Kritiker-Clan ist sich einig: Manche Theater im Revier gibt’s gar nicht

„Ruhrgebiet – Randgebiet“. So könnte der Negativ-Slogan zur neuen Kritikerumfrage der Fachzeitschrift „Theater heute“ lauten. Denn bei der Frage nach den besten Leistungen der letzten Saison existiert das Revier praktisch nicht.

Nur Karsten Schiffers Bochumer Produktion „Brennende Finsternis“ wird im Jahresheft mehrfach lobend erwähnt – und das wohl auch nur, weil sie beim Berliner Theatertreffen zu begutachten war. Eine Produktion mit Schauspielschülern als einzige Zierde einer ganzen Region. Das ist eine schallende Ohrfeige für alle hiesigen Theatermacher.

Schlimmer noch: In einem Extra-Beitrag über die NRW-Theater werden Dortmund, Essen und das Westfälische Landestheater gleich völlig übergangen. Sind es Phantom-Bühnen? Da kann Roberto Ciulli (Mülheim) beinahe noch von Glück sagen, denn seine Arbeit wird immerhin als Ärgernis zur Kenntnis genommen. Und über Frank-Patrick Steckel (Bochum) wird wenigstens festgestellt, daß bei ihm die Luft ‚raus sei. Glückwunsch!

Die Umfrage-Tabellen weisen das Deutsche Schauspielhaus zu Hamburg als Spitzenreiter der theatralischen Bundesliga aus. Tusch für die Nordlichter! Doch schaut man sich die Listen genauer an, ahnt man Verabredungen. Der Kritiker-Clan ist sich weitgehend einig.

Die ehedem hochgejubelten Münchner Kammerspiele etwa hat man nahezu einmütig verbannt. Dafür wird eine Kinderei wie Karin Beiers Düsseldorfer „Romeo und Julia“-Inszenierung vielstimmig zum Welttheater erklärt. Und zwei Herrschaften zeigen sich eitel angetan von einer absoluten Rarität in Londoner „Theatre de Complicité“. Ach, würden sie sich doch einmal in wirklich exotische Weltwinkel trauen. Ins Ruhrgebiet zum Beispiel.




In der Bundesliga des Theaters spielt das Ruhrgebiet nicht mit

Von Bernd Berke

Allherbstlich wird sie mit Spannung erwartet: die Jahresumfrage des Magazins „Theater heute“. Welche Sprechbühnen gehören in die „Bundesliga“, wer steigt ab, wer steigt auf? Geht es nach dem Urteil der befragten 40 Kritiker, so war es in der letzten Saison um die Theater des Ruhrgebiets so schlecht bestellt wie lange nicht mehr.

Zwar verteilt man bei „Theater heute“ noch keine symbolischen Masken wie Kochlöffel, doch man ist der Hitlisten-Manie immerhin so weit verfallen, daß man arglos „Die Sieger“ ausruft. Bester Schauspieler: Jürgen Holtz (keineswegs nur als „Motzki“); beste Schauspielerin: Kirsten Dene (an Peymanns Burgtheater); bester Regisseur: Luc Bondy. Frank Castorfs Berliner Volksbühne steht als „Theater des Jahres“ auf Platz eins. In dieser Rubrik (Gesamtleitung einer Bühne) mochte nur noch ein Unverdrossener überhaupt ein Revier-Theater nennen – ein einsames Stimmchen erhebt sich für Roberto Ciullis Mülheimer Theater an der Ruhr. Das war’s dann auch schon.

Ansonsten taucht die Region nur mit ganz wenigen Einzelleistungen auf. In der Sparte „Beste Inszenierungen“ wird, als revierweit einzige, immerhin viermal Jürgen Goschs Bochumer Handke-Einrichtung „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“ nominiert. Die Tat eines Gastregisseurs also, während man z.B. den Namen des Bochumer Noch-Schauspielchefs Frank-Patrick Steckel vergeblich sucht. In Sachen Bühnenbild/Kostüme werden immerhin Andrea Schmidt-Futterer, Dieter Hacker und Kazuko Watanabe für Bochumer Produktionen erwähnt.

Noch finsterer sieht es offenbar bei den Schauspielern aus. Nur ein Name aus dem gesamten Ruhrgebiet taucht überhaupt auf, und auch das nur einmal: Matthias Kniesbeck (als „Othello“ in Oberhausen).

Gnädigerweise hat man das Revier wenigstens in der Spalte „Beste/r Nachwuchskünstler/in“ nicht ganz vergessen. Und hier ist denn auch, neben der Bochumer Schauspielerin Judith Rosmair, endlich und erstmals Dortmund vertreten, freilich durch die Regisseurin Amelie Niermeyer (für ihre „Lysistrata“), die man leider längst nach München hat ziehen lassen.

Tja, warum ist Frau Niermeyer wohl an die Isar gegangen? Wohl auch, weil sie dort überregional eher wahrgenommen wird als in Dortmund. Denn die Nichtberücksichtigung im Jahrbuch von „Theater heute“ hat nicht immer mit Mangel an Qualität zu tun, sondern vielfach damit, daß die 40 Kunstrichter die Abstecher gescheut haben. Sprich: Was sie nicht kennen, können sie auch nicht nennen. Was bleibt? Immerhin zwei Zukunftshoffnungen: die kommende Ära Leander Haußmann in Bochum und Jürgen Bosse in Essen.




Botho Strauß: Erfolg ohne Medienrummel

Der von fast allen Theaterkritikern überschwenglich gelobte Autor Botho Strauß gilt zugleich als „unzugänglichster“ Schriftsteller der Gegenwart. Das einzige umfängliche Gespräch mit Strauß wurde 1979 von einer Schweizer Zeitung veröffentlicht. Jetzt konnten WR-Redakteur Bernd Berke und Marianne Hausen, freie Journalistin aus Heidelberg, den Schriftsteller in Berlin besuchen und ein längeres Gespräch mit ihm führen.

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Botho Strauß ist ohne Zweifel einer der gefragtesten deutschen Gegenwartsautoren. Nachdem viele Kritiker seine ersten Theaterstücke als „elitär“ oder schlicht als unverständlich abqualifiziert hatten, schaffte Strauß gegen Ende der 70er Jahre mit der „Trilogie des Wiedersehens“ und mit „Groß und klein“ den Durchbruch.

Seither wird dem 1944 geborenen, in Remscheid aufgewachsenen Autor in den bundesdeutschen Feuilletonspalten geradezu gehuldigt. Selbst gefürchtete Großkritiker erkoren ihn zum wichtigsten Theaterschreiber dieser Jahre. Auch Strauß‘ Prosawerke verkaufen sich bestens. „Die Widmung“, Geschichte einer Trennng, stand lange Zeit auf den Bestsellerlisten. Auch Strauß‘ neueste Prosaarbeit, der Band „Paare Passanten“, ging bereits 25 000 mal über die Ladentische – eine für belletristische Werke sehr beachtliche Zahl. So gehören denn inzwischen Strauß‘ Stücke zum festen Repertoire in- und ausländischer Bühnen. Auch im Deutschen Fernsehen wurden die „Trilogie“ sowie „Groß und klein“ schon gezeigt.

Trotz all dieser Erfolge ist Strauß einer der unbekanntesten Autoren geblichen, weil er sich sehr zurückhält, was Interviews angeht. Zahlreiche Journalisten haben vergeblich versucht, die geheime Telefonnummer des in Berlin lebenden Strauß zu erfahren und ihn zu Äußerungen zu bewegen. Erst jüngst bekam eine große deutsche Illustrierte eine Abfuhr. Strauß genehmigte der WR zwar ausdrücklich die Veröffentlichung, wollte aber nicht, daß während der Unterhaltung Notizen gemacht würden. Daher hat das Folgende den Charakter eines Gedächtnisprotokolls:

Strauß bestätigt die Vermutung. daß er, als einer unter ganz wenigen deutschen Autoren, von seinen Schreibeinkünften recht gut leben könne. Den Löwenanteil mache dabei nicht etwa der Erlös aus dem regen Verkauf der Prosabände aus. Die Einkünfte durch die Aufführungsrechte an den Stücken fielen mehr ins Gewicht.

Der Autor ist selbst ein wenig überrascht, daß seine Bücher so begehrt sind, wundert sich über den fulminanten Anfangserfolg seines Buches „Paare Passanten“, das erst seit Ende 1981 auf dem Markt ist. Daß „Die Widmung“ sich so gut verkauft habe, sei wohl dem Zufall zu verdanken. Als das Buch 1977 erschien, habe das Thema der Trennung zweier Lebensgefährten gerade Saison gehabt. Strauß: „Überhaupt prägen schnell wechselnde Modeströmungen den Literaturbetrieb. Wer zum Beispiel heute noch ein Buch über seine Beziehung zum Vater schriebe, käme entschieden zu spät“. Er selbst könne mit solch kurzlebigen Erscheinungen gar nichts anfangen und wisse, daß er im Prinzip immer für ein Minderheit schreiben werde. Gottlob werde er auch noch nie, wie etwa Günter Grass oder Heinrich Böll, von allen Leuten auf der Straße erkannt.

Tatsächlich ist Strauß dem Erfolg nie hinterhergerannt, eher hat er ihn sich hartnäckig ersessen: Als er mit seinem Germanistik-Studium nicht mehr zufrieden war, bewarb er sich bei der Fachzeitschrift „Theater heute“ um einen Ferienjob. Was sich heute in Strauß‘ Biographie wie die Beschreibung eines unglaublich leichten Einstiegs in die Theaterszene liest, war in Wirklichkeit mit einigen Frustrationen verbunden. Strauß: „Ich durfte bei ,Theater heute‘ lange Zeit so zusagen nur die Paplerkörbe leeren.“ Mehr als einmal habe ihm Henning Rischbieter, Chef des renommierten Monatsblattes, zu verstehen gegeben, wie mies seine, Strauß‘, Beiträge seien und daß man so etwas auf gar keinen Fall veröffentlichen könne. Diesen Anfechtungen zum Trotz hielt Strauß durch: „Eigentlich sollte ich nur vier Wochen in der Redaktion sitzen, aber ich blieb einfach weiter dort und niemand schickte mich weg.“ Strauß wurde mehr oder weniger „geduldet“.

Kaum aber hatte er seine ersten eigenen Werke veröffentlicht, stieg sein Ansehen auch bei der Theaterzeitschrift. Plötzlich erschienen seine Rezensionen – und schon bald galt er als einer der besten deutschen Theaterkritiker.

Damit war der Weg vorgezeichnet, der später über die Dramaturgiearbeit an Peter Steins West-Berliner „Schaubühne“ zum jetzigen Status des freien Schriftstellers führte. Strauß heute: „Ich war hartnäckig und hatte außerdem Glück.“

Strauß verabscheut den Erfolgsrummel in jeder Form. So hat er zum Beispiel nie eine Vorlese-Tournee durch Buchhandlungen unternommen, obwohl er weiß, daß Buchhändler für die Verbreitung eines Werks wichtiger sind als jeder noch so einflußreiche Kritiker. Oft nämlich überschritten unschlüssige Kunden die Ladenschwelle, denen der Buchhändler etwas empfehlen müsse.

Auch zu einer anderen Einrichtung des Literaturbetriebs, den PreisverIeihungen, hat Botho Strauß kein ungebrochenes Verhältnis. Zwar nahm er bislang alle Auszeichnungen an („Täte ich das nicht, würde das eine Entwertung des Preises bedeuten, an der mir nichts liegt“), doch blieb er kürzlich einer Verleihungszeremonie fern und überwies den ihm zugedachten Geldbetrag einer Hilfsorganisation. Die Folge war eine Geisterveranstaltung. bei der zwar ein Streichquartett musizierte, bei der der geehrte Autor jedoch nicht zugegen war.

Ablehnende beschied Strauß vor kurzem auch das Ansinnen Marcel Reich-Ranickis, des gefürchteten Kritiker-„Papstes“. Reich-Ranicki habe ihn als ständigen Mitarbeiter für ein konservatives Blatt in Frankfurt gewinnen wollen. Strauß skeptisch: „Solche Kritiker bilden sich ein, man sei ihr Schützling. Irgendwann lassen sie einen dann fallen“.

Immerhin: Unter Wert verkauft sich auch Strauß nicht mehr. Sein Roman „Rumor“ wird als Taschenbuch bei Ullstein und nicht – wie bisherige Lizenzausgaben – bei dtv erscheinen, und zwar der höheren Tantiemen wegen.

Zur Zeit steht Strauß ein neues Erfolgserlebnis bevor. Sein letztes Stück, „Kalldewey“, hat in diesen Tagen in Hamburg Premiere (Regie: Niels-Peter Rudolph). Die Karten fanden reißenden Absatz. Strauß glaubt jedoch, daß die Premiere in erster Linie ein Ereignis für Intellektuelle, Kritiker und Kulturschickeria sei. Zugleich befürchtet er, daß das Stück vielleicht eine allzu schwere Aufgabe für die Schauspieler darstelle. Darin sieht er auch einen Grund dafür, daß die Uraufführung schon einmal verschoben werden mußte. Die in der Farce „Kalldewey“ als Stilmittel eingesetzte Sprache der AIternativszene habe er teilweise vor Ort erlauscht, zum Teil übertreibend hinzuerfunden, um die Essenz dieser Sprache noch deutlicher hervortreten zu lassen.

Zur Zeit schreibt Strauß an einem weiteren Theaterstück. Reichlich Material habe er schon beisammen, doch befinde sich das ganze noch in der Phase der Rohfassung. Strauß schreibt immer mehrmals von Hand vor, bevor er tippt – übrigens am liebsten auf einem alten OIivetti-ModelI, obwohl er neuerdings auch eine elektrische Maschine besitzt. Deren Geräusch zerre jedoch an seinen Nerven.

Wenn Strauß in seiner nahezu unmöblierten 190-Quadratmeter-Wohnung in der Nähe des Wittenberg-Platzes schreibt, meidet er – noch mehr als sonst – die Öffentlichkeit. Eine der wenigen .Ablenkungen“ in der Isolation ist dann die Lektüre. Dabei interessierten ihn nur wenige Gegenwartsautoren (darunter Thomas Bernhard, Peter Handke und Paul Nizon). Er bevorzugt Klassiker wie Dostojewski, Rilke und zur Zeit Musils Riesenwerk „Der Mann ohne Eigenschaften“.

Strauß, in seiner Jugend Fan von Caterina Valente und Margot Eskens, hört heute fast nur klassische Musik. Dennoch notiert er, als wir darauf zu sprechen kommen, die Namen einiger neuer deutscher Rockgruppen wie „Ideal“ und „Abwärts“. Grund: Strauß interessiert sich für die Zukunftsangst, die sich in den Texten dieser Bands ausdrückt. Freilich zweifelt er, ob diese Angst eine wirkliche Zeit- oder nur bloße Modeströmung sei.

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Erschienen in der WR-Wochenend-Beilage vom 30. Januar 1982