine glanzlose Landesregierung, ihre skandalösen Kunst-Verkäufe und ihre Neigung zum Wegducken bei ungeliebten Themen spare ich mir an dieser Stelle.)

Intendantin und „Chef-Regisseur“

Falsche Personalentscheidungen standen am Anfang der Düsseldorfer Schauspielkrise, und nachher ist man immer klüger. Blicken wir nun auf die Ruhrtriennale, die ebenfalls zu einem wesentlichen Teil vom Land finanziert wird und alle drei Jahre einen neuen Intendanten bekommt. Offensichtlich wollte und will man hier in Fragen der Intendanz kein Risiko eingehen. Hier sollen es die alten Männer richten. Dem Niederländer Johan Simons (70) folgt 2018 Christoph Marthaler (Jahrgang 1951) nach, der dann also, wir rechnen mal kurz, 67 Jahre alt sein wird.

Doch halt, in Wirklichkeit ist es ja ganz anders! Intendant wird eine Intendantin, eine Frau im Amt war überfällig! Stefanie Carp, fünf Jahre jünger als Marthaler und, nebenbei bemerkt, Schwester des Oberhausener Theaterleiters Peter Carp. Schaut man sich ihren beruflichen Werdegang an, könnte man sie, und das ist nicht despektierlich gemeint, eine „ewige Dramaturgin“ nennen, war sie doch in Sonderheit für Christoph Marthaler viele Jahre lang das, was beispielsweise Hermann Beil für Claus Peymann ist. Auch hat sie wiederholt die Wiener Festwochen geleitet.

Nun ist sie also Intendantin der Ruhrtriennale; Marthaler ist ihr „Chef-Regisseur“, fraglos eine interessante Position, die man am Theaterbetrieb bisher kaum kannte. Da sich die beiden von der Berliner Volksbühne her gut kennen, mag das das Werk wohl gelingen. Besonders gespannt muß man auf das Musikprogramm dieses traditionell musikorientierten Festivals sein, bei so viel Sprechtheater-Kompetenz. Aber in Marthalers Inszenierungen wird ja meistens sehr schön gesungen.

Wo sind die Jungen?

Simons ist Holländer, Marthaler Schweizer, Frank Hoffmann, der Intendant der Ruhrfestspiele, ist Luxemburger, der designierte neue Chef im Dortmunder Kulturzentrum „U“, Edwin Jacobs, wiederum Holländer. Zum gelassenen Ruhrgebiets-Internationalismus paßt das durchaus. Doch stimmt es auch nachdenklich, daß große Teile des kulturellen Spitzenpersonals a.) im Land nicht zu finden waren und b.) selten unter 60 Jahre alt sind, oft deutlich älter.

Bitte nicht mißverstehen: Nichts spricht dagegen, Leitungspositionen in Theatern und Museen mit Ausländern zu besetzen, das ist weltweit gang und gäbe. Hartwig Fischer beispielsweise, der so gut mit Berthold Beitz konnte und durchaus seinen Anteil an der Verwirklichung des neuen Folkwang-Museums in Essen hat, leitet jetzt (als erster Ausländer) das British Museum in London. Zum British Museum gehört die Tate Gallery of Modern Art, deren Chef Chris Dercon wiederum Nachfolger Frank Castorfs als Intendant der Berliner Volksbühne wird, was indes von vielen als Skandalon empfunden wird… (Vielleicht kein so gutes Beispiel.).

Besorgniserregend aber ist, wenn wir auf NRW blicken, daß nirgendwo im ganzen großen Kulturbetrieb jemand zu entdecken ist, Mann oder Frau und idealerweise noch nicht kurz vor der Rente, den oder die man als kulturellen Hoffnungsträger bezeichnen könnte. Sicherlich kann niemand einen Künstler vom Range des verstorbenen Christoph Schlingensief aus dem Zylinder ziehen, auch kleinere Talente schon stimmten ermutigend. Doch wenn Anselm Weber, noch Intendant in Bochum, in der nächsten Spielzeit nach Frankfurt wechselt, räumt er seinen Platz für den, wie schon erwähnt, 70jährigen Johan Simons. Aufbruch sieht anders aus.

Vielleicht ist es ja so, daß kleinmütige Findungskommissionen es Mal um Mal vermieden haben, mit Jüngeren ein experimentelles Tänzchen zu wagen. Man hat ja nicht dabeigesessen. Das Resultät bleibt das gleiche, und die Parole lautet „Alte Säcke an die Macht“.

Dortmunder Spezialisten

Hat da jemand „Aber Dortmund!“ gerufen? Nun gut: Auch die Dortmunder haben Streß mit ihrer Theatersanierung. Wie bekannt spielt man im „Megastore“, einem Lagerhallenkomplex im Gewerbegebiet, die Sanierung des Schauspielhauses verzögert sich, wird überdies teurer als geplant. Aber wer hätte auch anderes erwartet? Die Tatkraft und die Kreativität, mit denen sich das Dortmunder Theater diese (Anti-) Spielstätte erobert hat, sind auf jeden Fall beeindruckend.

Hier können zukünftige Ruhrtriennale-Intendanten noch etwas lernen, wenn sie wieder eine alte Industriehalle bespielen sollen, die anscheinend für alles besser geeignet ist als für Theater. Doch muß man Zweifel haben, ob dieses sehr sportliche, sehr dem theatralischen Jugendbereich zugewandte und in diesem Sinne hochspezialisierte Dortmunder Theater wegweisend für die Entwicklung in der Region ist. Trotzdem bin ich jetzt schon sehr gespannt auf das, was Kay Voges und die Seinen demnächst im renovierten Schauspielhaus zustande bringen werden.




Schrilles Styling, graue Würste – „Kasimir und Karoline“ im Dortmunder Megastore

Ekkehard Freye Christoph Jšde Bettina Lieder

Schrilles Outfit, graue Würste (von links): Ekkehard Freye, Christoph Jšöde, Bettina Lieder (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Die Bühne groß, die Musik laut, das Licht grell und die Figuren so unwirklich bunt und künstlich, als seien sie einem Videospiel entsprungen. Gordon Kämmerer inszeniert im Megastore „Kasimir und Karoline“ von Ödön von Horváth – oder das, was er noch davon übrigläßt. Doch das ist gar nicht wenig, man lasse sich durch den furiosen Anfang nicht täuschen, in dem die brave Exposition, wer mit wem und warum und so weiter ersetzt worden ist durch wütend in Richtung Publikum geschleuderte Statements.

Diese Jugend, die älter aussieht als sie ist, ist hart, weil man hart sein muß in schweren Zeiten. Und der Rummelplatz ist das Vergnügen über dem Abgrund, ganz nahe am wirtschaftlichen Absturz in die Arbeitslosigkeit. Der große inszenatorische Aufschlag, den Kämmerer hier macht und den er eindreiviertel Stunden durchhält, ist also durchaus schlüssig, weil sich so die Aktualität des Stoffs einem jüngeren Publikum auf Augenhöhe unverkrampft vermittelt.

Julia Schubert Ekkehard Freye

Julia Schubert und Ekkehard Freye sind Karoline und Kasimir (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Damals im Opernhaus

Mit leichtem Grausen denkt man an die Düsseldorfer „Kasimir und Karoline“-Einrichtung Nurkan Erpulats, die 2013 bei den NRW-Theatertagen in Dortmund zu sehen war, übrigens wegen umfänglicher Kulisse und Drehbühnenerfordernis im Opernhaus. Ein ziemlich unerquickliches Moraltheater war das damals, das darin gipfelte, daß die Darsteller durch die Zuschauerreihen gingen und Menschen im Publikum provozierende Fragen stellten, die sich, so jedenfalls meine Erinnerung (aber was auch sonst?) um Recht und Gerechtigkeit in der Welt drehten.

Um wie vieles angenehmer ist da Kämmerers Ansatz, bei dem die trübe Moral von der Geschicht’ doch fraglos auch rüberkommt. Es wundert einen sowieso, wie wenig Denkfähigkeit viele Regisseure ihrem Publikum zutrauen, um dann finale Botschaften mit dem Bühnenholzhammer herauszuhauen. Hier gilt dies – wie gesagt – ausdrücklich nicht. Aber ich schweife ab.

Ekkehard Freye BŸhnentechniker Fanfaren-Corps 1974 Dortmund-Wickede

Ekkehard Freye – er hat wohl wirklich was am Fuß und geht an Krücken -, BüŸhnentechniker (links), Mitglieder des Fanfaren-Corps 1974 Dortmund-Wickede und das aufblasbare Festzelt (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Groteske Figuren

Figuren also in Plastik-Outfits und mit grotesken Frisuren, die dem Theater-Kosmos eines Robert Wilson entstammen könnten (Kostüme: Josa Marx), zeigen uns die Geschichte vom arbeitslosen Chauffeur Kasimir (Ekkehard Freye) und seiner Freundin Karoline (Julia Schubert), deren zarte Beziehung den drohenden wirtschaftlichen Absturz nicht überleben wird; vom Zuschneider Schürzinger (Frank Genser), der seinem ehemaligen Chef Karoline als „leichtes Mädchen“ zuführt, um seinen Job wiederzubekommen; vom gewalttätigen Kleinkriminellen Merkl Franz (Christoph Jöde), der bei einem Einbruch geschnappt wird und von „Dem Merkl Franz seine Erna“ (Bettina Lieder), die illusionslos feststellt, daß diese Verhaftung das Ende ihrer Beziehung darstellt. Denn als Wiederholungstäter bekommt der Franz bestimmt fünf Jahre, eine Ewigkeit.

Carlos Lobo Christoph Jšde Julia Schubert Frank Genser

Spaßgesellschaft (von links): Carlos Lobo, Christoph Jöšde, Julia Schubert und Frank Genser (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Extrem sportlich

Die fünf jungen Leute spielen extrem sportlich, tanzen, vergnügen sich im Planschbecken, sind überhaupt fast immer in Bewegung. Spaßige Elektro-Carts, mit denen sie auf der sparsam möblierten Bühne (Jana Wassong) ihre Achterbahnfahrt vorspielen (wo gibt es die eigentlich zu kaufen?), sorgen außerdem für putzige Bewegung.

Einzige größere Ausstattungsstücke sind eine Art Festzelt, das auf aufgeblasenen Beinen steht und, was man erwarten konnte, irgendwann in sich zusammenfällt, sowie etliche gleichermaßen aufgeblasene graue Riesenwürste, die im Laufe der Handlung als Spielobjekte, Liebesbetten, Verstecke und so weiter herhalten müssen und überdies natürlich an sich schon eine Art Rummelplatzsymbol sind, was in diesem Stück dann sozusagen die Würstchenbude ersetzt.

Ebenso dick aufgeblasen wie die Würste treten der Kommerzienrat Rauch (Carlos Lobo) und der Landgerichtsdirektor Speer (Max Thommes) auf, Charakterlumpen alle beide, aber durch Amt und Reichtum vor den schlechten Zeiten gut geschützt. Vielleicht sind sie ein wenig zu einseitig als Slapstick-Typen in Slapstick-Nummern abgebildet, doch haftet typischen Vertretern des Establishments ja wirklich oft etwas Groteskes an, das ist nicht zuletzt eine Frage der Perspektive.

Gute Klänge

Max Thommes zeichnet übrigens auch verantwortlich für „Komposition und Live-Musik“, und man muß sagen, daß die Verbindung von Theater, Sound und Musik recht gut gelungen ist. Wenn beispielsweise Bettina Lieder – einer der Höhepunkte des Abends – ihren wütenden Monolog über die „Wiesenbraut“ hält, dann grollt darunter ein elektronisches, waberndes Crescendo, das, wie man heute gern und meistens gedankenlos sagt, Gänsehaut erzeugt.

Bettina Lieder Frank Genser Julia Schubert Christoph Jšde Max Thommes

Es geht um die Wurst, wie man vielleicht sagen könnte. Von links: Bettina Lieder, Frank Genser, Julia Schubert, Christoph Jšöde, Max Thommes (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Nicht unerwähnt bleiben darf natürlich das Fanfaren-Corps 1974 Dortmund-Wickede, das seinen vergnüglichen Rummelplatzauftritt hat und mit Tschingderassabum auf die Bühne marschiert. Sie dürfen sogar ein bißchen mitspielen, jedenfalls einige von ihnen. Der Auftritt des Corps wurde mit Fingerspitzengefühl implementiert, er ist heiter und stimmig, ohne peinlich zu sein (was schnell passieren kann). Und vielleicht hat das Dortmunder Theater zukünftig noch mehr Besucher aus Wickede, wäre doch schön.

Ehrgeiz entwickeln

Übrigens, kleine Randbemerkung, scheinen nicht nur Hausherr Kay Voges, sondern eben auch Regisseure wie Gordon Kämmerer immer besser mit der Raumsituation des Megastore zurechtzukommen und Ehrgeiz zu entwickeln, etwas Besonderes daraus zu machen. Nachher wollen die da gar nicht mehr weg!

Gewiß hat der sehr laute, plakative Zugriff auf den Stoff einige Schwächen dort, wo für Gespräche und Vertrautheiten Kammerspielton vorgesehen ist. Doch sei’s drum; der stringente, zupackende Stil dieser Inszenierung sorgt auch an einstmals leisen Stellen für das nötige Verständnis. Schrill und respektvoll ist dieser Horváth geraten. So etwas läßt sich nicht oft über Theaterproduktionen sagen.

  • Termine, 1., 15., 26. Oktober, 3., 11., 18. November, 26. Dezember 2016
  • Januar, 26. Februar, 5. Mai 2017
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Mit einem Fest im „Megastore“ startet das Dortmunder Theater in die neue Spielzeit

Sie geht zu Ende, die theaterlose Zeit. In den Häusern regt sich wieder künstlerisches Leben. Überall kündigen sich die Spielzeiteröffnungsfeste an, mit denen die Schauspielhäuser sich und ihr buntes Schaffen in Erinnerung bringen wollen. Dortmund ist ziemlich weit vorne mit dabei, jedenfalls kalendarisch. Am Samstag, 3. September, wird das Fest gefeiert, rund um den „Megastore“, die Ausweichspielstätte an der Nortkirchenstraße.

Julia Schubert Frank Genser

„Die Show“ hat Chancen auf einen Publikumspreis und ist weiter im Programm. Szene mit Julia Schubert und Frank Genser. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Das Grillo-Theater Essen, zum Vergleich, feiert am 10. September, das Bochumer Schauspielhaus am 22. September.

Gutes Wetter

Das gute Wetter, alter Veranstalterscherz, ist bestellt und war ziemlich teuer. Start des „Kulturprogramms“, wenn man in Unterscheidung zu einigen anderen Belustigungen einmal so sagen darf, ist um 16.15 Uhr mit der Vorführung des Films „Das verlorene Paradies“, später folgen öffentliche Proben zu „La Révolution“ und „Kasimir und Karoline“. Die Ensemblemitglieder Bettina Lieder und Carlos Lobo werden Märchen vorlesen, und selbstverständlich wird der Spielplan für 2016/2017 vorgestellt.

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Ebenfalls beliebt bei den Zuschauern, ebenfalls unter den Wiederaufnahmen: „Die Borderline Prozession“. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Achtung, sagt Frau Homayoun von der Pressestelle: Für Veranstaltungen, die im Saal stattfinden, muß man sich vorher Eintrittkarten am Infostand abholen. Die kosten zwar nichts, sind aber limitiert, wg. begrenzter Raumkapazitäten. Und ungefragt will ich gerne noch hinzufügen, daß Leuten, die kostenlose Eintrittskarten zusammenraffen, ohne nachher in die Veranstaltungen zu gehen, ausgesprochen unsympathische Zeitgenossen sind, ja, schlechte Menschen geradezu! Aber dies nur am Rande.

Dortmunder Sprechchor

Dritte Nominierung, ebenfalls weiter im Spielplan: „Das Bildnis des Dorian Gray“ mit dem beliebten Dortmunder Sprechchor. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Drei Bands Open Air

Zweiter Schwerpunkt im Kulturellen sind die Open-Air-Auftritte von drei Bands. Thomas Truax, den Chefdramaturg Michael Eickhoff als „Anti-Folk-Musiker“ bezeichnet, was in der kleinen Presserunde zunächst aber keiner versteht, eröffnet das musikalische Geschehen um 17 Uhr. Für seine eigenen Songs baut sich dieser Musiker die Instrumente selber, die Namen wie „Hornicator“, „Mother Superior“ oder Sister Spinster“ tragen. Ihm folgt um 19 Uhr Hausmusikus von Finckenstein, der in der Ankündigung allerdings bescheiden als „Tommy Finke & Band“ firmiert. Bekanntlich switcht er gerne einmal zwischen lockerer Form und Adelstitel.

Schluß- wie Höhepunkt ist dann ab 21 Uhr Käptn Peng, hinter dem sich Robert Gwisdek verbirgt, welcher der Sohn der doch recht prominenten Schauspieler Michael Gwisdek und Corinna Harfouch ist. Er macht, wie zu hören ist, ganz besonders intelligenten HipHop, hat eine Begleitband dabei und präsentiert überdies noch einen Überraschungsgast.

Bettina Lieder

Bettina Lieder (hier in der Rolle der Kassandra) liest beim Spielzeiteröffnungsfest Märchen vor (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Schnippeldisco

Womit das Kulturelle im Groben abzuhaken wäre. Wenngleich natürlich auch Essen und Trinken kulturelle Taten sind. Oder doch sein könnten. Am Megastore jedenfalls wird am 3. September kulinarische Ambition spürbar, wenn das „Dortmunder Food-Festival Delinale“ ab 16 Uhr zur Schnippeldisco lädt. Geboten wird die Mitgliedschaft in der Eintopf-Community, mitzubringen sind Gemüse von zu Hause (gerne auch „einsames“ Gemüse, das einfach keine Freunde findet und häufig einen stillen, langsamen Tod in der Null-Grad-Zone des Kühlschranks stirbt), Hümmelchen (vulgo: kleines Küchenmesser), Brettchen und Suppenteller.

Zwei große, große Eintöpfe, die Rede ist von fast einem Meter Durchmesser, warten auf Füllung, ein Profikoch wird die Kelle schwingen. Beim Gemüsekleinschneiden kann man gut den Bands lauschen oder dem, was DJ FloMrzdk auflegt. Außerdem und unter anderem sind noch Kettcar-Parcours und Basketballkorb im Kinderprogramm. Und Schminken, unter Beteiligung der Maskenbildnerinnen des Theaters.

Carlos Lobo  Frank Genser Bettina Lieder Merle Wasmuth

Auch Carlos Lobo liest Märchen vor. Hier ist er in „Geächtet“ zu sehen. In Wirklichkeit sieht er entschieden sympathischer aus. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Preise für die Besten

Publikumspreise werden um 20 Uhr verliehen. Kandidaten sind die Stücke „Die Show“, „Die Borderline Prozession“ und „Das Bildnis des Dorian Gray“. Nominierte der Schauspieler(innen): Dortmunder Sprechchor, Julia Schubert und Merle Wasmuth. Wer in den Abteilungen „Schauspieler/in des Jahres“, „Inszenierung des Jahres“ und „Kritikerpreis“ die mit jeweils 500 Euro dotierten Auszeichnungen einer Kritikerjury erhält, soll erst am Abend bekanntgegeben werden. Der Sonderpreisträger allerdings steht schon fest: Die Theaterpartisanen für ihre Inszenierung „Watch me!“ auf der Studiobühne.

Ja, das alles ist geplant für den 3. September rund um den Megastore. Eickhoff rechnet mit insgesamt rund 2000 Gästen im Tagesverlauf und Besucherspitzen von 500 bis 600 Personen. Wer alles mitbekommen will, sollte beizeiten kommen.

Theater bleibt im Megastore

Es ist dies die erste Spielzeitparty in der Ausweichspielstätte; ob es auch die letzte sein wird, ist aber gar nicht mehr so sicher, denn die Modernisierung des Schauspielhauses und der dazugehörigen Werkstätten in der Innenstadt verzögert sich. Eine Rückkehr im Lauf der Saison 2016/2017, die vor Beginn der Bauarbeiten einmal angeträumt war, erscheint unwahrscheinlich. Die Dramaturgie richtet sich darauf ein, alle geplanten Produktionen werden hier, im Gewerbegebiet mit Hochofenblick, herausgebracht – ohne Drehbühne, Ober- und Untermaschinerie, dafür mit Lagerhallenakustik. Und selbst hier könnte das Theater nicht ewig bleiben (will es ja auch gar nicht), denn die Expansionspläne des Heizungspumpenherstellers Wilo in allernächster Nachbarschaft reichen weit. Nüchtern betrachtet hat man noch nicht mal einen gültigen Mietvertrag für die ganze kommende Spielzeit.

Aber wir wollen nicht unken. Sondern lieber feiern. Glück auf!

  • Einige Termine im Tagesverlauf – ohne Gewähr der Vollständigkeit und der Richtigkeit:
  • Drinnen
  • 16.15 Uhr Film „Das verlorene Paradies“
  • 18.00 Uhr Öffentliche Probe „La Révolution“
  • 18.20 Uhr Öffentliche Probe „“Kasimir und Karoline“
  • 17.00 Uhr Märchen-Lesungen
  • Noch ohne Zeitangabe: Spielplanvorstellung
  • Draußen
  • Ab 16.00 Uhr Schnippel-Disco, Hüpfburg, Kinder-Schminken, Basketball, Kettcar-Parcours
  • Musik
  • 17.00 Uhr Open Air-Bühne Thomas Truax
  • 19.00 Uhr Open Air-Bühne Tommy Finke & Band
  • 21.00 Uhr Open Air-Bühne Käptn Peng und Überraschungsgast

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Vieles von allem: Das Theater Dortmund präsentiert sein Programm für 2016/2017

Schauspielhaus Dortmund

Hier wird derzeit renoviert – und alle hoffen, daß es pünktlich sein Ende hat: Das Theater Dortmund (Foto: Laura Sander/Theater Dortmund)

Die längste Theaterveranstaltung in der kommenden Spielzeit ist ein „54 Stunden Night Club“ im Megastore. Beginnend Freitag, 21. Oktober, und endend am Sonntag, 23. Oktober, will das Dortmunder Schauspiel – hoffentlich! hoffentlich! – Abschied nehmen von seiner provisorischen Spielstätte im Gewerbegebiet an der Nortkirchenstraße.

Das setzt natürlich voraus, daß dann die Renovierungsarbeiten im Großen Haus beendet sind. Dort, im Großen Haus, soll sich erstmalig wieder am 10. Dezember der Vorhang für Bert Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ heben, Regie führt der 1967 geborene Sascha Hawemann, von dem in Dortmund bereits als Regiearbeit das Familiendrama „Eine Familie (August: Osage County)“ zu sehen war.

Fünf Sparten machen Betrieb

Das Theater Dortmund, mit seinen fünf Sparten Ballett, Philharmoniker, Oper, Schauspiel und Kinder- und Jugendtheater doch ein recht machtvoller Kulturbetrieb, hat seine Pläne für 2016/2017 vorgestellt. Ein aufwendig gestaltetes Spielzeitheft (eigentlich eher ein Buch) faßt all die Pläne und Termine faktenreich zusammen, und Bettina Pesch, die Geschäftsführende Direktorin, weist nicht ohne Stolz darauf hin, daß dieses Buch den Etat nicht belastet hat, sondern ausschließlich aus Mitteln von Kulturstiftern bezahlt werden konnte. Das ändert allerdings, kleiner Schmäh am Rande, nichts daran, daß der optische Auftritt des Theaters Dortmund, seine, wie man heute gern sagt, „Corporate Identity“, dringend einer Auffrischung, besser noch einer ziemlich grundlegende Modernisierung bedarf.

Der optische Auftritt ist reichlich angestaubt

Die Grundfarbe Orange war in den 80er Jahren modern (zusammen mit Braun und Olivgrün, in wild wogenden Tapetenmustern), erbaut heutzutage aber bestenfalls noch patriotisch gestimmte Holländer; die fette Schrift von Typ Helvetica sowie die vor allem im Konzertbereich immer noch gepflegte Kleinschreibung von Hauptwörtern sind Moden der 60er Jahre, die andernorts längst überwunden wurden und keine Nostalgiegefühle hervorrufen. Für ein fortschrittliches Haus ist dieser Auftritt schlicht kontraproduktiv.

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Im Schauspielhaus. (Foto: Sascha Rutzen/Theater Dortmund)

Revolutionär und globalisierungskritisch

Wenden wir unseren Blick nun auf das Schauspiel, das sich, je nach dem, mal revolutionär, mal doch zumindest globalisierungskritisch gibt. Revolutionär startet es in die Spielzeit, wenn man den Stücktitel wörtlich nimmt. Doch auch wenn Joël Pommerats „La Révolution #1 – Wir schaffen das schon“ mit der französischen Revolution mehr zu tun hat als vor einigen Jahren sein Erfolgsstück „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ mit Korea, bleibt noch Platz für Menschliches, Privates, was diesen Abend in der Regie von Ed Hauswirth hoffentlich vor der Tristesse des freudlosen Historiendramas bewahren wird. Um die französische Revolution geht es aber wirklich: „Schloß Versailles, 1787. König Louis XVI hat die wichtigsten Adeligen seines Landes zusammengerufen…“ beginnt der Ankündigungstext. Also schau’n wir mal – auch, was die Ereignisse von einst den Heutigen noch sagen können. Übrigens ist auch „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ im Programm, Premiere am 8. April 2017 im Schauspielhaus, Regie Paolo Magelli.

Der lange Schatten Michael Gruners

An Horváth, sagt Schauspielchef Kay Voges, habe man sich in seiner Intendanz für Jahre nicht herangewagt, weil die Horváth-Kompetenz seines Vorgängers Michael Gruner so übermächtig gewesen wäre. Oder zumindest diesen Ruf hatte. Nun aber gibt es doch einen: „Kasimir und Karoline“, ab 18. September im Megastore und in der Regie von Gordon Kämmerer.

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Markant: Das Opernhaus (Foto: Philip Lethen/Theater Dortmund)

Zu Gast bei den Ruhrfestspielen

„Die Simulanten“, die Philippe Heule erstmalig ab dem 23. September im Megstore auftreten läßt, können vorher schon bei den Ruhrfestspielen besichtigt werden, nämlich am 7., 8. und 9. Juni. Nach gefühlten 150 Jahren gibt es tatsächlich eine Kooperation von Recklinghausens Grünem Hügel und dem Theater Dortmund, was trotz der räumlichen Nähe doch eine Win-Win-Situation zu sein scheint. Die Dortmunder können sich einem anderen Publikum präsentieren, das Festival sichert sich eine Produktion von größter Aktualität. Denn Philippe Heudes Simulanten sind mit ihren Fernbeziehungsneurosen, ihrer Therapiegläubigkeit und ihrer Angst vor dem Konkreten wohl recht typisch für die Jetztzeit. Auch ihr Unbehagen in der Welt ist es, also am besten schnell einen UN-Weltklimagipfel abhalten. Nur als Simulation natürlich.

Rimini Protokoll kurvt durch das Ruhrgebiet

Was haben wir noch? Das Künstlerkollektiv Rimini Protokoll verlegt seine Truck Track Ruhr Nummer 4 ins Dortmunder Stadtgebiet („Album Dortmund“) und tüftelt zusammen mit Dortmunder Theaterleuten aus, wo genau es langgehen soll. Übrigens begegnet man den Truck Tracks Ruhr auch bei den Ruhrfestspielen und bei der Ruhrtriennale, sie kommen halt viel rum und sind, wie man sieht, überaus kontaktfreudig. Was dort konkret passiert? Den Beschreibungen nach – ich war noch nicht dabei – werden maximal 49 Zuschauer auf einem überdachten Lkw zu markanten Punkten gefahren, die sie mit Musik und künstlerischer Intervention intensiv erleben. Gute Reise!

Häßliche Internationalisierung

Interessant in des Wortes höchst ursprünglicher & positiver Bedeutung klingt, was uns in „Die schwarze Flotte“ erwartet. Dieser „große Monolog“ (Voges) „von Mike Daisey nach einer Recherche von Correct!v“ blickt sozusagen in die Abgründe der internationalen Seeschiffahrt, die mit beängstigendem Gleichmut Rohstoffe, Öl und Handelswaren, Waffen, Drogen, Flüchtlinge und Arbeitsmigranten über den Globus transportiert. Zu wessen Nutzen? Das Stück verspricht Antworten, Regie führt Hausherr Kay Voges.

Von Franz Xaver Kroetz gibt es „Furcht und Hoffnung in Deutschland: Ich bin das Volk“, entstanden in den 80er und 90er Jahren (Regie: Wiebke Rüter), von Kay Voges einen Film zum Flüchtlingselend dieser Welt und Europas Abwehrhaltung dazu („Furcht und Ekel in Europa“, Premiere im Dezember 2016).

Wolfgang Wendland Ekkehard Freye Julia Schubert

Manchmal kommen sie wieder: „Die Kassierer“ mit ihrem Frontmann Wolfgang Wendland, hier noch bei „Häuptling Abendwind“ zu sehen, sind demnächst „Die Drei von der Punkstelle“ (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

„Die Kassierer“ kommen wieder

Bevor die Punk-Greise „Die Kassierer“ (wieder im Unten-ohne-Look?) mit der Punkoperette „Die Drei von der Punkstelle“ der Spielzeit 2016/2017 ihren krönend-krachenden Abschluß verleihen werden, wartet das Programm noch mit einer besonderen „Faust“-Adaption auf („Faust At The Crossroads“, Regie Kay Voges), einem neuen Stück der Theaterpartisanen („Übt das Unerwartete“), einem Stück über die islamistische Radikalisierung junger Männer („Flammende Köpfe“ von Arne Vogelsang) und einem „Live-Animationsfilm von sputnic nach dem gleichnamigen Roman von Paul Auster“: „Mr. Vertigo“. Und was der Hausherr in der Oper veranstaltet, wird ein paar Absätze später erzählt.

Internetreinigung

Zuvor jedoch einige Worte über „Nach Manila – Ein Passionsspiel nach Ermittlungen auf den Philippinen von Laokoon“. Hier bekommt Globalisierungskritik ein Gesicht, genauer ihrer viele, Millionen, täglich. Es geht um die 350 Millionen Fotos, die täglich auf Facebook hochgeladen werden, die 80 Millionen auf Instagram, die 400.000 täglichen Videostunden bei Youtube. Auf den Philippinen ist es der Job vieler vorwiegend junge Menschen, diese Material auf unzumutbare Pornographie, Brutalität, Grausamkeit und so fort zu sichten und alles zu löschen, was der Kundschaft im reichen Norden des Planeten nicht zuzumuten ist.

Warum Philippinos? Weil sie, so wird behauptet, überwiegend katholisch sind und nordwestliche Moralvorstellungen sich weitgehend mit den ihren decken. Vielleicht aber auch nur, weil ihre Arbeit spottbillig ist. Jedenfalls interessiert es die weltweit agierenden Internetkonzerne nicht sonderlich, wie die Menschen in derart belastenden Jobs zurechtkommen. Schlecht, behauptet das Stück in der Regie von Moritz Riesewieck. Ich bin gespannt.

Kay Voges inszeniert Wilson-Oper

Ein kurzer Blick nun auf das Programm der Oper, wo wiederum Schauspielchef Kay Voges gesichtet wird. Er führt Regie in „Einstein on the Beach“ von Robert Wilson und dem weltberühmten Musikminimalisten Philip Glass. Es ist die erste Bühnenfassung, die nicht Großmeister Wilson selbst gestaltet. „Nein“, bestätigt Opernintendant Jens-Daniel Herzog, es gibt keine Inszenierungsvorschriften, keine Auflagen, das Stück à la Robert Wilson auf die Bühne zu stellen. Florian Helgath hat die musikalische Leitung, das Chorwerk Ruhr wirkt mit und man hat den Eindruck, daß dies ein schöner Abend werden kann (erstmalig am 23. April 2017).

Der Opernball fällt aus, dafür gibt es am 9. Januar eine konzertante „Fledermaus“. Nicht fehlt „Die Zauberflöte“, nicht „Otello“ doch sind auch Andrew Lloyd Webber und Paul Abraham zugegen, mit dem Musical „Sunset Boulevard“ der eine, mit der Jazz-Operette „Die Blume von Hawaii“ der andere. Und jetzt höre ich auf, Opern-Facts zu reihen und gebe der Hoffnung Ausdruck, daß mein geschätzter Kollege S. sich dieser Aufgabe hingebungsvoll hingibt.

Lüner Solistin Mirijam Contzen im philharmonischen Konzert

Gleiches gilt für die Konzertreihen, an denen stark beeindruckt, daß sie alle schon bei der ersten Präsentation des Programms bis zur Zugabe (Scherz!) durchgeplant sind. Träume und Phantasien, so Generalmusikdirektor Gabriel Feltz, seien so etwas wie das Leitmotiv der kommenden Saison, die seine vierte in Dortmund sein wird. Übrigens wird beim 8. Konzert am 9.und 10. Mai 2017 die Geigerin Mirijam Contzen zu hören sein, die in Lünen aufwuchs und seit etlichen Jahren das Musikfestival auf Schloß Cappenberg leitet (das in diesem Jahr wegen Renovierung des Schlosses ausfällt). Mittlerweile zählt sie zu den Großen der internationalen Solistenszene. In Dortmund wird sie in Tschaikowskys Violinkonzert D-Dur op. 35 zu hören sein.

Open Air auf dem Friedensplatz

Und endlich gibt es Open Air Klassik auf dem Dortmunder Friedensplatz! Der Cityring macht’s möglich (und verkauft die Eintrittskarten). Am Freitag, 26. August, startet die vierteilige Reihe mit einer Sommernacht der Oper, mit La Traviata und Zigeunerchor (heißt nun mal so). Am darauffolgenden Samstag ist unter dem Titel „Groove Symphony“ „ein perfekter Mix aus Soul, Elektro, Klassik und Hip Hop“ zu hören, die Gruppe Moonbootica und Philharmoniker spielen gemeinsam auf.

Sonntag ist dann um 11 Uhr Familienkonzert unter dem Titel „Orchesterolympiade“ Musiker im Trainingsanzug treten an zum Höher, Schneller, Weiter der Instrumente, und am Pult steht Gabriel Feltz höchstselbst. Na, das wird was werden. Abends dann schließlich die Musicalgala „A Night full of Stars“. Es dirigiert Philipp Armbruster, es singen Alexander Klaws, Patricia Meeden und Morgan Moody.

NRW Theatertreffen Juni 2014

Schauspielhaus (Foto: Laura Sander/Theater Dortmund)

Schwanensee ist wieder da

Und jetzt gucken wir noch kurz, was Ballettdirektor Xin Peng Wang anzubieten hat. Bei seinen Premieren gibt es einen „Faust II – Erlösung“, und bei den Wiederaufnahmen „Faust I – Gewissen!“. „Schwanensee“ kommt wieder, und von besonderer Delikatesse ist sicherlich die Präsentation dreier Choreographien von Johan Inger, Richard Siegal und Edward Clug unter dem Titel „Kontraste“. An zwei Wochenenden (24./25.9.2016, 24./25.6.2017) spenden die Ballettgalas XXIV und XXV (also 24 und 25) Glanz. Und wie immer gilt besonders für das Ballett der Rat: Man mühe rechtzeitig sich um Karten, denn allzu schnell sind sie vergriffen.

Weihnachten wird es eng im Kinder- und Jugendtheater

Zu guter Letzt das Kinder- und Jugendtheater (KJT), das sich tapfer und mit Erfolg bemüht, alle Kinder zu erreichen, auch die benachteiligten, und dessen Produktionen sich immer auch um Solidarität, Fairneß und Gerechtigkeit drehen. In „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ von Andreas Steinhöfel gehen „ein Hoch- und ein Tiefbegabter“ (KJT-Chef Andreas Gruhn) auf erfolgreiche Verbrecherjagd, ein bißchen so wie weiland Kästners „Emil und die Detektive“. Jörg Menke-Peitzmeyers „Strafraumszenen“ drehen sich um Fußball und Rassismus, es gibt ein Flüchtlingsprojekt („Say it loud II – Stories from the brave new world“) und im Sckelly etwas für Kinder ab 4 Jahren („Dreier steht Kopf“ von Carsten Brandau).

Das Weihnachtsstück heißt „Der falsche Prinz“, Andreas Gruhn schrieb es nach der Vorlage von Wilhelm Hauff. Uraufführung ist am 11. November, und dann wird gespielt und gespielt und gespielt. Leider aber nicht im Großen Haus, denn das wird ja renoviert. An der Sckellstraße aber sind die Plätze knapp, nur zwei Drittel der sonstigen Menge stehen zur Verfügung.

Auslastung lag bei 73,1 Prozent

Viel Theater. Viel Oper, viel Ballett und viel Konzert. Und in Essen, Bochum, Gelsenkirchen, Hagen, um nur die nächstliegenden städtischen Bühnen der Umgebung zu nennen, gibt es auch attraktive Angebote. Da muß man sich strecken, wenn man mithalten will. 73,1 Prozent durchschnittliche Auslastung aller Veranstaltungen hat Bettina Pesch ausgerechnet, Gabriel Feltz hält eine Zielmarke von 80 Prozent für realistisch. Und dann wäre statistisch gesehen ja immer noch Luft nach oben. Jedenfalls lasten im Moment keine lähmenden Sparzwänge auf dem Dortmunder Theater. Und das ist auch gut so.

Wer jetzt noch mehr wissen möchte, sei auf die Internetseite des Dortmunder Theaters verwiesen: www.theaterdo.de

Die neuen Programmbücher, in denen alles steht, liegen an der Theaterkasse im Opernhaus aus und können kostenlos mitgenommen werden.

 




Penner, Huren, Säufer: Dortmund zeigt mit „Peter Grimes“ erstmals eine Britten-Oper

Am Boden: Peter Grimes (Peter Marsh), Sonderling und Raubein, wird Opfer eines Hetzmobs (Foto: Thomas M. Jauk / Stage Picture)

Schuldig oder unschuldig? In Dortmund ist das Urteil über den Fischer Peter Grimes (Peter Marsh) rasch gesprochen (Foto: Thomas M. Jauk / Stage Picture)

Grandiose Stimmungsbilder vom Meer, eng mit der abgründigen und unbeständigen Psyche eines Außenseiters verzahnt, machen den Erfolg der Oper „Peter Grimes“ von Benjamin Britten aus. Der Titelheld, ein armer Fischer, ist ein Visionär, der von einem besseren Leben träumt, seine raubeinige, zu Gewalt neigende Natur indes nicht unter Kontrolle hat.

Ob er den Tod seines Lehrjungen auf dem Gewissen hat oder nicht, ist nicht nur für die Bewohnter des englischen Fischerdorfes „The Borough“ rasch beantwortet. Auch Regisseur Tilman Knabe, der die Oper jetzt in Dortmund neu in Szene setzt, lässt uns nicht lange im Ungewissen. Wo Britten nur vornehm andeutet, dass homoerotische, womöglich sogar pädophile Neigungen mit im Spiel sind, langt Knabe kräftig hin: Für ihn ist Grimes schlicht ein Kranker, der von seinem Trieb nach Jungs zerrissen wird. Aus Brittens gequältem Idealisten, der zwischen euphorischem Wahn und manischer Depression schwankt, wird ein Sexualstraftäter.

Das klingt nicht nur trostlos, sondern es sieht auch so aus. Im Einheitsbühnenbild von Annika Haller prallt der Blick auf eine Hafenmauer aus Beton, die eben jenen Seeblick verwehrt, den ein schäbiger Kiosk namens „Ocean View“ verspricht. Zwischen Bierkisten, Maschendrahtzaun und einer Spelunke führt Tilman Knabe uns die Dorfeinwohner als Lumpenproletariat vor. Säufer, Penner und Huren bestimmen die Szene: Man fragt sich ernsthaft, warum der Außenseiter Grimes so gerne Teil dieser Gesellschaft sein möchte.

Kein Seeblick, kein Trost: Kapitän Balstrode (Sangkin Lee) und Ellen Orford (Emily Newton) können nicht verhindern, dass die Dorfgemeinschaft zur Hatz auf Peter Grimes bläst (Foto: Thomas M. Jauk / Stage Picture)

Kein Seeblick, kein Trost: Kapitän Balstrode (Sangmin Lee) und Ellen Orford (Emily Newton) können nicht verhindern, dass die Dorfgemeinschaft sich zur Menschenjagd formiert (Foto: Thomas M. Jauk / Stage Picture)

Durch die Überzeichnung macht die Regie es sich selbst schwer, einzelne Charaktere differenzierter zu beleuchten. Der eifernde Methodist Bob Boles fuchtelt mit dem anklagenden Zeigefinger herum, bis er zur Karikatur wird. Kapitän Balstrode tritt als gutmütiger Rocker in schwarzer Lederkluft auf, gewinnt trotz des sonoren Baritons von Sangmin Lee aber kaum Kontur. Geistige Brandstifter wie die tablettensüchtige Mrs Sedley und der Richter Swallow, die sich als Biedermeier tarnen, wirken wie komische Randfiguren. Wie gefährlich diese Typen werden, wenn sie sich zur Hetzmasse vereinen, zeigt immerhin eine starke Szene im zweiten Akt. Freilich hätte sich die Lust an der Menschenjagd auch ohne öde Rammeleien im Bühnenhintergrund vermittelt.

Die Lehrerin Ellen Orford (Emily Newton) ist Grimes ganze Hoffnung auf ein besseres Leben (Foto: Thomas M. Jack / Stage Picture)

Die Lehrerin Ellen Orford (Emily Newton) ist Grimes ganze Hoffnung auf ein besseres Leben (Foto: Thomas M. Jauk / Stage Picture)

Konzentrieren wir uns lieber auf die Hauptfiguren, die sängerisch und darstellerisch durchaus für sich einnehmen. Als Gast von der Oper Frankfurt gibt der Amerikaner Peter Marsh dem unglücklichen Titelhelden fragile Höhen und abrupte Stimmungsumschwünge mit. Sein Tenor kann wie in Trance auf Piano-Noten verweilen, aber auch ruppig und grob werden. Dass seine Stimme nicht immer bruchfrei klingt, ist für diese Partie kein Makel. Als Lehrerin Ellen Orford steht ihm die Sopranistin Emily Newton überzeugend zur Seite. Sie ist eine vom Leben gezeichnete Frau, die Grimes’ Träume von einem besseren Leben teilt. Emily Newton gibt ihr helle Töne der Hoffnung, aber auch verhärmte Klänge sowie Tiefen, aus denen Furcht herauf schaudert.

Die Musik macht am Premierenabend leider nicht wett, was Bühne und Regie uns an Zauber vorenthalten. Selten hat Brittens vielschichtige, farbenreiche und psychologisch dichte Partitur so wenig Atmosphäre entfaltet. Die von Manuel Pujol einstudierten Chöre des Theaters und die Dortmunder Philharmoniker agieren unter der Leitung von Gabriel Feltz oft stark aneinander vorbei, wodurch Strukturen unkenntlich werden.

Wo Brittens Musik uns die Gewalt der Elemente fühlen lässt, wo sie uns zum Träumen bringt und unseren Blick auf das Unendliche richtet, erleben wir in Dortmund bestenfalls einen Sturm im Wasserglas. Trocken werden die Noten der Partitur herunter gespult, ohne ihnen Sinn und Seele zu geben.

Diese erste Aufführung einer Britten-Oper in Dortmund überhaupt – von einem Gastspiel abgesehen –, sie hätte ein Plädoyer für mehr sein können, ja zwingend sein müssen. Die Chance wurde schmerzlich vertan.

(Der Bericht ist zuerst im „Westfälischen Anzeiger“ erschienen. Termine und Informationen: https://www.theaterdo.de/detail/event/16177/)




Islam im Blut – Theater Dortmund zeigt „Geächtet“ von Ayad Akhtar im Megastore

Amir (Carlos Lobo), Emily (Bettina Lieder) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Auf den ersten Blick eint sie die Eigenschaftslosigkeit. Amir, Emily, Isaac und Jory sind in der Dortmunder Inszenierung von Kay Voges farblos-weiße Gestalten mit roten Albino-Augen (Kontaktlinsen), frei von störenden Eigenschaften (des Blutes?) oder Hypotheken einer ungemäßen Herkunft. Wechselseitige Wertschätzung speist sich aus der Höhe sechsstelliger Jahresgehälter, rhetorische Nähe zum Islamismus hier und larmoyantes Judentum dort werden bestenfalls als folkloristische Apercus empfunden, die die lockeren Gespräche eines entspannten Abends zu viert ein wenig zu würzen versprechen. Kleine Provokationen unter guten Freunden, harmlose, gut gemeinte Späße: Was soll da schon passieren?

Bettina Lieder Merlin Sandmeyer

Emily (Bettina Lieder), Abe (Merlin Sandmeyer) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Nun gut; wenn jemand wie der 1970 geborene amerikanische Autor Ayad Akhtar in bester Yasmina-Reza-Tradition vier so grundverschiedene Protagonisten auf die Broadway-Bühnen schickt, dann wird es böse enden, das ist von vornherein klar. Und blickt man auf das Personaltableau, kommt einem die Konstellation fast ein wenig hölzern vor, sind in diesem Stück zur politischen Lage doch alle üblichen Verdächtigen traulich vereint.

Da ist der erfolgreiche indische Anwalt Amir (Carlos Lobo), der eigentlich pakistanisch-islamische Wurzeln hat, was er bestreitet, weil es ihm berufliche und gesellschaftliche Nachteile brächte und weil, überhaupt, sein Vater das heutige Pakistan schon lange vor der Abtrennung von Indien verließ.

WASPs haben die besten Karten

Seine Frau Emily (Bettina Lieder) zählt zu den WASPs, den „White Anglo-Saxon Protestants“, die in der keineswegs klassenlosen amerikanischen Gesellschaft ein gewisses Herkunftsoptimum darstellen. Emily malt Bilder, bewundert islamische Kultur und versucht, etwas davon in ihrer Kunst einzufangen. Isaac (Frank Genser) ist ein jüdischer Kunstkurator, den Emily nachgerade hündisch um Aufmerksamkeit für ihre Bilder anhechelt und der mit ihr schläft. Vierte ist – na, wer fehlt noch? – genau, eine Afroamerikanerin, die Juristin Jory (Merle Wasmuth), die in der selben jüdischen Anwaltfirma arbeitet wie Amir, aber noch erfolgreicher als dieser ist. Nummer 5 im Stück ist Amirs Neffe Abe, ein Sidekick eher, der zum Ende hin Salafistentracht tragen wird.

Von links: Isaac (Frank Genser), Emily (Bettina Lieder), Amir (Carlos Lobo), Jory (Merle Wasmuth) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Die Geschichte zieht sich über einige Wochen hin, und ihren desaströsen Ausgang nimmt sie bei der Verteidigung eines radikalen Imams, an der sich Amir in einem Anwaltskollektiv auf Drängen Abes nur höchst widerwillig einläßt. Er ahnt, was kommen wird. Man stellt ihn in die Islamistenecke, und in seiner Firma, deren Chef Steven Fundraiser für Netanjahu ist, kann er einpacken. Aber hatte man ihn nicht lange vorher schon diskriminiert, Jory goldene Brücken gebaut und ihn auf die Ochsentour geschickt?

Etliche Whiskeys

Es kommt halt alles zusammen, und das dauernde Sich-Verstellen zehrt. In angespannter Partyheiterkeit, befeuert von etlichen Whiskeys und von Isaac provoziert, kann Amir nicht länger mehr an sich halten, gesteht seine klammheimliche Sympathie für islamistische Anschläge, erinnert sich – der Gipfel! – an seine Glücksgefühle beim Fall der „Türme“ in New York. Schluß mit lustig, Amir verliert Freundeskreis, Ehefrau, Job und Wohnung in beliebig wählbarer Reihenfolge.

Carlos Lobo  Bettina Lieder  Frank Genser

Von links: Amir (Carlos Lobo), Emily (Bettina Lieder), Isaac (Frank Genser) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Wenn das Stück beginnt, hat jeder der nach und nach auftretenden vier Partygäste seinen festen Bereich auf der eher breiten als tiefen Bühne (Michael Sieberock-Serafimowitsch). Die Sätze werden ins Publikum hinein gesprochen, selbst das Begrüßungs-Bussibussi landet im Zuschauerraum.

Intensive Videoarbeit (Mario Simon) macht inhaltliche Positionen deutlich, zeigt, wenn es grundsätzlich wird, Davidstern, grüngrundigen Halbmond, Sternenbanner oder auch Karten des „alten“ Indiens flächendeckend in leuchtenden Farben. Diese Dekonstruktion des Dialogischen hat durchaus Schlüssigkeit und Reiz, und vielleicht verlangt dieser abgründige Stoff, das Monströse andeutend, gar danach.

Allerdings ist die Dekonstruktion der Spielhandlung nicht durchzuhalten. Heftige Diskussionen und finale Gewaltszenen verlangen einfach nach körperlicher Nähe.

Carlos Lobo

Amir (Carlos Lobo) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Verfremdungseffekt

„Geächtet“ erlebte vor einigen Wochen seine deutsche Uraufführung in Hamburg in der Regie von Karin Beier, etliche weitere Theater gaben sich an Inszenierungen.

Kay Voges’ Albino-Interpretation dürfte im nationalen Vergleich ein Alleinstellungsmerkmal sein, ein gewiß zulässiger Verfremdungseffekt in einem aus dem Ruder laufenden Boulevardstück. Gleichwohl hat man nicht das Gefühl, durch „Geächtet“ wirklich an Erkenntnis zu gewinnen, was weder dem Stück noch der Inszenierung anzulasten ist. Eher scheint es, als stünde auch der Autor hilflos vor seinem Personal, vor Amir vor allem, den er eigentlich doch so gut versteht.

Regisseur Kay Voges hat seine Darsteller nicht geschont. Vor allem Bettina Lieder ist als Emily (zunächst jedenfalls) pausenlos in sportlicher Bewegung, hypermotorisch, AHDS-verdächtig, offenbar die Verkörperung eines allgegenwärtigen unterschwelligen Stresses. Auch Carlos Lobo, wiewohl mit Neigung zum Übergürtelbauch, zeigt als hin- und hergerissener Amir viel mobilen körpersprachlichen Ausdruck. Merlin Sandmeyer, Frank Genser und Merle Wasmuth dürfen es als Abe, Isaac und Jory etwas ruhiger angehen lassen, doch sportlich sind auch sie.

Reicher Applaus für einen furiosen Theaterabend.

  • Termine: 21.2., 9., 26.3.
  • Informationen und Karten: Tel. 0231 50 27 222
  • www.theaterdo.de

Infos zur neuen Spielstätte Megastore: https://www.theaterdo.de/service/anfahrt/megastore/




Aus dem Leben eines Trinkers – „Die Reise nach Petuschki“ im Dortmunder Schauspiel

Uwe Rohbeck

Wenja (Uwe Rohbeck). (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Man weiß sofort, was mit Wenja los ist. Er ist ein Trinker, immer auf der Suche nach dem nächsten Schluck; einer, der in Hausfluren schläft und klaffende Gedächtnislücken hat. Wenja macht keinen Hehl aus alledem, sondern erzählt (wie man hier vielleicht nicht mehr sagen sollte) frei von der Leber weg.

Wenja hat auch Stil. Und Kultur. Die Abfolge der Getränke, des Wodkas, des Bieres, des Rosés, will bemessen und durchdacht sein. Auch wenn längst schon klar ist, daß nicht Wenja über den Alkohol, sondern der Alkohol über ihn gebietet. Besonders dann, wenn er nach Moskau reist; dann richtet sich sein Pfad nach den Kneipen und Restaurants, die geöffnet haben, weshalb er den Kursker Bahnhof schon oft, den Kreml aber noch nie gesehen hat.

1973 schrieb Wenedikt Jerofejew seinen Roman „Die Reise nach Petuschki“, dessen Hauptperson und Ich-Erzähler Wenja ist (in dem man sicherlich auch einen Wiedergänger des Romanautors erkennen kann). Lange blieb das Buch verboten, und im Westen scheint der Stoff erst in den letzten Jahren so richtig angekommen zu sein, wurde er zu Hörbüchern und einem Hörspiel verarbeitet und fand seinen Weg nun auch ins Dortmunder Theater.

Uwe Rohbeck

Wenja (Uwe Rohbeck). (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Sehnsuchtsort Petuschki

Wenja denn also, den Uwe Rohbeck herausragend gibt, will vom Kursker Bahnhof aus nach Petuschki reisen, wo Frau und Kind auf ihn warten und der Himmel blau ist und es auch im Winter nach Lavendel riecht. Geschenke hat er dabei, die indes eher Alkoholika zu sein scheinen, und irgendwie landet er am Ende wieder in Moskau. Was da unterwegs passiert ist, kriegt er nicht mehr zusammen, es verliert sich im Nebel der Trunksucht.

Das so in groben Zügen Skizzierte gibt es nun also auf der Studiobühne zu sehen – in einer rigoros zusammengestrichenen, gut einstündigen Textfassung von Stephen Mulrine (deutsch von Hein Marecek) und in der Regie von Katrin Lindner. Eine sehenswerte Personenstudie ist es geworden, ein in sich schlüssiges Theaterprodukt, ein schöner, amüsanter Theaterabend.

Uwe Rohbeck

Wenja (Uwe Rohbeck): (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Die Verhältnisse in der Sowjetunion

Wer allerdings das Glück hat, Jerofejews Vorlage zu kennen, ist möglicherweise ein wenig enttäuscht. Denn die Geschichte lebt ja nicht nur vom Wenja-Plot, sondern von den vielen, mehr oder weniger alkoholdurchtränkten Gesprächen, von den beiläufigen Beschreibungen gesellschaftlicher Abgründigkeiten und der allgegenwärtigen Absurdität des erstarrten Breschnew-Sozialismus.

Manches wird in der Dortmunder Kompaktversion erwähnt, wie die Geschichte rund um den stets betrunkenen Eisenbahnkontrolleur, der sich von ertappten Schwarzfahrern mit Wodka bezahlen läßt; doch bleibt das sich in diesem Macht- und Korruptionsverhältnis spiegelnde Gesellschaftsbild anders als im Buch ungemalt. Auch die zahlreichen liebevollen Beschreibungen der einfachen russischen Menschen, die sich ihre Wirklichkeit gern zusammenphantasieren (der Alkohol hilft dabei), sind weggefallen. Nun denn.

Trinker mit Schlips und Kragen

Uwe Rohbecks grandioses Spiel vermag für diesen Mangel reich zu entschädigen. Seine Figurenzeichnung ist brillant. Nie sieht man ihn mit Glas oder Flasche in der Hand. In Anzug, Schlips und Kragen steht er auf der kargen Bühne (Bühne und Kostüme: Tobias Schunck), ein Mann offenbar, der auf sein Äußeres hält. Und doch sind kleine Zeichen der Verwahrlosung in der Kleidung unübersehbar. Zudem weiß Rohbeck, zierlich, hager und gelenkig, gekonnt die kleinen Bewegungsunsicherheiten des Trinkers zu geben, und auch die Sprache läßt den Alkoholpegel ahnen, doch ist sie weit vom Lallen der Betrunkenen entfernt. Dieser Alkoholiker wahrt Haltung und hat Benehmen – was ihn nicht vor dem Delir bewahren wird.

Begeisterter Applaus. Und Dank dem Haus für ein feines Stückchen Schauspielertheater.

  • Nächste Termine: 22.1., 18.2. (15,- Euro/ 10,- Euro ermäßigt)
  • Karten und Informationen Tel. 0231 50 27 222
  • www.theaterdo.de

 




Trashiger Kirchen-Trip – Wenzel Storchs „Maschinengewehr Gottes“ in Dortmund

Thorsten Bihegue Leon MŸller Finnja Loddenkemper

Drei Meßdiener suchen einen Priester: Egon (Thorsten Bihegue, vorn), Lutz (Leon MüŸller) und Erika (Finnja Loddenkemper). Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Die Geschichte muß man nicht glauben, aber sie erzählt sich gut: Nesselrodes Kaplan Buffo ist komplett ausgeflippt, hat sich in der Dorfkneipe betrunken, auf den Tischen getanzt und schließlich die Gemeinde samt Kirche und Schäfchen beim Knobeln an Bauer Hümpel verloren.

Jetzt fehlt von ihm jede Spur, zurück bleiben im Beichtstuhl der Oberministrant, die Meßdienerin und der Meßdiener in ihren roten Gewändern. Am nächsten Morgen kommt Bauer Hümpel mit dem Trecker und pflügt die Kirche erstmal unter, um Erbsen anzubauen. Es sieht nicht gut aus für den örtlichen Katholizismus in Wenzel Storchs neuem Stück „Das Maschinengewehr Gottes“, das jetzt im Studio des Dortmunder Schauspiels und in der Regie des Autors seine Uraufführung erlebte.

Was also tun, um Gottes Willen? Die verschreckte Meßdienerschaft schmeißt ihr Geld zusammen und erwirbt im Christlichen Kaufhaus einen neuen Priester, der sich indes bald als schießender Automat entpuppt und explodiert. Vorher hat er noch, ein Kassettenrekorder ist eingebaut, markige Sprüche von Pater Leppich abgelassen, der (das ist jetzt nicht erfunden) in den 50er Jahren die katholische Christenheit mit sexualfeindlichen, repressiven Brutalbotschaften missionierte oder besser vielleicht: einschüchterte. Man nannte ihn so, wie Wenzel Storch nun auch sein neuestes Stück genannt hat: „Das Maschinengewehr Gottes“.

Andreas Beck Thorsten Bihegue

„Das Maschinengewehr Gottes“ (Andreas Beck, vorn) und Meßdiener Egon (Thorsten Bihegue).(Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Kloster-Domina und Hostinettenbär

Ich erzähl die Geschichte noch ein bißchen weiter, sie ist wirklich witzig. In den Überresten des explodierten Priesters denn also finden die Meßdiener Hinweise auf ein Damenkloster im fernen Schlesien, wo bei der Oberin Ejaculata die Lösung der Probleme liegen könnte. Übrigens heißt die Oberin dort Domina, kommt aus dem Lateinischen, was keiner mehr versteht.

Durch das gefährliche Rote-Bete-Gebirge machen sich die frommen Nesselroder Meßdiener auf zum legendären schlesischen Kloster, wo sich die Oberin, wie sich bald nach der Ankunft herausstellt, weitgehend von den anderen zurückgezogen hat und nur noch ganz spezielle Hostien zu sich nimmt. Die Hostien bringt der Hostinettenbär, und immer, wenn er da war, geht’s der Mutter Oberin besonders gut. Dann hat sie wohl, wie wir Altvorderen zu sagen pflegten, ein saures Köpfchen, dann ist sie auf dem Trip. Liegt in dieser Erkenntnis die Lösung der Probleme?

Die Trips der Mutter Oberin – mit der Nacherzählung soll es an dieser Stelle sein Bewenden haben – fügen sich gleichsam nahtlos ein in diese fiebrig irrlichternde, trashige und meistens auch recht lustige Geschichte, in der alle irgendwie und irgendwo auf einem Trip sind, die Personen des Stücks ebenso wie die realen Vorbilder, allen voran der schon erwähnte Pater Leppich.

Zum Schluß tanzen die Bäume

Doch auch Schriftsteller, die jungen katholischen Seelen mit Buchtiteln wie „Satanella oder die Rache des Geissler“ den rechten Weg weisen wollten, waren wohl auf ihrem speziellen Trip, jedenfalls recht schräg drauf. Das „Einführungsreferat“ des Gemeindereferenten gibt zu Beginn der Aufführung einen kleinen Überblick über katholische Jugendbücher der Adenauerzeit. Vielleicht hat sich Storch sogar ein bißchen von ihnen inspirieren lassen, doch wir wollen nichts unterstellen.

Julia Schubert Nonnen (Mitglieder des Dortmunder Sprechchors) Thorsten Bihegue Finnja Loddenkemper Leon MŸller

Schwester Adelheid (Julia Schubert, vorn mit Notenblatt) und einige schlesische Nonnen (Damen des Dortmunder Sprechchors). Rechts im Bild die wackeren Meßdiener. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Und schon gar keinen Drogenmißbrauch! Aber das Theaterstück ist ein Trip, und man muß dankbar sein, daß der Horror sich nur von Ferne andeutet. Denn sonst wäre das ein Horrortrip, und die gibt es bekanntlich ja auch. Hier aber wird alles gut, und gegen Ende der Veranstaltung tanzen wunderschön gestaltete, knorrige alte Bäume, für deren Herrichtung Heike Scheika genannt wird, mit Nonnen und Meßdienern über die Bühne (Pia Maria Mackert). Frohsinn pur? Lucy in the Sky? Ist doch egal.

Pädagogisches Streben

Die katholische Kirche, ein zentrales Motiv in Wenzel Storchs Weltsicht, verfügte in den 50er, 60er Jahren (und vielleicht noch immer) über ein höchst problematisches Personal, das in seinem pädagogischen Streben unsägliche Bizarrerien hervorbrachte, viele junge Menschen nachhaltig schädigte. Diese Verhältnisse will Storch offenbar dem Vergessen entreißen, sie geißeln und über sie lachen lassen. Für eine bessere Erkennbarkeit des Unsäglichen setzt er gern noch einen drauf, fügt beispielsweise kirchlichen Benamungen solche aus der Phantasie hinzu, führt etwa die frommen Schwestern vom Orden der barmherzigen Seepferdchen ein, die die Heilige Limousine anbeten.

Julia Schubert Ekkehard Freye

Julia Schubert und Ekkehard Freye im Nonnengewand, außerdem einige entzückende Bäume, mit denen man sogar tanzen kann. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Natürlich stimmt es nachdenklich, daß dieser Autor (Jahrgang 1961) so unerbittlich ist, es nicht gut sein läßt, nicht die Makel einer dunklen Vergangenheit zuschreibt, die heute überwunden ist, sondern jetzt schon sein zweites Stück über diese problematische Institution verfaßt. Letztes Jahr lief in Dortmund sein Stück „Komm in meinen Wigwam“.

Doch ist es, wie es ist. Also nehmen wir dem Storch das, was er sagt, einfach mal ab und erfreuen uns an dem überaus geschmeidigen, komödienhaften Abend, der dieser Obsession entspringt.

Im Spiel der Mimen ist unaufgeregte Heiterkeit der Grundton, freundliche Gespräche reihen sich, niemals verliert jemand die Beherrschung, und häufiger ertappt man sich bei der Frage, ob die mit kraftvollen Kalauern reich garnierten Dialoge komplexe Doppeldeutigkeit prägt oder ob sie nur blühender Nonsens sind. Bemerkenswert ist schließlich die sorgfältige, stets jedoch moderat bleibende Garnierung mit stimmigen Sounds, Melodien und Schlagern (Gertfried Lammersdorf).

Andreas Beck Leon Müller

Andreas Beck und Leon Müller (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Ein starkes Ensemble

Nun aber, endlich, gilt es die starke Darstellerriege zu preisen, aus der Thorsten Bihegue hervorragt, denn wir ja schon aus dem Wigwam kennen. Als gehemmter, dürrer und immer etwas enthoben daherschreitender Oberministrant ist er mit seinem scheuem Lächeln nichts weniger als die Idealbesetzung und die Hauptfigur des Abends.

Andreas Beck verkörpert mit beeindruckender Leibesfülle gleich fünf Personen, Bruder Stanislaus, das Maschinengewehr Gottes, Schankwirtin, Weihbischof und Bauer Hümpel. Heinrich Fischer, der Senior aus dem Seniorenclub des Schauspiels Dortmund, hat mit seinem kehlig–westfälischen Zungenschlag ebenfalls fünf Personen zwischen Kaplan Buffo und Doktor Drammammapp auf der Liste und meistert das problemlos.

Finnja Loddenkämper und Leon Müller, beide Mitglieder des Jugendclubs „Theaterpartisanen“, überzeugen als Meßdiener Erika und Lutz, Ekkehard Freye schließlich ist als sportlicher Postbote auf dem Klappfahrrad so etwas wie der „Sidekick“, ein guter Geist mit frischen Postnachrichten, die die Handlung immer wieder vorantreiben.

Schließlich zu nennen bleiben Maximilian Kurth (Gemeindehelferin), Maximilian Steffan (Hostinettenbär) und Julia Schubert (Schwester Adelheid) sowie acht Damen des Dortmunder Sprechchors (Namen unten), die hier die schlesischen Nonnen geben. Und alle, alle spielen sie dieses Stück in einer schauspielerischen Qualität, die man sich auf dieser Studiobühne immer wünschen würde.

Begeisterter Applaus.

(Die Damen des Dortmunder Sprechchores sind Annette Struck, Birgit Rumpel, Sabine Kaspzyck, Regine Anacker, Solveig Erdmann, Heike Lorenz, Katrin Osbelt und Ulrike Wildt).

  • Weitere Termine: 17., 27. Dezember 2015, 17. Januar 2016.
  • Infos und Karten Tel. 0231 50 27 222
  • www.theaterdo.de



Erste Premiere im „Megastore“: Jelineks NSU-Drama „Das schweigende Mädchen“

Frank Genser Bettina Lieder Marlena Keil Friederike Tiefenbacher Uwe Schmieder

Theater für ein stehendes Publikum im „Megastore“ mit (von links) Frank Genser, Bettina Lieder, Marlena Keil, Friederike Tiefenbacher und Uwe Schmieder (Foto: Birgit Hupeld/Theater Dortmund)

Die Ankündigung der Angeklagten Beate Zschäpe, auszusagen, verhalf dem Stück zu ungeahnter Aktualität. Doch eingeplant worden war „Das schweigende Mädchen“ von Elfriede Jelinek schon vor Monaten, als erste Premiere im „Megastore“, der neuen temporären Spielstätte des Dortmunder Schauspiels. So richtig aktuell geriet die Produktion daher letztlich auch nicht.

Trotz einiger kleiner textlicher Anpassungen an jüngste Entwicklungen im sogenannten NSU-Prozeß blieb der nachrichtliche Stand September 2014 (oder noch ein bißchen früher), als das Stück seine Uraufführung in München erlebte. Es ist, wie man hier wieder sieht, das Los aktueller Themen, daß sie sehr schnell verblassen.

Indes: Erledigt ist das Thema ja nicht. Noch immer fragen viele Experten gerade so wie das Stück – wenn auch nicht in dessen auffahrendem, hochmoralisch anklagendem Ton -, wie es zu einem derart desaströsen Versagen der ermittelnden Behörden, in Sonderheit des Verfassungsschutzes, kommen konnte. Und nicht nur die üblichen Verschwörungstheoretiker halten weitere Täter und eine Vernetzung des NSU innerhalb der rechtsradikalen Szene allemal für vorstellbar.

Das Problem eines Prozesses gegen die einzige Überlebende des Terror-Trios ist nur, daß er eben nicht solche Fragen in den Mittelpunkt stellen darf, sondern die Schuld der Angeklagten ermitteln muß, um sie angemessen verurteilen zu können. Und da gibt es nichts Neues. Offenbar auch nicht, nachdem die Angeklagte ihr Schweigen brach.

Wut und Fassungslosigkeit

Elfriede Jelineks Stück wußte vor gut einem Jahr ebenfalls nichts Neues zu erzählen, und auch Michael Simon (Inszenierung/Bühne) kann in seiner Dortmunder Megastore-Einrichtung nichts Neues erzählen, kann das Bekannte nur mit Wut und Fassungslosigkeit deklamieren lassen und die von Jelinek behaupteten Bezüglichkeiten zwischen deutscher Identität und rechtem Terrorismus in Szenen und Bilder einpassen.

Aus einstmals 224 Seiten Jelinek-Text wurden in Dortmund etwa 70 Minuten Theater, die vom Publikum in der ersten Hälfte stehend, in der zweiten sitzend wahrgenommen werden. Es geht da, fast wörtlich zu verstehen, zunächst ziemlich durcheinander, wenn skandalöse Details diverser Tathergänge zornig nachvollführt und nacherzählt werden, wenn beispielsweise von jenem Verfassungsschutzagenten berichtet wird, der einen Mord nicht bemerkt haben will, obwohl er praktisch daneben saß.

Teil zwei, das Publikum sitzt nun auf den neuen, hinlänglich bequemen „Megastore“-Rängen (die sicherlich flexibel eingesetzt werden können), beginnt mit der Gerichtsverhandlung, in der der Schauspieler Uwe Schmieder zunächst den Richter gibt, unwillig, vorurteilsbeladen, und sodann, nachdem er den Prozeßtag schnell beendet hat, in eine Art Alptraum stürzt, in dem Monsterwesen ihm arg zusetzen und in dem er schließlich gar Fäkalien essen muß, die ihm eine Putzfrau verabreicht, die ihren Durst aus der Reinigungsmittelflasche löscht.

Flecken, die nie wieder rausgehen, waren schon in Teil 1, raunend beschworen vom Dortmunder Sprechchor, von zentraler Bedeutung, hier tauchen sie sehr real wieder auf, zumal der arme Alpträumende auch noch bedeutungsschwer mit geschredderten Aktenseiten bestreut und von einem Monsterzwerg bepinkelt wird.

Assoziative Elemente

Das Altarbild einer Kreuzigung im Hintergrund wird von den Figuren (Rollen gibt es auf dem Programmzettel nicht) pantomimisch nachgestellt und scheint Terroristen-Phantasien von bibelgleicher Dreieinigkeit im nationalistischen Martyrium bedeuten zu sollen; es gibt der assoziativen Elemente etliche mehr, doch bleiben sie im wilden Gang des Geschehens häufig zu unscharf, um tiefen Eindruck zu hinterlassen. Schließlich schreien die Darstellerinnen dem Publikum Einzelheiten der Mordtaten voll Wut und Vorwurf in die Gesichter, stellen sich sodann eine nach der anderen unter die Namen der Opfer, die auf die Wand geschrieben sind, und schließlich geht, Lampe für Lampe, langsam das Licht aus.

Dortmunder Sprechchor

Dortmunder Sprechchor (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Nun ja.

Die große Halle ist eine Chance

Wenn ein Theater bespielt werden muß, das eigentlich ein Baukörper aus zwei modernen Industriehallen und einigen Nebenräumen ist, so verlangt dies nach neuen Ideen. Simon und seine Regie-Mitarbeiterin Ariane Andereggen haben, zumal im ersten Teil, mit beweglichen Podestelementen und rollenden Requisiten wie beispielsweise einem geschrotteten Polizeiwagen da durchaus einiges entwickelt, und schön wäre es, wenn auch in weiteren Produktionen diese Räume vor allem als Chance und Herausforderung begriffen würden. Teile des Raumes durch „Abhängen“ mit Stoffbahnen verkleinern, das kann man immer noch machen, als ultima Ratio. Daß aber auch ganz andere Sachen in solchen Hallen möglich sind, beweist ja seit vielen Jahren schon die Ruhrtriennale.

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Mitwirkende: Marlena Keil, Bettina Lieder, Uwe Schmieder, Friederike Tiefenbacher, Merle Wasmuth, Frank Genser.

  • Die nächsten Termine: 17. Dezember, 27. Dezember 2015, 16. Januar 2016.
  • Informationen und Karten Tel. 0231 / 50 27 222
  • http://www.theaterdo.de/detail/event/16586/



Einsam unter Hedonisten: Tina Lanik inszeniert Verdis „La Traviata“ am Theater Dortmund

Violetta (Eleonore Marguerre) und Alfredo (Ovidiu Purcel. Foto: Thomas M. Jauk, Stage Picture)

Violetta (Eleonore Marguerre) und Alfredo (Ovidiu Purcel. Foto: Thomas M. Jauk, Stage Picture)

Der Morgen nach der Party schmeckt bitter. Violettas Kopf schmerzt, ihr Husten steigert sich zu einem schlimmen Anfall. Der Mann, neben dem sie aufwacht, steigt eilends aus dem Bett, zieht sich rasch an und verlässt grußlos das Haus. Violetta Valéry, allseits bekannte Edelhure von Paris, ist mehr als nur allein. Sie ist buchstäblich von allen verlassen.

Nicht von Menschen, sondern höchstens von Tabletten darf diese „Traviata“ Hilfe erhoffen. Die vom Wege abgekommene Frau, Titelheldin aus Giuseppe Verdis gleichnamiger Oper, begegnet uns im Theater Dortmund als lebenshungrige und zugleich todkranke Person, die von einer hedonistischen Gesellschaft wie ein Spielzeug benutzt wird. Dortmunds Opernintendant Jens-Daniel Herzog vertraute die Regie der 1974 geborenen Regisseurin Tina Lanik an, die lange am Bayerischen Staatsschauspiel in München tätig war.

Im Verbund mit Stefan Hageneier (Bühne und Kostüme) setzt Lanik auf den zwar nicht neuen, aber richtigen Dreiklang von Eleganz, Elend und Einsamkeit. Viel Kälte macht sich breit in den klassizistisch anmutenden Räumen, in dem Designer-Sofas mehr von Wohlstand als von Gemütlichkeit sprechen. Die Fenster bieten weder Aussicht noch Perspektive. Paris bleibt völlig außen vor: Dieses Drama könnte ebenso gut in einer Villa in Berlin Mitte spielen. Von der feierlustigen Pariser Gesellschaft, für die Dortmunds Opernchor sich in schwarze Gothic-Kostüme samt Strümpfen und Strapse werfen muss, hebt Violettas elegante Gestalt sich im golden schimmernden Kleid größtmöglich ab.

Jeder lebt (und stirbt) für sich allein: Dieser Devise folgen Lanik und Hageneier in ihrer jüngsten Produktion konsequent. Die vorgeführte Kälte greift freilich auf die Inszenierung über. Die Figuren stehen zumeist vereinzelt im Raum, statisch und weit voneinander entfernt. Kommen sie doch einmal zueinander, gebiert die Nähe rasch Gewalt. So entsteht eine Sterilität, die nicht leicht auszuhalten ist, schlimmstenfalls sogar in Langeweile umschlagen kann.

Vater Germont (Sangmin Lee) drängt Violetta (Eleonore Magrerer), seinen Sohn wieder frei zu geben (Foto: Thomas M. Jauk, Stage Picture)

Vater Germont (Sangmin Lee) drängt Violetta (Eleonore Marguerre), seinen Sohn wieder frei zu geben (Foto: Thomas M. Jauk, Stage Picture)

Violetta scheint die einzige Figur zu sein, der Lanik tiefe Empfindungen zutraut. Alfredo Germont ist in ihrer Lesart ein eher unreifer Mann, der sich mit einer erfahrenen Frau aufzuwerten versucht. Dass er vor dem heimischen Kamin gelangweilt mit einem Fußball spielt, noch dazu in Boxershorts, rückt ihn in die Nähe einer knabenhaften Witzfigur. Vater Germont, vom koreanischen Bariton Sangmin Lee stimmstark dargestellt, ist der einzige, der Violettas Charakterstärke erfasst. Er fühlt sich davon angezogen, was die Regie zu der peinlichen Plattheit veranlasst, Germont zum wollüstigen Grabscher zu machen.

Vielleicht würde die Inszenierung besser funktionieren, wenn die Titelpartie von einer anderen Sopranistin als von Eleonore Marguerre verkörpert würde. Die deutsche Sängerin belgisch-französischer Herkunft ist eine elegante Erscheinung und technisch souverän. Sie führt ihre Stimme beweglich und versteht es exzellent, Töne durch gezielte Lautstärke-Dosierung zu formen. Keinesfalls ist ihr vorzuwerfen, sie würde sich nicht genug in das Spiel hinein werfen. Aber wo Verdi den Lebenshunger, die Leidenschaft und die Verzweiflung seiner Heldin wie heiße Stichflammen auflodern lässt, bleibt ihr stets leicht verschleierter Sopran weiß und kühl. Emotionale Ausbrüche, gleich welcher Natur, klingen bei ihr verblüffend uniform. Indes ist es nicht der Sängerin anzulasten, wenn ihre Stimmfarbe nicht recht zu den flammenden Herzenstönen der Violetta passen will.

Violetta (Eleonore Marguerre) fühlt, dass ihr für einen Neuanfang mit Alfredo (Ovidiu Purzle) keinen Kraft mehr hat (Foto: Thomas M. Jauk, Stage Picture)

Violetta (Eleonore Marguerre) fühlt, dass ihr für einen Neuanfang mit Alfredo (Ovidiu Purcel) keine Zeit mehr bleibt (Foto: Thomas M. Jauk, Stage Picture)

Ovidiu Purcel, von der Rheinoper für den erkrankten Lucian Krasznec eingesprungen, bringt stärkere Kontraste. Klingt sein Tenor bis zum Ende des zweiten Aktes noch knabenhaft hell, bringt er nach der Lektüre von Violettas Abschiedsbrief vehemente, ja fast gallige Töne der Wut und der Verzweiflung ein. Mag er zuweilen auch ein wenig hoch intonieren, so besitzt er doch genug Stimmvolumen, um die nicht gerade anspruchslose Partie ohne gedrückte oder gestemmte Töne auszufüllen.

Der Opernchor und die Dortmunder Philharmoniker geben sich unter dem Dirigat von Kappellmeister Motonori Kobayashi kaum Blößen. Der Wucht und Spritzigkeit, die in den Gesellschaftstableaus erreicht wird, steht der fragile Streicherklang der Ouvertüre und der Sterbeszene gegenüber. Ihn lassen die Dortmunder Philharmoniker in tragischer Düsternis ersterben, hinabsinken in tiefste Dunkelheit.

Wenn die Bühnenbeleuchtung im Finale ein kaltes Licht auf die Szene wirft, wirkt die umherwankende Violetta endgültig wie ein Gespenst. Sie, die den Tod wie ein Erwachen erlebt, hat das Ziel erreicht, das ihr von Beginn an vor Augen stand.

Folgetermine bis 31. März 2016. Ticket und Service-Hotline: 0231/50 27 222. Informationen: http://www.theaterdo.de/detail/event/16143/




„Eine Familie“ und „Besessen“ – zwei alptraumhafte Stücke in Dortmund

Wenn die Familie im Mittelpunkt des Stückes steht, wenn das Stück gar „Eine Familie“ heißt, dann weiß der erfahrene Theaterbesucher: Es wird dramatisch. Und es geht bestimmt nicht gut aus.

Da grüßen amerikanische Handlungsreisende und russische Dorfschullehrer in (könnte man fast sagen) reicher Zahl. Nun hatte Tracy Letts Stück im Großen Haus des Dortmunder Schauspiels Premiere. Und das auf Katastrophe eingestellte Publikum kann sich bestätigt sehen.

Frank Genser Bettina Lieder Janine Kre§ Friederike Tiefenbacher Merle Wasmuth

Leichenschmaus mit (von links) Frank Genser, Bettina Lieder, Janine Kreß, Friederike Tiefenbacher und Merle Wasmuth (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Drei Schwestern

Wenngleich: So viel Schreckliches passiert eigentlich gar nicht, sieht man vom Suizid des Patriarchen Beverly Weston ab, der dessen Nachkommenschaft im elterlichen Haus – und in der brütenden Augusthitze des amerikanischen Mittelwestens – zusammenbringt. Er, früher mal erfolgreicher Autor, ist zum Trinker geworden, seine Frau Violet schluckt Psychopharmaka und hat Mundhöhlenkrebs, und zusammen, aber auch miteinander, waren sie unausstehlich.

Drei Schwestern (!) also treffen sich, Barbara, Karen und Ivy, zwei von ihnen mit Familie, und daß sie wie auch ihre desolaten Eltern problembeladen sind, versteht sich von selbst. Barbaras Mann Bill, Hochschullehrer, betrügt seine Gattin mit Studentinnen, die gemeinsame vierzehnjährige Tochter Jean wird von Steve, dem Verlobten Karens, zu Rauschgift und Sex verführt, Ivy schließlich liebt Little Charles, den desolaten Sohn von Violets Schwester Mattie Fae, der aber, wie sich späterhin herausstellt, nicht ihr Cousin, sondern ihr Halbbruder ist.

Unglück allerorten, und man spürt zu jeder Zeit, daß es weitergehen wird, von einer Generation an die nächste weitergereicht wird, zwangsläufig. Auf der Bühne des Dortmunder Schauspiels spielen sie es in erwartetem Furor und mit streckenweise eindrucksvollem Körpereinsatz.

Frank Genser Andreas Beck (Projektion)

Große Leuchtbuchstaben; Szene mit Frank Genser als Sheriff und Andreas Beck als Bev in der Videoprojektion. (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld))

Kränkungen

Aber muß das alles so schrecklich so sein, kann man denn da gar nichts machen? In einer zentralen Szene, in der die Töchter mit ihrer Mutter für kurze Zeit eine fast zärtliche Nähe entwickeln, erzählt diese die Geschichte von den Stiefeln, die sie als Dreizehnjährige so wahnsinnig gerne gehabt hätte, um einem jungen Musiker zu gefallen. Ihre Mutter hat sie damals verhöhnt, ihr statt der Stiefel ein Paar dreckige Arbeitsschuhe unter den Weihnachtsbaum gestellt. Wie kann man sein Kind so hassen?

Wahrscheinlich ist Violet viel öfter so tief gekränkt worden, als sie erinnert, und ihre gekränkte Seele weiß sich nicht anders zu helfen als damit, andere zu kränken, vor allem ihre Töchter – ein Perpetuum Mobile des Unglücks, in dem es Moral, Respekt, Vertrauen oder behütende Liebe nicht gibt.

Natürlich hätte ihr zur richtigen Zeit eine Therapie helfen können, doch dafür ist es längst zu spät, und in ihren lichten Momenten weiß Violet das auch. Friederike Tiefenbacher gibt dieses menschliche Wrack, das zwischen psychedelischem Wahn, aggressiven Attacken, irrer Destruktionslust und glasklarer Erkenntnis irrlichtert, erschreckend überzeugend. Ihre Violet ist so konsequent durchgeformt und charakterisiert, daß man Angst vor bekommt und vor ihr flieht, wie es die Töchter Barbara und Karen auch getan haben. Oder wie Ivy es plant.

Bettina Lieder Merle Wasmuth

Zwei Schwestern auf der Suche nach Nähe: Bettina Lieder (links), Merle Wasmuth (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Leuchtbuchstaben

Zum Sympathieträger wird diese Violet es nicht bringen, aber das Stück ist eh nicht sonderlich reich an sympathischen Figuren. Am ehesten noch fühlt man mit der Schwesternriege (Merle Wasmuth, Julia Schubert, Bettina Lieder), die mitten im Leben steht und damit nichts anfangen kann.

Die Bühne von Wolf Gutjahr macht einen recht unaufgeräumten Eindruck. Der Bücherstapel vorne links verweist auf die intellektuelle Vergangenheit des Hausherrn, ab und an wird ein roter Vorhang hervorgezerrt, die Drehbühne dreht sich zu den Szenenwechseln. Dominiert wird die Optik durch eine Wand aus brutal dastehenden, raumhohen Leuchtbuchstaben auf der Drehbühne, die den ganzen Abend lang wechselnde englische Fünfbuchstabenwörter zeigen, EMPTY, DREAM, SHAPE, DEATH, GROPE und so fort, also: LEER, TRAUM, FORMEN, TOD, BETASTEN… Das suggeriert Prozeßhaftes, ohne daß man den zwingenden Eindruck hätte, es im eigentlich doch recht konservativ aufgebauten Stück wiederzufinden.

Das Stück macht eher den Eindruck einer Momentaufnahme, oder besser vielleicht einer Langzeitbelichtung, die aber doch nur ein einziges Bild ergibt. Gleichwohl funktioniert Sascha Hawemanns Inszenierung in diesem Bühnenbild, denn auch er bevorzugt offenbar den kraftvollen Zugriff auf den Stoff. Eine verhaltene Anlage der frühen Szenen, in denen sich entwickelt, was dann beim Leichenschmaus kulminiert und die man sich für dieses Stück durchaus auch hätte vorstellen können – das ist Hawemanns Sache nicht.

Julia Schubert Bettina Lieder Friederike Tiefenbacher Merle Wasmuth

Mutter hat geduscht. Von links: Julia Schubert, Bettina Lieder, Friederike Tiefenbacher, Merle Wasmuth (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Cowboyhut

Das Dortmunder Ensemble ist klein, und möglicherweise auch deshalb gibt es in dieser „Familie“ einige Doppelbesetzungen: Andreas Beck ist sowohl der bald schon abtretende Selbstmörder Beverly (praktisch nur ein Monolog) und später dessen stotternder Schwiegersohn Charlie; Frank Genser gibt Karens Verlobten Steve und außerdem, mit schwarzem Cowboyhut, den Sheriff. Alexander Xell Dafov, der das Geschehen oft mit E-Gitarre und Akkordeon musikalisch sehr schön untermalt, ist zudem die serbische (!) Haushaltshilfe Johanna, die Beverly kurz vor seinem Abgang noch in einem merkwürdigen Anflug von Fürsorglichkeit eingestellt hat.

Bleiben vier Einzelbesetzungen: Carlos Lobo gibt Barbaras Mann Bill, Julia Schubert spielt Tochter Ivy, die angesichts der maroden Mutter die eigene Weiblichkeit verleugnet, Janine Kreß ist Violets Schwester Mattie Fae, Marlena Keil schließlich spielt den pummeligen Teenager Jean. Und wieder einmal ist festzustellen, daß das Gelingen dieses Abends zu einem erheblichen Teil dem homogen aufspielenden Ensemble zu danken ist.

„Der Exorzist“

Sarah Sandeh Ekkehard Freye

Rosemarie, Baby, Gerd: Szene mit Sarah Sandeh und Ekkehard Freye (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Am Abend zuvor hatte es in Dortmund eine Studio-Premiere gegeben, „Besessen“ von Jörg Buttgereit. Buttgereit gilt als „Horrorspezialist“ des Hauses, und in dieser Funktion lieferte er mit „Besessen“ jetzt schon seine fünfte Regiearbeit ab. Aber sehr fürchterlich war der Abend eigentlich nicht, eher unterhaltsam und am Schluß geradezu niedlich.

Übrigens war hier der neue Dortmunder Bühnenmusikus T.D. Finck von Finckenstein (auch bekannt als Tommy Finke), der die Nachfolge Paul Wallfischs angetreten hat, mit einer ersten recht passablen Sound-Arbeit zu hören.

VHS-Kassette

Zurück zum Stück, wo das Übel seinen Lauf nimmt, als die beiden Kumpels Gerd und Marian (Ekkehard Freye und Björn Gabriel) sich zu einem gemütlichen Hororfilm-Videoabend mit Pizza und Bier treffen. Die Geschichte spielt in den 80er Jahren, und deshalb ist es geradezu sensationell, daß Gerd den ganzen Film „Der Exorzist“ auf VHS-Kassette hat. So etwas gab es bis vor kurzem nämlich nicht, da war schon glücklich, wer 18 Minuten „Best of“ auf Super 8 sein eigen nannte.

Die beiden Männer reden sich heiß, malen sich (eher harmlos) weitere Exorzismen aus – und plötzlich, Blitz Donner, liegt Linda (Sarah Sandeh) im Bett, das Mädchen aus dem Film. Und ganz fraglos ist sie von Dämonen besessen. Sarah Sandeh führt die Stadien der Besessenheit sehr schön vor, brüllt Obszönitäten, kotzt grün, Körpereinsatz und Kondition sind bewunderungswürdig.

Einige Male schaut Das Böse in Gestalt des diabolisch geschniegelten Uwe Rohbeck vorbei, und die beiden Männer, die schon bald das Grausen packt, versuchen einen lächerlichen Exorzismus mit wandhängendem Kruzifix, um aus dem Alptraum herauszukommen.

Bjšrn Gabriel Ekkehard Freye

Zwei Horrorfreunde und ein Super-8-Streifen: Bjöšrn Gabriel (links), Ekkehard Freye. (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Horror endet nicht

Aus dem Film „Der Exorzist“ kommen sie tatsächlich raus, jedoch nur, um in Polanskis „Rosmaries Baby“ zu landen. Weiter geht es mit Larry Cohens „Die Wiege des Bösen“, schließlich kommt das Stück, wenn man so sagen will, bei David Cronenbergs Scifi-Thriller „Videodrome“ an, was diesem Horrortrip dann auch (aber wie, wird nicht verraten) zu einem Ende verhilft. Ganz lustig, zumal dann, wenn man die zitierten Filme kennt (und schätzt).

Wenig Video

Bemerkenswert ist, daß an diesem Dortmunder Theaterwochenende kaum Videoprojektionen zu sehen waren, die Handkamera in der Schublade blieb und auch nicht mit Mikrophonverstärkung („Mikroports“) gespielt wurde. Zufall? Höchstwahrscheinlich schon. Aber doch auch recht angenehm. Man hatte zu keiner Zeit das Gefühl, daß dem Theater die Ausdrucksmöglichkeiten fehlten.

  • „Eine Familie – August: Osage County“. Weitere Termine: 30. Okt., 11. und 22. Nov. 2015, 19.30 Uhr (9,- bis 23,- ).
  • “Besessen”. Weitere Termine: 30. Okt., 11. und 22. Nov. 2015, 20 Uhr (19,- €, 12,50 € erm.)
  • www.theaterdo.de