Die Flöte als „Faden im Webstoff“: Thomas Hengelbrock und das Royal Concertgebouw Orchestra in Dortmund

Thomas Hengelbrock zählt zu den Stammgästen im Konzerthaus Dortmund (Foto: Pascal Amos Rest)

Thomas Hengelbrock zählt zu den Stammgästen im Konzerthaus Dortmund. (Foto: Pascal Amos Rest)

Als Opernkomponist fand Franz Schubert zeitlebens nicht die ersehnte Anerkennung. Acht vollendete Bühnenwerke und acht Fragmente hinterließ er der Nachwelt, darunter die Oper „Alfonso und Estrella“, die es zum Zeitpunkt ihrer Fertigstellung nicht aus dem Schatten von Carl Maria von Webers „Der Freischütz“ herausschaffte. Erst 26 Jahre nach Schuberts Tod verhalf Franz Liszt „Alfonso und Estrella“ zur Uraufführung.

Mit der Ouvertüre zu diesem selten gespielten Werk eröffnete der Dirigent Thomas Hengelbrock jetzt einen Abend im Konzerthaus Dortmund, zu dessen Stammgästen er bereits seit 2003 zählt. Er hat sich hier ein treues Publikum erobert, nahezu eine Fangemeinde: Das ist bei seiner erneuten Rückkehr mit dem Royal Concertgebouw Orchestra deutlich zu spüren. Der Dirigent seinerseits schwärmt von der Frische, der Neugier und der aktiven Musizierlust der Musiker aus Amsterdam, wie einem Interview auf der Internetseite des Konzerthauses zu entnehmen ist.

Tatsächlich ist diese Musizierlust sofort präsent, wenn auch in auffallend starker Besetzung. 13 erste Geigen und sechs Kontrabässe bietet Hengelbrock für Schuberts Ouvertüre auf, die ganz konventionell mit langsamer Einleitung und schnellem Hauptteil daherkommt. Alles tönt sprühend vital, strahlend hell, aber mit recht knalligem Forte. Während manch stürmische Passage überraschend nach Felix Mendelssohn klingt, scheint der Schluss nahezu unverblümt Mozarts „Zauberflöte“ zu kopieren. Wer Schuberts Genie kennt und verehrt, registriert es mit leiser Enttäuschung.

Der deutsche Flötist Kersten McCall wuchs als Sohn des Komponisten Brent McCall in Donaueschingen auf. (Foto: Pascal Amos Rest)

Nach verschiedenen Stoffarten sind die drei Sätze des Flötenkonzerts „Soie“ („Seide“) von Lotta Wennäkoski benannt. Fasziniert von der Analogie zwischen gewebten und komponierten Meisterwerken, hat die 1970 in Helsinki geborene Finnin ein hoch virtuoses Konzert geschrieben, das zu einem Höhepunkt des Abends wird. Atmosphärische Dichte, raffinierte Instrumentation, reiche Detailarbeit und das souveräne Spiel mit den klanglichen Möglichkeiten eines Orchesters sind so staunenswert und packend, dass das Ohr nicht eine Sekunde von den akustischen Ereignissen auf der Bühne loskommt.

Einen mit allen Wassern gewaschenen Solisten benötigt dieses Konzert natürlich auch. Kersten McCall, erster Soloflötist des Royal Concertgebouw, beherrscht Instrument und Partitur, dass es jeder Beschreibung spottet: von rasend schnellen Figurationen bis zu intensiv ausgehaltenen Tönen, vom seidenweichen Piano bis zum schrillen Pfiff, von der heftig überblasenen Attacke bis zu Effekten wie der Flatterzunge. Mal intensiv mit dem Orchesterklang verwoben, mal solistisch hervortretend, stellt er seine überragende Kompetenz kompromisslos in den Dienst des Werks. Das ist große Kunst, frei von Star-Allüren.

Aus dem Off lässt Thomas Hengelbrock das eröffnende Hornmotiv von Schuberts 8. Sinfonie C-Dur („Die Große“) spielen. Ein Vorgriff auf die Fernklänge von Gustav Mahler mag dies sein, denn Hengelbrocks Interpretation macht auch in der Folge musikhistorische Bezüge deutlich. Diese sprechen von der Vergangenheit, wenn sich im Andante plötzlich ein Abgrund à la Don Giovanni öffnet, oder wenn Beethovenscher Ingrimm durch das Scherzo zittert. In die Zukunft weisen von Wehmut vergiftete Holzbläsersoli (Mahler) und blockhafte Tempowechsel (Bruckner). Hengelbrock hält alles wunderbar leicht und tänzerisch in Schwung. Silbern wirbeln und flirren die Triolenketten der Geigen im Finale dahin. Großer Beifall.

(Der Bericht ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




In Essen beispielhaft privat gefördert – das Balthasar-Neumann-Ensemble

Felix Mendelssohn-Bartholdy in einer Lithografie von Friedrich Jentzen aus dem Jahr 1837.

Felix Mendelssohn-Bartholdy in einer Lithografie von Friedrich Jentzen aus dem Jahr 1837.

Das mit den Sponsoren ist immer so eine Sache: Ohne die privaten Geldgeber wäre so manches Kulturprojekt chancenlos. Sie springen vielfach ein, wo sich die öffentliche Hand versagt. Deren Aufgabe, Kultur so zu fördern, dass Qualität erhalten, Vielfalt und Innovation ermöglicht, Erschwinglichkeit für jedermann garantiert bleibt, wird seit dem Vormarsch neoliberaler Konzepte und dem Zerbröckeln der bürgerlich geprägten Gesellschaft immer prekärer finanziert und immer grundsätzlicher in Frage gestellt. Sponsoren erschienen als ideale Lösung. Pointiert gesagt: Privates Geld fürs Privatvergnügen Kultur.

Im Endeffekt ist diese Art von Finanzierung ambivalent, denn ein Sponsor ist kein Mäzen, der uneigennützig der Kunst dienen will. So hilfreich ein Geldgeber in vielen Fällen ist, so problematisch ist es, wenn zum Beispiel vornehmlich Events finanziert werden, damit deren Glanz auch auf den Sponsor fällt, wenn statt künstlerischem Wagemut nur große Namen und Mainstream-Programme vergoldet werden. Von Hamburg bis Baden-Baden sind solche Entwicklungen zu registrieren.

Warum die Vorrede? Weil es bei Evonik offenbar anders funktioniert: Beim Weihnachtskonzert des Unternehmens in der Essener Philharmonie fiel jedenfalls das Wort „Sponsoring“ nicht. Balthasar-Neumann-Chor und -Ensemble unter Thomas Hengelbrock, mittlerweile zum vierten Mal auf Einladung von Evonik zu Gast, werden seit Anfang des Jahres in einer Partnerschaft unterstützt und gefördert. Dass dies offenbar nicht nur eine Formulierung in einem verschleiernden „Wording“ ist, legt die Aussage nahe, Evonik begleite die Forschungen der Ensembles, ermögliche musikwissenschaftliche Recherchen und unterstütze, wenn „Quellen erkundet und musikalische Schätze gehoben werden“.

Das klingt nicht nach Glimmer und Glitter, sondern nach nachhaltigem Einsatz dort, wo das Spektakuläre nicht auf den ersten Blick erkennbar ist: neue und alte Musik systematisch erschließen, wissenschaftlich aufarbeiten und dann sinnlich in hoher Qualität präsentieren. „Kraft für Neues“ heißt es unter dem Logo von Evonik – voilà, hier ist der Transfer in die Musik.

Das Konzert gab schon einmal einen Vorgeschmack, wie so ein Konzept aussehen kann. Hengelbrock widmete es ausschließlich dem immer noch unterschätzten Felix Mendelssohn-Bartholdy – und zwar seiner geistlichen Musik. Von einem „Magnificat“ des Dreizehnjährigen bis zum ersten Teil des Fragment gebliebenen Oratoriums „Christus“ reichte der Bogen. Das fast halbstündige Magnificat, der Lobgesang Mariens aus dem Lukas-Evangelium, eigentlich ein vor allem in der katholischen Tradition stark verankerter Text, ist für den Protestanten jüdischer Herkunft Mendelssohn-Bartholdy eine inspirierende Vorlage: Der kunstfertige Satz mit seiner souveränen Kontrapunktik verleugnet die Vorbilder der älteren Kirchenmusik nicht, schlägt aber bemerkenswert persönliche Töne an.

Die Violinen züngeln, wenn den Mächtigen ihr Sturz angekündigt wird

Mendelssohn hebt die Barmherzigkeit („misericordia“) Gottes hervor, wenn er den Männerchor im Piano einsetzen und das Wort mehrfach wiederholen lässt. Er verwendet die traditionellen Pauken und Trompeten, um die herrscherliche Majestät Gottes zu kennzeichnen. Und wenn Maria ankündigt, Gott stoße die Mächtigen vom Thron und erhöhe die Niedrigen, züngeln in der Musik die Violinen. Der Balthasar-Neumann-Chor artikuliert mit fabelhafter Präzision, zeichnet die Koloraturen auf den Punkt genau nach, hat aber auch den pastosen Klang für die Momente lyrischen Ausgreifens der Melodie. Den Solisten aus dem Chor macht es Mendelssohn nicht leicht, aber Marek Rzepka lässt sich von den Koloraturen der Arie „Fecit potentiam“ nicht schrecken.

In den Choralkantaten „Verleih uns Frieden gnädiglich“ und „Vom Himmel hoch“, beide von 1831, ist der Komponist längst bei sich selbst angekommen. Die „alten Meister“, Johann Sebastian Bach eingeschlossen, sind auf eine sehr persönliche Weise in seinen Stil eingearbeitet. Mendelssohn arbeitet mit raffinierten Harmonisierungen, hält den Klang leicht und weich. Die Streicher des Balthasar-Neumann-Ensembles haben mit den feinsinnigen Nuancen kein Problem, die Bläser realisieren Glanz und Pracht, als habe Händel Pate gestanden, ohne den inneren Zusammenhang der Musik einer äußerlichen Überwältigung zu opfern. Das „Ave Maria“ in schwärmerisch fließendem Ton und fülliger Harmonik entspricht gar nicht dem Klischee protestantischer Strenge; nur schade, dass in der eröffnenden Arie der kantabel-belcantistische Ton nicht erfüllt wird. Dafür zeigt das Blech in der „Geburt Christi“, dem ersten Teil des geplanten Oratoriums, an dem Mendelssohn bis zu seinem frühen Tod 1847 arbeitete, wie sensibel es sich auf die Pianissimo-Stellen des Chores und auf die sanfte Verklärung des „neugeborenen Königs“ einstellen kann.

Das begeisterte Publikum feierte Thomas Hengelbrock und seine Ensembles und entließ sie erst nach mehreren Zugaben in den adventlichen Abend.




Wagner-Jahr 2013: „Parsifal“ im Dortmunder Konzerthaus – zurück zur Mystifizierung?

Angela Denoke und Simon O'Neill in "Parsifal" im Dortmunder Konzerthaus. Foto: Petra Coddington

Angela Denoke und Simon O’Neill in „Parsifal“ im Dortmunder Konzerthaus. Foto: Petra Coddington

Wagner und die Religion: In keinem anderen Werk kristallisiert sich dieses Verhältnis so heraus wie im „Parsifal“, der die „Weihe“ schon in seiner Bezeichnung trägt.

Spätestens seit der tempophilen Aufnahme mit Pierre Boulez gehört es zum gängigen ideologischen Repertoire moderner Deutungen, vom „Bühnenweihfestspiel“ den Weihrauch wegzublasen. Schluss mit der Mystifizierung, weg mit den erhabenen Tempi vergangener Tage – und das mit Unterstützung durch Wagner-Zitate, etwa der Klage, seine Musik werde doch stets viel zu langsam gespielt.

Nun ist die Frage nach dem Religiösen in Wagners Philosophie – die sich ja nicht auf die Musik beschränkt – ein Irrgarten mit vielen Ausgängen. Und Inszenierungen der letzten Jahre (von Schlingensief in Bayreuth bis Bieito in Stuttgart) haben sich dem Thema sehr unterschiedlich genähert. Einig waren sie nur in einem: Mit der „Kunstreligion“ alter Prägung wollten sie nichts mehr zu tun haben.

Genau jene holt nun Thomas Hengelbrock wieder in den Konzertsaal. So sehr er musikalisch für den Weg zurück zu den Klangvorstellungen der Zeit Wagners als Schritt vorwärts wirbt, so konservativ wünscht er historisch gewordenes Verhalten: Bei der Aufführung des „Parsifal“ auf Instrumenten der Wagner-Zeit im Konzerthaus in Dortmund fordert er auf, nach dem ersten Aufzug nicht zu applaudieren, bringt erste Klatscher mit einer Geste zum Schweigen. Sind wir wieder in der Kunstkirche Richards des Allergrößten? Was soll die Retro-Mystifizierung der Grals-Enthüllung zum Pseudo-Gottesdienst?

Dass Hengelbrock ansonsten musikalisch nichts „heilig“ ist, steht dazu in einem auffälligen Gegensatz: Denn der Dirigent, der seit Jahren für frischen Wind in der Szene der „historisch informierten“ Aufführungspraxis gesorgt hat, hinterfragt auch im Falle Wagners konsequent die bisherigen Gepflogenheiten. Bach, Händel, Mendelssohn auf Darmsaiten? Keine Frage! Aber Wagner auf organischem Material? Das war für viele Musiker, obwohl historisch unhinterfragbar, bisher kein Thema. Kritisch sieht Hengelbrock auch den Klang moderner Holzblasinstrumente. Flöte, Oboe, Englischhorn: In seinem Balthasar-Neumann-Ensemble, mit dem er in Dortmund – und bald in Essen und Madrid – den „Parsifal“ konzertant aufführt, spielen nicht moderne Weiterentwicklungen, sondern sorgfältig durch Quellen und Studien abgesicherte Instrumente, wie sie sich Wagner wohl gewünscht oder wie er sie gehört hat.

Das Ergebnis ist in vielerlei Hinsicht erhellend: Ein schlanker, lichter Streicherklang, der durchaus die Substanz für das überwältigende Crescendo mitbringt; flexible, farbenreiche Holzbläser, die eigenständig neben die Streicher treten, statt wie in „konventionellen“ Aufführungen oft lediglich als Farbakzent im Mischklang wahrnehmbar zu sein. Auch das markante Blech bringt ein Spiel voller Nuancen und koloristischer Finessen mit ein. Selten waren die Bläser zu Beginn des Klingsor-Aktes so rau zu hören wie in Dortmund: Das Böse grinst aus ihrem Spiel.

Kein Zweifel: Das Erlebnis des Klangs wird vielfältiger, detailreicher. Schwerer herzustellen sind freilich jene geheimnisvollen, unverortbaren, sensualistischen Mischungen, die – auch ohne Plädoyer für den Weihrauch in der Musik – die Faszination des „Parsifal“-Klangbilds ausmachen. Wagner war, glaubt man seinen eigenen Beschreibungen, von diesem mystisch angehauchten, aus weiter, weiter Ferne schwebenden Ton fasziniert und berührt. Und er steht für viele „Parsifal“-Anhänger ja auch für jene zeitlose Mystik, die dem Werk innewohnt. Um ihn zu schätzen, muss man keine mystische Vernebelung betreiben; aber vielleicht gilt es anzuerkennen, dass ein „Parsifal“ ohne Transzendenz, wie er einer materialistischen Deutung vorschwebt, dem Werk und den Intentionen seines Schöpfers nicht gerecht wird.

Die Problematik der Hengelbrock’schen Deutung sehe ich eher im Tempo und in der Phrasierung. Schon im Vorspiel lässt er keine Zeit, den Ton ausschwingen zu lassen, schneidet die Phrasen allzu korrekt zurecht. Sein Karfreitag mutet eher an wie die Prozession einer preußischen Militärmusik. Hengelbrock meidet vor allem in rein instrumentalen Teilen eine atmende, organische Phrasierung – die er den Sängern ohne weiteres zugesteht. Das macht die „Parsifal“-Musik manchmal steif und im schlimmsten Falle belanglos: ein Manko, das seinem Bayreuther „Tannhäuser“ 2011 in Teilen des Feuilletons und des Publikums zu Recht viel Kritik eintrug.

So fehlt dann auch die Zeit für den Klang, sich einzuschwingen – ein Phänomen, das durch den historisch fragwürdigen Verzicht auf jegliches durchgehendes Vibrato noch verstärkt wird. Dennoch: Hengelbrocks Experiment wirft auf den „Parsifal“ und auf das Mühen um einen historisch verantworteten und musikalisch tragfähigen Klang für Wagner ein aufschlussreiches Licht. Er hat mit seinem „Parsifal“ nicht der Weisheit letzten Schluss vorgelegt, aber einen Meilenstein gesetzt. Anderen ist es aufgegeben, diesen Weg weiterzugehen.

Frank van Hove als Gurnemanz in Dortmund. Foto: Petra Coddington

Frank van Hove als Gurnemanz in Dortmund. Foto: Petra Coddington

Unter den Sängern der Dortmunder Aufführung darf Angela Denoke an erster Stelle genannt werden: Ihre Kundry war beglückend entspannt, geistig durchreflektiert und mit stimmlichen Mitteln bewegend gestaltet. Die Sängerin hat einen langen und bisweilen dornigen Weg der stimmlichen Entwicklung hinter sich; das Ergebnis ist rundum überzeugend. Auch Johannes Martin KränzlesKlingsor erschöpft sich nicht in einer schönen, wohlgeformten Stimme, sondern bringt mit Hilfe einer reifen Technik zum Ausdruck, was in dieser komplexen Figur steckt: Die aus Verletzungen und Traumata erwachsende Bosheit hat selten ein Sänger so überzeugend in vokale Farben getaucht.

Der Gurnemanz wurde erst kurzfristig mit dem Bass Frank van Hove besetzt: eine klare, nicht sehr große, geradlinige Stimme, ausgezeichnet artikulierend und sorgfältig den Text ausdeutend, freilich auch ohne die Sonorität und Fülle einer klassischen Wagner-Stimme. Diesem Ideal kommt eher Victor von Halem als Titurel entgegen; allerdings muss man bei ihm auch die kehlige Färbung der Töne in Kauf nehmen. Simon O’Neills Parsifal war trotz seines gestalterischen Engagements keine Offenbarung: zu klein, beengt in der Emission, knödelig quäkend im Ton. Nur im zweiten Aufzug gelang es ihm, sich zu befreien, seinen Tenor hin und wieder strömen zu lassen statt ihm eine grelle Tonproduktion aufzudrängen.

Mit großen Erwartungen befrachtet, enttäuschte Matthias Goernes Auftritt als Amfortas. Es ist vor allem das gedeckte, unfreie Timbre, das den Klang eindimensional werden lässt, dazu kommen guttural klingende Vokale und begrenzte Expansionsfähigkeit. Seine Textausdeutung dagegen ist tadellos und verrät die Erfahrung des Liedsängers. Der Balthasar-Neumann-Chor und die Knaben der Chorakademie am Konzerthaus Dortmund beschworen eher Palestrina – mit dem sich Wagner eingehend befasst hatte – als den füllig-sensiblen Klang, der aus den mystischen Höhen Bayreuths herabströmt. Am 26. Januar ist der Hengelbrock’sche „Parsifal“ in der Philharmonie Essen zu erleben.




Künstlerisches Muskelspiel zum Abschied

Die Sopranistin Anna Prohaska gastiert in Essen. Foto: Patrick Walter/DG

„Nirgends … wird Welt sein, als innen“: Das Zitat aus Rainer Maria Rilkes siebenter Duineser Elegie könnte gemünzt sein auf den Dirigenten und Pianisten Christoph Eschenbach, der sich zur kommenden Spielzeit als Residenz-Künstler der Essener Philharmonie präsentiert. Doch wir wagen es nun, diese Sentenz dem analytisch präzise, in steter Zurückhaltung arbeitenden Intendanten Johannes Bultmann zuzueignen. Weil er wahrscheinlich, nach jener für ihn letzten Saison (2012/13), seine Wirkungsstätte ohne große Geste verlassen wird. Weil er sich vorstellen kann, soviel gab er preis, während eines Sabbatjahres jenseits aller künstlerischen Betriebsamkeit zu leben. 

Noch aber, gewissermaßen zur finalen Essener Saison, lässt Bultmann die Muskeln spielen. In Form jener hochkarätigen Dirigenten, Sängerinnen oder Orchester, die für Qualität und grenzübergreifenden Ruhm stehen. Da spielen zum Auftakt im September 2012 die Münchner Philharmoniker unter Altmeister Lorin Maazel, da will die junge Sopranistin Anna Prohaska mit barocken Arien bezaubern, der hochgelobte israelische Dirigentenfeuerkopf Omer Meir Wellber romantische Glut entfachen, oder eben Christoph Eschenbach in fünf Konzerten und bei einem Lyrik-Talk seine künstlerische Visitenkarte abgeben.

Dirigent Omer Meir Wellber. Foto: Philharmonie Essen

Die Reihen Lied, Alte Musik bei Kerzenschein, Stimmen, Jazz und Jugendstil werden fortgeführt wie eben auch die für Bultmann ungemein wichtige Konzertfolge namens „Now!“. Essens Philharmonie-Intendant, seit jeher engagierter Anwalt der Neuen Musik, fragt in elf Veranstaltungen nach dem Fortschritt im avantgardistischen Komponieren. Dem voraus geht der Programmschwerpunkt „Tristan-Akkord“, jenes tönende Gebilde, das als Schlüssel gilt zur Überwindung der Tonalitätsgrenzen.

Damit verbunden ist natürlich die Würdigung Richard Wagners zum 200. Geburtstag. Höhepunkt soll die konzertante Aufführung des „Parsifal“ werden, mit Balthasar-Neumann-Chor und Ensemble unter Thomas Hengelbrock. Spannend dabei ist die Verwendung historischen Instrumentariums. Wiederum neu daran ist die Kooperation mit dem Dortmunder Konzerthaus.

Insgesamt bietet die nächste Philharmonie-Saison um die 100 Eigenveranstaltungen. Eine Zahl, auf die sich das konzertante Geschehen inzwischen eingependelt hat. Bultmann ist indes wichtiger, dass man hinsichtlich der Qualität in der oberen Liga mitspielen kann. Und dass stets neue Ideen ihr Recht auf Verwirklichung bekommen, all dies verbunden mit finanzieller Planungssicherheit.

Zum Herbst 2013 aber wird Hein Mulders seine Doppelintendanz für Philharmonie und Oper antreten. Es dürfte spannend werden, wie neu die Karten dann gemischt werden.