Tschechows „Kirschgarten“ geht uns immer noch an – Eine vorzügliche Essener Inszenierung beweist es

Szene mit Silvia Weiskopf (Gutsbesitzerin), Stephanie Schönfeld (Dunjascha) und Jens Winterstein Jepichodow) (Foto: Birgit Hupfeld/Schauspiel Essen)


Firs haben sie vergessen. Der alte Diener liegt schon schlafend auf der Bühne, wenn das Publikum seinen Plätzen zuströmt. Schließlich erwacht er, sieht all die Menschen, will sie wieder nach Hause schicken. Es sei doch alles schon vorbei, sagt er, und eigentlich hat er ja Recht. Aber dann hebt sich der eiserne Vorhang doch , wird die Geschichte vom Kirschgarten erzählt, in Essen, im Grillo-Theater. Der alte Diener ist hier übrigens eine Frau, Sabine Osthoff.

Verdrängung und Selbstbetrug

Tschechows Stück, er selbst nannte es eine Komödie, was natürlich nicht stimmt, reizt zur lapidaren Inhaltsangabe: Die Gutsbesitzerin ist pleite, widersetzt sich dem Verkauf ihres schönen, aber nutzlosen Kirschgartens, schließlich kommt alles unter den Hammer. Man reist ab, nur der alte Diener bleibt zurück. Es ist eine Geschichte, wie sie ähnlich oft geschieht, für Außenstehende eigentlich ohne Bedeutung.

Wenn „Der Kirschgarten“ trotzdem bis zum heutigen Tage ein Erfolgsstück sonder gleichen ist, dann natürlich wegen des Personals, allen voran der Gutsherrin Ljubow Andrejewna Ranewskaja (Silvia Weiskopf) mit ihrer Unfähigkeit loszulassen, die Wirklichkeit anzuerkennen, das Leben in die eigene Hand zu nehmen. Fein gestuft stimmen die weiteren Figuren ihrer hinfälligen Entourage in diesen Choral des Verdrängens und Selbstbetrügens ein, formen einen Panzer, den Lopachin (Philipp Noack), der wohlwollende Freund des Hauses, mit seinen vernünftigen Sanierungsvorschlägen nicht zu durchdringen vermag.

Ensemble (Foto: Birgit Hupfeld/Schauspiel Essen)

Kinderklavier

All dies – die Übersetzung aus dem Russischen stammt von Elina Finkel – erlebt man auch in der Inszenierung von Alice Buddeberg, hell ausgeleuchtet, vorgetragen in sorgfältiger Artikulation, ohne Videoelemente und mit Tönen aus dem Kinderklavier, das Verwalter Jepichodow (Jens Winterstein) einige Male versiert bedient.

Doch wagt diese behutsame Inszenierung eine etwas andere Gewichtung. Wenn sich die kleine Gemeinde, der Worte sind genug gewechselt, am Ende aufmacht in Richtung Bahnhof, ist geradezu Erleichterung spürbar. Man weiß: Bei jedem wird es auf die eine oder andere Weise weitergehen, irgendwie. Und so eine Kirschgartenkatastrophe mag sich durchaus noch einmal wiederholen, auf die eine oder andere Weise, sie ist ja kein Weltuntergang. Die schlichte Weisheit, dass Weiterkommen bedeutet, einmal mehr aufzustehen als hinzufallen, geht einem angesichts des Schlussbildes durch den Kopf.

Szene mit Thomas Büchel (Gajew) und Silvia Weiskopf (Foto: Birgit Hupfeld/Schauspiel Essen)

Das Gespenst Firs

Der einzige, für den dies alles hier final ist, ist Firs. Schmuddelig weiß ist sein Outfit, das an ein Leichenhemd denken läßt, unwirklich weiß auch ist er geschminkt, ein Fremdkörper unter den anderen Akteuren in ihren schäbigen, bunten Kleiderkammer-kostümen (Köstüme: Martina Küster). Wenn er auf der Galerie (Bühne: Sandra Rosenstiel) hockt, wirkt er wie ein Gespenst, wie eine Videoprojektion, ohne wirklich eine zu sein. Die alte Zeit mit ihren rauschenden Bällen, die alte Ordnung, das alte Russland gar, mit Firs wird es zurückgelassen. Er, nicht die Kirschbäume, sind in Essen die Verlustmasse.

Wohltuende Langsamkeit

Alice Buddebergs Inszenierung erlaubt sich zeitweise eine lange so nicht mehr erlebte, wohltuende Langsamkeit und unterscheidet sich auch damit grundlegend von der lärmenden Dortmunder Studioproduktion des Tschechow-Stoffs. Sicherlich käme man in Essen auch ohne die zwei, drei Lieder aus, die Stephanie Schönfeld ins Mikrophon haucht. Auch wünschte man sich in einigen intensiven Szenen etwas mehr spielerische Zurückhaltung bei einigen Darstellerinnen und Darstellern. Doch werden kleine Unvollkommenheiten durch den respektvollen Umgang mit der literarischen Vorlage mehr als wettgemacht.

Letztlich beweist diese Inszenierung schlüssig, dass Tschechows „Kirschgarten“ auch 115 Jahre nach seiner Uraufführung noch ein hochaktuelles Stück ist. Reicher, herzlicher Applaus.




Der Onkel Bumba aus Kalumba tanzt nur Rumba

Essen. Schlager, Schmachtfetzen, Swing und höherer Blödsinn – aus solchen Quellen schöpften die „Comedian Harmonists“ in den 1920er Jahren ihre unvergleichlich Sangeskünste. Jetzt greift das Essener Schauspiel im Grillo-Theater auf die intelligente Erfolgsmischung zurück.

Franz Wittenbrink (Musik-Arrangements) und Gottfried Greiffenhagen (Texte) haben bereits 1997 das Stück um die berühmte Gesangsgruppe kreiert, das seither seine Runden durch deutsche Theater zieht. Auch in Dortmund war’s schon mal zu sehen.

Just 1997 war auch das Jahr, in dem Joseph Vilsmaiers famos besetzter Film über die „Comedian Harmonists“ herauskam und Maßstäbe setzte. Man hat diesen Film auch im Sinn, wenn sie nun in Essen die Geschichte des A-cappella-Ensembles erzählen -von entbehrungsreichen Gründungstagen über glanzvolle Erfolge bis zur erzwungenen Auflösung unter dem NS-Regime im Jahr 1934. Die Nazis verfemten die Musik der „Comedian Harmonists“ als „entartet“, weil drei der sechs Gruppenmitglieder jüdischer Herkunft waren. Es war einer von zahllosen Akten der NS-Kulturvernichtung. Diese Wunden verheilen nicht.

Gegen besagte Kino-Erinnerungen käme das Theater nur unter vehementer Aufbietung all seiner spezifischen Mittel an. Doch in Essen dauert’s schon mal rund 40 Minuten (eine gefühlte Ewigkeit), bis der erste vollständige Song erklingt. Bis dahin sieht und hört man die Genese der Gruppe nach einer Zeitungsannonce (sogar Johannes Heesters sang – vergebens – vor). Man erlebt mühsame Proben, absichtliches Falschsingen. Dazu köcheln Konflikte der 1928 noch im Werden begriffenen Gruppe. Hie unbezahltes Üben bis tief in die Nacht; da der Traum, der US-Formation „Revelers“ nachzueifern, sie sogar zu übertreffen.

Das Sechser-Ensemble ist eine Mixtur aus Essener Sprechtheater-Schauspielern und Gästen. Die unterschiedlichen Charaktere sind passend ausgewählt (neudeutsch: gecastet), sie decken ungefähr das tatsächliche Spektrum ab. Auch bekommt diese sympathische Truppe das Liedgut erstaunlich gut hin. Doch ebenso verblüffend ist stellenweise die holprige Darstellung. War’s Lampenfieber? Vielleicht gibt sich das in den Tagen und Wochen nach der Premiere.

Regisseur Gil Mehmert setzt die Lieder mit wechselndem Geschick in Szene, am besten gelingt die Umsetzung beim „Onkel Bumba“ (der reimgerecht nur Rumba in Kalumba tanzt). Überhaupt bricht irgendwann das Eis, wenn endlich launige Klassiker wie „Schöne Isabella von Kastilien“, „Mein kleiner grüner Kaktus“, „Wochenend und Sonnenschein“ und „Veronika, der Lenz ist da“ geschmettert oder gesäuselt werden. Da geht das Publikum frohsinnig mit.

Wenn schließlich die Gruppe sich unter diktatorischem Druck spaltet, gewinnt das sonst kitschverdächtige Lied „Irgendwo auf der Welt (gibt’s ein kleines bisschen Glück)“ die ungeahnte Qualität eines utopischen Gegenentwurfs zu den schrecklichen Verhältnissen. Stoff zum Heulen.

Termine: 7., 15., 16., 26., 31. Dezember; 12., 25. Januar. Karten: 0201/8122-200.

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(Der Beitrag stand am 6. Dezember 2007 in ähnlicher Form in der „Westfälischen Rundschau“)