Seelenfenster geöffnet: Tschaikowskys „Eugen Onegin“ in Krefeld-Mönchengladbach

Sofia Poulopoulou als Tatjana in der Inszenierung von Helen Malkowsky am Theater Mönchengladbach. (Foto: Matthias Stute)

„Eugen Onegin“ hat in diesem Jahr Konjunktur in Nordrhein-Westfalen. Bonn, Düsseldorf und Krefeld-Mönchengladbach zeigten Peter Tschaikowskys Meisterwerk. In Mönchengladbach wird die Inszenierung nun wieder aufgenommen.

Am 25. Februar dieses Jahres näherte sich Michael Thalheimer in Düsseldorf den „Lyrischen Szenen“ in einem harten hölzernen Verschlag von Henrik Ahr mit strengem, unbestechlich beobachtendem Minimalismus, gestützt von der leidenschaftlichen Lesart des neuen GMD der Rheinoper, Vitali Alekseenok (Wiederaufnahme war am 28. September). Nur eine Woche später präsentierte Regie-Shootingstar Vasily Barkhatov eine detailverliebte, psychologisch präzise Version der tragisch verfehlten Liebesgeschichte in opulenten Bildern von Zinovy Margolin an der Oper Bonn, begeisternd flexibel und transparent dirigiert vom neuen GMD des Theaters Hagen, Hermes Helfricht.

Einleuchtend erzählte Geschichten

Die Neuinszenierung in Mönchengladbach, die jetzt wieder aufgenommen und ab 16. November in Krefeld gezeigt wird, stammt von Helen Malkowsky, Wieder einmal stellt sie unter Beweis, wie einleuchtend sie eine Geschichte zu erzählen, wie unverkünstelt sie Figuren führen und Konstellationen entwickeln kann. Originelle, aber nie aufgesetzte Konzepte entwickelte die Professorin für Musiktheaterregie und Szenische Interpretation an der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien schon vor 20 Jahren, als sie in Nürnberg „Der fliegende Holländer“ oder Aribert Reimanns „Melusine“ mit Sensibilität für metaphorische Bühnenlösungen in szenische Psychogramme verwandelte. In ihre Zeit als Operndirektorin in Bielefeld (2010 bis 2013) fielen die faszinierend doppelbödigen „Contes d’Hoffmann“; an den Vereinigten Bühnen Krefeld-Mönchengladbach entdeckte sie bereits in Tschaikowskys „Mazeppa“ ebenso wie in Verdis „Stiffelio“ und Ambroise Thomas‘ „Hamlet“ die heute relevanten Aspekte der Stoffe.

Nun also „Eugen Onegin“: Der junge, schlanke Dandy bricht absichtslos in die bleigraue Welt auf Larinas Gut ein, sein goldener Rock (Kostüme: Anna-Sophie Lienbacher) spiegelt die zögerliche Faszination der Frauen wieder, stellt aber auch seine in diesen stumpfen Räumen schillernde Exotik aus. Malkowksy erfindet keine Charakterzüge über die im Stück angelegten hinaus, aber sie schärft das Profil der Menschen, indem sie – ähnlich wie Dietrich Hilsdorf in seiner sensationellen Kölner Inszenierung vor zehn Jahren – genau beobachtet. Sie arbeitet mit sprechenden Gesten und offenbarenden Konstellationen: Larina (Katarzyna Kuncio) ist eine pragmatisch gewordene Frau in mittlerem Alter, Filipjewna (Satik Tumyan) ein sympathisch mütterliches Wesen, gezeichnet mit feinem Humor.

„Das Glück, es war so nah“: Tatjana (Sofia Poulopoulou) und Onegin (Rafael Bruck) verfehlen sich auf tragische Weise. (Foto: Matthias Stutte)

Vor den vermauerten oder zugeklebten stilisierten Fenstern der Bühne Tatjana Ivschinas fehlt der verträumten Tatjana mit ihren langen dunklen Haaren ebenso die Wärme wie dem Licht, das eine Trauergesellschaft in fahle Helle kleidet. Offenbar ist der Gutsherr verstorben; Damen und Herren mit Mantel und Hut in Schwarz kondolieren. Der Vorsänger (Irakli Silagadze) singt tonschön und entspannt, wie es selten in dieser kleinen Partie zu erleben ist.

Nuancen von bösem Gelb

Die Briefszene gestaltet die vorzüglich dunkelglühend singende Sofia Poulopoulou – in weißem Kleid und barfuß ganz bei sich selbst – als einen verzweifelt-feurigen Ausbruchs- und Erweckungsmoment. Das Chaos ihrer Gefühls- und Gedankensplitter kritzelt sie auf Papier, das sie von den halb blinden, halb von Regentränen benetzten Fenstern kratzt, und bindet die Blätter zuletzt zu einem Konvolut. Das Öffnen eines der Fenster mag eine konventionelle Metapher sein: Malkowsky inszeniert es als ein ergreifendes Befreiungserlebnis. Die Zurückweisung Tatjanas wiederum wird zur Charakterstudie Onegins. Gelangweiltes Wohlwollen, unterschätzende Belehrung: Rafael Bruck gestaltet diesen Moment wort- und klangsensibel.

Beim Namensfest Tatjanas tragen die Protagonisten wie die geschwätzigen Gäste Kostüme in den Nuancen von bösem Gelb. Die Inszenierung schildert, wie sich Lenski, vom Alkohol benebelt, in seine Eifersucht hineinsteigert. Wie sorgfältig auch Nebenfiguren gezeichnet werden, ist am Triquet von Arthur Meunier abzulesen: Endlich einmal kein übergriffiger Fummler oder kasperlhafter Trottel, sondern ein sanft frustrierter, still mitwissender Charmeur mit leichtem Hang zur Selbstübersteigerung. Eine Studie, die Meunier auch durch solides gesangliches Gestalten aufwertet.

Nur die Olga der leuchtend leicht singenden Kejti Karaj aus dem Opernstudio Niederrhein bleibt etwas zu sehr am Rande. Das ist aber angemessen, denn das „Kind“ ist nichts weiter als eine Projektionsfigur der romantisch übersteigerten Wünsche des Dichters Lenski, die beim verhängnisvollen Tanz mit Onegin nichts, aber auch gar nichts provoziert. Lenski ist bei Woongyi Lee, ausgestattet mit einem fast überpräsent in der Maske gebildeten, in der Höhe gezwungenen und daher nicht immer intonationsreinen Tenor, ein verstiegener junger Mann, der sich im Duell todesbereit präsentiert. Seine Arie singt Lee mit gestalterischem Feinsinn. Nicht der widerstrebende Onegin erschießt ihn, sondern die Pistole entlädt sich, während jener mit dem Sekundanten ringt. Gereon Grundmann ist der düstere Hüter der Duellregeln und wirkt damit wie ein metaphorischer Repräsentant einer obstruktiven Ordnung, die es wieder herzustellen gilt. Matthias Wippich als balsamfrei singender Fürst Gremin ist im letzten Bild dann der Katalysator für die finale Lebenskatastrophe Onegins.

Die Niederrheinischen Sinfoniker und der Opernchor Krefeld-Mönchengladbach, einstudiert von Michael Preiser, haben in GMD Mihkel Kütson einen erfahrenen Kenner der russischen Romantik am Pult. Kütson hat auch „Mazeppa“ dirigiert und sich mit CD-Aufnahmen entlegenen russischen Repertoires etwa von Alexander Glazunov und Mili Balakirev hervorgetan. Das Orchester überzeugt mit einem dunkel-weichen Klang und ist auch in dramatischen Momenten nie unkontrolliert massiv. Kütson sorgt für sorgfältig gestaltete Tempi und Übergänge, einen überlegten Aufbau emotionaler Spannungen, lyrische Finesse und wehmütige Pastellfarben. Die Konkurrenz mit Düsseldorf und Bonn müssen die Niederrheiner nicht scheuen.

Eine weitere Vorstellung am 10. Oktober in Mönchengladbach-Rheydt. Premiere in Krefeld ist am 16. November, weitere Termine am 20.11., am 5., 14., 29.12 sowie 10.01., 4. und 14.02.2025. Info: https://theater-kr-mg.de/spielplan/eugen-onegin/




Operetten-Passagen (8): Emmerich Kálmáns Rarität „Die Faschingsfee“ in Mönchengladbach

"Die Faschingsfee" am Theater in Rheydt: Szene aus dem ersten Akt. Foto: Matthias Stutte

„Die Faschingsfee“ am Theater in Rheydt: Szene aus dem ersten Akt. Foto: Matthias Stutte

Das Theater Krefeld-Mönchengladbach besinnt sich auf eine gute Tradition und greift wieder einmal in die stillen, dunklen Räume, in denen abseits des bis zum Überdruss ausgeleuchteten Mainstreams vergessene Werke einer Wiedergeburt auf der Bühne entgegenschlummern.

Während allein in Deutschland in dieser Spielzeit fünf Theater eine neue „Csardasfürstin“ herausbringen, wagen sich nur zwei an Unbekanntes aus der Feder von Emmerich Kálmán. Das Stadttheater Gießen spielt seine frühe Operette „Ein Herbstmanöver“ von 1909. Und in Mönchengladbach widmet sich der Regisseur und Sänger Carsten Süss im Theater Rheydt einer Operette, die vor genau 100 Jahren entstand, als der Erste Weltkrieg schon absehbar zum Zusammenbruch Europas führen sollte: „Die Faschingsfee“.

Seit der Nazizeit – Kálmán musste 1938 emigrieren – aus den Spielplänen verschwunden, feierte die flotte Reminiszenz an die Fünfte Jahreszeit in der letzten Spielzeit ein Comeback, für das Münchner Gärtnerplatztheater bearbeitet von dessen Intendant Josef E. Köpplinger. Mönchengladbach hielt sich enger an das Original von Alfred Maria Willner und Rudolf Österreicher. Süss schrieb neue Dialoge und bereinigte das personalreiche Stück um einige Nebenfiguren. Dennoch wurde der Abend, auch wegen der zwei Pausen, mit drei Stunden ziemlich lang.

Ohne flotte Wendigkeit und Selbstironie

Der Grund liegt auch im Werk selbst: Köpplinger hatte in München ein hohes Tempo vorgelegt und sein Ensemble auf rasche Reaktionen und geschliffene Pointen trainiert. Süss hat Darsteller, denen die flotte, wendige Art der Komödie, das Arbeiten auf einen zündenden Punkt hin nicht geläufig ist.

Der Regisseur und Sänger Carsten Süss. Foto: Theater Mönchengladbach/privat

Der Regisseur und Sänger Carsten Süss. Foto: Theater Mönchengladbach/privat

Wenn die unbekannte Schöne, die sich später als eine hochadelige Dame entpuppt, in der verlotterten Souterrain-Kneipe (atmosphärisch stimmige Bühne: Siegfried E. Mayer) auftaucht, zeigt Debra Hays weder die leicht genervte Arroganz gegen eine Welt, die sie sonst nie betreten würde, noch die zögerliche Verlegenheit angesichts fremder Menschen einer kaum vertrauten sozialen Schicht. Sie tritt vielmehr, nicht einmal besonders spektakulär oder gar selbstironisch, als Operettendiva auf.

Zudem konzentriert sich die Regie auf das (künftige) Liebespaar. Der Maler Victor Ronai (Mark Adler, alternierend mit Michael Siemon) hat soeben einen Preis gewonnen, der mit einem Haufen Geld dotiert ist, und freut sich in einem flotten Song („Heut flieg ich aus“) auf eine zünftige Faschingsfeier, zu der ihm die attraktive fremde Frau gerade recht kommt. Ein romantisches Auftrittslied, ein Duett im Walzertakt – und schon ist man sich sicher: „Seh’n sich zwei nur einmal, ist’s beinahe kein Mal …“. Doch das Milieu der Künstler-Bohème konkretisiert sich nicht. Chor und Statisterie liefern ihre Szenen wacker ab, aber das Bild einer Zeit von Mangel und Depression will sich nicht einstellen.

Rüde sexuelle Belästigung fegt den harmlosen Spaß beiseite

So bleiben wir in szenischen Abläufen, wie sie aus standardisierten Operetten-Arrangements bekannt sind und längst Inszenierungs-Geschichte sein sollten. Aber Halt: Wenn sich plötzlich ein öliger Schnösel unter die feiernde Gesellschaft mischt und die unbekannte Dame auf rüde Weise sexuell belästigt, verlassen wir den (stets scheinbar) harmlosen Spaß. Juan Carlos Petruzziello zeigt mit dem nötigen, auch schneidend stimmlichen Nachdruck, dass die Übergriffe nicht als Galanterie oder frivole Anspielung gemeint sind, sondern einen Mann charakterisieren, der sich wie selbstverständlich anmaßt, über andere Menschen zu verfügen.

Konfrontatin im Atelier: Fürstin Alexandra (Debra Hays) und ihr Bräutigam, Rittmeister von Grevelingen (Michael Grosse). Foto: Matthias Stutte

Konfrontation im Atelier: Fürstin Alexandra (Debra Hays) und ihr Bräutigam, Rittmeister von Grevelingen (Michael Grosse). Foto: Matthias Stutte

Leider bricht diese Exposition im zweiten Akt wieder zum – ob der vielen Dialoge – langwierigen Operettenspaß zusammen. Inzwischen wissen wir, dass die Dame der höheren Gesellschaft angehört und einen älteren Rittmeister ehelichen soll. Ihr Chauffeur nämlich ist mit einer der Bohème-Künstlerinnen liiert und weckt durch seine verzweifelten Bemühungen, das Abenteuer seiner Herrschaft nicht ausarten zu lassen, das Misstrauen seiner Lori: Gabriela Kuhn als eifersüchtiges Fräulein Aschenbrenner und Markus Heinrich als ihr der Untreue verdächtiger Favorit ziehen alle Register, um ihre turbulenten Szenen mit Charme und Schmiss über die Bühne zu bringen. Aber um die beiden herum fehlen das Tempo und der messerscharfe Schliff der Pointen. Das Fest zieht sich bis zum Finale, in dem das „hohe Paar“ nach einer Liebesnacht im Atelier, den Konventionen der Operette entsprechend, getrennt wird.

Den dritten Akt spitzt Regisseur Süss entschieden deutlicher zu: In einem muffigen Ambiente der Fünfziger Jahre – die einfallsreichen Kostüme von Dietlind Konold verorten das Werk in der Nachkriegszeit – soll die Hochzeit zwischen Fürstin Alexandra und dem Rittmeister (mit sonorer Würde: Intendant Michael Grosse höchstselbst) gefeiert werden. Unter röhrenden Hirschen taucht im Hintergrund – eine makabre Prophetie künftigen Ehelebens – ein Zitat an „Dinner for one“ auf, die Stolperfalle Eisbärfell eingeschlossen. Blond bezopfte Mädels in Höschen im SS-Schwarz tanzen auf der Tafel zu Kálmáns Schlager „Wenn die Garde schneidig durch die Stadt marschiert“ aus der „Herzogin von Chicago“.

Braune Schatten hinter konservativ-bürgerlicher Fassade

Der schmierige Typ aus dem ersten Akt, inzwischen bekannt als Staatssekretär Dr. Lothar Mereditt, schwadroniert in konservativ-grauem Cutaway von Leitkultur, Vorsehung und tausendjähriger Zukunft. Am Ende rutscht ein Wagner-Gemälde von der Wand und legt für Sekunden ein Hitlerbild frei. Süss hebt den Spiel-Realismus auf, um die Tiefenschichten einer Mentalität offen zu legen, die heute wieder alles andere als ein historisches Phänomen der Adenauerzeit ist. Hinter Wagner als Inbegriff einer bürgerlichen Kunstreligion verbirgt sich der braune Schatten; in den erstarrten Konventionen gesellschaftlichen Lebens tarnt sich ein Ungeist, der Menschen, Menschlichkeit und Moral verachtet.

Auch wer die Symbolik für zu dick aufgetragen hält, wird zugestehen müssen, dass der Versuch, die Operette aus belangloser Seligkeit zu befreien, mit konzeptionellem Ernst unternommen wurde. Die ideensprühenden Melodien Kálmáns, die das Orchester unter Diego Martín-Etxebarría sängerfreundlich und flexibel, aber manchmal auch konturenarm spielt, bekommen so einen zwiespältigen, melancholischen, sogar leise resignierten Unterton. Mit Sicherheit nicht der schlechteste Beitrag, den Krefeld mit der „Faschingsfee“ zur ausgedünnten Operetten-Landschaft der Rhein-Ruhr-Region leistet.

Vorstellungen: 21. und 31. Dezember, 4. und 16. Februar in Mönchengladbach-Rheydt; in der Spielzeit 2018/19 dann im Theater Krefeld. Info: http://theater-kr-mg.de/spielplan/inszenierung/die-faschingsfee/




Satire ohne Biss: Paul Linckes Milljöh-Operette „Frau Luna“ in Mönchengladbach

Das Mondvolk wundert sich über die Berliner Erdenbürger. Szene aus der Neuinszenierung von Paul Linckes "Frau Luna" am Theater Krefeld-Mönchengladbach. Foto: Matthias Stutte

Das Mondvolk wundert sich über die Berliner Erdenbürger. Szene aus der Neuinszenierung von Paul Linckes „Frau Luna“ am Theater Krefeld-Mönchengladbach. Foto: Matthias Stutte

Kein Zweifel: Die Panneckes und Pusebachs sind in der Jetztzeit angekommen. Die wilhelminische Nostalgie des alten „Spree-Athen“ von Paul Linckes unsterblichem Operettenschlager „Frau Luna“ schrumpft in der neuen Inszenierung am Theater Krefeld-Mönchengladbach auf eine hübsch auf alt getrimmte Kneipe. Im Hintergrund aber recken sich die endlosen Fensterreihen und Satellitenschüsseln Berliner Hochhaussiedlungen. Das „Milljöh“ von damals, das sind heute die Hartzer, Kleinrentner und zwischen fehlendem Schulabschluss und aussichtloser Stellensuche gestrandeten Jugendlichen.

Regisseur Ansgar Weigner hat gemeinsam mit Carsten Süß den Text von Heinz Bolten-Baeckers für seine Sicht auf „Frau Luna“ gründlich revidiert. Fritz Steppke, der pfiffige Berliner Mechaniker, baut keinen Mondballon mehr; die Technik-Begeisterung von 1899 ist der Frage nach einer politischen Option gewichen: Steppke hat eine idealistische Bewegung für „Jerechtigkeit (!) und Liebe zwischen den Menschen“ gegründet. Hat er damit eine Chance? Gibt es so etwas wie eine gesellschaftliche Teilhabe für diese Operetten-Unterschicht?

Die Antwort ist dieselbe wie 1899: Schlösser, die im Monde liegen, bringen Kummer, und um im Glück sich einzurichten, hat man auf der Erde Platz – sprich, im Kuschelbett mit seinem Mädchen.

Ein bisschen Alt-Berliner Idylle gehört dazu: Steppke (Markus Heinrich) doziert politische Ideen; Frau Pusebach (Kerstin Brix) trauert dagegen ihrem verflossenen "Theophil" nach. Foto: Matthias Stutte

Ein bisschen Alt-Berliner Idylle gehört dazu: Steppke (Markus Heinrich) doziert politische Ideen; Frau Pusebach (Kerstin Brix) trauert dagegen ihrem verflossenen „Theophil“ nach. Foto: Matthias Stutte

Das ist die gründerzeitliche Stillhalte-Botschaft, die Linckes Operette wohl schon 1899 – und nicht erst in der opulenten Revue-Fassung von 1922 – verbreitet hat. Für den Kleinbürger der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg gehörte es sich einfach nicht, nach glamourösen Sphären zu streben. Er sollte brav und bescheiden in Laube, Werkstatt und möbliertem Zimmer hausen. Dort ist es am schönsten, so redet Madame Operette dem einfachen Manne ein, der sich an ihrem musikalischen Busen, damals im Apollo-Garten, für zwei Stündchen burlesk und phantastisch der harten Realität der expandierenden Reichshauptstadt Berlin entheben ließ.

Und heute? Bei Weigner klingt das so: „Inne Politik jehn, so wat macht ma nich, so wat träumt ma höchstens“. Eine seltsame Botschaft in einer entwickelten Demokratie. Seine Operetten-Moral am Ende lautet: Der Kiez ist unsere Welt. Und die sollen wir in Ordnung halten durch individuelles Engagement. Jeder, so gut er kann.

Das ist wohl eine ehrenwerte, aber ziemlich unpolitisch gedachte Individualmoral. Ein Rückzug vor den Herausforderungen der globalisierten Welt. Spielplatz aufräumen statt TTIP bekämpfen. Nicht unbedingt eine adäquate Reaktion auf das tatsächlichen Problem in Deutschland, dass gesellschaftliche Schichten immer undurchlässiger werden. Die Operette war stets ambivalent: Sie bestätigte den Status ihrer Zuschauer, hebelte ihn aber auch lustvoll satirisch aus. In dieser „Frau Luna“ im Theater in Rheydt blieb die – angezielte – Satire freilich ohne Biss.

Aufbruch für Jerechtigkeit und Liebe: Steppke (Mitte: Markus Heinrich) mit seinen Kumpanen Lämmermeier (links: Rafael Bruck) und Pannecke (rechts: Hayk Dèinyan). Foto: Matthias Stutte

Aufbruch für Jerechtigkeit und Liebe: Steppke (Mitte: Markus Heinrich) mit seinen Kumpanen Lämmermeier (links: Rafael Bruck) und Pannecke (rechts: Hayk Dèinyan). Foto: Matthias Stutte

Aus der mit freundlich eingefärbten Betonfertigbauteilen tapezierten Bühne von Jürgen Kirner träumt sich Steppke in eine „Mond“-Welt, eine Mischung aus Raumschiff Orion und Bundeskanzleramt. Die Erdkugel entschwebt zum Ohrwurm des „Glühwürmchen“-Idylls; sichtbar werden die Reichstagskuppel und ein Rudel futuristischer Putzfeen mit Staubwedel und Stirnlicht.

Doch Weltraum-Fantasy ist nicht angezielt, sondern eher Neureichen-Avantgarde. Die opulente Freitreppe signalisiert: Hier läuft die Show. Und was „da oben“ gespielt wird, um „den Wähler“ klein zu halten, ist nicht mehr als hohle Polit-Inszenierung. Allen voran Frau Luna als Übermutti in einem hemmungslos übersteigerten Gold-Kostüm von Marlis Knoblauch, dazu die weißen Roben, Fräcke und Uniformen wie aus der alten Fernseh-Samstagabendrevue. Und ein grotesker, sechsarmiger Theophil, der Allround-Manager des lunaren Tollhauses, bei Matthias Wippich gut aufgehoben – so ganz ohne fantastische Elemente kommt selbst Weigners Konzept nicht aus.

Im wahrsten Sinn des Wortes übergriffig: Matthias Wippich alias Theophil versucht der fixen Stella (Gabriela Kuhn) habhaft zu werden. Foto: Matthias Stutte

Im wahrsten Sinn des Wortes übergriffig: Matthias Wippich alias Theophil versucht der fixen Stella (Gabriela Kuhn) habhaft zu werden. Foto: Matthias Stutte

Das ist alles hübsch anzuschauen, doch weder der Satire noch dem Humor besonders förderlich. Selbst eine Frau Venus – Amelie Müller in koketten rosa Dessous – agiert zu betulich, um den braven Erdenbürgern den Herzschlag erotisch zu beschleunigen.

Die Szene, in der Steppke der Göttin des Mondes seine politischen Reformpläne erläutern will, während die nur auf seine vermuteten männlichen Qualitäten erpicht ist, wirkt wie braver Sozialkundeunterricht: Knisternde Spannung oder die naheliegende Enttäuschung des eifrigen politischen Missionars? Fehlanzeige. Wenigstens rettet Markus Heinrich durch agiles Spiel und ebenso beweglichen Tenor seine Figur vor der totalen Verblassung, während Debra Hays den Facetten der Frau Luna zwischen mondän, berechnend und ein wenig liebestoll zu viel Reserve entgegenbringt.

Im Quintett der mondfahrenden Erdlinge schießt Kerstin Brix den Vogel ab: Frau Pusebach ist in ihrem Fall eine schnoddrige Schnauze, die ohne Sentimentalität ihren verflossenen Theophil wiedererkennt, dessen Verlust sie mit Kittelschürze und dem herrlich verqueren Quäken einer erfahrenen Diseuse bereits auf Erden beklagt hat. Rafael Bruck gewinnt der Figur des Lämmermeier – in diesem Fall ein „freigestellter Deutschlehrer in ewigem Krankenstand“ – kaum Konturen ab; auch Haik Dèinyan hat wenig Chancen, aus seinem Pannecke mehr als einen angestaubt freundlichen älteren Herrn zu machen. Susanne Seefing mit Camouflagehose und Spaghettihaaren macht es ihrem Fritz leicht, den politischen Traum für das Nest unter nackter Glühbirne draufzugeben: Sie ist eine sanfte, anschmiegsame Mieze.

Einschwebende Göttin des Mondes: Debra Hays und der Chor des Theaters Krefeld-Mönchengladbach. Foto: Matthias Stutte

Einschwebende Göttin des Mondes: Debra Hays und der Chor des Theaters Krefeld-Mönchengladbach. Foto: Matthias Stutte

Die herrlich auf die Spitze getriebenen Kostüme des Prinzen Sternschnuppe – Michael Siemon als Operettengeneral – und des aufgeblasenen Mars von Shinyoung Yen täuschen nicht darüber hinweg, dass auch den Mondbewohnern die Profilierung abgeht, die sie zu komischen oder wenigstens markanten Charakteren im Rahmen des Genres geformt hätte. Nur Gabriela Kuhn zeigt als nassforsche Stella, wie zynisch der „Betrieb“ auf dem Mond machen kann. Musikalisch bleiben die Niederrheinischen Sinfoniker den mal idyllischen, mal lustvoll-simpel gradlinigen Melodie-Erfindungen des „feinen Paule“ nichts schuldig, zumal sie in einer gut ausbalancierten Streicher-Bläser-Besetzung spielen.

Alexander Steinitz lässt den luftigen Amüsiernummern ihre Würde, ihren Charme und ihre Würze, meidet allzu trivialen Schmiss ebenso wie triefendes Sentiment. Der Chor ist auf Zack, lässt sich beim himmlischen Reinemachen nicht aus dem spitzen Offenbach-Rhythmus bringen. Wenn im Finale dann die „Berliner Luft“ dröhnt, ist das lastende politische Gedünst verpufft; was bleibt, ist der unverwehbare Duft der Berliner Operette, deren rauer Charme auch dem Optimierungswahn der Bearbeiter von heute widersteht.

Nächste Vorstellungen: 22./24. April, 17./21. Mai. Karten: Tel. (02166) 61 51 100 oder www.theater-kr-mg.de




Seltenes zum Verdi-Jahr: Fesselnder „Stiffelio“ in Krefeld-Mönchengladbach

Für einen Augenblick sieht es so aus, als würde er es schaffen, der Papierflieger. Aber dann schmiert er jämmerlich ab. Ein schüchternes Zeichen von Hoffnung stürzt. In der Gesellschaft, in der Lina und Raffaele versuchen, zueinander zu kommen, haben ihre Träume keine Chance. Helen Malkowsky exponiert ihre Version der Verdi-Oper „Stiffelio“ mit diesem Verweis auf eine unlebbare Vision. Sie endet im grellen Licht der Hoffnungslosigkeit.

Schuld und Rache: Izabela Matula (Lina) und Michael Wade Lee (Stiffelio) in Verdis gleichnamiger Oper am Theater Krefeld-Mönchengladbach. Foto: Matthias Stutte

Schuld und Rache: Izabela Matula (Lina) und Michael Wade Lee (Stiffelio) in Verdis gleichnamiger Oper am Theater Krefeld-Mönchengladbach. Foto: Matthias Stutte

Zum Verdi-Jahr 2013 entschied sich das Theater Krefeld-Mönchengladbach gegen den üblichen Reigen aus Rigoletto – Traviata – Troubadour und setzte Verdis bedeutende, aber kaum bekannte Oper „Stiffelio“ auf den Spielplan. Eine Maßnahme, die dem Theater am Niederrhein ähnlich viel Aufmerksamkeit garantiert wie im Frühjahr ein neuer szenischer „Rienzi“ zum Wagner-Jubiläum. Mit Recht, denn unter den deutschen Musiktheatern hält sich die Spielplan-Kreativität in Sachen Verdi sehr in Grenzen.

Das 1850 entstandene Werk ist in mehrfacher Hinsicht ein Sonderfall. Schon die Uraufführung in Triest war von massiven Problemen überschattet. Eine protestantische Sekte, ein verheirateter Pastor, eine Predigt und eine Beichte auf offener Szene waren für die Zensur inakzeptabel. Von den wenigen Inszenierungen ging nur eine – 1852 im liberalen Venedig – in der ursprünglich vorgesehenen Form über die Bühne. Verdi zog das Werk zurück und verarbeitete die Musik in seiner heute ebenfalls unbekannten Kreuzfahrer-Oper „Aroldo“. Die Mittelalter-Camouflage diente dazu, die Zensur kaltzustellen.

Eine Rarität trotz unverkennbarer Qualitäten

„Stiffelio“ war verschollen und wurde erst 1968 Jahren wieder entdeckt. In Köln gab es 1972 einen ersten Versuch in Deutschland, sich der Oper zu nähern. Doch erst als 1993 eine kritische Edition auf der Basis der in Verdis Villa S. Agata aufbewahrten Autographteile vorlag, waren gültige Inszenierungen von „Stiffelio“ möglich. Auf die deutsche Opern-Szene hatte das keinen Einfluss. Trotz seiner unverkennbaren Qualitäten bliebt „Stiffelio“ eine Rarität. Man arbeitet sich lieber zum hundertsten Mal am unmittelbar danach entstandenen „Rigoletto“ ab.

Beide Werke haben in der Tat einiges gemeinsam: Verdi rückt einen unkonventionellen Helden ins Zentrum; die Liebesgeschichte tritt in ihrer dramatischen Brisanz zurück. Verdi sah, das hat er später noch deutlich angemerkt, im „Stiffelio“ einen der neuen, leidenschaftlichen Stoffe, die er sich so sehnlich gewünscht hatte. Das Libretto Francesco Maria Piaves – Grundlage ist ein allerdings kaum mehr erkennbares französisches Boulevardstück – inspirierte ihn zu frei angelegten Szenen, zu einer subtilen musikalischen Charakterisierung zu diffizilen instrumentalen Details, aber auch zum Vermeiden gassenhauerischer Melodiebildung – aus Sicht der Rezeptionsgeschichte zweifellos ein Hindernis.

Was gilt Gottes Wort wirklich? Lina (Izabela Matula), Stiffelio (Michael Wade Lee) und Stankar (Johannes Schwärsky) in Verdis "Stiffelio". Foto: Matthias Stutte

Was gilt Gottes Wort wirklich? Lina (Izabela Matula), Stiffelio (Michael Wade Lee) und Stankar (Johannes Schwärsky) in Verdis „Stiffelio“. Foto: Matthias Stutte

„Stiffelio“ ist zweifellos Verdis „theologischste“ Oper – und ein Unikum unter den zeitgenössischen Werken. Die Titelfigur, ein protestantischer Pastor mit einer Frau an seiner Seite, war für das italienische Publikum ebenso exotisch wie ein Libretto, das die Fragen nach Schuld und Versöhnung, nach authentischer Liebe und ehelicher Treue im Kontext des Evangeliums stellt. Doch was damals befremdlich wirkte, könnte heute eine Chance sein. Denn „Stiffelio“ gibt uns nicht nur einen tiefen Einblick in die Religionsgeschichte des 19. Jahrhunderts, sondern lässt auch gewisse Schlüsse auf Verdis eigene Religiosität und seine Stellung zum Christentum zu. Und trotz der philosophischen Fragen agieren auf der Bühne, wie immer bei Verdi, lebendige, leidenschaftliche Menschen aus Fleisch und Blut.

Die Vaterfigur spielt eine entscheidende Rolle

Es mag sein, dass die Story von der evangelischen Pfarrersfrau Lina, die während der langen Abwesenheit ihres Gatten dem Werben eines jungen Mannes nachgibt, Verdi besonders berührt hat: Er lebte jahrelang mit seiner späteren Frau Giuseppina Strepponi zusammen, ohne verheiratet zu sein, und hat die moralische Missbilligung in seiner Heimat schmerzlich erfahren. In Verdis Oper werden aber auch zentrale ethische Themen verhandelt: Es geht um „Reinheit“, um „Ehre“, um Rache.

Wie in vielen Verdi-Opern, auch im „Rigoletto“, spielt eine Vaterfigur eine entscheidende Rolle: Der alte Stankar, Linas Vater, ist ein Offizier (man denke an den Vater Luisa Millers), dem die Ehre über alles geht. Mit allen Mitteln versucht er, den Ehebruch seiner Tochter zu kaschieren. Der Patriarch wütet im Namen der Ehre gegen jede barmherzige Lösung, kennt nur eine Konsequenz: die Rache, die er schließlich mörderisch an Linas Verführer Raffaele vollzieht. Der wiederum ist einer der schwachen Verdi’schen Liebhaber, eine Person ohne Profil. Lina dagegen tritt uns als starke Frau entgegen, die nicht bereit ist, sich vom Druck der Gesellschaft und der Männer um sie herum entwürdigen zu lassen. Sie ist sich ihrer Schuld bewusst und verleugnet sie nicht, steht aber dazu, eine „Sünderin“ zu sein.

Zahn um Zahn – oder Barmherzigkeit und Vergebung

Der zerrissene Held, Stiffelio: ein von seiner Mission durchdrungener Prediger und Seelsorger, aber auch ein eifersüchtiger Ehemann. Herausgefordert von der versöhnlichen Botschaft des Evangeliums und der barmherzigen Gestalt Jesu, aber auch erfüllt von rasender Rachgier. Das Programmheft hat den Konflikt auf den Punkt gebracht: Alttestamentliche Vorstellungen von Vergeltung („Zahn um Zahn“), die Verdi in der Institution und der unerbittlichen Morallehre der Kirche seiner Zeit erkannt haben mag – stehen der neutestamentlichen Botschaft des Verzeihens und der Barmherzigkeit gegenüber. In Stiffelios Bekehrung im Finale der Oper mag sich Verdis eigene Glaubenssehnsucht wiedergefunden haben: Heilung statt Rigorismus. Stiffelio schlägt das Johannes-Evangelium auf und liest die Stelle, in der Jesus der Ehebrecherin vergibt: „Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein.“

Düstere Gesellschaft vor trügerischer Alpen-Idylle im Bühnenbild Hartmut Schörghofers in Verdis "Stiffelio". Foto: Matthias Stutte

Düstere Gesellschaft vor trügerischer Alpen-Idylle im Bühnenbild Hartmut Schörghofers in Verdis „Stiffelio“. Foto: Matthias Stutte

Helen Malkowksy zeigt in ihrer Inszenierung eine Gesellschaft, die in ihren Tugendbegriffen gefangen ist wie in den bühnenhohen Mauern von Hartmut Schörghofer. Die Rituale – als Chiffren dienen Tücher – wirken entleert. Immer wieder geht die Gemeinde – der Chor ist von Ursula Stigloher bestens präpariert – wie in einer Front auf Konfrontation; sie distanziert sich, sie grenzt aus. Lina im spießig adretten blauen Kleidchen ist verdammt zur Existenz eines „Blaustrumpfs“: demütig sollen solche Frauen sein, sich unterordnen, keine eigenen Wünsche verfolgen. Izabela Matula gibt der von Schuldkomplexen schwer beladenen Frau, die es sich nicht nehmen lässt, zu sich selbst zu stehen, ein gesanglich bewegendes Profil, dem auch die bisweilen schrillen und engen Töne nichts nehmen.

Der äußere Schein zählt

Eine fesselnde Studie eines zwischen seinen patriarchalistischen Blockaden und seiner inneren Traumatisierung zerriebenen Charakters bietet Johannes Schwärsky als Oberst Stankar. Schwärsky setzt einen machtvollen, aber nicht immer gut fokussierten Bass ein. Mit bewegender Intensität bewältigt er sein Solo zu Beginn des dritten Akts, das man zu den großen psychologisch durchdrungenen und musikalisch avancierten Szenen Verdis zählen darf.

Stankars verkrüppelte linke Hand steht als Zeichen für seinen deformierten Charakter: Er ist der Repräsentant einer Gesellschaft, für die der äußere Schein alles zählt, in der die dunklen Seiten unter den Tisch gekehrt werden: Die Leiche des im rächenden Rausch erstochenen Raffaele wird hastig unter dem Altartisch versteckt; Stankar zieht noch das Tuch ordentlich gerade. An dem Alten lässt sich vielleicht auch ablesen, auf welche Weise Verdi Exponenten des katholischen Glaubens erfahren hat: Unter der Kruste einer nur selektiv akzeptierten christlichen Ethik brodeln atavistische Leidenschaften.

Auch Stiffelio ist von diesen Impulsen geschüttelt: Eben noch von Güte und Nachsicht durchdrungen, packt ihn das Begehren nach Rache, als er erfährt, wer der Verführer seiner Frau ist. Erst der Gesang der Gemeinde aus der Ferne – wie eine innere Eingebung wirkend – bringt ihn zur Besinnung. Michael Wade Lee kann in diesem Moment klar machen, wie schwer es Stiffelio fällt, dem Vorbild des vom Kreuz herab noch verzeihenden Jesus zu folgen. Die Figur macht klar, dass Verdi der Anspruch ehrlich gelebten Christentums bewusst ist, wie er ihn selbst als Maßstab in seinem Urteil anlegt. Nicht durchgehend hat Michael Wade Lee so eindrucksvolle Momente als Sänger und Darsteller: Gerne neigt er dazu, seine kraftvolle Stimme auszustellen, statt sich der Palette der von Verdi vorgegebenen psychologischen Grundierungen zu stellen. Michael Siemon als Raffaele bewegt sich klug im Bereich des Lyrischen; Hayk Dèinyan als Gemeindevorsteher Jorg scheint am Premierenabend nicht gesund gewesen zu sein: Er überzeugt als Darsteller, aber seine wenigen Sätze klingen heiser.

Wie stets klug konzipierend, gelingt es der Regisseurin Helen Malkowksy, die philosophisch-theologischen Fragen mit psychologisch glaubwürdigen, auch im Detail überzeugend gestalteten Personen zu verbinden. Sie will sich der verzeihenden Predigt Stiffelios nicht als Happy End nähern: Ob die Botschaft auf fruchtbaren Boden fällt, bleibt offen. Stiffelio will nicht nur Verzeihen, sondern auch Wahrheit: Während des Gottesdienstes wird das Licht entlarvend hell; schließlich reißt Stiffelio selbst das Altartuch vom Tisch und lässt der schockierten Menge die Leiche Raffaeles sehen. Und im Hintergrund leuchtet kalt und weiß ein Gitter aus Leuchtröhren auf: Werden sich die Menschen aus ihren inneren Gefängnissen befreien?

Mit Mihkel Kütson hat Verdi einen Anwalt am Pult der Niederrheinischen Sinfoniker, der auf differenzierende Detailarbeit Wert legt. Verdi hat den Bläsern viele dankbare charakterisierende Aufgaben gestellt, denen sich die Solisten im Theater in Rheydt gewachsen zeigen. Aber er fordert auch von den Streichern ein Höchstmaß an aufmerksamer Arbeit am expressiven Moment. Dem stellen sich die Sinfoniker anfangs noch etwas wackelig, später mit beträchtlichem Erfolg. Wieder einmal hat das Theater Krefeld-Mönchengladbach unter seinem Generalintendanten Michael Grosse gezeigt, wie anspruchsvolle Theaterarbeit abseits der Aufmerksamkeit heischenden Zentren aussieht. Gut, dass es solche Häuser gibt!