Frühling für Hitler: Musical „The Producers“ nach Mel Brooks als rasanter Spaß in Hagen

Einmal eine große Nummer im Showbiz sein: Davon träumt der Buchhalter Leo Bloom (Alexander von Hugo) im Musical „The Producers“ nach einem Film von Mel Brooks. (Foto: Björn Hickmann)

Achtung, bitte anschnallen, fasten seat belts. Hier geht die Post ab, hier geht’s um Geld und Glamour und die Grenzen des guten Geschmacks. Das Theater Hagen startet mit dem Musical „The Producers“ durch, als wolle es einen Rekord für das schnellste Bühnenspektakel der kommenden fünf Spielzeiten aufstellen. Diesen überdrehten Spaß wird so schnell niemand überholen.

„Frühling für Hitler“ war der deutsche Titel der Vorlage, eine Filmkomödie von Mel Brooks aus dem Jahr 1968. Das Musical erzählt die Geschichte vom Broadway-Produzenten Max Bialystock , den der Erfolg verlassen hat. Sein Buchhalter Leo Bloom bringt ihn auf eine Idee, wie er durch Betrug wieder zu Geld kommen kann. Gemeinsam wollen sie das schlechteste Musical aller Zeiten auf die Bühne bringen, um danach mit den Investorengeldern nach Rio de Janeiro durchzubrennen.

Vom Glück verlassen: Max Bialystock (Ansgar Schäfer), ehemals König des Broadway, hat keinen Erfolg mehr. (Foto: Björn Hickmann)

Das passende Stück dafür kommt von dem Alt-Nazi Franz Liebkind, der nicht ahnt, dass sein geliebter Führer auf der Bühne zur Witzfigur wird. Aber auch die Produzenten dieser gezielten Geschmacklosigkeit werden überrascht. Denn der vermeintlich sichere Flop wird für Satire gehalten und löst Begeisterungsstürme aus.

Max Bialystock (Ansgar Schäfer, l.) und Leo Bloom (Alexander von Hugo) wollen sich mit Investorengeldern vom Acker machen. (Foto: Björn Hickmann)

Regisseur Thomas Weber-Schallauer inszeniert das als Achterbahnfahrt, bei der man kaum zu Atem kommt. Das temporeiche Spiel, das Timing der schlagfertigen Dialoge, die beinahe comichafte Zeichnung der Figuren und die vor nichts Halt machende Persiflage sind köstlich ungeniert und von hoher handwerklicher Perfektion. Die Veralberung des Dritten Reichs kitzelt das Zwerchfell zu hysterischem Lachen. Der Alt-Nazi Franz Liebkind mit seinem verschissenen Taubenschlag voll national gestimmter Vögel ist einfach unerträglich gut (Richard van Gemert quatscht sich im breiten Bayerisch um Kopf und Kragen).

Alle Abteilungen des Hauses unterstützen die Regie wie geschmiert. Ein Rädchen greift da ins andere: die schwungvolle und charmante Choreographie von Riccardo De Nigris, die das Jahr 1959 zitierenden Kostüme von Yvonne Forster, die Beleuchtung von Hans-Joachim Köster, die den Glamour des Showbiz ebenso sichtbar macht wie den grauen Alltag. Fantastisch gut gelingen die Szenenwechsel, die so fließend zwischen Traum und Wirklichkeit changieren, dass man sich manches Mal die Augen reibt.

Chor, Ballett und Ensemble hätten für ihren Einsatz glatt eine Verdoppelung der Gage verdient. Ansgar Schäfer (Max Bialystock) und Alexander von Hugo (Leo Bloom) werfen sich ins Getümmel, dass die Verletzungsgefahr nicht fern scheint. Schäfer gibt den Broadway-König als alternden, aber machtbewussten Macho. Alexander von Hugo hängt sich bei ihm ein: ein Hänfling der endlich auch einmal groß rauskommen möchte.

Die schöne Ulla (Emma Kate Nelson) will unbedingt die Hauptrolle spielen. (Foto: Björn Hickmann)

Die schwule Entourage des Regisseurs setzt herrlich arrogante Kontrapunkte (Florian Soyka als Roger de Bris und Matthias Knaab als Carmen Ghia). Und dann ist da noch die blonde Schwedin Ulla, die auf die Hauptrolle scharf ist. An dem Pseudo-Schwedisch, mit dem Emma Kate Nelson sich durch den Abend radebrecht, würde mancher sich gewiss die Zunge verstauchen. Das Philharmonische Orchester Hagen stimmt unter der Leitung von Steffen Müller-Gabriel großstädtischen Big-Band-Sound an und setzt mit Zitaten von Richard Wagner und Anklängen an die Nationalhymne satirische Akzente.

Am Ende strebt niemand vorzeitig zur Garderobe. Alle stehen, jubeln, feiern die Produktion mit Klatschmärschen. Die fiktiven Kritiken, die Max Bialystock mit wachsender Verzweiflung vorliest, treffen letztlich ins Schwarze: „Es war hanebüchen, es war anstößig, es war beleidigend, und wir haben jede Minute genossen“.

(Der Text ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Informationen unter www.theaterhagen.de, Karten: Tel 02331/207-3218.)




Wir sind Helden: Das Theater Hagen inszeniert ein Rock-Konzert zum Mitfeiern

Trio infernale: Vanessa Henning, Patrick Sühl und Hannes Staffler heizten die Stimmung im Theater Hagen mächtig an. (Foto: Matthias Jung)

Zum Finale lässt das Theater Hagen es noch einmal richtig krachen. Bringt die große Show auf die kleine Bühne. Feuert kurz vor Spielzeitende am 12. Juni alles heraus, was seine Abteilungen zu bieten haben, inklusive Bühnentechnik, Kostümabteilung, Beleuchtungsmeister, Tänzer, Sänger, Musiker und Sound-Designer. „Heroes“ heißt dieses theatralische Rock-Konzert zum Mitfeiern, in Anlehnung an den gleichnamigen Hit von David Bowie.

Thilo Borowczak, Disponent und Oberspielleiter des stets von Unterfinanzierung bedrohten Theaters, setzt damit ein Erfolgsformat fort. Schon die von ihm inszenierte Undergroundparty „Take a Walk on the Wild Side“ sorgt seit der Premiere im Jahr 2018 für ausverkaufte Vorstellungen. Mit „Heroes“ folgt jetzt eine Neuauflage, in der die Besucher ein Stück ihrer eigenen musikalischen Sozialisation wiederfinden: von den Rolling Stones bis zu Adele, von The Doors bis Pink.

Was dabei herauskommt, ist mehr als eine Hitparade, mehr auch als eine Ranschmeiß-Orgie an das Publikum. Das liegt an der durchdachten Abfolge der Songs, die oft gesellschaftskritisch sind, aber auch von den individuellen Nöten der Jugend erzählen. Es geht um Sehnsucht, Sex, Liebeskummer und Einsamkeit, manchmal auch um schieren Hedonismus, wie ihn Robbie Williams‘ Ohrwurm „Let me entertain you“ prototypisch zelebriert.

Hannes Staffler als „Englishman in New York“ von Sting. (Foto: Matthias Jung)

Selbstredend surft der Abend auf der Erfolgswelle berühmter Songs. Aber die fließenden Übergänge schmieden aus einzelnen Titeln ein größeres Ganzes. Dabei helfen die Drehbühne und Videobilder, die für Stings „Englishman in New York“ die passende Skyline herbeizaubern, aber auch Zeitgeschichte Revue passieren lassen. Das ist nicht immer ungefährlich. Wenn die Regie zu John Lennons „Imagine“ einen Drohnenflug über zerstörte ukrainische Städte einblendet und im direkten Anschluss Freddy Mercurys pathetisches „The Show must go on“ folgen lässt, bleibt die Botschaft irritierend unklar.

Die Bühnenshow ist aber sondergleichen. Hans-Joachim Köster entfesselt ein verschwenderisches Spektakel aus Scheinwerfer-Effekten, Kunstnebel, Pyrotechnik und Glitzer-Konfetti. Lena Brexendorff ergänzt das durch einen Kostümrausch, der immer neue Überraschungen bietet. Bis zur Erschöpfung verausgaben sich neben den Tänzern drei Sänger, die authentisch bleiben, obwohl sie in die Fußstapfen von Superstars treten.

Bühnenspektakel: Die Show „Heroes“ lädt zum Mitfeiern ein. (Foto: Matthias Jung)

Vanessa Henning, Hannes Staffler und Patrick Sühl rocken im Wortsinne das Haus. Ihre stimmliche Flexibilität reicht für phonstarke Exzesse von Nirvana, aber auch für den erotischen Blues von Amy Whinehouse und den Gentleman-Sound von Sting. Unter der musikalischen Leitung von Andres Reukauf heizen sie die Temperatur im Saal kontinuierlich auf. Im Parkett und auf den Rängen feiern die jung Gebliebenen, die sich gerne an die Revolten von einst erinnern, mit Kissenschlacht und Klatschmärschen.

(Weitere Termine: 16. Juni, 31. August, 25. September, 30. Oktober, 26. November. Karten unter Tel 02331/207-3218 oder unter www.theaterhagen.de)




Das lachende Glück lässt auf sich warten: Franz Lehárs Operette „Der Graf von Luxemburg“ in Hagen

Das ist ja sowas von Neunzehnhundertachtzig! Roland Hüve nimmt sich am Theater Hagen Franz Lehárs einstigen Erfolg „Der Graf von Luxemburg“ vor und macht daraus genau den Operettenjux, der damals einem Publikum jenseits altmodischer Unterhaltungsbedürfnisse das Vergnügen an der Gattung vermiest hat. Liri, liri, lari, der ganze Spaß geht tschari – aber alles der Reihe nach.

Melancholie auf der Mondsichel: Kenneth Mattice als Graf von Luxemburg in Hagen. Foto: Klaus Lefebvre

Melancholie auf der Mondsichel: Kenneth Mattice als Graf von Luxemburg in Hagen. Foto: Klaus Lefebvre

Dabei signalisiert der Anfang, es könnte sich jemand etwas gedacht haben: Der titelgebende Graf René schaukelt auf einer Mondsichel und der blonde Tod grüßt den Nachdenklichen, bevor der Karneval von Paris explodiert – oder explodieren sollte. Denn schon dieses erste Bild ist brav aufgestellt, der Chor gestikuliert wie in tausend Operetten vorher, die Tanz-Fröhlichkeit ist aufgesetzt und das prickelnde Leben der Pariser Bohème ist bloße Behauptung. Die kunterbunte Kostümseligkeit von Siegfried E. Mayer lässt Menschen durcheinanderquirlen, denen anzusehen ist, dass sie die gierigen Ausschweifungen dieser Halbwelt, ihre künstlichen Freuden, den gnadenlosen Überlebenskampf, den besinnungslosen Rausch des Vergnügens und die lastende Einsamkeit dahinter höchstens aus Bohème-Kolportagen á la Henri Murger kennen.

Dass dem adligen Bonvivant das Geld ausgegangen ist und das Elend aus den Eiffelturm-Kulissen winkt, geht in einer Fröhlichkeit unter, die weder den resistenten Überlebenswillen noch die nihilistische Unbekümmertheit durchscheinen lässt, die letztlich zu dem Ehe-Geschäft mit dem alternden Fürsten Basil führt: Der hält äußerlich an Standesethik und Adelsmoral fest und offenbart damit, wie innerlich morsch die gesellschaftlichen Regeln sind: Um eine bürgerliche Opernsängerin zu heiraten, verschachert er diese um eine halbe Million an den Grafen René. Der soll sie heiraten und drei Monate lang – ohne sie zu sehen oder um ihre Identität zu wissen – als Frau Gräfin behalten. Geschieden, geadelt und unberührt kann sie anschließend standesgemäß und formal korrekt im fürstlichen Ehehafen einlaufen.

Kein Zaubertrank fürs Heute

Natürlich kommt die Liebe dazwischen. Und der Zufall bricht sich mächtig Bahn, als im dritten Akt aus dem Nichts eine bejahrte Gräfin auftaucht, um ein Eheversprechen einzulösen, das die fürstliche Hoheit wohl in ihren wilden Jugendjahren ohne weiteres Nachdenken ausgesprochen hat. Immerhin ist diese „dea ex machina“ eine Paraderolle für Marilyn Bennett, die sie weidlich auskostet: „Alles mit Ruhe genießen, stets sich das Leben versüßen, ich lass zu allem mir Zeit.“

So geht Pariser Karneval in Hagen: Kenneth Mattice, Chor und Extrachor des Theaters Hagen in Franz Lehárs "Der Graf von Luxemburg". Foto: Klaus Lefebvre.

So geht Pariser Karneval in Hagen: Kenneth Mattice, Chor und Extrachor des Theaters Hagen in Franz Lehárs „Der Graf von Luxemburg“. Foto: Klaus Lefebvre.

Aus diesem Stoff mit faszinierend aktuellen Zügen ließe sich ungeachtet des abgestandenen Ehemoralins ein Zaubertrank fürs Heute brauen. Hedonismus und die Rolle des Geldes, der Wert von Beziehungen, die Frage nach authentischen Gefühlen und der Tanz auf dem Vulkan – „Wir bummeln durchs Leben, was schert uns das Ziel“ – sind Themen auch des 21. Jahrhunderts. Man kann sie ausspielen, ohne die Operette konzeptuell zu überfrachten.

Aber bei Hüve bleiben solche Themen in Bilderbanalität bunt übertüncht. Und Siegfried E. Mayers Bühne hat ihren besten Moment im zweiten Akt, für den er statt eines mondänen Salons die Bühne der Pariser Oper von hinten zeigt, wo Madame Angèle Didier in Erwartung ihrer fürstlichen Vermählung gerade das Finale ihrer letzten „Tosca“ singt und von einer Sperrholzkulisse der Engelsburg springt.

Wackere Sänger, aber kein Operetten-Ensemble

Die Opernsängerin, die eine ebensolche mimt, ist in Hagen Angela Davis: Ein klangsatter Sopran mit Stamina und Opulenz, aber keine Operettendiva. Dazu fehlt ihr Leichtigkeit und Eleganz. Ihr Inkognito-Ehemann, in Hagen ein Bariton, ist mit Kenneth Mattice attraktiver Bühnenerscheinung passend besetzt. Seine Höhe hat der Sänger technisch nicht im Griff, aber die melancholischen Seiten seiner Rolle trifft er, wenn er der Stimme im Zentrum auch verschattete Töne abgewinnt.

Richard van Gemert ist ein gekonnt charakterisierender Sänger, aber kein Operettenbuffo, und Cristina Piccardi hangelt sich bei ihren neckischen Auftritten an handgestrickten, vibratogemusterten Stimmfäden durch die Partie der Juliette Vermont, die mit ihrem mittellosen Maler Armand Brissart von einer soliden Zukunft träumt – aber in diesem Fall macht das fehlende Geld die ehrliche Liebe unmöglich. Keine Soubrette also, die sich mit Charme und flexiblem Changieren zwischen Sprache und Gesang ihre Partie zu eigen macht.

Die Hagener Sängerinnen und Sänger schlagen sich wacker, aber ein Operetten-Ensemble bilden sie nicht; auch das lustlos sich bewegende Ballett (Eric Rentmeister als Choreograph) hilft ihm nicht auf die Beine. Was etwa für die Barockoper gilt – das Bemühen um eine „historisch informierte“ Aufführungspraxis – liegt in der Operette (noch?) weit entfernt. Doch wer sie als Diminutiv der Oper versteht und entsprechend besetzt, geht an ihr vorbei.

Nota bene: Vor einer Generation gab es sie noch, die alten Entertainer der Operette. Eine Ahnung davon, wie so etwas funktionieren könnte, vermittelt Oliver Weidinger als Fürst Basil immer dann, wenn er hart an der Übertreibung entlang agiert, ohne die Grenze zu überschreiten. So eingefahren, klischeehaft und abgelebt sich das Genre früher präsentiert hat: Die agierenden Personen waren oft noch echte Könner ihres Fachs. Ohne Verklärung der Vergangenheit sei’s gesagt.

Das Hagener Orchester bemüht sich unter dem treibenden Stab von Rodrigo Tomillo, die schmierige Sentimentalität früherer Routine-Aufführungen gar nicht erst aufkommen zu lassen, in der Lehár’schen Partitur das leichthändige Erbe Jacques Offenbachs zu entdecken und mit frischen Tempi und spritziger Artikulation zu punkten. Dass es aus dem Graben öfter nach Paul Lincke tönt, liegt an den unterbelichteten Geigen, deren Glanz sich mit Sparbesetzung nicht gegen die üppig besetzten Bläser entfalten kann. Vom „lachenden Glück“ der Operette sind wir in Hagen also diesmal ein gutes Stück entfernt.

Weitere Vorstellungen: 15., 23. November; 4., 14., 18., 31. Dezember 2019; 5., 15. Januar; 16. Februar 2020.
Karten: Tel. (02331) 207 32 18. www.theaterhagen.de




Operetten-Passagen (11): Jacques Offenbachs „Pariser Leben“ – goldener Flitter in der grauen Nässe von Hagen

"Pariser Leben" von heute: Richard van Gemert (Gardefeu), Veronika Haller (Christine von Gindremarck), Boris Leisenheimer (Clochard). Foto: Klaus Lefebvre.

„Pariser Leben“ von heute: Richard van Gemert (Gardefeu), Veronika Haller (Christine von Gindremarck), Boris Leisenheimer (Clochard). (Foto: Klaus Lefebvre)

Zu ihrer Zeit waren Jacques Offenbachs Operetten topaktuell – und deswegen klappt es mit der Modernisierung meistens nicht. Zwischen laschem Historismus und bemühter Zeitgenossenschaft führt eine tückische Straße geradewegs in Belanglosigkeit, glitschig glatt gepflastert mit schalen Humor-Versuchen.

Offenbach zu inszenieren gehört in die Königsklasse, und an Figuren wie die Großherzogin von Gerolstein mit ihrer Entourage oder König Bobèche in den Gedärmen seiner Macht scheitern Regisseure unter Umständen erbärmlicher als an Parsifal oder Elektra. In Hagen ist nun unter der Hand von Holger Potocki einer der geglückteren Offenbach-Abende zu erleben.

Das Glück mag darin liegen, dass Potocki jede Form von Historismus meidet und das damals aktuelle, heute historisch-nostalgisch verklärte Paris nur als sanft ironisches Zitat zulässt. Sein Zugriff auf „Pariser Leben“ meint die französische Metropole heute, mit ihren Banlieus, ihren betongesättigten Schnellstraßengürteln, ihren Elendsquartieren und dem Innenarchitekten-Chic ihrer Luxusappartements, mit ihren Menschen aus aller Herren Länder, ihrem Mix von Religionen und dem Kampf ums tägliche Bestehen in der „bevölkerten Wüste“, wie Verdis Violetta die Stadt beschreibt. Und mit ihren Touristen, 34 Millionen pro Jahr sollen es sein, die ihre Erwartungen auf die „Stadt der Liebe“ oder die Kulturschätze zwischen Louvre und Quartier Latin projizieren.

Entlassen ins Leben von heute

Die Gondremarcks sind zwei davon – und sie werden im flotten Tempo der Eröffnungsszene gleich ins volle Pariser Leben von heute entlassen: Aus einem Taxi, das schnell das Weite sucht, retten sie nur sich selbst. Das Handy wird von einem Straßenjungen geklaut, die Handtasche mit Geld und Papieren verschwindet schon im Wagen. Da wird erst einmal auf Schwedisch gestritten, aber die Gäste aus dem Norden haben kaum eine andere Chance, als das Angebot eines vom fast food übergewichtig gewordenen Jungen anzunehmen: eine Nacht im „zufällig“ noch freien Airbnb-Zimmer. Und es zeigt sich: Vom Taxi bis zum Handyklau war alles von diesem Raoul de Gardefeu geplant …

Nur noch ein Traum: Das schwedische Touristenpaar am Bahnhof. Foto: Klaus Lefebvre

Nur noch ein nostalgischer Traum: Das schwedische Touristenpaar am Bahnhof. (Foto: Klaus Lefebvre)

Potocki aktualisiert, ohne die Rollen schrill zu überzeichnen oder ihnen Gewalt anzutun. Er schärft nur die Züge, die Offenbach und seine Librettisten Henry Meilhac und Ludovic Halévy vorgezeichnet haben und übersetzt sie – wie viele Teile des Dialogs – ins Heute. Dazu lässt er ein Panoptikum von Frankreich-Klischeefiguren kreisen, von Rokokokokotten über Karl Lagerfeld bis hin zu Obelix mit Hinkelstein, ausgestattet mit überbordender, manchmal grotesker Kostümpracht. Das mondäne 19. Jahrhundert, präsent in der vor dem vierten Akt eingeschobenen Bahnhofs-Szene des Beginns, ist im stimmungsvollen Bühnen-Setting von Lena Brexendorff nur noch ein Paris-Traum der schlafenden Baronin.

Auch ein Clochard hat sein Auftritts-Couplet unter einem Van-Gogh-Sternenhimmel – und er wird am Ende eine rührend-belehrende Rede halten, während sich zu „Oui, voilá, das ist das Pariser Leben“ noch einmal alles in den Dreh des Cancans stürzt – der Jude, der Muslim und der Christ inklusive. Jetzt erlebt das schwedische Paar im Tanz auf der Straße das „echte“ Paris mit den „echten“ Menschen. Es bräuchte diese Botschaft nicht, aber Potocki integriert sie so unaufdringlich in seine unterhaltsam und humorvoll erzählende Regie, dass sie die Illusion der Operette nicht im Lehrstückhaften verfestigt.

Kein „lustiges“ Aufdrehen

Offenbach ist also in diesem verheißungsvollen Präludium zu seinem Jubiläums-Jahr 2019 glücklich im Paris von heute angekommen – und das Hagener Publikum hätte allen Grund, die leeren Plätze im Zuschauerraum zu besetzen und sich zu unterhalten. Das gewandt spielende Ensemble trägt seinen Teil zum Amüsement bei, weil Potocki vermeidet, die Figuren „lustig“ aufdrehen zu lassen. Das Lachen will nicht mit Gags erzeugt werden, sondern ergibt sich aus dem wissenden Erleben alltäglicher Absurdität. Und wo der Unsinn seinen Triumph auskostet, auf der inszenierten „Pariser“ Party im Etablissement der Madame Quimper-Karadec, lässt Potocki seine Darsteller auch richtig aufdrehen.

Veronika Haller glänzt vor allem in den ariosen musikalischen Momenten; der Konversationston á la Hortense Schneider – der Star der Uraufführung – ist ihre Sache weniger. Aber die innere Entwicklung der Baronin Gondremarck von der kulturbeflissenen Touristin hinein in die frivolen Untiefen der „vie parisienne“ zeichnet Haller charmant nach. Ihren Gatten, den Baron, verkörpert Kenneth Mattice sehr glaubwürdig – ob er als lüsterner Nordmann arglos auf die raffinierten Fallen des amourösen Geschäfts hereinfällt oder als schwerblütiger Schwede mit dem Tempo des Pariser Liebeslebens nicht mithalten kann. Dafür sorgen mit viel Sex-Appeal Elizabeth Pilon – dünn an Figur wie an Stimme – als anziehende Pauline und Kristine Larissa Funkhauser als selbstbewusste, saftig auftretende Metella, die ihrem Ruf als „leichtes Mädchen“ eine ganz andere Realität entgegensetzt.

Korsage aus gelbem Absperrband

Marilyn Bennett als Madame Quimper-Karadec glänzt nicht nur mit dem eingeschobenen „Midnight in Paris“ – dafür muss man auf das irre komische Offenbach-Ensemble von der aufgeplatzten Naht verzichten –, sondern spielt als schriller Vamp aus der Szene in einer Korsage aus gelbem Absperrband Dominanz und Körperreiz aus, begleitet von „Gonzo“ (Thorsten Pröhln), einem devoten Leder-Subjekt an der Kette. Richard van Gemert adaptiert die jugendliche Rolle des Gardefeu mit Bravour: ein kleiner Gauner mit menschlichen Zügen, Humor und erst finanziellem, dann schwärmerisch-unbeholfen amourösem Interesse an der blonden Frau aus Schweden.

Stephan Boving ist sein ungeschickter Partner Bobinet, der bei der Organisation der Party auf die Idee kommt, den Event auf Facebook zu posten. Boris Leisenheimer hat als Clochard die Rolle des millionenschweren Brasilianers in einen weise-abgeklärten Clochard zu verwandeln, was ihm mit leicht komisch schillernder Würde auch gelingt. Das Orchester unter Andreas Vogelsberger erinnert zunächst daran, dass wir uns in Westfalen, nicht an der Place Pigalle befinden: die Töne sind nicht spitz artikuliert, der Rhythmus federt schwerfällig. Aber die Balance stimmt, und im Lauf des Abends gewinnen die Tanzformate und die kurznotigen melodischen Burlesken Elan und Energie. Da überzieht der Schimmer goldenen Flitters selbst die graue Nässe von Hagen.

Weitere Aufführungen: 27., 31. Dezember 2018 – 19., 26. Januar; 24. Februar, 23. März, 26. April, 5. und 12. Mai 2019.

Info: http://www.theaterhagen.de/veranstaltung/pariser-leben-1122/5944/show/Play/




Die Kunst kämpft am Limit: Theater Hagen stellt trotz harter Kürzungen einen ehrgeizigen Spielplan für 2018/19 vor

Hier wird, so kommt es einem vor, mit einem Mut gekämpft, der sich bewusst ist, dass er nichts mehr verlieren kann. Die verordneten Kürzungen treffen das Theater Hagen in der kommenden Spielzeit in vollem Umfang und müssen bis 2022 realisiert sein. 1,5 Millionen sind für einen Etat von rund 14,25 Millionen Euro eine gravierende Summe. Und dennoch kündigt Intendant Francis Hüsers für 2018/19 die gleiche Zahl von Vorstellungen und sogar mehr Produktionen an.

Blick aufs Hagener Theater. (Foto: Werner Häußner)

Blick aufs Hagener Theater. (Foto: Werner Häußner)

Wie soll das funktionieren angesichts des notwendigen Abbaus von künstlerischem Personal, etwa in Orchester und Ballett? Hüsers, Intendant seit der Spielzeit 2017/18, will die Ressourcen des „sehr gut aufgestellten Theaters“ ausschöpfen, will Doppelfunktionen des Personals „noch exzessiver“ nutzen. Das Publikum soll nicht merken, was Geschäftsführer Michael Fuchs bei der Vorstellung der kommenden Spielzeit sehr realistisch beschrieb: „Das Hemd ist dünner geworden, die Risiken steigen“. Sagen wir es deutlicher: Das Hemd ist nur noch ein Spinnfädchen, und ob die Risiken einer solchen Null-Reserve-Politik noch zu bewältigen sind, wird das kühne Führungsteam des Theaters Hagen ab Herbst zu beweisen haben.

Selbstausbeutung

Was das alles für die Menschen am Haus bedeutet, muss ungeschminkt ausgesprochen werden. Es ist ja nicht so, dass der künstlerisch erfolgreiche frühere Intendant Norbert Hilchenbach hätte aus dem Vollen schöpfen können. Ein Chronist könnte die Sparwellen aufzählen, die bereits über das Theater hinweggerollt sind. Jetzt geht es wohl nur noch um Selbstausbeutung am Limit. Und die Künstlerinnen und Künstler an diesem Haus verdienen allein dafür Anerkennung, dass sie sich – um der Kunst oder der eigenen Existenz willen – diesen Zumutungen unterwerfen.

Dennoch wäre simple Politikerschelte wohlfeil – und man könnte ihr leicht entgegenhalten, dass Hagen froh sein darf, überhaupt noch ein Theater mit eigenem Ensemble halten zu können. Die Ursachen dieser Krise liegen tief in einer seit langem defizitären Kulturpolitik. Hoffnungen ruhen auf der Landesregierung: Theoretisch könnte sie mit den Baukosten von 300 Metern Autobahn die Finanzierung des Hagener Theaters mit einem Schlag sanieren und den Abbau von hoch kreativen Arbeitsplätzen in dieser nicht gerade von Kultur strotzenden Stadt rückgängig machen.

Das Leitungsteam des Theaters Hagen stellt das Spielzeitheft 2018/19 vor. Das kleine Format und die gelbe Farbe erinnern nicht ohne Hintersinn an ein bekanntes Produkt, mit dem große Literatur für kleines Geld möglichst vielen Menschen zugänglich gemacht werden soll. Foto: Theater Hagen

Das Leitungsteam des Theaters Hagen stellt das Spielzeitheft 2018/19 vor. Das kleine Format und die gelbe Farbe erinnern nicht ohne Hintersinn an ein bekanntes Produkt, mit dem große Literatur für kleines Geld möglichst vielen Menschen zugänglich gemacht werden soll. (Foto: Theater Hagen)

Doch zurück zur Kunst. Hüsers kündigt einen Spielplan mit Schwerpunkt auf „romantischer“ Oper an – was man eben so landläufig darunter versteht. Darunter fallen sicherlich Antonín Dvořáks „Rusalka“ (ab 1. Dezember 2018) und Richard Wagners „Tristan und Isolde“, ab 7. April 2019 fünf Mal sonntags auf dem Spielplan, mit GMD Joseph Trafton am Pult und Jochen Biganzoli als Regisseur.

Besonderes Profil zeigt Hüsers damit nicht, aber es ist ihm zugute zu halten, dass er bei der Top-Riege der Komponisten nicht zu den populärsten Titeln greift: Von Giuseppe Verdi etwa setzt er „Simon Boccanegra“ an (ab 29. September, Regie Magdalena Fuchsberger), von Gioachino Rossini „Il Turco in Italia“ (ab 2. Februar 2019), für den er Christian von Götz als Regisseur gewonnen hat. Cole Porters „Kiss me, Kate“, „Pariser Leben“ zum Offenbach-Jahr, Richard O`Briens „The Rocky Horror Show“ und Duncan Sheiks „Spring Awakening“ nach Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“ in Zusammenarbeit mit der Hochschule Osnabrück markieren einen Schwerpunkt auf dem unterhaltenden Musiktheater – was Sinn und sicher auch Spaß macht und in der Region eine eigene Farbe setzt. Der beliebte „Zauberer von Oz“ als weihnachtliches Fantasiestück dürfte bei Kindern und Erwachsenen gleichermaßen Beifall finden.

Spannendes Projekt mit dem Osthaus Museum

Ein spannendes Projekt realisiert das Theater gemeinsam mit dem Osthaus Museum. Zu Ostern 2019 kombiniert es auf der Bühne Claudio Monteverdis berührendes dramatisches Madrigal „Combattimento di Tancredi e Clorinda“ mit einer Präsentation von Skulpturen aus dem Museum und will mit dieser Verbindung der Künste die existenziellen Motive von Liebe, Tod und Auferstehung umkreisen.

Ab 18. Mai 2019 arbeiten Ballett und Oper zusammen in einem Doppelabend mit Henry Purcells „Dido und Aeneas“ und Georg Friedrich Händels „Wassermusik“. Alfonso Palencia übernimmt die Inszenierungs-Choreografie und wird mit Sängern und Tänzern einen dialogischen Abend erarbeiten, der mit Mut zum Risiko die Schranken zwischen den Sparten einzureißen verspricht. Das Ballett eröffnet Alfonso Palencia zu Beginn der Spielzeit am 15. September mit der Wiederaufnahme eines Klassikers: „Cinderella“ mit der Musik Sergej Prokofjews (Premiere war am 14. April).

„Trotz aller Unkenrufe – es gibt das Schauspiel in Hagen und es wird es weiter geben“, verkündete Hüsers bei der Pressekonferenz. Im Programm stehen Shakespeares „Wie es euch gefällt“ mit der bremer shakespeare company und eine Adaption des Romans „Menschen im Hotel“ von Vicki Baum vom Rheinischen Landestheater Neuss, aber auch ein Solo-Abend mit Marilyn Bennett, der einer Figur aus James Joyces „Ulysses“, Molly Bloom, gewidmet ist. Als Eigenproduktion kündigt Hagen Friedrich Schillers „Die Räuber“ ab 12. Januar 2019 an – und zwar mit Kristine Larissa Funkhauser aus dem Sängerensemble als Amalia.

In den Sinfoniekonzerten ist Ungewöhnliches zu entdecken

Generalmusikdirektor in Hagen ist Joseph Trafton. Foto: Fritz J. Schwarzenberger

Generalmusikdirektor in Hagen ist Joseph Trafton. (Foto: Fritz J. Schwarzenberger)

Ein Blick ins Programm der zehn Sinfoniekonzerte lohnt sich: Beim ersten Konzert der Saison am 11. September dirigiert Joseph Trafton Gustav Mahlers Erste und das Mandolinenkonzert von Avner Dorman, der 2017 mit der Oper „Wahnfried“ in Karlsruhe einen grandiosen Erfolg feiern konnte. Im dritten Konzert am 13. November spielt ein „rising star“ der Klavierszene, Adam Laloum, das B-Dur-Konzert von Johannes Brahms; zuvor erklingen John Adams‘ „The Chairman Dances“ – ein Echo auf die künstlerisch so ergiebige Reihe amerikanischer Opern der letzten Jahre am Hagener Theater. Am 28. Mai 2019 kombiniert Trafton Adams‘ „Harmonielehre“ mit Richard Strauss „Ein Heldenleben“.

Auch in den anderen Konzerten ist Ungewöhnliches zu entdecken, ob Sinfonien von Luigi Boccherini, die Uraufführung eines Konzerts für Horn und Trompete von Wolf Kerschek am 9. Oktober, verbunden mit Dvořáks Sechster Symphonie, Werke von Ralph Vaughan Williams oder am 18. Juni 2019 ein Abend mit HK Gruber und dem Pianisten Frank Dupree mit amerikanischer Musik von Gershwin und Weill bis Duke Ellington. Und wer sich für regionale (Musik-)Geschichte interessiert, dem sei das Gedenkkonzert an den ersten Großangriff auf Hagen 1943 am 1. November 2018 ans Herz gelegt. Darin erklingt die „Trauermusik“ des damaligen Hagener GMD Hans Herwig.

Info: www.theaterhagen.de




Neuer Intendant für das Theater Hagen: Was treibt Francis Hüsers dazu, diesen Posten anzustreben?

Gestern Abend war es am Rand eines Konzerts in Hagen zu erfahren: Der neue Intendant des Theaters steht fest. Francis Hüsers, bis 2015 Operndirektor und Stellvertretender Intendant der Staatsoper Hamburg, sei einstimmig gekürt worden, hieß es.

Francis Hüsers (Foto: Jörn Kipping)

Francis Hüsers (Foto: Jörn Kipping)

Kurze Zeit später hatte auch die Westfalenpost eine Meldung auf ihrer Webseite. Die Entscheidung des Rats am 18. Mai dürfte Formsache sein: Niemand wird die Qual der Wahl fortsetzen wollen, die sich in der finanziell schwer gebeutelten Stadt nun schon seit Mitte 2015 hinzieht.

Imposanter Lebenslauf

Der 57-jährige Francis Hüsers, aufgewachsen in Krefeld und Mönchengladbach, hat auf seiner Webseite einen imposanten Lebenslauf aufzuweisen: Dramaturg zwischen Hamburg und Berlin, Zusammenarbeit mit profilierten Regisseuren wie David Alden, Johannes Erath oder Jochen Biganzoli, von 1995 bis 2005 Referent und Künstlerischer Produktionsleiter an der Hamburgischen Staatsoper, dann Leitender Dramaturg und Künstlerischer Produktionsleiter an der Staatsoper Unter den Linden Berlin.

2010 holte ihn Simone Young zurück nach Hamburg und machte ihn zu ihrem Stellvertreter. Derzeit arbeitet Hüsers frei als „Autor, Dozent und Dramaturg für Oper und Musiktheater sowie als Fachberater für Kulturschaffende“. Seine letzten Projekte als Dramaturg: „Tosca“ in Halle in einer – ziemlich missglückten – Regie von Jochen Biganzoli, „Lohengrin“ in Sankt Gallen mit Vincent Boussard, dem Regisseur der von der Kritik nicht eben günstig aufgenommenen Inszenierung von Meyerbeers „Le Prophète“ in Essen, zuvor Korngolds „Die tote Stadt“ an der Oper Graz mit Johannes Erath, ausgezeichnet mit dem Österreichischen Musiktheaterpreis.

Langwieriges Berufungsverfahren

Stellt sich die Frage, was den 1960 geborenen studierten Soziologen, Germanisten und Sozialpädagogen daran reizt, ausgerechnet nach Hagen zu gehen. Denn nicht nur das turbulente Berufungsverfahren stellt der Stadt kein gutes Zeugnis aus: Im April 2016 endete die erste Runde ohne einen geeigneten Kandidaten, nachdem sich das Verfahren seit August 2015 hingeschleppt hatte.

Das Theater Hagen, aufgenommen 2014. Foto: Werner Häußner

Das Theater Hagen, aufgenommen 2014. Foto: Werner Häußner

Der aussichtsreichste Bewerber, Ex-Marketingleiter Jürgen Pottebaum, verzichtete, nachdem ihm offenbar klar geworden war, dass die vorgesehenen Kürzungen des Theaterzuschusses der Stadt von 15 auf 13,5 Millionen Euro ab 2018 nicht zu realisieren seien. Im September 2016 kam Dominique Caron, Leiterin der Eutiner Festspiele in Schleswig-Holstein, als neue Intendantin ins Gespräch. Die Wahl schien perfekt. Aber nach harscher Kritik, unter anderem an ihrem Führungsstil, zog Caron ihre Bewerbung im November 2016 zurück.

Ein Mann für Kürzungen und Einsparungen?

Francis Hüsers wirkt nicht wie ein Theatermann ohne künstlerischen Ehrgeiz. Er wirkt auch nicht wie einer der eiskalt-glatten Kulturmanager oder wie einer jener eilfertigen Liebediener der Politik, die noch jedem versprechen, mit der Hälfte des Geldes des Vorgängers doppelt so gutes Theater zu machen. Seine Hamburger Bilanz liest sich eindrucksvoll, wenn man auch über den künstlerischen Ertrag in einigen Fällen geteilter Meinung sein kann. Sie zeigt Offenheit für neue Werke und für das an den Rand gedrängte Repertoire – eben das, was das Theater Hagen schon vor der Zeit des verdienstvollen scheidenden Intendanten Norbert Hilchenbach über die Region hinaus bekannt gemacht hat.

Umso rätselhafter ist Hüsers Interesse an einem Theater, das bisher schon auf dem Level eines kleineren Stadttheaters arbeiten musste, mit der Absenkung des Zuschusses aber nach jeder seriösen Prognose unter die Deadline eines noch einigermaßen funktionsfähigen Mehrspartenhauses fällt. Hat er’s wirklich so nötig? Oder treibt ihn unstillbarer Ehrgeiz auf den Schleudersitz eines Intendanten, der gezwungen ist, vor allem durch Kürzungen und Einsparungen aufzufallen? Der Mann muss ein Geheimnis haben.

Und so darf man, um die abgestandene Formulierung jedes ratlosen Journalisten zu bemühen, gespannt sein, was er an Lösungen für die Hagener Malaise mitbringt. Glück muss man ihm auf jeden Fall wünschen!




Einsam auf der Höhe der Kunst: Ernst Kreneks „Jonny spielt auf“ am Theater Hagen

Jonny (Kenneth Mattice) schwebt ein - und spielt auf. Foto: Klaus Lefebvre

Jonny (Kenneth Mattice) schwebt ein – und spielt auf. Foto: Klaus Lefebvre

Nein, eine optimistische Oper ist Ernst Kreneks „Jonny spielt auf“ nicht. Auch wenn der Komponist selbst in seinem Bandgeiger aus Amerika eine Figur des Urwüchsigen, Ursprünglichen und Freien gesehen hat. Roman Hovenbitzer inszeniert am Theater Hagen – im Vorgriff auf den 25. Todestag des Komponisten – die fast neunzig Jahre alte Erfolgsoper äußerlich als Künstlerdrama, im Kern aber als ein Stück über gespaltene Welten und Selbsttäuschungen.

Max, der Komponist, ersteigt einen Gletscher, bewegt sich auf der Bühne von Jan Bammes in einem weiß erstarrten, zerklüfteten Gebirge aus gestapelten Partituren vor einer abweisend geschlossenen, riesigen Eiswand. Er steht auf der Höhe seiner Kunst, aber erstarrt und einsam. Die Begegnung mit der Sängerin Anita imaginiert er vorher: Er stellt sie in einem Bühnenmodell nach. Ein Theater – Raum der Träume, der tieferen Wahrheiten?

Das Hotel, in das die beiden, mit einer aufkeimenden Liebe im Herzen zurückkehren, ist weniger ein Ort als ein Raum: ein Flügel, das schwer bewegliche Instrument mit den genau gestimmten Tönen, im Hintergrund klassische Statuen, das uralte geistige Erbe Europas. Ganz anders das Pariser Hotel, der Lebensraum Jonnys: Der Musiker aus der neuen Welt schwebt ein auf einer flirrenden Kugel, das Saxofon in den Händen – das leichte, transportable Instrument mit den „schmutzigen“ Tönen und der aufreizenden Form. So markiert Bammes – unterstützt durch seine eigenen Kostüm-Kreationen – Schauplätze als sinnliche Verdichtungen geistiger Zustände und schafft Räume, wie sie nicht häufig glücken.

Natürlich ist der Auftritt Jonnys eine Anspielung auf das Plakat der Ausstellung „Entartete Musik“ der Nazis, auf dem das Zerrbild eines schwarzen Menschen ein Saxofon bläst. Aber der Jonny in Hagen ist nicht schwarz – nicht wegen einer fragwürdigen political correctness, sondern weil er es heute als symbolische Figur nicht sein muss, um verstanden zu werden.

Dieser Jonny ist kein Sympathieträger, sondern ein kleiner Gauner. Er nimmt sich, was er braucht; er beansprucht alles, was „gut ist“, für sich. Jonny lebt die Entwurzelung, „Heimat“ ist für ihn eine flüchtige Erinnerung. Sein Umfeld ist das Hotel, das Symbol der unsteten Existenz moderner Menschen. Seine Liebe ist die flüchtige sexuelle Begegnung; seine Musik der Katalysator der neuen Zeit.

Der Komponist Max (Hans-Georg Priese) in der eisigen Einsamkeit am Gipfel seiner Kunst. Foto: Klaus Lefebvre

Der Komponist Max (Hans-Georg Priese) in der eisigen Einsamkeit am Gipfel seiner Kunst. Foto: Klaus Lefebvre

Dem Team des Theaters Hagen gelingt es, Kreneks Werk aus dem Ruch der „Zeitoper“ zu befreien: Was 1927 Ahnung, Hoffnung, Faszination war, ist heute nicht nur Rückschau, sondern lässt an die Bruchstellen der Gegenwart und die Unsicherheiten der Zukunft denken: Es gibt sie immer noch, die Leute wie den Stargeiger Daniello, die selbstgefällig das kulturelle Erbe für sich ausschlachten, oder die Manager, die bei der Kunst vor allem das tolle Geschäft im Auge haben.

Aber dieser Jonny bleibt nicht in einem selbstreferenziellen „Künstlerdrama“ stecken. Im Blick auf einen ambivalenten Freiheitsbegriff, aber auch in der Kritik an einem dualistischen Begriff vom Leben steckt Relevanz für die Gegenwart. Wenn der Chor am Ende den Anbruch einer neuen Zeit, die Überfahrt ins unbekannte Land der Freiheit besingt, setzt Bammes den Menschen die patinagrünen Strahlenkronen der Freiheitsstatue auf. Da trifft sich die Hagener Inszenierung mit derjenigen, die Frank Hilbrich und Volker Thiele 2014 für das Nationaltheater Weimar erarbeitet hatten. Der Gletscher reißt auf und verschwindet am Ende im Dunkel einer Sternennacht, deren blinkende Lichter nur billige Goldfolie sind. Und Max springt in letzter Sekunde auf den Zug auf, mit dem Anita Richtung Amerika abreist. Ob es der Zug ist, „der ins Leben führt“, bleibt offen.

Ambivalente Feier der Freiheit. Szene aus dem Finale von "Jonny spielt auf" am Theater Hagen. Foto; Klaus Lefebvre

Ambivalente Feier der Freiheit. Szene aus dem Finale von „Jonny spielt auf“ am Theater Hagen. Foto: Klaus Lefebvre

Musikalisch können Florian Ludwig und das Philharmonische Orchester Hagen ebenfalls auf ganzer Linie überzeugen. Die vielen filigranen Details sind sorgfältig ausgearbeitet, herbe Akkorde werden nicht geglättet, spannungsreiche Synkopen und elektrisierende Rhythmen haben Biss und Kontur. Aber auch Momente Korngold’schen Melos kommen nicht zu kurz. Die Musiker haben das Gespür für die Elemente, die Krenek aus Foxtrott und Swing seiner Zeit in seine musikalische Sprache überträgt. Eine „Jazz-Oper“ ist „Jonny spielt auf“, gegen alle immer noch auftauchenden Klischees, deswegen nicht.

Hagen kann mit einer luxuriösen Besetzung aufwarten: Edith Haller kommt zwischen Paris, Wien und den Bayreuther Festspielen (Elsa in „Lohengrin“) in Hagen vorbei und singt mit leuchtender, voluminöser, nur in der Höhe ein wenig angerauter Stimme die Sängerin Anita, schwankend zwischen besorgter Liebe und lockender Karriere.

Den „grübelnden Intellektuellen Mitteleuropas“ (Krenek) verkörpert Hans-Georg Priese mit kraftvollem, festem Tenor. Kenneth Mattice setzt für den Jonny viel körperliche Agilität und einen angemessen spröde timbrierten Bariton ein. Maria Klier gewinnt die Herzen als kecke Yvonne. Andrew Finden (Daniello), Rainer Zaun (Manager) und Keija Xiong (Hoteldirektor) komplettieren das Ensemble auf einem durchgehend qualitätvollen Niveau.

Es hat etwas vom Bild des geigenden Todes, wenn Jonny auf seiner gestohlenen Amati der alten Welt das Farewell spielt, während auf der Bühne ein Traum zerbricht und die szenische Klammer zum Beginn hergestellt wird – ein überraschendes Bild, das für Deutungen offen ist …

Wieder ist dem Theater Hagen in seiner seit mehreren Jahren gepflegten Serie von Opern des 20. Jahrhunderts ein großer Abend gelungen. Und erneut der Nachweis, wie wichtig solche kleineren Bühnen für das kulturelle Leben eines Landes sind. Bei den politisch derzeit aktiven Kulturvernichtern wird das – wie andere Hagener Erfolge, von Previns „Endstation Sehnsucht“ (2008/09) über Carlisle Floyds „Susannah“ (2011/12) bis Samuel Barbers „Vanessa“ (2014/15) – wohl wenig Eindruck hinterlassen. Zu Optimismus besteht kein Anlass.

Weitere Aufführungen: 30. Januar, 4., 14., 19., 24. Februar, 9. März, 2. April, 29. Mai. Tickets: (0 23 31) 207-3218. www.theaterhagen.de




Die Säulen der Macht: Franz Lehárs „Das Land des Lächelns“ wird in Hagen ernst genommen

Maskenhaft starr die Menschen und die Tradition: China im Bühnenbild der Hagener Neuinszenierung von Franz Lehárs "Das Land des Lächelns". Foto: Klaus Lefebvre

Maskenhaft starr die Menschen und die Tradition: China im Bühnenbild der Hagener Neuinszenierung von Franz Lehárs „Das Land des Lächelns“. Foto: Klaus Lefebvre

Säulen stehen für Macht, für Festigkeit, für ewige Werte. Sigfried E. Mayer stellt sie in das imperiale Wien; zwischen ihnen entwickelt sich die schwärmerische Liebe zwischen Lisa und Sou-Chong. Sie ragen aber auch im zweiten Teil in die Bühnenhöhe, wenn sich in China die Tragödie dieser Beziehung ereignet. In beiden Ländern stützen steinerne Grundsätze die Gesellschaft. Unverrückbar für Individuen wie die gebildete, persönlichkeitsbewusste Feldmarschallstochter; unbeweglich auch trotz seiner politischen Macht für den selbstbewussten, reformbereiten chinesischen Prinzen. Ein einfaches, aber sprechendes Bild, das Mayer für die Neuinszenierung der Franz-Lehár-Operette „Das Land des Lächelns“ in Hagen entworfen hat.

Keine Chance also, die Schranken auf Dauer zu überwinden zwischen dem alten Europa und dem noch älteren China. Der greise Offizier im unmerklich sich auflösenden k.u.k-Vielvölkerstaat – Werner Hahn ist der arg plebejische Marschall – hat zwar keine Chance mehr, seiner emanzipierten Tochter Widerstand zu leisten. Aber umso eiserner ist die Faust, mit der Onkel Tschang – Rainer Zaun in traditionellem Gewand und undurchdringlicher Miene – das fernöstliche Riesenreich zusammenhält und seinen Neffen in die Bahn der Tradition zwingt.

In Roland Hüves Inszenierung zieht sich die psychische Fessel unnachsichtig zu. Den Ausweg finden die flotte Prinzessin Mi und der unbekümmerte Leutnant Gustl: Sie schlüpfen unter dem Gewicht von Herkommen und Staatsräson durch: „Ich liebe Dich und Du liebst mich, und da liegt alles drin.“

Nicht weniger erstarrt - die Gesellschaft des alten Europa. Szene aus dem ersten Akt der Lehár-Operette "Das Land des Lächelns". Foto: Klaus Lefebvre

Nicht weniger erstarrt – die Gesellschaft des alten Europa. Szene aus dem ersten Akt der Lehár-Operette „Das Land des Lächelns“. Foto: Klaus Lefebvre

Maria Klier holt die Tennis spielende Mi heraus aus der putzigen Soubrettensphäre. Da leidet ein junges Mädchen, das etwas verstanden hat vom Eigenwert des Individuums, von persönlicher Liebe, von der seelisch mörderischen Folge eines hohlen Traditionalismus. Sie äußert bare Verzweiflung, wenn sie in ihren „Zig-Zig“-Rufen den Schmerz aussichtsloser Liebe über kulturelle Grenzen hinweg hinausschluchzt. Aber sie entdeckt den Fluchtweg, der dem „hohen“ Paar verschlossen bleibt. Mit ihrem Leutnant – Richard van Gemert lässt das Tenorbuffo-Klischee weitgehend hinter sich – ist sie auch der sängerische Pluspunkt der Hagener Aufführung.

Am Rollenporträt liegt es nicht, dass Veronika Haller als Lisa nicht zur Gänze überzeugt: eine elegante Erscheinung im Frack, eine Frau die weiß, was sie will, kein naiver Schwarmkopf aus der Wiener Oberschicht. Aber Haller kann das technische Niveau für ihre anspruchsvolle Gesangspartie nicht garantieren. Nach wunderschön verhaltenem Beginn wird ihr Sopran immer steifer und härter, in der Höhe kalt und forciert, im Legato uneinheitlich und unfrei.

Die Macht der Tradition verkörpert Onkel Tschang (Rainer Zaun). Gegen sie hat Sou-Chong (Kejia Xiong) keine Chance. Foto: Klaus Lefebvre

Die Macht der Tradition verkörpert Onkel Tschang (Rainer Zaun). Gegen sie hat Sou-Chong (Kejia Xiong) keine Chance. Foto: Klaus Lefebvre

Für den Prinzen aus dem Reich der Mitte kann Hagen mit einem chinesischen Sänger aufwarten: Kejia Xiong artikuliert ausgezeichnet, aber der Tenor hat keinen Schmelz im gequetschten Timbre, trifft die Intonation zu oft nur ungefähr. Bei Verena Grammel reicht ein Satz, mit dem sie als Tante Hardegg die ganze verknöcherte Welt der alten europäischen Monarchie vergegenwärtigt – so bringt man Nebenrollen ein.

Mit dem Philharmonischen Orchester Hagen waltet Mihhail Gerts über den Lehár-Klang. Er hat 2014 den „Deutschen Operettenpreis für junge Dirigenten“ gewonnen. Die zu klobigen Anfangstakte und das etwas schwerfällige Tempo überwindet er schnell, muss aber immer wieder nach einer flüssig-eleganten Phrasierung suchen. „Von Apfelblüten einen Kranz“ lässt er arg verschleppen. Im ersten Finale am chinesischen Hof macht der estnische Dirigent mit majestätischem Aplomb deutlich, wo Lehár wohl auf die drei Jahre vorher uraufgeführte – und schon im Juli 1926 in Dresden nach Deutschland gekommene – „Turandot“ Giacomo Puccinis geschielt haben mag. In der Zeremonie der „gelben Jacke“ (so hieß die erste Version der Operette) trumpfen Chor (Wolfgang Müller-Salow) und Orchester beeindruckend wuchtig auf.

Doch dabei bleibt es nicht: Das Orchester arbeitet immer wieder schöne instrumentale Details heraus. Alfonso Palencias Choreografie unterstreicht, wie die Gesellschaften funktionieren: in Wien mit hohler militärischer Mechanik, in Peking in ritualisierten Bewegungen maskenhaft-unheimlicher Gestalten.

Man verlässt das Theater Hagen voller Hochachtung für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Franz Lehárs viel gespieltem Meisterwerk und voller Trauer, dass solche Leistungen seit Jahren von einer Kulturpolitik, die diese Bezeichnung nicht verdient, ignoriert und finanziell immer weiter ausgehöhlt werden.

Nächste Vorstellungen am 31.12.2015, 8. und 20.1.2016. Karten: Tel.: (0 23 31) 207 32 18. Weitere Infos: www.theaterhagen.de




Frech und weltläufig: „Ball im Savoy“ von Paul Abraham am Theater Hagen

Eleganter Bohemièn: Johannes Wollrab als Aristide in "Ball im Savoy" in Hagen. Foto: Klaus Lefebvre

Eleganter Bohemièn: Johannes Wollrab als Aristide in „Ball im Savoy“ in Hagen. Foto: Klaus Lefebvre

Nein, einen besonders guten Ruf genossen die Operetten von Paul Abraham nach dem Zweiten Weltkrieg nicht: Am ehesten tauchte noch „Viktoria und ihr Husar“ auf den Spielplänen auf, weil sie mit dem Schlager „Reich mir zum Abschied noch einmal die Hände“ dem Zeitgeschmack entsprechend recht gut zu sentimentalisieren war.

Aber „Die Blume von Hawaii“ hielt man spätestens in den siebziger Jahren für grenzwertig bis unspielbar, und „Ball im Savoy“ war seit dieser Zeit so gut wie völlig verschwunden – trotz eines prominent besetzten Films von 1955 mit Nadja Tiller, Caterina Valente, Bully Buhlan und Bibi Jones und einer TV-Produktion von 1971 mit Gritt Boettcher, Christiane Schröder, Klaus Löwitsch und Theo Lingen.

Das scheint sich seit einigen Jahren zu ändern: Den Kolonial-Exotismus der „Blume von Hawaii“ sieht man heute aus einer anderen Perspektive. Die rekonstruierte Partitur, wie sie an der Wiener Volksoper erklang, erwies die genialen Fähigkeiten Abrahams als Instrumentator. „Viktoria und ihr Husar“ wurde durch Florian Ziemen in Gießen gründlich entstaubt. Und „Ball im Savoy“, dem noch Operetten-Spezialist Volker Klotz nicht viel gute Worte schenkte, weckte der WDR 2010 mit einer konzertanten Aufführung – ebenfalls in rekonstruierter Form – aus dem Dornröschenschlaf.

Rekonstruierten die Partitur von "Ball im Savoy": Matthias Grimminger und Henning Hagedorn. Foto: Werner Häußner

Rekonstruierten die Partitur von „Ball im Savoy“: Matthias Grimminger und Henning Hagedorn. Foto: Werner Häußner

Die phänomenale, opulente Premiere an der Berliner Komischen Oper im Juni 2013 markierte nicht nur die Rückkehr von Paul Abrahams Musik an den Ort ihrer Entstehung, sondern offenbar auch eine Trendwende in der Rezeption. „Ball im Savoy“ erschien in den letzten beiden Jahren in Plauen-Zwickau und Gera-Altenburg, kommt im Mai 2015 in Halle/Saale heraus und wird derzeit in Hagen gespielt. Nicht zu vergessen: In Dortmund steht mit „Roxy und ihr Wunderteam“ eine weitere Abraham-Operette auf dem Spielplan, die nicht zur Trias der Erfolge der Weimarer Zeit gehört, sondern erst 1936 entstand, als der aus Ungarn stammende, aus Deutschland vertriebene Jude Paul Abraham in seiner Heimat an seine Berliner Erfolge anzuknüpfen versuchte.

In Hagen führen Regisseur Roland Hüve und Ausstatter Siegfried E. Mayer einen Kampf gegen die Armut des Theaters, den sie nur zum Teil gewinnen. Das Bühnenbild mit seinen von Ulrich Schneiders Licht gnädig geschönten Vorhängen kann das mondäne Flair nicht beschwören, ist aber klug konzipiert. Denn es lässt Raum für die Choreografien und wirkt als unauffälliger Horizont für Mayers wirklich atemberaubende Kostüme. Sie lassen die verschwenderische Revue ahnen, die im Dezember 1932 die Berliner Theaterunternehmer Rotter im Großen Schauspielhaus (in DDR-Zeiten der alte Friedrichstadtpalast) ausstatteten, um den dringend benötigten finanziellen Erfolg zu erzielen.

Nur scheinbar ein Paar - oder doch nicht? Marilyn Bennett als mondäne Tangolita und Johannes Wollrab als Aristide in "Ball im Savoy" in Hagen. Foto: Klaus Lefebvre

Nur scheinbar ein Paar – oder doch nicht? Marilyn Bennett als mondäne Tangolita und Johannes Wollrab als Aristide in „Ball im Savoy“ in Hagen. Foto: Klaus Lefebvre

Mayer lässt es glitzern und funkeln, in Weiß und Rot, Gold und Violett. Ronald Bomius und seine Mitarbeiter in der Maske verwandeln das Ballett, den Chor und die Statisterie in bubiköpfige Damen und pomadig gescheitelte Herren – die ganze demí-monde des Berlin der zusammenbrechenden Weimarer Republik gibt sich tanzend und swingend ein Stelldichein.

Den Damen bleibt er nichts schuldig: Madeleine (Veronika Haller), die so gerne treu und häuslich wäre, hat in Weiß und Goldblond einen rauschenden Auftritt. Eine Affäre aus den Dandy-Zeiten ihres Ehemanns Aristide (Johannes Wollrab), die schöne Tangolita (Marilyn Bennett), tritt als rauchig-rote Versuchung in die Arena der Verwicklungen, an deren Ende die Unschuld der beinahe betrogenen Betrügerin Madeleine feststeht.

Den Trick zum Beweis hat sich Daisy Darlington alias Kristine Larissa Funkhauser ausgedacht. Diese Frau sprengt so ziemlich jede zeitgenössische Heimchen-am-Herd-Ideologie: Eine amerikanische Komponistin (!) von Jazz (!), die sich ein männlichen Pseudonym zulegt, um ihrem Vater zu beweisen, dass sie das Zeug zum Erfolg hat, um sich ihre Unabhängigkeit (!) zu sichern und der Heirat mit einem unterbelichteten Schokoladenfabrikanten zu entgehen.

Dass die Nazis mit diesem Prototyp einer selbstsicheren Frau nichts anfangen konnten, liegt auf der Hand. „Ball im Savoy“ verschwand schon im Frühjahr 1933: die jüdischen Gebrüder Rotter waren pleite, der Jude Abraham aus Deutschland geflohen. Für die saubere, deutsche Operette, wie sie sich die NS-Kulturpolitik wünschte, war das freche, weltläufige Werk Abrahams nicht geeignet.

Regisseur Roland Hüve – er hat unter anderem in Bielefeld Cole Porters „Anything goes“ in Szene gesetzt – kennt die Herausforderung der großen Szene, des präzisen Timing und des hohen Tempos auf personenreicher Bühne. Da spielen das Ballett und der Opernchor (musikalisch einstudiert von Wolfgang Müller-Salow) wacker mit. So ganz können sie die bräsigen Bewegungsmuster der üblichen Operettenroutine nicht überwinden; schuld daran sind auch Andrea Danae Kingstons mäßig originellen Choreografien. Der Augenweide fehlt manchmal das Augenzwinkern: Ironie ist eben schwer …

Von Damen umschwärmt: Bernhard Hirtreiter als "Salontürke" Mustafa Bei. Foto: Klaus Lefebvre

Von Damen umschwärmt: Bernhard Hirtreiter als „Salontürke“ Mustafa Bei. Foto: Klaus Lefebvre

Auf der anderen Seite lässt Hüve den Solisten Raum, sich zu entfalten: „Ich hab einen Mann, der mich liebt“ wird so zur ganz großen Nummer Veronika Hallers, und Bernhard Hirtreiter darf als ganz im Nachtclub-Milieu assimilierter türkischer Attaché Mustafa Bei mit Esprit erzählen, wie es ist, wenn „wir Türken küssen“.

Dass in Hagen mit Microport gesungen werden muss, ist nicht recht einzusehen, zumal die Stimmen durch die Verstärkung entstellt werden: Veronika Haller hat auf einmal ein grelles Vibrato und Marilyn Bennett klingt ältlich verzerrt. Mag sein, dass ihnen David Marlow nicht vertraute, über das Abraham-Orchester zu kommen.

Die üppige Instrumentierung ist von Matthias Grimminger und Henning Hagedorn rekonstruiert. Das Dortmunder Duo verwendete viel Sorgfalt bei der Sichtung der Quellen, geht aber – wie auch bei der Aufführung an der Komischen Oper Berlin zu registrieren – am Sound der frühen dreißiger Jahre vorbei. Mir scheint der Schlagzeugeinsatz zu aufdringlich, und die harte, grelle Intonation der Blechbläser erinnert eher an amerikanischen Bigband-Sound als an die schmeichelnd-lasziven Klänge der Tanzkapellen dieser Zeit, wie sie uns von Schellack-Platten entgegentönen.

Das Hagener Orchester macht sich den Tonfall, den Witz im Rhythmus, die Tanztempi und die instrumentalen Farben schnell zu eigen; in dem kleinen Haus hätte Zurückhaltung bei der Lautstärke der Finesse der Musik gut getan. Dafür gelingen intime Nummern wie „Ich hab einen Mann, der mich liebt“ expressiv und empfindsam.

Mit „Ball im Savoy“ hat Hagen zweierlei bewiesen: Entgegen allen Unkenrufen lebt die Operette, wenn sie mit Sorgfalt und Liebe reanimiert wird. Und wieder einmal ist eine Hagener Produktion ein erfolgreicher Nachweis, wie unverzichtbar die Stadttheater auf der kulturellen Landkarte sind. Daher: Hände weg von diesem Erbe! „Ball im Savoy“ ist zudem ein Argument für eine Idee, auf die man in Hagen sonst schwerlich kommt: „Es ist so schön, am Abend bummeln zu geh’n ….“.

Info: www.theater-hagen.de




Heiterkeit und Melancholie: Donizettis „Don Pasquale“ am Theater Hagen

Der Bruch der Zeiten ist überdeutlich: Norina und Ernesto, das sind zwei junge Leute von heute, Jeans, Jacket, hübsches Top. Don Pasquale lebt in einer anderen Welt, im „Damals“: Kniehosen, bestickte Weste, reich ornamentierter Hausmantel. Er sitzt in einem altertümlichen Rollstuhl und starrt in seinen herrschaftlichen Salon, in dem die Möbel mit weißen Tüchern verhängt sind. Ein gelebtes Leben.

Wer so jemanden auf seine alten Tage noch heiraten will, muss sich anpassen. Und so schlüpft Norina am Theater Hagen in eine ausladende Robe: Krinoline drunter, Stoffschichten zwischen bonbonrosa und veilchenlila drüber, Rüschen, Reffungen und Schleifchen. Kurz, eine Fassade, die dem heiratslüsternen Alten signalisieren soll: Hier kommt eine Frau, die in deiner Welt aufgehen wird, die genau in die Ausstattung deines Haushalts passt.

Schein und Wirklichkeit: Norina (Maria Klier) stellt sich Don Pasquale (Rainer Zaun) als schüchterne Klosterschülerin vor. Foto: Stefan Kühle

Schein und Wirklichkeit: Norina (Maria Klier) stellt sich Don Pasquale (Rainer Zaun) als schüchterne Klosterschülerin vor. Foto: Stefan Kühle

Kostümbildnerin Lena Brexendorff – auch für die Bühne zuständig – hat in ihren Kostümen eine der Kernfragen von Donizettis letzter komischen Oper „Don Pasquale“ sichtbar gemacht: die Frage nach Wirklichkeit und Täuschung, aber auch die Selbsttäuschung, die erst möglich macht, dass sich Don Pasquale von der Intrige seines zweifelhaften Freundes Malatesta – der Name meint einen „bösen Kopf“ – irreführen lässt. Und Annette Wolf deutet in ihrer Inszenierung an, dass die sexuellen Gelüste des Titelhelden – von Malatesta mit den bekannten, blauen Pillen angeheizt – nicht unbedingt das erste Motiv seines Treibens sind: Die Einsamkeit des Eröffnungsbildes verweist deutlich tiefer in die Psyche.

Es gab Regisseure, die „Don Pasquale“ konsequent der buffonesken Einkleidung entledigt und das Drama des einsamen, alten, grausam getäuschten Mannes herausgeschält haben. So weit wollten Wolf und Brexendorff nicht gehen: Die Tannenzapfen-Gewichte einer Kuckucksuhr hängen riesig vom Schnürboden herab in die Bühne und erinnern sachte daran, dass Donizettis Oper ihre Wurzeln in der alten „Commedia“ mit ihren mechanisch-schematisch agierenden Figuren hat. Oder eben auch an die verzopfte Puppenstuben-Welt, in der Pasquale nach dem Leben schmachtet – das mit dem Einzug der vermeintlichen, schüchternen Klosterschülerin „Sofronia“ auch einkehrt: Ein prachtvoller Hirsch wird ausgepackt und der Hausherr verlässt mit Schwung den Rollstuhl.

Doch das Verstellungsspiel funktioniert nur teilweise: Die Begegnung zwischen der getarnten Norina und dem leichtgläubigen Don Pasquale gleitet in witzig gemeinten, aber abgestandenen Klamauk ab, statt psychologisch glaubwürdig ausgeformt zu werden. Rainer Zaun ist ein Komödiant alter Schule, der sich auf die abgelebten Tricks des Genres verlässt. Maria Klier als Norina agiert heftig und kann das Blümchen, das hinter klerikalen Mauern aufgewachsen sein soll, nicht recht glaubwürdig machen. Im Publikum lacht kaum jemand: Die ollen Kamellen kommen nicht mehr an.

Nach der Pause: Das Drama spitzt sich zu

Nach der Pause spitzt Annette Wolf das Drama dann doch noch zu: Norina gibt im Leoparden-Outfit das hässliche Selbstbewusstsein einer verzogenen Wohlstandsgöre zu erkennen. Neffe Ernesto hat vorher schon den Eindruck erweckt, das „Hotel Onkel“ ziemlich bequem auszunutzen. Keija Xiong schlurft erst im Morgenmantel herein und zeigt – entsprechend seiner Rolle als schmachtender, aber wenig aktiver Liebhaber – später auch nicht viel mehr Initiative.

Die treibende Rolle besetzt Oleksandr Prytolyuk (ein stimmgewaltig dröhnender Gast aus Darmstadt für den erkrankten Raymond Ayers): ein durchtriebener Geselle, der im bürgerlichen Gewande an Mozarts Don Alfonso aus „Cosí fan tutte“ erinnert. Einer derjenigen, bei denen die Aufklärung alle Werte wegerklärt und an ihrer Stelle nur den handfesten Geldwert hinterlassen hat? Den Eindruck, an der Erfüllung einer wahren Liebe zwischen zwei jungen Menschen interessiert zu sein, weckt er nicht.

"Liebe" in Zeiten der Spielkonsole: Maria Klier (Norina) und Kejia Xiong (Ernesto). Foto: Stefan Kühle

„Liebe“ in Zeiten der Spielkonsole: Maria Klier (Norina) und Kejia Xiong (Ernesto). Foto: Stefan Kühle

Norinas durchtriebenes Spiel mit Pasquales blutleeren Alltagsidealen gipfelt in einem unerhörten Übergriff: Die Ohrfeige, die sie dem Alten verpasst, bricht das Stück endgültig ins Melancholische – eindeutig zu hören in Donizettis sensibler Musik. Für das Ende hat sich Wolf eine Überraschung ausgedacht: Das bezaubernde Liebesduett „Tornami a dir che m’ami“ verbringt das Paar mit gleichgeschalteten Bewegungen jeder für sich mit der Spielekonsole. Am Ende büchst Norina mit Don Pasquale aus: Beide verlassen ihre Lebenswelt, in der eine authentische Beziehung jenseits von Rollen- und Lebensmustern nicht möglich war. So bricht Wolf die Komödie auf, ohne Donizettis Oper ins Tragische zu ziehen: eine originelle Idee.

Auch musikalisch liegen in Hagen Heiterkeit und Melancholie nahe beieinander: Auf David Marlows Dirigat reagiert das Orchester mit wendigen Tempi und transparentem Klang, aber auch mit kantig phrasierten Melodiebögen und gepfefferter Lautstärke. Patzer und Schludrigkeiten folgen auf sensibel aufgebaute Momente in der Balance und der dynamischen Nuancierung: Theateralltag eben. Die souveräne Bühnenerfahrung gibt dem Pasquale Rainer Zauns Autorität; stimmlich zeigt er sich flexibel, wird allerdings vom Orchester immer wieder zugedeckt.

Maria Klier hat die kecken Koloraturen der Norina auf Abruf, der klanglich erfüllte Ton ist ihre Sache weniger. Keija Xiong hat ein ernstes Problem mit der Stütze seiner an sich wohltimbrierten Stimme, was vor allem in der Höhe schmerzlich bewusst wird: sie bleibt dünn und klanglos. Wolfgang Müller-Salow hat den Hagener Chor auf eleganten Klang studiert. Wozu die Choristen den berühmten Dienerchor in einer überflüssigen Großküchen-Szene singen, während sie mit Endlos-Nudeln hantieren, bleibt schleierhaft. Und das Licht ist schlichtweg Pfusch: Der Zuschauer im Parkett muss sich jedes Mal, wenn sich bestimmte Türen öffnen, vor einer grellen Scheinwerfer-Batterie schützen. Auf diese Weise blendend hat Annette Wolf ihr Konzept sicher nicht gemeint.

Die nächsten Vorstellungen: 19. und 28. Dezember 2013; weitere Termine bis März 2014 unter www.theaterhagen.de




Operette am Rande: Eindrücke von einer vernachlässigten Gattung aus Hagen und Wuppertal

Mondän: Banu Böke als Rosalinde in der Wuppertaler "Fledermaus". Foto Uwe Stratmann

Mondän: Banu Böke als Rosalinde in der Wuppertaler „Fledermaus“. Foto Uwe Stratmann

Operette – einst die Brot- und Butter-Gattung deutscher Stadttheater, ist an vielen Häusern weit in den Hintergrund getreten. Operetten-Ensembles mit ihren Diven, Liebhabern und Komikern gibt es nicht mehr. Das Repertoire, so man überhaupt noch davon sprechen kann, ist auf ein paar Titel zusammengeschrumpft. Dramaturgen-Fantasie glänzt meist durch Abwesenheit.

Man müsste nur bei Volker Klotz nachsehen – doch trotz dessen flammenden Plädoyers für die Gattung bleibt es bei diversen Fledermäusen, Lustigen Witwen und Csárdásfürstinnen. Dazu hin und wieder missverstandener Offenbach oder eine Galoppade des weißen Röss’l.

Wer etwas anderes kennenlernen will, muss etwa nach Gera fahren, wo bald wieder die Operette des Kubaners Moїses Simons „Du bist ich“ als exotische Ausgrabung gezeigt wird. Oder nach Ulm, wo sich jemand erinnert hat, dass Franz Lehár nicht nur „Das Land des Lächelns“ musikalisch bereist, sondern auch eine Goethe-Operette namens „Friederike“ hinterlassen hat. In der Rhein-Ruhr-Region dagegen sieht es (nicht nur) in dieser Spielzeit blässlich aus. Lediglich Aachen zeigt mit Offenbachs „Die Banditen“ ab 8. Juni 2014 eine witzig-spritzige Rarität; auch Münster besinnt sich mit den „Piraten von Penzance“ ab 29. März 2014 auf das komische Potenzial des jüdischen Franzosen aus Köln.

Während etwa in Essen seit geraumer Zeit Fehlanzeige zu melden ist, kümmern sich kleine und klein gesparte Häuser noch um die Sparte der unterhaltsamen musikalischen Lustbarkeiten. Deren Renaissance steht dennoch keineswegs an, auch wenn sich ein Barrie Kosky an der Komischen Oper intensiver um das leichte Metier kümmern will. In Hagen hatte Paul Burkhards zwischen „silberner“ Operette und Singspiel stehende Spätblüte „Das Feuerwerk“ Premiere. In Wuppertal setzt Intendant Johannes Weigand auf den allüberall totinszenierten Klassiker „Die Fledermaus“: Eine Auswahl, die sicher nicht für die künstlerische Auffrischung einer vernachlässigten Gattung steht.

„Fledermaus“ in Wuppertal: Sichere Pointen ohne Brechstangen-Lustigkeit

Dabei ist Weigand alles andere als die bequeme Bedienung eines bräsigen Publikums vorzuwerfen: In der letzten Spielzeit etwa landete Wuppertal mit Wolfgang Fortners „Bluthochzeit“ eine der besten Opernproduktionen in Nordrhein-Westfalen. Und aus Eduard Künnekes „Glücklicher Reise“ zauberte Weigand eine leichthändige, mit lässigem Sentiment gewürzte Petitesse – ein Glücksfall für die Operette. Die neue „Fledermaus“ nimmt er leicht, aber nicht leichtfertig: eine konzentrierte Personenführung, pointensicher, aber nicht kalauernd, heiter, aber ohne die peinliche Brechstangen-Lustigkeit, die dem musikalischen Flattertier oft szenisch Flügel machen soll.

"Champagner hat's verschuldet": Szene aus der Wuppertaler "Fledermaus". Foto Uwe Stratmann

„Champagner hat’s verschuldet“: Szene aus der Wuppertaler „Fledermaus“. Foto Uwe Stratmann

Der Bühne von Moritz Nitsche merkt man das Krisenprodukt an. Zwar funktioniert die Idee: Die beschränkte, scheinmondän tapezierte Enge von Eisensteins Salon wird in der Kellerkammer des „fidelen Gefängnisses“ von Etablissementsdirektor Frank wieder aufgegriffen. Aber dem Fest der Prinzen Orlofsky, das im Freien im barock gestutzten Park eines Palais‘ stattfindet, fehlt großzügiger Luxus, wie ihn der Hausherr zu leben vorgibt. Der ist einmal kein anämischer Jüngling, sondern ein blonder, fetter Wohlstandsrusse, dreist, aber ohne Melancholie. Joslyn Rechter übertreibt’s mit dem Akzent, singt aber mit sicherem Wohllaut.

Dramolett im Hause Eisenstein: Rosalinde (Banu Böke), Alfred (Christian Sturm) und das unglückliche Stubenmadl Adele (Elena Fink). Foto Uwe Stratmann

Dramolett im Hause Eisenstein: Rosalinde (Banu Böke), Alfred (Christian Sturm) und das unglückliche Stubenmadl Adele (Elena Fink). Foto Uwe Stratmann

Zwischen Klavier und Kanapee baut sich das Dramolett auf, als der frühere (und vielleicht eigentliche?) Liebhaber der jetzo verehelichten Frau von Eisenstein (Christian Sturm) arienschmetternd wieder auftaucht. Banu Böke als Rosalinde steckt ihm geschickt durchs offene Fenster die dienlichen Hinweise auf das bevorstehende Einsitzen des Gatten. Wie wir wissen, ist es ein Abschied auf Zeit.

Man trifft sich wieder auf dem Feste: Kay Stiefermann als schwerstimmiger, grisettengieriger Eisenstein, nicht mit dem eleganten Konversationston alten Adels, sondern dem schmierigen Imitat des Emporkömmlings; Banu Böke als ungarische Gräfin in einer grandiosen roten Robe Judith Fischers, leider in ihrem „Csárdás“ nicht frei und ohne Anflug von maliziöser Doppelbödigkeit. Und Adele – Elena Fink – mit leicht geträllerten Couplets ohne den nur an einer Stelle passenden stubenmadeltypischen Quietscher, obwohl sie mit ihrer „Schwester Ida“ (Annika Boos) als erst „angehende“ Künstlerin firmiert. Als solche muss sie sich stimmlich keineswegs verstecken, und nicht nur Olaf Haye als Frank findet Gefallen an dem feschen Geschöpf.

Für den flotten Fluss der Ohrwürmer sorgen die Wuppertaler Sinfoniker unter Florian Frannek, der schon die Ouvertüre leicht und plastisch ausformt, manchmal aber vergisst, dass in Wien das Metrum etwas lasziver schwingt als im Rest der Welt. Gregor Henze versucht als Frosch erst gar nicht, die schwer erreichbaren Wiener Originale wie Josef Meinrad, Otto Schenk oder Helmut Lohner zu imitieren. Er macht aus der Rolle einen böhmischen „Froschek“ und durchbricht mit schräg-trockenem Humor die Phalanx der alten Kalauer. – Eine sauber inszenierte „Fledermaus“, gestaltet mit solidem Regie-Handwerk, das heute nicht mehr selbstverständlich ist.

„Das Feuerwerk“ in Hagen: Dosierte Komik im Spießer-Heim

Auch Nicola Glück bringt für ihre Hagener „Feuerwerk“-Inszenierung ein glückliches Händchen für Tempo und dosierte Bühnen-Komik mit. Denn die Verwandtschaft, die da in ein ach so trautes Heim einbricht, um dem 60. Geburtstag des Patriarchen beizuwohnen, verführt schnell zum Überzeichnen: Onkel Fritz (Christoph Scheeben) und Tante Berta (Verena Grammel) babbeln irgendwie fränkisch-bayrisch-provinziell; Onkel Gustav (Richard van Gemert) und Tante Paula (Marilyn Bennett) kämpfen seit den Verlobungsküssen bereits mit einem pränatal angelegten Hustenreiz des Gatten. Und der an Länge wie Breite gewaltige Onkel Heinrich (Orlando Mason) genießt mit seiner aufgeputzten Lisa (Veronika Haller) sichtbar die Genüsse des entstehenden Wirtschaftswunderlandes.

Onkel und Tante ... Die Versammlung der Spießer ist bereit für die Geburtstagsfeier. Foto: Stefan Kühle

Onkel und Tante … Die Versammlung der Spießer ist bereit für die Geburtstagsfeier. Foto: Stefan Kühle

Pia Oertel hat sich für einen liebevollen Kostüm-Rückblick entschieden, der schon in der Entstehungszeit des Stücks 1950 nostalgisch gewirkt hätte: Wir befinden uns ja in einem Haushalt, in dem die Uhren seit der Kaiserzeit offenbar nur noch stark verlangsamt ticken. Auch die Maske unter Ronald Bomius hat Erkleckliches geleistet, um die Illusion zu perfektionieren.

Paul Burkhards liebenswürdiges Singspiel lebt nicht nur vom unvergänglichen Schlager „O mein Papa“. Schon der Auftritt der resoluten Köchin hat komödiantische Qualitäten. Kristine Larissa Funkhauser, einmal nicht die dicke drollige, sondern eine knackig kecke Küchenoberaufseherin, bringt ihn mit Lust über die Rampe. Die sentimentale Verwandtschaftshymne „Ja, an so nem Tag“ ist so genüsslich verlogen, dass sich sogar der Jubilar (Werner Hahn) irgendwann nur noch mit Spießen aus dem Käse-Igel ruhig stellen kann. Und Onkel Gustavs Husten-Ballade, von Richard van Gemert mit leidenden Anfällen vorgetragen, sorgt endgültig für heitere Laune beim Publikum.

Aufbruch in eine selbstbestimmte Welt

Das Ganze könnte man als gefällige, angestaubte Harmlosigkeit beiseitelegen, ginge es nur um ein wenig Slapstick und die sentimentale Story von den zwei jungen Leuten, denen die Alten mit ihren erstarrten Traditionen wieder einmal im Weg stehen. Paul Burkhard findet gefühlvolle Leichtigkeit in seinem Schlager für Anna. Maria Klier auf der Schaukel singt „Heut‘ hab‘ ich Flügel…“ und wirkt dabei ganz entzückend: ein Kind an der Schwelle zum Teenie-Mädchen der fünfziger Jahre. Und Gärtner Robert (Benjamin Hoffmann) ist der passende nette Junge für die gemeinsamen Träume vom lebenslangen Verliebtsein – so lange, bis das schwarze Schaf der Familie die Feier sprengt und mit dem Duft der Manege eine fremde, faszinierende Welt in die pastellfarbene Spießigkeit einbrechen lässt.

Dem Charme Idunas erlegen: Die Onkelriege und die Artistin (Ruth Ohlmann). Foto: Stefan Kühle

Dem Charme Idunas erlegen: Die Onkelriege und die Artistin (Ruth Ohlmann). Foto: Stefan Kühle

Pia Oertels sanft überstilisierte Arena bürgerlicher Zickereien verwandelt sich mit ein paar Lichtgirlanden zum Zirkus – und nicht nur die kleine Anna erliegt dem Charme der Manege und ihres charismatischen Direktors Alexander Obolski (Rolf A. Scheider). Der hat mit der französischen Artistin Iduna (Ruth Ohlmann) eine faszinierende Frau und liebende Gattin mitgebracht. Ihre Ausstrahlung bringt die dünne Kruste wohlanständiger Gesittung – zumindest bei den drei Onkels – widerstandslos zum Brechen. Zum Entsetzen der darin beharrlicheren Damen, die in der Zirkusluft zu krallenbewehrt fauchenden Bestien mutieren.

Zauber der Manege: Carola Casselly in einer atemberaubenden Nummer. Foto: Stefan Kühle

Zauber der Manege: Carola Casselly in einer atemberaubenden Nummer. Foto: Stefan Kühle

Erik Charell, der alte Fuchs des Berliner Unterhaltungstheaters, hat in seinem Plot noch etwas mehr verborgen. Es ist nicht nur der Show-Effekt des Zirkusrunds, den die Hagener Inszenierung mit Artisten vom Zirkus Jonny Casselly vergnüglich ausbreitet. Die glitzernde Welt stellt die Selbstverständlichkeit des biederen Bürgerhaushalts auf die Probe. Für Anna ein Grund, endlich einmal nicht mehr „vernünftig“ zu sein und den Aufbruch in eine selbstbestimmte Zukunft zu wagen. Dass sie den Weg letztendlich nicht geht, ist kein zagender Rückzug in die Welt ihrer Eltern, sondern einer Erkenntnis geschuldet: Iduna öffnet dem Mädchen den Blick darauf, wie brüchig der Glanz, wie einsam das Leben in der Zirkusluft sein kann. Und ermöglicht ihr damit, sich zu entscheiden, statt aus dem Impuls der Bezauberung zu handeln.

Dieser Prozess einer Selbstvergewisserung macht das Stück heute noch aufführenswert – abgesehen von der Fülle charmanter Musik, die Paul Burkhard für das „Feuerwerk“ eingefallen ist. Steffen Müller-Gabriel lässt die Hagener Orchestermusiker oft zu dick auftragen, da hilft auch die misslungene Verstärkung nicht, die etwa Dagmar Hesses (Mutter) Stimme verzerrt, Scheiders Obolski mit polterndem Vibrato dominieren lässt und der Iduna Ruth Ohlmanns ein ältlich-heiseres Vibrato aufdrückt. So bleibt der musikalische Eindruck dieser sympathischen Produktion am Stadttheater Hagen leider unnötig getrübt.




Selbstgerechte Kälte: Carlisle Floyds Oper „Susannah“ in Hagen

Es gibt Alpträume, von denen man nie glaubt, sie könnten einem in der Wirklichkeit wieder begegnen. Carlisle Floyd hat in seiner Oper „Susannah“ einen solchen komponiert: realistisch, hart, unverstellt. Es ist kein Traum der Sorte, bei der die Fiktion sofort erkennbar wäre. Keine Monster, keine Chimären. Sondern Menschen, denen wir jeden Tag im Supermarkt oder Bistro begegnen. Vier ältere Damen, die sich angeregt unterhalten. Ein Dorffest.

Rainer Zaun als Prediger Olin Blitch in Carlisle Flodys "Susannah" am Theater Hagen. Foto: Kühle/theaterhagen

Rainer Zaun als Prediger Olin Blitch in Carlisle Flodys "Susannah" am Theater Hagen. Foto: Kühle/theaterhagen

Und eine Katastrophe, ausgelöst von einem Skandal, der keiner ist: In einem Dorf, irgendwo im amerikanischen „Bible belt“, irgendwann in den fünfziger Jahren. Eine „Erweckungszeremonie“ soll gefeiert werden. Der Wanderprediger ist bereits eingetroffen, fehlt noch ein geeigneter Ort: ein Taufbach. Drei Dorfälteste machen sich auf den Weg, entdecken die ideale Stelle – doch dort finden sie Susannah, ein Mädchen, das am Rande des Dorfes lebt – und das nicht nur im geografischen Sinn. Sie badet nackt im Bach, wähnt sich unbeobachtet.

Am Abend weiß das ganze Dorf von der „unerhörten“ Szene – außer Susannah. Und dann greift der Mechanismus, der Menschen zu Sündern und zu Opfern macht. Das Dorf spielt sich zur moralischen Instanz auf, zum Rächer. Und das vermeintlich schuldige Opfer wird zum Freiwild: Verleumdungen, sexuelle Unterstellungen, schließlich eine Vergewaltigung. Selbst als Susannahs Schuldlosigkeit feststeht, wird ihr nicht verziehen. Wer einmal als sündig gilt, bleibt es.

Ausgegrenzt: Jaclyn Bermudez als Susannah in Carlisle Flodys gleichnamiger Oper am Theater Hagen. Foto: Kühle/theaterhagen

Ausgegrenzt: Jaclyn Bermudez als Susannah in Carlisle Flodys gleichnamiger Oper am Theater Hagen. Foto: Kühle/theaterhagen

Carlisle Floyd, erfolgreichster amerikanischer Komponist der Gegenwart, hat sein Werk in der McCarthy-Ära in den USA geschrieben und 1955 uraufgeführt. „Susannah“ ist – nach Gershwins „Porgy and Bess“ – die am meisten gespielte amerikanische Oper überhaupt. In Deutschland konnte sie nie Fuß fassen. Zu „konservativ“ klingt die tonal orientierte Komposition Floyds. Zu viel Puccini, zu wenig Boulez. Die Darmstädter Schule hatte für solche Seichtigkeiten aus dem unterentwickelten Opernland von jenseits des Teiches nur Verachtung und Polemik übrig.

Heute kümmern die Urteile von damals nicht mehr – dennoch fördern die verkalkten Blutbahnen des Theaterbetriebs Werke wie Susannah nur selten in die Nähe eines Herzens, das sich ihrer annimmt. Das Theater Hagen, innovativ wie kaum ein anderes dieser Größe und dennoch ständig um seine Existenz bangend, hat mit Floyds heute wieder beklemmend aktuellem Werk seine verdienstvolle Serie amerikanischer Opern fortgesetzt, in der man sich zum Beispiel an eine packende Aufführung von „Endstation Sehnsucht“ von André Previn erinnert.

Aktuell ist „Susannah“, weil die Spielarten einer bigotten Religiosität nie aussterben. Das Christentum, wie Floyd es in unverkennbarer Anlehnung an die alttestamentliche Geschichte der Susanna im Bade schildert, hat viel mit der selbstgefälligen Moral einer puritanischen Gesellschaft zu tun. Und wenig mit der biblischen Botschaft, die Einsicht, Umkehr und Barmherzigkeit in ihrem Zentrum trägt.

In Hagen erzählt Regisseur Roman Hovenbitzer mätzchenfrei in prägnanten, knappen Szenen. Die Ausstattung von Jan Bammes arbeitet mit Palettenholz und einem Podium, das sich zur Wand, zum Dach, zum Zaun verwandeln lässt – aber auch zur metaphysischen Schranke zur vernagelten Welt des Dorfes. Mit dem Licht, das durch die Ritzen fällt (Ulrich Schneider), ergeben sich ästhetisch reizvolle, aber stets inhaltlich abgesicherte Licht- und Schatten-Stimmungen.

Kurzer Traum vom Glück: Jaclyn Bermudez (Susannah) und Jeffery Krueger (Little Bat). Foto: Kühle/theaterhagen

Kurzer Traum vom Glück: Jaclyn Bermudez (Susannah) und Jeffery Krueger (Little Bat). Foto: Kühle/theaterhagen

Die in den Untergrund verbannten sexuellen Begehrlichkeiten zeigt Hovenbitzer in verstohlenen Andeutungen, psychologisch schlüssig beobachtet: Susannah erzählt von Natur und Sternen, und der verklemmte „Little Bat“ McLean reibt sich das Glied. Bevor sich der Prediger Olin Blitch über die wehrlose Susannah hermacht, faltet er ihren Rock ordentlich und hängt ihn auf: Auch angesichts der monströsen Tat bleibt der Kodex der Wohlanständigkeit gültig. Das Ende schärft der Regisseur mit einer Anleihe an Lars von Triers religiös geladenem Film „Dogville“, der eine ähnliche Problematik behandelt. Es erinnert auch ein wenig an Brittens „Peter Grimes“: Der Mob marschiert, legt einen Brand. Vergebung gibt es keine, Einsicht schon gar nicht.

Pogromstimmung: Das Finale von "Susannah". Foto: Kühle/theaterhagen

Pogromstimmung: Das Finale von "Susannah". Foto: Kühle/theaterhagen

Im Orchester lässt Bernhard Steiner die Anleihen aufblitzen, mit denen Floyd seine Musik inhaltlich auflädt: Der hymnische Stil alter angelsächsischer Kirchenlieder ist zu hören, amerikanischer Squaredance, verträumte Anklänge an Country Music. Und immer wieder große Crescendi, liebevoll ausgebreitete Melodiebögen. Bei Floyds konservativer Harmonik darf man nicht an Werke wie Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ oder selbst Janaceks „Jenufa“ denken. Eher an die US-Film-Melodramen der vierziger Jahre.

Das Hagener Orchester ist an einigen Stellen überfordert: der Klang wirkt seifig, Einsätze klappen nicht, voller Klang bläht sich dicksuppig auf. Der Chor, von Wolfgang Müller-Salow einstudiert, bringt den bedrohlichen Ton der Masse eindrucksvoll ins Spiel.

Jaclyn Bermudez ist Susannah: eine Darstellerin, die dem Mädchen erst die unbekümmert ausgelassenen Züge gibt, dann die Unschuld einer schwärmerisch sich nach einem Hauch von Glück sehnenden Seele, später aber auch die Entschlossenheit, sich nicht zur „Sünderin“ abstempeln zu lassen. Auf das schäbige Spiel des Dorfes lässt sie sich nicht ein. Dazu passt ihr Sopran, der zärtlich lyrisch, aber auch schneidend prägnant klingen kann.

Rainer Zaun als Olin Blitch kann die unerbittlich ideologischen Seiten des Predigers ausdrücken, aber auch die inneren Qualen eines unendlich einsamen Mannes und seine Ohnmacht, als er erkennt, dass er die Lawine, die er losgetreten hat, nicht mehr bändigen kann. Dieser Blitch ist nicht als purer Bösewicht, sondern als glaubwürdiger, in sich gespaltener Charakter gezeichnet.

Wie destruktiv sich die verleugnete, verschwiegene, unterdrückte Sexualität in dieser Gesellschaft auswirkt, zeigt Jeffery Krueger als Little Bat exemplarisch: Er würde gerne, aber er traut sich nicht, kann sich nicht aus der moralischen Umklammerung der Autoritäten befreien. Aus lauter Angst wird er  zum Lügner. Krueger wäre glaubwürdiger, würde er nicht hysterisch überagieren – auch seinem Tenor bekommt das Übertreiben nicht.

Auch bei Sam Polk, Susannahs Bruder, grinst die Einsamkeit hinter der Fassade des starken Kerls hervor: Charles Reid zeigt den jähzornigen Alkoholiker als im Grunde zutiefst resignierten, an seinem Schicksal zerschellten Sonderling. Carlisle Floyds Oper moralisiert ihrerseits nicht, sondern zeigt die Menschen in den knappen, psychologisch beredten Szenen in all ihrer Komplexität als Täter und als Opfer. Unbedingt sehenswert!

Die nächsten Vorstellungen: 11. Mai, 10., 14., 17. und 24. Juni.
Tickets: (0 23 31) 207 32 18.




Ludwig Thuille: Erfinderische Musik mit lyrischer Pracht

Vor 150 Jahren wurde in Bozen der Komponist Ludwig Thuille geboren. Seine Werke sind heute weitgehend unbekannt. Als Lehrer jedoch hat er eine ganze Musikergeneration geprägt. Und seine Harmonielehre ist bis heute im Gebrauch.

Ganz eminent habe das Orchester gespielt, berichtete Richard Strauss am 24. Februar 1886 aus Meiningen, „mit solcher Lust, Liebe und Präcision, dass Du Deine helle Freude gehabt hättest“. Der 21-jährige Kapellmeister hatte soeben mit der weltberühmten Meininger Hofkapelle die F-Dur-Symphonie seines Freundes Ludwig Thuille uraufgeführt. Beide Musiker sollten ein Leben lang befreundet bleiben. Doch so intensiv Thuille die musikalische Welt um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert beeinflusst hat, so nachhaltig vergessen sind seine eigenen Kompositionen. Zum 150. Geburtstag Thuilles erinnert sich kaum eine musikalische Institution des einst bedeutsamen Komponisten, Kompositionslehrers und Musiktheoretikers. Lediglich in seiner Geburtsstadt Bozen spielt das dort ansässige Haydn-Orchester seine „Romantische Ouvertüre“ in einem Konzert unter Johannes Debus am 13. Dezember.

Leider blieb auch der Impuls wirkungslos, den das Stadttheater Hagen 1998 unter dem stets an Entdeckungen interessierten Chefdramaturgen Peter P. Pachl mit der mutigen Ausgrabung von Thuilles Märchenoper „Gugeline“ gegeben hatte. Bis heute steht etwa eine Wiederaufführung seiner Erfolgsoper „Lobetanz“ aus, die Felix Mottl 1898 in Karlsruhe uraufgeführt hatte und die es bis Berlin und New York geschafft hat. „Gugeline“ in Hagen hat damals mit ihrer musikalischen Sprache überrascht: Thuille erreicht schon 1901 Elemente einer klanglichen Raffinesse und harmonischen Komplexität, die man sonst nur mit Richard Strauss identifiziert. Vor allem in der sinnlichen Pracht seiner lyrischen Erfindungsgabe erweist er sich als eigenständiger schöpferischer Geist, der nicht durch Vergleiche mit später wichtiger gewordenen Komponisten aufgewertet werden muss.

Am 30. November 1861 in Bozen geboren, erfährt der Knabe mit dem rätoromanischen Namen im Stift Kremsmünster ersten geregelten Musikunterricht und lernt als Chorsänger eine weitreichende Musiktradition kennen. Entscheidend für seine Bildung wird Pauline Nagiller, Witwe des Tiroler Kapellmeisters Matthäus Nagiller. Sie holt Thuille als 15-jährigen Vollwaisen nach Innsbruck. Durch sie lernt er die Familie Strauss kennen. Sie sorgt auch für Unterricht durch den Bruckner-Schüler Josef Pembauer. Erste Lied- und Klavierkompositionen entstehen. Pembauer empfiehlt den begabten Jungen zu Joseph Rheinberger nach München. Ab 1879 studiert er dort an der Königlichen Musikschule.

Ulrich Urbans Einspielung der gesammelten Klavierwerke von Ludwig Thuille (Telos/Naxos)

Ulrich Urbans Einspielung der gesammelten Klavierwerke von Ludwig Thuille (Telos/Naxos)

Sein Opus eins, eine Sonate für Violine und Klavier, veröffentlicht Thuille als 19-jähriger. Ein Jahr später, 1882, besiegelt er mit seinem selbst gespielten D-Dur-Klavierkonzert ein ausgezeichnetes Examen. Auf Betreiben seines Lehrers Rheinberger – dem er später nachfolgen sollte – erhält Thuille schon 1883 eine Berufung als Klavier- und Harmonielehrer an die Münchner Musikschule. Dort unterrichtet er bis zu seinem plötzlichen Herztod im Jahr 1907. Das Telegramm mit der Todesnachricht klebt Richard Strauss in sein Tagebuch ein.

Der passionierte Jäger führt in München ein bürgerliches Leben in ruhigen Bahnen. Musikalisch zieht es Thuille durch die Bekanntschaft mit dem Wagner-Anhänger Alexander Ritter zu den „Neudeutschen“ und zur Oper. Strauss führt 1897 in München Thuilles erste Oper „Theuerdank“ auf, ein Misserfolg, der dem Komponisten jedoch ein Drittel des Prinzregent-Luitpold-Preises eingebracht hat. Seine Oper „Lobetanz“ wird an der Metropolitan Opera nachgespielt; deren Intendant Giulio Gatti-Casazza bezeichnet Thuille als „deutschen Puccini“. Strauss widmet dem Freund seine Tondichtung „Don Juan“.

Als Pädagoge entfaltet Thuille eine kaum zu überschätzende Wirkung. Gemeinsam mit Max von Schillings sammelt er in der „Münchner Schule“ damals bedeutende Komponisten um sich. Zu seinen Schülern zählt etwa Hermann Abendroth, von 1911 bis 1914 Musikdirektor in Essen, dann bis 1934 Chefdirigent des Kölner Gürzenich-Orchesters. Oder Walter Braunfels, seit 1925 gemeinsam mit Abendroth Direktor der neu gegründeten Kölner Musikhochschule. Hervorgetreten ist Thuille mit einer gemeinsam mit Rudolf Louis herausgegebenen Harmonielehre, die für Jahrzehnte als Standardwerk verwendet wurde. Sie gilt als Wegweiser in ein modernes harmonisches Denken, von dem auch Thuilles rund 200 Schüler profitierten.

Thuilles kompositorisches Schaffen umfasst rund siebzig Werke. Gespielt wird heute nur noch ab und zu sein Sextett für Klavier und Bläser op. 6. Der Komponist hat sich der Kammermusik intensiv gewidmet. CD-Aufnahmen der letzten Jahre zeigen ihn als einen eigenständigen Musiker, der seinen individuellen Weg sucht, ohne zum Sturm auf das Bestehende zu blasen. So hat das Signum Quartett seine beiden frühen Streichquartette von 1878 und 1881 in A-Dur und G-Dur eingespielt (Capriccio C 5049).

Bei cpo gibt es das groß angelegte Es-Dur-Klavierquintett op. 20 in einer Aufnahme mit dem Vogler Quartett und dem Pianisten Oliver Triendl. Dieser hat sich auch für das Klavierkonzert Thuilles eingesetzt: Es ist, zusammen mit der F-Dur-Symphonie, in einer Einspielung mit dem Haydn-Orchester Bozen unter Alun Francis erhältlich (ebenfalls bei cpo). Der Pianist Ulrich Urban hat schließlich bei Telos die Werke für Solo-Klavier auf einer CD zusammengefasst. Und erst vor wenigen Wochen erschienen beim Label Thorofon zwei Platten. Die eine umfasst 25 Lieder: Alle sind zum ersten Mal eingespielt, sieben davon stammen aus Thuilles Nachlass und sind Uraufführungen. Auf der anderen mit dem Titel „Zauberdunkel und Lichtazur“ singt die Sopranistin Rebecca Broberg weitere Thuille-Lieder neben anderen seiner Zeitgenossen Anton Urspruch (1850-1907) und Erich J. Wolff (1874-1913).

Otto Julius Bierbaum, einer der literarischen Großmeister der Jahrhundertwende, hat nicht nur die Libretti zu „Lobetanz“, zu „Gugeline“ und zu dem kühnen Tanz-Melodram „Die Tanzhexe“ geschrieben. Er hinterließ auch einen Nachruf in Gedichtform für den plötzlich verstorbenen Freund. Darin heißt es:

Denken wir an Dich, Ludwig, der du ein Mensch warst, dessen Gegenwart
Heiter den Geist der Schwere vertrieb und die Herzen erwärmte.




Ein lauer Schwank im Licht der Tütenlampen – „Der Raub der Sabinerinnen“ in Hagen

Von Bernd Berke

Hagen. „Was gestrichen ist, kann nicht durchfallen“ und „Da strömt schon wieder einer“ (nämlich ins Theater) – mit solchen Sentenzen haben Franz und Paul von Schönthan die anekdotische Rede vom Bühnenwesen gewürzt.

Die Sätze kommen in ihrem Stück „Der Raub der Sabinerinnen“ (uraufgeführt 1884) vor. Jetzt holte Hagens Theater, ansonsten ein Hort des Musikalischen, den angeblich unverwüstlichen, insgesamt aber doch ziemlich lau gewordenen Schauspiel-Schwank aus der Versenkung.

So geht’s zu: Gymnasialprofessor Gollwitz (Peter Bisang), Altphilologe und pedantischer Kenner antiker Verhältnisse, hat ein unsäglich gereimtes „Sabinerinnen“-Drama verfasst. Der munter sächselnde Theaterdirektor Striese (phasenweise ein Lichtblick: Jürgen Dittebrand) will es mit seiner kläglichen Wandertruppe aufführen. Gollwitz ist eitel genug, dies zuzulassen, doch seine holde Gattin Friederike (Edeltraud Kwiatkowski) darf um Himmels Willen nichts davon erfahren, woraus sich das ehedem übliche Versteckspiel zwischen Patriarch und Ehedrachen ergibt.

Unter Strieses Hand bleibt derweil kein Text-Stein auf dem anderen. Die Römer-Tragödie mutiert zur grandiosen „Schmiere“, wird aber vor dem Skandal gerettet, indem man sie flugs zur Parodie erklärt – so jedenfalls in der Fassung von Curt Goetz, die der Hagener Mühsal zu Grunde liegt.

Inszenierung von bestürzend biederem Geist

Gar putzig ist das Bühnenbild (Peter Umbach) zu Peter P. Pachls Inszenierung geraten: Eine zweistöckige „Puppenstube“ mit sechs Räumen erhebt sich da, vollgestopft mit Mobiliar der 50er Jahre, also Tütenlampen, Dreieckstisch und dergleichen. Ach, wie nett-und wie unumstößlich vorgestrig. Es ist eine Theater-Zeitreise der schaurigen Art, wir sitzen in der Geisterbahn. Festhalten!

In besagter Stube also hockt der verdruckste Bürger, Professor Gollwitz. dem das lockere Theatervölkchen hernach so zusetzt. Seine altväterliche Beziehung zu Ehefrau („Pummelchen“) und Tochter darf eigentlich gar nicht mehr wahr sein, wird aber ohne Bruchlinien gespielt, wie denn überhaupt die letzten 40 Jahre spurlos am bestürzend biederen Geist dieser Inszenierung abgeglitten zu sein scheinen. Das Höchstmaß an Ironie (oder etwa Zynismus?) ist bereits erreicht, wenn auf einem bemalten Bühnenprospekt röhrendes Rotwild nebst Zielscheibe zu sehen ist.

Augenzwinkernd zur Rampe hin

Die schauspielerischen Mittel, das Geschehen in absurde Überdrehungen oder ins trockene Understatement zu treiben, sind – nehmt alles nur in allem – nicht vorhanden. Also gibt man den Text schlichtweg von sich und rudert mit ausladenden Gesten reichlich hilflos durch das Stück. Die Pointen reicht man uns kaum mit schöner Beiläufigkeit, sondern heftig augenzwinkernd zur Rampe hin. Regionale Schenkelklopfer (Striese darf am Ende Hagener Theaterchef werden, eine Figur ist „so stur wie ein Finanzbeamter in Iserlohn“) kommen erschwerend hinzu.

Oh, große Wirrnis: Vielleicht geht man ja einfach zu oft ins Theater, ist zu sehr auf ästhetische Verfeinerung und zeitgemäße Durchdringung der Texte versessen. Aber nein.So wie jetzt in Hagen „geht“ Theater einfach nicht mehr. Die Frage muss schon gestellt werden: Warum nur hat man es sich hier in den Kopf gesetzt, man müsse pro Saison partout eine Sprechtheater-Produktion anbieten? Es gibt doch etliche achtbare Häuser ringsum: Dortmund, Bochum, Wuppertal und so fort. Wenden wir’s mal günstig: Nach diesem Abstecher ins Bodenlose schwillt die Vorfreude auf Hagens nächste Opern-Premiere.

Termine: 2., 4., 6., 9. Februar. Karten: 02331/207-3218.

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Leserbrief

Freude des Publikums nicht erkannt

Betr.: Raub der Sabinerinnen

Nun haben Sie es uns gezeigt: Sie sind ein Welttheaterkritiker, wir sind Provinzler und leben hinter dem Mond als ewig Gestrige. Ja, ja wir haben es begriffen, während Sie in ihrem Hochmut vieles nicht begreifen: Dieser „lau“ gewordene Schwank ist ein herrliches Stück Theater, das Peter P. Pachl dankenswerterweise (fast) ohne die heute üblichen Brechungen und Zerschlagungen inszeniert hat. Nicht erkannt von Ihnen die Freude des Publikums, seine verdienten, langjährigen Sängerdarstller als Schauspieler zu erleben, eine wunderbare Erica Pilari, die Vollblüter Horst Fiehl und Werner Hahn werden von Ihnen gar nicht erwähnt. Dieses Publikum liebt seine Künstler wegen seiner großen Leistungen, so auch der dieses Abends.

Peter Pietzsch, Intendant Stadttheater Hagen




Giftiger Wein von den netten alten Damen – „Arsen und Spitzenhäubchen“ im Hagener Theater

Von Bernd Berke

Hagen. Wenn in Hagen, wo sonst Musiktheater und Ballett auf dem Plan stehen, einmal ein Sprechstück gegeben wird. so sind keine Experimente gefragt. Dann muß entweder bürgerlich gediegene Bildung oder leichte Unterhaltungskost her. Die Serienmord-Farce „Arsen und Spitzenhäubchen“ von Joseph Kesselring erfüllt die zweite Bedingung.

Die beiden liebenswerten alten Damen Martha und Abby Brewster (Erica Pilari, Malwine Moeller) könnten wohl keiner Fliege etwas zuleide tun. Zu schade, daß die zwölf einsamen Herren, denen sie mit vergiftetem Holunderwein „aus Barmherzigkeit“ den Garaus gemacht haben, keine Fliegen gewesen sind. Zwölfe hat auch der Neffe Jonathan (Intendant Peter Pietzsch höchstpersönlich) auf dem Kerbholz, nur daß dieser vierschrötige Kerl mit dem Frankenstein-Gesicht (mißlungene Operation) die Leichen bei einer Hetzjagd um die halbe Welt hinterlassen hat. Daheim, so lernen wir in der Schule des Makabren, ist sogar das Morden am gemütlichsten.

Und auch noch effektiver: Am Ende ziehen die Ladys mit 13:12 Toten an die Tabellenspitze, während Jonathan im Knast schmort. Dessen harmlos verrückter Bruder Teddy (Jean Schmiede), der sich für den US-Präsident Roosevelt hält und im Keller seinen Panama-Kanal gräbt, sowie der nervöse Theaterkritiker Mortimer (Axel Friese) sind weitere Arten im Zoo der Verstörten.

Hier gibt es keine Neudeutung und keine Abgründe

Der Broadway-Erfolg von 1941 ist mittlerweile leicht angestaubt, und in Hagen gibt man sich keine übermäßige Mühe, ihn etwa zu entstauben. Wir sehen, was wir kennen: Schon die herkömmliche, naturalistisch eingerichtete Komödienbühne (Peter Umbach) mit den vielen Türen fürs Hereinplatzen im (un)günstigsten und damit lachdienlichsten Moment, ist von altbackener Solidität.

Regisseur Peter Schütze hat keine sonderlich subtilen Spielchen im Sinn. In absurde Abgründe blickt man da nicht. Wenn man überhaupt erschrickt, dann mit wohligem Schauder. Gespielt wird mit bravem Bemühen. Die Gesten sind nicht immer fein austariert, manchmal wird ziemlich gefuchtelt und gedröhnt, um das Gelächter gleichsam herbeizuzwingen.

Alles in allem war s dennoch eine ganz sympathische Veranstaltung, die mit freundlichem Beifall quittiert wurde. Und niemand mußte grübeln: Was wollten uns die Theaterleute damit sagen?

Unfreiwillige Dreingabe zwischendurch: Zweimal mußte während der Premiere der Vorhang kurz zugezogen werden, weil auf der Bühne die Elektrik ihren Dienst versagte. Und im Programmheft wird einem Optiker für die bloße Leihgabe einer einzigen Brille gedankt. Ist das Theater denn schon so arm dran?

Termine: 30. Januar, 10., 21., 26., 27., 28. Februar. Karten: (02331) 207-3218.