Die Poesie und die Kasse – Gespräch mit dem Schauspieler Bruno Ganz zum Angelopoulos-Film und zum „Faust“-Projekt

Von Bernd Berke

Seit seinen Auftritten in Peter Steins großen Schaubühnen-Inszenierungen der 70er Jahre zählt Bruno Ganz (57) zur allerersten Garde der Schauspielkunst. Der Träger des Iffland-Ringes hat auch mit berühmten Filmregisseuren wie Eric Rohmer („Die Marquise von O“), Wim Wenders („Der Himmel über Berlin“) und Volker Schlöndorff gearbeitet. Ab heute ist er in Theo Angelopoulos‘ Film „Die Ewigkeit und ein Tag“ im Kino zu sehen.

Bruno Ganz spielt den ergrauten griechischen Dichter Alexandros, der mit einem albanischen Flüchtlingsjungen durch reale und imaginäre Grenzgebiete streift. Der abschiedsschwere, vorwiegend melancholische Film errang die „Goldene Palme“ in Cannes. Die WR sprach mit Bruno Ganz in Köln.

Eigentlich scheuen Sie Interviews. Jetzt machen Sie Ausnahmen. Sind Sie vom neuen Film besonders überzeugt?

Bruno Ganz: Auf jeden Fall. Vor allem in Relation zu dem, was derzeit sonst so im Kino gezeigt wird. Als ich den fertigen Film in Cannes zum ersten Mal sah, war ich sogar selbst ein wenig gerührt.

Zählt auch die heute so außergewöhnliche Langsamkeit zu den Qualitäten?

Ganz: Für mich ist dieser Erzähl-Rhythmus tief eingebettet und unerläßlich für dieses Thema. Es geht ja um die Grenzen zwischen Leben und Tod, es werden biographische Verluste registriert. Aber der alte Dichter bekommt auch die Möglichkeit, sich dem Kind gegenüber noch einmal zu öffnen und ungeahnte Zuwendung zu erfahren. Auch die wirkliche Grenze wirkt hier metaphorisch, irreal, wie eine Projektion von Angst. Es sind Bilder, die bleiben. Bilder, die ungeahnte Räume und Zeiten öffnen. Das ist Poesie fürs Kino. Daß Angelopoulos solche Sichtweisen“ nicht aus kommerziellen Erwägungen aufgibt, obwohl er wohl dazu gedrängt wird – allein das ist eine enorme Qualität.

Wie verlief denn die Zusammenarbeit am Drehort?“

Ganz: Ungewöhnlich. Angelopoulos mag es nicht, wenn gegessen wird bei den Dreharbeiten. Es gab nicht mal ein Klo. Wir mußten halt in die Büsche gehen. Dazu die Wartezeiten. Zwischendurch wurde mal eine ganze Woche nicht gedreht. Aber ich hatte viele Reclam-Büchlein dabei und habe dann gelesen. Es war asketisch, aber auch dagegen habe ich nichts. Und es war keine Willkür des Regisseurs, ich habe nie das Vertrauen zu ihm verloren. Im Gegenteil.

Hat es ein solcher Film schwerer als vor 20 Jahren?

Ganz: Damals war die Abrechnung an der Kasse nicht so prompt. Jetzt zählt nur noch der Mainstream. Heute bekommen Leute nach einem Mißerfolg Probleme, ihren nächsten Film zu machen. Sachen ausprobieren, auf eine eigene Art und Weise erzählen das ist viel schwerer geworden.

Gehen Sie oft ins Kino?

Ganz: Sehr gezielt. „Titanic“ habe ich nicht gesehen. Aber einen wunderschönen Dokumentarfilm über die Tibeter.

Aber Sie ertragen schlechtes Kino noch eher als schlechtes Theater?

Ganz: Ja. Schlechtes Theater ist mir völlig unerträglich. Es tut körperlich weh. Ich gehe oft vorzeitig ‚raus – ganz leise natürlich. Ich dürfte das eigentlich nicht tun, aber ich halt’s oft nicht mehr aus…

Interessiert es Sie noch, was aus der „Schaubühne“ in Berlin wird, wenn der junge Thomas Ostermeier sie leitet?

Ganz: Na, wir werden ja sehen, was draus wird. Jedenfalls ist jetzt endlich eine Linie erkennbar – nach all dem Herumschwanken in den letzten Jahren. Das ist schon mal gut.

Peter Steins gigantisches „Faust“-Projekt mit Ihnen in der Titelrolle soll zur Expo 2000 in Hannover herauskommen und nicht weniger als sechs Abende umfassen. Wann beginnt die Arbeit?

Ganz: Wir treffen uns demnächst zum Vorgespräch. Ich will bald anfangen, den Text zu lernen. Dann werde ich zwei Jahre lang nur mit „Faust I und II“ beschäftigt sein. Jeder Akt im Faust II ist ja ein eigenes Stück. Ein solches Projekt wird es wohl nie mehr geben.




Am Grenzstreifen menschlichen Lebens – „Die Ewigkeit und ein Tag“ von Theo Angelopoulos

Von Bernd Berke

Die Filme des Griechen Theo Angelopoulos sind unerschöpfliche Phänomene. Immer wieder gelingen diesem großen Seher des europäischen Kinos jene überaus langsamen, geheimnisvoll bannenden Bildfolgen, bei denen man sich fast benommen den Ur-Fragen anheimgibt: Was ist der Mensch, wo kommt er her, wo geht er hin?

Der Titel seiner neuen Film-Meditation signalisiert wieder zeitlose Tiefe: „Die Ewigkeit und ein Tag“. Der famose Bruno Ganz spielt den eisgrau gealterten Schriftsteller Alexander, der – von tödlicher Krankheit gezeichnet – sein Haus am Meer aufgibt, um die letzte Lebensreise anzutreten, vom Irdischen schon fast befreit.

Beim Ausräumen der Zimmer findet Alexander einen 30 Jahre alten Brief seiner Frau Anna, geschrieben 1966 – ein Jahr vor der Papadopoulos-Diktatur in Griechenland. Das Schreiben enthält den liebevollen Vorwurf, daß Alexander seinem Werk mehr Zeit widme als seiner Familie. Hat er über all dem Ringen um treffende Worte sein Lebensglück versäumt? Dieser elegische Film spürt dem möglichen Verlust und überhaupt der Flüchtigkeit des Daseins nach.

Alexander fährt im klapprigen Auto durch Thessaloniki. Plötzlich stürmen kleine Jungen herbei, die an roten Ampeln unverlangt Windschutzscheiben reinigen, um ein paar Drachmen zu verdienen. Polizisten rennen hinter den Straßenkindern her. Alexander gabelt einen Jungen auf, nimmt ihn ein paar Blocks weit mit, setzt ihn ab. Eine Rettungstat? Tage später wird Alexander Zeuge, wie dieser mutterseelenallein aus Albanien geflüchtete, bitterarme Junge von zwei Kerlen verschleppt wird, die offenbar auch das Münzgeld bei ihm abkassieren.

Alexander fährt hinterher und findet heraus, daß der Kleine mit anderen Jungen in einem schäbig verfallenen Bau an „feine Herrschaften“ verhökert werden soll; vielleicht zur Adoption – wer weiß? Jedenfalls kauft er diesen einen Jungen aus der Drangsal frei. Beide streunen fortan äußerst wortkarg durch ein tristes winterliches Zwischenland grauer Nebelschleier und schmutziger Schneereste.

Dieser Grenzbezirk liegt nicht nur zwischen Griechenland und Albanien, sondern überall. Der Mensch an sich wird hier vor die Grenze gestellt und sieht sich sich großen Rätsel-Erscheinungen gegenüber… Ziellos sind der Dichter und das Kind, zwei Verlorene und aus der Zeit Gefallene, in diesem suggestiven Irgendwo unterwegs, als hätten sie das Hier und Jetzt schon losgelassen. Im wirklichen Grenzstreifen mit bewaffneten Posten sehen sie fluchtwillige Menschen wie Unheils-Vögel im Drahtgitter hängen. Mahnung für den ganzen Kontinent?

Stets schweift Alexanders Erinnerung zurück zu jenem schönen Sommertag, an dem er Anna wohl verfehlt und das greifbare Glück ein für allemal versäumt hat. Doch er hat auch die Vision eines griechischen Autors im 19. Jahrhundert, der aus Italien in seine Heimat zurückkehrt und nun – der Muttersprache nahezu unkundig – den Landsleuten Worte abkauft. Jeder wahre Ausdruck kommt ihm kostbar vor wie ein Diamant. So wertbeständig ist auch dieser Film.




Wenn die Gespenster aus den Grüften der Geschichte steigen – „Der Blick des Odysseus“ von Theo Angelopoulos

Von Bernd Berke

Theo Angelopoulos ist ein Mann der Grenzbezirke. Seine Filme spielen meist im leeren Niemandsland zwischen den Staaten, gleichsam auf äußerstem Vorposten am Saum unserer Zeit. Auch „Der Blick des Odysseus“ scheint sich in unbestimmte Fernen zu richten. Doch er hat ein Ziel.

Der antike Mythenheld tritt hier als griechischer Filmemacher mit dem Kürzelnamen „A“ in Erscheinung. Dieser kehrt aus dem US-Exil heim und begibt sich auf die Suche nach den sagenhaften Filmen der Brüder Manakis vom Beginn des Jahrhunderts. „A“ will auf den uralten Zelluloidstreifen „die Unschuld“ der Bilder wiederfinden.

Klingt etwas anstrengend. Und tatsächlich gibt es ja kaum einen Regisseur, der mit höherem Kunstanspruch daherkommt als Angelopoulos. Doch seine flehentliche Odyssee hat durchaus reale, wenn auch schwer faßbare Hintergründe: die seit dem Zusammenbruch des Kommunismus aus den Grüften der Geschichte aufsteigenden Gespenster.

Zu Beginn gerät der Filmemacher in einen furchterregenden Fackelzug dumpfer religiöser Fundamentalisten. Seit dem Zusammenbruch des Kommunismus, so erfährt man auf der dreistündigen Suchreise durch Europas Südosten, werden solche totgeglaubten Geister wieder schrecklich wach – Jugoslawien ist nur das krasseste Beispiel.

Dorthin, nach Sarajevo, führt die Fahrt am Schluß, und eine nur erahnbare Erschießungsszene im dichten Nebel raubt einem vollends den Atem. Darin stecken mehr Andacht und Mitleiden als in jedem Nachrichtenbild des Krieges. In Sarajevo findet „A“ auch jenen alten Mann, der die ersehnten Filmdosen verwahrt, ihren Inhalt aber mangels richtiger Emulsion immer noch nicht entwickeln kann. Ein Spannungsmoment.

Angelopoulos unternimmt seine Suchreise mit betörend langsamen Bildern. Die meisten Einstellungen dauern just bis zu dem Moment, in dem sich das Auge daran „gesättigt“ hat. Beispiel: Viele, viele Minuten lang wird die mit einem Kran vollbrachte Demontage einer riesigen Lenin-Statue gezeigt, sodann deren Verschiffung. Und siehe da: Man gewinnt der vermeintlich so statischen Szenerie immer wieder neue grandiose Ansichten ab. Es sind Denkbilder. Zudem haben alle Augenblicke – wie ein Zaubergeflecht – ganz innig miteinander zu tun, jeder spiegelt und erweitert den anderen.

Wenn „A“ (ruhige Kraft: Harvey Keitel) auf seiner sonst so einsamen Irrfahrt verschiedenen Frauen begegnet, so ist das wie eine mehrfache Prüfung im Märchen. So, als dürfe er seine Suche erst nach diesen Etappen fortsetzen. Überall ist Exil: Mit der Hauptfigur ziehen wir, ebenso verunsichert wie fasziniert, durch Orte größtmöglicher Verlassenheit und Fremde, an denen nur noch die nationalistischen Dämonen der europäischen Historie zu hausen scheinen. Gegen derlei Phantome aus dem Vorkriegs-Kontinent muß die Reinheit der Bilder wiedergewonnen und gegen die Abstumpfung mobilisiert werden. Eine Rettungstat also, eines Helden würdig.