Weg der Qual ohne Erlösung: Lars von Triers „Dogville“ am Theater Krefeld

"Dogville" am Theater Krefeld: Die Bühne von Gabriele Trinczek zitiert die "Versuchsanordnung" des Films aus dem Jahr 2003. Foto: Matthias Stutte

„Dogville“ am Theater Krefeld: Die Bühne von Gabriele Trinczek zitiert die „Versuchsanordnung“ des Films aus dem Jahr 2003. Foto: Matthias Stutte

Das Stück handelt von unverdienter Gnade, vom Unsinn von Barmherzigkeit. Vom Scheitern eines Lebensprinzips, das dem Weg Jesu folgt, in einer Gesellschaft, die man als „kleinbürgerlich“ bezeichnen könnte, die aber über jenes schiefe Etikett weit hinausreicht und für die Menschheit als Ganze stehen könnte. Lars von Triers „Dogville“ spielt wie kaum einer anderer Film mit christlich-biblischen Bezügen. Aus dem Film wurde ein Bühnenstück, das jetzt am Krefelder Theater Premiere hatte.

Eigentlich sind solche Adaptionen überflüssig. Warum sollte man einen nahezu perfekten Film nahezu eins zu eins ins Theater übertragen? Es gibt Tausende von Dramen, die auf der Bühne und nur da wirken. Wozu also dieses Wiederkäuen? Und die Frage lässt sich erweitern auf die modische Bearbeitung von großen Romanstoffen in handlichem Zweieinhalb-Stunden-Format. „Buddenbrooks“ oder „Zauberberg“ im Schnelldurchlauf – ein Tribut an die ungeduldige Kurzatmung unserer Zeit?

Vielleicht eher die Schwäche eines Theaters, dessen Lebenskern in den Gehirnwindungs-Labyrinthen endloser, selbstreferentieller Reflektion zerstoben ist. Das sich schwer tut, bedeutungsvolle Geschichten zu erfinden und zu erzählen. Das sein reiches Erbe in verstiegener Lust zwischen privatistischen Exzessen und gesuchter Originalität übersieht.

Voilá – mit einem Filmstoff darf man dann ungeniert erzählen, ohne das schlechte Gewissen des Regie-Originalgenies klopfen zu hören. Matthias Gehrt lässt sich in Krefeld darauf ein – zum Glück ohne schlechtes Gewissen. Und ohne den Zwang, unter allen Umständen etwas „Neues“ zu erfinden, dem etwa Karin Henkel in ihrer „Dogville“-Version in Frankfurt gefolgt ist.

Wir sehen in Krefeld eine Bühne, von Gabriele Trinczek gestaltet wie die Spielfläche des Films von 2003. Wir sehen treffende Kostüme von Petra Wilke, die in das verlorene Dörfchen der Dreißiger Jahre am Fuß der Rocky Mountains passen. Die Wände der Häuser sind angedeutet durch weiße Linien, nur die Möbel stehen dreidimensional und gegenständlich in den Zimmern. Diese nach außen durch die Natur isolierte Gemeinschaft ist total durchsichtig. Jeder weiß vom anderen alles, auch peinliche Geheimnisse wie den monatlichen Animierdamen-Besuch des täppischen Lastwagenfahrers Ben (Paul Steinbach).

Eine vermeintlich kleine, geordnete Welt: Szene aus "Dogville" am Theater Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Eine vermeintlich kleine, geordnete Welt: Szene aus „Dogville“ am Theater Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Ein abgeschlossenes Biotop, genau richtig für die gesellschaftlich-moralischen Erkundungen des jungen Möchtegern-Schriftstellers Tom Edison. Jonathan Hutter verkörpert ihn als intellektuelles Bürschchen in abgetragenem Sakko, eifrig erfüllt von seiner Mission. Aufklärung, so tönt er, löse jahrhundertealte Konflikte. Die Fremde, die auf der Flucht in das Dorf gerät, ist für seine Predigt über „Geben und Empfangen“ genau das pädagogische Versuchstier, das er braucht.

Das fremde Opfer, von einer zunächst kaum greifbaren Macht verfolgt, heißt Grace. Nele Jung verkörpert sie im modischen Blondinen-Look, in der eleganten Garderobe einer städtischen Oberschicht. Grace heißt „Gnade“: Die junge Frau muss sich ihr Bleiben in der Gemeinschaft verdienen – und sie bietet den Bewohnern ihre Hilfe an. Keiner braucht sie, keiner will sie annehmen, doch die behutsame Art von Grace, genau das zu suchen, was den Menschen fehlt und es ihnen unaufdringlich zu gewähren, durchbricht die Selbstgenügsamkeit. Nele Jung spielt das souverän und mit einer teilnahmsvoll weichen Diktion.

Die Parallele zur von Gott gewährten „unverdienten Gnade“ ist überdeutlich. Grace befreit die Menschen von Selbsttäuschung und dem Gefangensein in sich selbst: Die bildungsbeflissene Vera (verhärmt, abgearbeitet und im entscheidenden Moment gnadenlos grausam: Esther Keil) kann Vorträge in der Stadt besuchen. Der halbblinde alte Edison (Bruno Winzen) gesteht sich endlich die Wahrheit ein: Er kann nicht mehr sehen.

Ausbruch der Gewalt: Nele Jung als Grace, Adrian Linke als Chuck. Foto: Matthias Stutte

Ausbruch der Gewalt: Nele Jung als Grace, Adrian Linke als Chuck. Foto: Matthias Stutte

Der Bruch bahnt sich an, als die kleine Gemeinschaft mit Macht konfrontiert wird, mit dem unheimlichen, nicht fassbaren „Außen“. Ein Sherriff erscheint, klebt ein Plakat an. Grace wird als vermisst gesucht, gerät noch mehr in die Defensive, als eine Fahndung wegen einiger Banküberfälle nachgeschoben wird – die sie freilich nicht begangen haben kann, da sie in der fraglichen Zeit in Dogville war.

Dennoch: Der drohende Zugriff der Macht, die Angst, vor ihrem Gesetz inkorrekt zu sein, offenbart die andere Seite der Menschen – jene, die in den moralischen Tiraden von Tom angedeutet und in der bösen Rede von Chuck (Adrian Linke) konkretisiert wird. Sie wandelt die Menschen des Orts zu boshaften Ausbeutern, zu zynischen Vergewaltigern, zu gnadenlosen Seelenschändern. Und der Mann, der Grace liebt – Tom Edison junior – wird zum Verräter. Wenn sich Grace, mit einer Kette an einen Kanaldeckel gefesselt, zur Arbeit und dann zu Bett schleppt, um von den Männern Dogvilles missbraucht zu werden, denkt man unmittelbar an Händels „He was despised …“ aus dem „Messiah“.

Lars von Trier treibt die Parallele zum jesuanischen Modell von Gnade, Erbarmen und Vergebung in der Person Graces bis an die Grenze des Erträglichen – um es dann in einem Finale von alttestamentarischer Wucht zu kippen. Dieses Ende ist wie ein verzweifelter Aufschrei des zum Katholizismus konvertierten Lars von Trier: Das Konzept der Liebe ist zum Scheitern verurteilt, es ist sinnlos in einer schlechten Welt. Es bleibt nur die Rache und die Vergeltung, das „Aug‘ um Aug‘“ des zornigen Gottes aus dem alten Israel.

"The Big Man" Joachim Henschke in Lars von Triers "Dogville" am Theater Krefeld. Foto: Matthias Stutte

„The Big Man“ Joachim Henschke in Lars von Triers „Dogville“ am Theater Krefeld. Foto: Matthias Stutte

In Krefeld fehlt dem Finale die archaische Komponente der grausam ausgleichenden Gerechtigkeit. Es wirkt wie der Showdown einer mittelmäßigen Gangstergeschichte. Ansonsten verwendet Matthias Gehrt viel Sorgfalt auf die Charaktere: Ronny Tomiska und Henrike Hahn etwa als Geschwisterpaar Henson, hinter deren einfacher Glasschleifer-Existenz die Gier lauert, das Opfer Grace selbst mit ihren erbärmlichen Mitteln noch die Überlegenheit spüren zu lassen. Eva Spott trifft Ma Gingers opportunistische Gehässigkeit; Helen Wendt Marthas angstbesetzte Bigotterie. Dem „Großen Mann“ – Graces Vater – gibt die imposante Erscheinung und die amorphe Diktion von Joachim Henschke einen Zug ins Abgründige; Intendant Michael Grosse schlendert als jovialer Erzähler durch die Szene.

Bezeichnenderweise ist es ein Kind (Jason: Nikolas Jahnelt), das mit einer Erpressung das Kesseltreiben gegen Grace einleitet: Das Böse ist sozusagen im Urzustand dieser Menschen verankert. Und bezeichnenderweise ist der Hund „Moses“ der einzig Überlebende: Wie der alttestamentliche Patriarch hat das nichtmenschliche Lebewesen die Chance zum Exodus, zum Aufbrechen ins „Gelobte Land“. Viel Beifall und ein spürbar beeindrucktes Publikum.

Info: www.theater-kr-mg.de




Wagner-Jahr 2013: „Rienzi“ in Krefeld oder das Scheitern eines Ideals

Ein Riss durchzieht die Bühne, mal blutrot leuchtend, mal in giftigem Pink strahlend. Oder ist es eine Fieberkurve, ein Schützengraben, eine Börsengrafik?

Thomas Gruber hat für den Regisseur Matthias Oldag in Krefeld wieder einmal (wie schon bei Poulencs „Dialogues des Carmélites“ in Gera) einen schwarzen Kasten gebaut, dessen Boden und Wände programmatische Texte zeigen: Zeitungsausschnitte über Syrien, die Ukraine – und das Rom vor 800 Jahren. Damals lebten die Päpste im Asyl in Avignon, war das antike und christliche Haupt der Welt zerrissen zwischen machtgierigen Parteien Vieh züchtenden Stadtadels, wurde in unbedeutenden Verhältnissen ein Junge namens Nicola geboren, der später als Cola di Rienzo zu einer der schillerndsten Figuren des späten Mittelalters wurde.

Ein Riss spaltet die gesellschafttlichen Gruppen in "Rienzi" in Krefeld, sinnlich erfahrbar auf Thomas Grubers Bühne. Alle Fotos: Theater Krefeld-Mönchengladbach

Ein Riss spaltet die gesellschafttlichen Gruppen in „Rienzi“ in Krefeld, sinnlich erfahrbar auf Thomas Grubers Bühne. Alle Fotos: Theater Krefeld-Mönchengladbach

Die Buchstaben auf der Bühne wollen uns sagen: Hier, in Richard Wagners „Rienzi“, wird ein Ideendrama durchgespielt, hier geht es nicht um Liebe und scheiternde Beziehungen, sondern um Aufstieg und Fall eines Menschen, der eine Idee in sich trägt, sie fanatisch verfolgt und schließlich scheitert: Die gewaltigen roten Buchstaben, die den Namen „Rienzi“ bildeten, liegen im fünften Akt von Wagners Großer Oper wie Trümmer verstreut; der Chor, der sie  beiseite räumt, bildet für einen Moment daraus scheinbar zufällig „INRI“, die Aufschrift auf Jesu Kreuz.

Jesus, Hitler und Rienzi

Rienzi als „politischer“ Christus? Ein Mensch, der sich um eines höheren Ziels, eines Ideals willen opfert? Der wie Jesus aus dem Weg geräumt wird, als er den Mächtigen im Wege steht? Ein Charismatiker, der seine Verführungs-Macht von Gott zu haben glaubt und sich einzig durch den „Himmel“ rechtfertigt? Oldags Bezüge wollen theologisch nicht korrekt sein, aber sie benennen einzelne Aspekte, die sich auch in der Passion Jesu entdecken lassen. Doch sie lassen auch an eine gespenstische Parallele denken, die in einem Text Saul Friedländers im Programmheft angesprochen wird: An die von Hitler und Rienzi, die sich beide von der „Vorsehung“ berufen fühlten und beide als von jedem Zweifel ungetrübte Fanatiker ihre Mission verfolgten.

Die Stoßrichtung von Oldags Krefelder Neuinszenierung der dritten Oper Wagners geht freilich in eine andere Richtung: Es geht um das Scheitern einer humanen Befreiungs-Idee aus äußeren politischen, aber auch inneren psychologischen Gründen. In der Gestalt des – in jedem Moment überlegt und glaubwürdig agierenden – Sing-Schauspielers Carsten Süß ist Rienzi zunächst ein vom Ideal der „hohen Roma“ beseelter Charismatiker, der das Volk befreien will aus der Umklammerung der Orsini und Colonna – düstere Geld- und Machtmenschen, an denen das einzig Edle die Marke ihrer Zocker-Anzüge ist.

Auf dem Höhepunkt der Macht: Carsten Süß als Rienzi und der Chor.

Auf dem Höhepunkt der Macht: Carsten Süß als Rienzi und der Chor.

Dass es vor allem um viel Geld geht, will der vierte Akt zeigen: Die Abwärtskurve der Kurse und die fallenden Notierungen bilden den Rahmen, in dem sich die Nobili und die vordem von Rienzi aus ihrer Umklammerung befreite Kirche in Gestalt des päpstlichen Legaten (Matthias Wippich) gegen den Tribun verschwören. Die zunehmende Fanatisierung Rienzis, die das Konzept des freien Rom zunehmend zu einer politischen Idée fixe degenerieren lässt, bleibt angesichts der massiven Kürzungen nur skizzenhaft wahrnehmbar: Jede Bühne, die das monumentale Sechseinhalb-Stunden-Stück Wagners bringen will, steht vor diesem Problem. Aber es passt auch zum Konzept: Es liegt nahe, dass Oldag in Rienzi eher die scheiternde politische Utopie Wagners im vorrevolutionären Deutschland entdecken will. Oder, grundsätzlicher genommen, die misslingende Idee einer Erlösung einer Gesellschaft vom Bösen. Das hat ja, politisch gesprochen, nicht einmal Jesus geschafft.

Aus Oldags Sicht ist es somit auch sinnvoll, die privaten Stränge der Handlung, vor allem die Liebesgeschichte zwischen Irene und dem zur Feind-Partei gehörenden Adriano Colonna, nur marginal anzudeuten. Immerhin belässt er Adriano seine wundervolle Szene im Dritten Akt, die den 29jährigen Wagner auf der Höhe psychologisch-musikalischer Charakterisierungskunst seiner Zeit zeigt – eine Fähigkeit, die freilich schon zehn Jahre zuvor in den „Feen“ weit entwickelt war. Mit Eva Maria Günschmann steht die beste Sängerin des Abends auf der Bühne: eine schlanke Gestalt, auch in der Stimme ohne pseudo-dramatische Verdickung, gesegnet mit einem adeligen Timbre und soliden technischen Grundlagen.

Das Ende eines Narrenkönigs

Rienzi endet als Narrenkönig: Die Königskrone, die er im ersten Akt zurückweist – er will lediglich „Tribun“ sein –, setzen ihm die Nobili als Parodie aus glänzender Pappe aufs Haupt. Wie der Gottesnarr in Mussorgskys „Boris Godunow“ irrt er durch den blutroten Graben, der sein Rom spaltet. Am Ende steht das Feuer: Rienzi und seine Schwester Irene werden mit Benzin übergossen; jemand gibt ihm ein Feuerzeug in die Hand, ein roter Vorhang fällt …

Untergang im Feuer - ein beziehungsreiches Bild, auch zur Rezeptionsgeschichte des Werks, das Hitlers Lieblingsoper war.

Untergang im Feuer – ein beziehungsreiches Bild, auch zur Rezeptionsgeschichte des Werks, das Hitlers Lieblingsoper war.

Ist er Zufall, der Gedanken an die Verbrennung von Hitlers Leiche im Hofe der Reichskanzlei, mitten im finalen Feuer auf Berlin? Und damit der behutsame Verweis auf die unglückliche Rezeptionsgeschichte des „Rienzi“ als Hitlers Lieblingsoper und Begleitmusik zu den Nürnberger Parteitagen? Philipp Stölzl hat in seiner Berliner Inszenierung die Parallelen zwischen Rienzi und modernen Diktatoren drastisch herausgestellt. Dass sich Oldag und seine Kostümbildnerin Heike Bromber nicht auf diesen Weg einlassen, nimmt seiner Inszenierung nichts an Brisanz. Nicht immer führt eine explizitere Bildsprache auch zu überzeugenderen Ergebnissen.

Ausschweifender Zugriff auf musikalische Mittel

Musikalisch gibt es viel Lärm zu vermelden: Das liegt an der Instrumentierung, aber auch an Mihkel Kütson, der das gut aufgelegte Orchester die hochfliegende Musik mit aller Inbrunst und ungehemmtem Willen zum Glanz spielen lässt. Es liegt auch an Wagners ausschweifendem Zugriff auf alle musikalischen Mittel seiner Zeit: Aubers Hymnen und Gebete aus „La Muette du Portici“, Halévys groß angelegte Finali in „La Juїve“, Bellinis krachende „Norma“-Chöre, Rossinis Feuer aus „Guillaume Tell“. Und dazwischen immer wieder Vorboten seiner Weiterentwicklung in Richtung der „Tannhäuser“-Romantik. Manchmal hätte Kütson den Furor des Wagner’schen Totalitarismus bremsen sollen; die anfangs erhaben-gluckisch gedehnte Ouvertüre wird zu rasch zu laut und kennt dann keine Steigerung mehr. Und Sänger wie die arg kopfig-enge Anne Preuß (Irene) haben gegen die Klangüberflutung keine Chance.

Krefeld schafft es tatsächlich, die Riesenpartien des Stücks ansprechend zu besetzen: Carsten Süß meistert sein Grundproblem mit einer wenig resonanzreichen Höhe und punktet vor allem mit psychologisch begründeten Klangschattierungen im Zentrum. Hayk Dèinyan ist als Steffano Colonna ein unheimlicher Finsterling, dessen standardisierter Geschäftsleute-Dress die häßlich enthumanisierte Gier nur mühsam verhüllt; auch sein grollend dumpfer Bass passt zu dieser Rolle. Der andere Clanchef, Paolo Orsini, wirkt bei Andrew Nolen eher wie ein abgedrehter Ex-Hippie, der seine langen Haare behalten und seine Brust mit billigen Blechorden behängt hat. Walter Planté und Thomas Peter überzeugen mit durchsetzungsfähigen Stimmen als beflissene Stützen der Macht. Maria Benyumova löst die gewaltige Aufgabe, den Chören Format zu geben, mit glücklicher Hand.

In Krefeld wird momentan unter Generalintendant Michael Grosse ehrgeiziges Musiktheater gemacht: „Rienzi“ ist die einzige Neuinszenierung des Wagner’schen Frühwerks in diesem Jubiläumsjahr im deutschsprachigen Raum; lediglich in Rom kommt im Mai dieses ur-römische Thema noch auf die Bühne. Das verdient angesichts der lahmenden Wagner-Routine an manch großem Haus Hochachtung. Aber „Rienzi“ ist – und das spricht noch mehr für Krefeld-Mönchengladbach – ein Glied in einer Kette, zu der solche Perlen wie Tschaikowskys „Mazeppa“, Nielsens „Maskarade“, Puccinis „Suor Angelica“ und „Le Villi“ und die „Lustigen Nibelungen“ von Oscar Straus gehören: Ein Spielplan, dem in seiner vielfältigen Entdeckerfreude nur wenige andere Theater an die Seite zu stellen sind.




Warnung für Wagnerianer: „Die lustigen Nibelungen“ treiben’s bunt in Krefeld

Da hängen sie, die hohen und höchsten Herrschaften, die Heroen des Geistes und der Kunst: Cosima Wagner und Wilhelm der Zwote, bespeerter Wotan und behelmte Walküren. Die Bildparade des deutschnationalen Salons vor hundert Jahren. Halt, nicht ganz: Der Sänger Jonas Kaufmann passt da nicht ganz rein. Oder doch? Als Verehrungsobjekt der Wagnerianer anno 2012? Hinrich Horstkotte hat sich in seinem Bühnenbild zur Operette „Die lustigen Nibelungen“ in Krefeld diesen Seitenhieb nicht verkneifen können. Und damit augenzwinkernd angedeutet, dass wir vielleicht so weit gar nicht entfernt sind von irrationalen psychologischen Determinierungen, wie sie vor 100 Jahren unsere Urgroßväter auf den unseligen Pfad in die Katastrophe Europas gleiten ließen.

Ein Element der wilhelminischen Gesellschaftsideologie war die Ersatzreligion, deren Gottesdienstzeiten mit den Anfangszeiten von Wagners Werken in den Opernhäusern zusammenfielen. Ein anderes kennen wir noch aus dem Stichwort der „Nibelungentreue“. Dass es mit dieser „Treue“ in der meuchelnden Horde der sagenhaften Urzeitanrainer des Rheins nicht weit her war, kann jeder in den mittelalterlichen Großwerken der deutschen Literatur nachlesen. Die einäugige Reduktion der Stoffe um Kriemhild, Gunther und Dietrich von Bern, wie sie das deutsche Großbürgertum gemeinsam mit Adel und Militär des Deutschen Kaiserreichs betrieb, ließ einen Herrn mit dem Pseudo-Namen „Rideamus“ – bürgerlich: Fritz Oliven – zur satirischen Feder und einen anderen Herrn namens Oscar Straus zu Notenblättern greifen.

Heraus kam 1904 am Wiener Carl-Theater und kurz darauf in Berlin ein Skandal: die Operette „Die lustigen Nibelungen“. Nicht nur die Wagnerianer, nein, der Deutsche an sich war empört! Die heiligsten Werte des Reiches in Schmutz und Schande! Die kritischen Reaktionen auf das Werk haben ob ihrer polemischen, unfreiwillig komischen Substanz heute noch ähnlich hohen Unterhaltungswert wie die Operette. Und die kam, mit beträchtlichem Erfolg, jetzt am Theater Krefeld zur Aufführung.

Träger teutonischer Tugend: Die "Nibelungen" in Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Träger teutonischer Tugend: Die "Nibelungen" in Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Ja, da hängen die Träger teutonischer Tugend an der Wand. Und davor versammelt sich die illustre Gesellschaft am Hofe zu Burgund. König Gunther und seine Eltern, Kriemhild, die „minnige“ Maid und der „grimme“ Onkel Hagen, Volker und Giselher, die Recken. Sie sind ratlos, denn Gunther hat in einem Anfall von Selbstüberschätzung ein Weib gefordert, das ihm körperlich hoffnungslos überlegen ist: Brunhild heißt die isenländische Turandot, die bisher noch jeden Freier nach Walhall befördert hat.

Nun hat Gunther alles andere als Lust, seinen Vorgängern in das germanische Kriegerparadies zu folgen. Man sinnt auf Hilfe – und besinnt sich auf Siegfried aus den Niederlanden, einen erfolgreichen Unternehmer im Drachentöten, reich, stark und vor allem unverwundbar. Bis auf eine kleine Stelle, die einst beim abhärtenden Drachenblutbad von einem zufällig herabsegelndem Lindenblatt abgedeckt ward. So naht das Verhängnis, denn: „Von vorne, da ist er ganz von Horne“, aber „von hinten kann man ihn überwinden.“

Der Kampf: Gunter hat wenig Chancen gegen die wilde Brunhild! Foto: Matthias Stutte

Der Kampf: Gunter hat wenig Chancen gegen die wilde Brunhild! Foto: Matthias Stutte

Die bitterböse Persiflage von Oscar Straus – gar nicht zu verwechseln mit dem „Fledermaus“-Autor Johann Strauß – wurde von Hinrich Horstkotte 2011 am Theater Mönchengladbach in Szene gesetzt und wirkt jetzt bei ihrer Übernahme in Krefeld als unterhaltsame Satire auf die verlogenen Werte einer Gesellschaft, der es im Grunde nur um Geld, Gold und Aktienkurse geht. Nicht weit entfernt vom Heute also, das sich von der wilhelminischen Gesellschaft insofern unterscheidet, als man sich nicht mehr die Mühe macht, mit vorgetäuschten Werten Gier und Geldgeilheit zu ummanteln, sondern diese ungeniert selbst zu Werten erklärt.

Horstkotte bedient sich aus der Fülle kennzeichnender Chiffren des Zeitgeistes: Fellröcke und Farbenbänder, Pickelhaube und Biertönnchen, Wotanhelm und Walkürenbrünne. Der gleißnerische Zauber der Montur und der faulig schimmernde Schein „werkgerechter“ Wagner-Inszenierungen mischen sich zu einem Mix, der ebenso skurril ist wie uns die Weltanschauung von damals vorkommt. Auch wenn er seine Figuren manchmal zu viel zappeln lässt: Die Wirkung ist in höchstem Maße heiter.

Dazu tritt die Musik von Oskar Straus, mit Verve und Stilgefühl dirigiert von dem jungen Österreicher Andreas Fellner. Er findet die Tonlage zwischen martialischem Marsch und süffisantem Walzer. Klar, dass die protzige Burgunder-Hymne in der Ouvertüre als mächtige Fuge beginnt, dann freilich ratlos im hohlen Pathos endet, um von einem Weber’schen Cello-Solo abgelöst zu werden. Wir wollen ja Gefühl zeigen!

Straus setzt auch auf unregelmäßige Perioden und Texte, die nach Art des britischen Duos Gilbert & Sullivan komisch-geschwätzig ins Metrum der Musik gezwungen werden. „Lohengrin“ wird zitiert, wenn sich die Braut im Gemach für den Gemahl bereitet. Straus kennt die musikalischen Wagner-Epigonen seiner Zeit genau und setzt ihre trivialpathetische Musik scheinbar todernst ein, bevor sich wieder alles in frivole Galopps oder Walzer auflöst. Ein musikalische Spaß, mit leichter Feder hingezaubert, und heute noch sehr amüsierlich.

Die Darsteller geben in Krefeld ihr Bestes: Markus Heinrich erlegt als Siegfried mit den putzigen Pflegedrachenkindern Titzel und Tatzel die muskelprotzende und stimmstarke Brunhild (Janet Bartolova) sozusagen mit dem kleinen Finger. Mama Ute als kauzige Mischung aus Göttin und Großbürgerdame mit Cosima-Nase (Eva Maria Günschmann) und Gatte Dankwart in schimmerndem Militärflitter (Hayk Dèinyan) haben ihre liebe Not mit ihrem hasenherzigen Sohn Gunther, einer dürren, weinerlichen Latte (Rafael Bruck) von perfektem Nicht-Format.

Rochus Triebs, der Held Volker, offenbar ein alter Urning, dreht in Flaus und Fell linkische Pirouetten; der andere Recke, Giselher, ist praktischerweise gleich eine Travestierolle. Debra Hays erzwitschert sich als Krimhild Bett und Börse des schwerreichen Siegfried, lenkt die Herzensergießungen aber schnell um, als die Aktien des Drachentöters fallen. Und dass ein gebratener Vogel (Gabriela Kuhn) Insider-Tipps zum Aktienhandel gibt, macht ihn als Maskottchen für eine Rating-Agentur geeignet.

Matthias Wipprich ist der bassgewaltige Onkel Hagen mit wildem Vollbart, aber vom Wuchse alles andere als ein Recke. Wem Operetten sonst zu flach oder zu sentimental vorkommen, der könnte an den zweieinhalb Stunden höheren Blödsinns in Krefeld seine helle Freude haben; wer Operette liebt, kommt mit Humor und Hits auf seine Kosten. Nur der Wagnerianer sei gewarnt: Respekt vor des Meisters Stoffen wird er nicht erwarten dürfen!