Kraftlinien der Melancholie – Kunsthalle Bielefeld: Edvard Munch im Brennpunkt des Jahres 1912

Von Bernd Berke

Bielefeld. Magisch irrlichtert es in seinen nächtlichen Wäldem, Farben und Formen seiner Küstenlinien zeichnen schmerzvoll ganze Seelenlandschaften nach, und seine Menschenporträts verströmen eine ungeheure Aura. Edvard Munch (1863-1944) hat in seiner großen Zeit himmelweit über die sichtbare Welt hinaus gemalt.

Das Gros seiner Bilder ist heute im Munch-Museet zu Oslo versammelt. Dort trennt man sich nur äußerst ungern von den Schätzen, etliche Werke dürfen gar nicht mehr reisen. Es bedurfte der ganzen Übenedungsgabe des Bielefelder Kunsthallen-Leiters Thomas Kellein, um den beharrlichen Norwegern schließlich doch noch einige Hauptwerke zu entlocken. Somit konnte Kellein weitgehend sein Konzept umsetzen, Munchs wesentlichen Anteil an jener ruhmreichen Kölner ,Sonderbund“-Schau des Jahres 1912 zu rekonstruieren und sinnvoll zu ergänzen.

Vielfach angefeindete „Sonderbund“-Schau

Neben Vincent van Gogh, dem anno 1912 fünf Säle gewidmet waren, und Pablo Picasso, galt Munch seinerzeit als d i e Lichtgestalt der zeitgenössischen Kunst: Saal Nummer 20 in der eigens errichteten 5000-Quadratmeter-Halle erschien wie eine Apotheose, wie ein Zielbereich des gesamten Lehrpfades. Der Kulturkampf erzkonservativer Kreise gegen jeden „Modernismus“ spielte damals in die vielfach angefeindete Schau hinein, die zugleich Schneisen für den Durchbruch der deutschen Expressionisten schlug. Die leugneten es zwar zuweilen hartnäckig, doch wurden sie wohl allesamt von Munchs  Sogkraft erfasst.

Heute sind derlei „Schlachten“ längst geschlagen, und auch die Präsentation hat sich grundlegend gewandelt: Was damals dicht an dicht in Stellung gebracht wurde, hängt heute in so luftigen Distanzen, dass jedes Bild wie ein Individuum feierlich hervortritt. Der Adam-und-Eva Variation „Fruchtbarkeit“ (um 1894) bleibt sogar ein eigener Raum vorbehalten, der beinahe sakral wirkt.

Alkoholismus und seelische Wirrnis

Man sieht zudem die zutiefst melancholischen Darstellungen aus Munchs Frühzeit – etwa das bewegende Bildnis seiner finster verschatteten Schwester Laura, die viele Jahre in einer Psychiatrie zubrachte. Oder: Das formal verwandte „Selbstbildnis mit Weinflasche“ (1906), auf dem Munch in hilfloser Resignation verharrt.

1908 unterzog er sich einer Alkohol-Entziehungskur, an deren Ende er den gottgleich auftretenden Nervenarzt Daniel Jacobson malte. Eine Reihe monumentaler Männer-Porträts (im geistigen Gefolge von Nietzsches „Übermenschen“-Phantasien) zeugt von strotzendem Kraftkult. Frauen kamen in diesem Universum kaum noch vor. Vielleicht fand Munch sie allzu stark: Er fürchtete ihre erotische Verführungs- und Vernichtungskraft.

Nach der psychiatrischen Behandlung scheint zumindest die faszinierend düstere Seite der Schöpferkraft allmählich zu schwinden. Munchs Palette hellt sich auf, Dinge und Menschen scheinen nun weniger „beseelt“. Es breiten sich nordisches Licht und Ruhe aus. Darüber wird seit jeher gestritten: Mindert innerer Frieden die kreativen Kräfte?

24. Nov. 2002 bis 16. Feb. 2003. Tägl. außer Mo 11-18, Mi 11-21.Sa 10-18 Uhr. Katalog 18 Euro.




Henri Laurens und die Frau als „Bauwerk“ – eine Ausstellung in Bielefeld

Von Bernd Berke

Bielefeld. Er war ein „Späteinsteiger“ der Kunst: Erst mit etwa 30 Jahren fertigte der Franzose Henri Laurens (1885-1954) seine erste Skulptur.

Picasso hatte seine streng kubistische Phase schon vollendet und betrieb seine Formen-Analysen nun eher spielerisch, da begann Laurens gerade erst mit konzentrierten Untersuchungen dieser ästhetischen Materie. Vielleicht wollte er nachträglich und äußerst geduldig zur kubistischen Substanz vordringen, die den drangvoll-mühelosen Schöpfer Picasso nicht mehr zu interessieren schien.

So deutet es jedenfalls Bielefelds Kunsthallen-Direktor Thomas Kellein, der jetzt rund 60 Laurens-Arbeiten (überwiegend Plastiken) unter dem Titel „Frauenbilder, Frauenkörper“ präsentieren kann. Ungewohnt freigebig zeigte sich das Pariser Centre Pompidou: Sonst verleiht man nur ein bis zwei Werke pro Schau, diesmal sind es gleich elf.

Das Weibliche zog ihn hinan, es war sein zentrales Thema. Doch obwohl zumeist nackt dargestellt, ist die Frau bei Laurens weder lustvolles Luder noch gefährliche Verführerin, sondern vor allem anfangs eine Art „Bauwerk“, eine kubistische Konstruktion – mal dynamisch verschachtelt, mal zur Stille gelangt.

Der Künstler, solide ausgebildet als Baudekorateur, schuf immer wieder Frauenskulpturen mit sozusagen architektonischen Qualitäten. Gesichter und Leiber sind Stück für Stück aus Teilen gefügt wie Häuser oder gar Kirchen. Die Körper lassen tatsächlich so etwas wie Sockel, Raumfluchten, Fenster, Stockwerke, Erker und Dachgeschoss erkennen. Das Leben ist eine Baustelle…

Zwar füllte Laurens das kubistische Formen-Repertoire im Prinzip mit vitalen Wesen, doch seine Frauen sehen meist überzeitlich und überirdisch aus, als wollten sie sich abwenden von dieser Welt. Großartiges Beispiel ist „L’adieu“ (Der Abschied) von 1941. Geradezu embryonal in sich gekehrt sitzt diese schwer lastende Frauenfigur da, sie verbirgt ihr Antlitz vollständig. Mit dem täglichen Treiben will sie offenbar nichts mehr zu schaffen haben, sie ist wohl eine Mythenfigur des stummen Schmerzes.

Seit 1918 ließ Laurens seine bis dahin bevorzugten Materialien Holz und Blech beiseite und wandte sich dem Stein zu. Zugleich runden sich die Figuren zu üppigen Schwellformen, denen wiederum jede Erotik mangelt. Abermals scheint es so, als gehörten sie eigentlich in einen baulichen Kontext. So halten die drallen Damen ihre Hände bisweilen so unnatürlich flach über die Köpfe, als wären sie Stützfiguren, die einen Gebäudeteil tragen müssen. Und die Füße sind oft so verformt, als stießen sie an unsichtbare Wände.

Doch es gibt auch weniger zugerichtete, freiere Gestalten: In den 30er Jahren wirken Laurens Schöpfungen verspielter, die Skulpturen vollführen oft gleichsam tänzerische Gebärden, ihre Gliedmaßen geraten nahezu ornamental, sie verfließen freudig in die Lüfte.

Laurens war kein Mann für Jurys und Märkte. Er war vor allem ein Künstler für Künstler. Picasso, Léger, Archipenko und sein lebenslanger Freund Braque (mit ihren Frauen bildeten sie eine frohe „Viererbande“) schätzten ihn sehr. Doch der große Preis der Biennale in Venedig blieb ihm zweimal verwehrt. Künstlerkollege Alberto Giacometti war darob 1950 so verbittert, dass er seine eigenen Werke zurückzog. Und der greise Henri Matisse teilte seinen Preis für Malerei ausdrücklich mit Laurens. Eine generöse Geste von Genius zu Genius.

Henri Laurens: Frauenbilder, Frauenkörper. Kunsthalle Bielefeld (Artur-Ladebeck-Straße 5). 7. März bis 27. Mai. Geöffnet: tägl. außer Mo 11-18, Mi 11-21. Sa 10-18 Uhr. Eintritt 10 DM, Katalog 28 DM. Internet: www.kunsthalle-bielefeld.de




Gesichter gleichen der Musik – Kunsthalle Bielefeld zeigt Porträts aus dem Spätwerk von Henri Matisse

Von Bernd Berke

Bielefeld. Man mag es kaum glauben, daß ein Weltkünstler wie Henri Matisse (1869-1954) erst viermal mit größeren Ausstellungen in Deutschland vertreten war. Den Anfang machte (erst 1981) die Kunsthalle Bielefeld. Jetzt ist es wiederum dasselbe Haus, das mit einer bundesweit exklusiven Schau aufwartet.

Sie heißt im Original „Visages découverts“, was man etwa mit „enthüllte“ oder gar „entdeckte Gesichter“ übersetzen könnte. Entdeckung ist in keiner Hinsicht übertrieben: Fast die Hälfte der Bilder war noch nie in Deutschland zu sehen. Es handelt sich bei den rund 130 Zeichnungen und Graphiken (ergänzt um wenige Ölgemälde) samt und sonders um Porträts aus dem Spätwerk.

Die Summe des Künstlerlebens besteht in grandioser Einfachheit. Meist genügt Matisse eine berückend schlichte Linienführung, um ein Gesicht zu charakterisieren. Es sind jedoch, entgegen dem ersten Anschein, Bilder jenseits jeder Naivität, deren Urheber sich freilich den kindlich offenen Blick bewahrt bzw. ihn wiedergefunden hat: Es sind Bilder eines Mannes, der alle biographischen und alle Schöpfungsphasen durchschritten hat und der dabei allmählich vorgedrungen ist zu einem Urmuster, einer Art Grammatik aller menschlichen Gesichter, aus der wiederum die individuellen Ausprägungen vielfältig erwachsen.

Zuweilen läßt Matisse die Gesichtsfläche vollkommen frei und leer. Geradezu sakral und wie befreit von irdischen Zufälligkeiten wirken solche Blätter. Angeregt wohl auch durch die staunenswerte Aussagekraft eigener unvollendeter Arbeiten, setzt Matisse diese äußerst reduzierte Form ganz gezielt ein, auf daß die Phantasie des Betrachters die „Leerstellen“ füllen kann. Es ist jene Phase; in der Matisse auch die Skizzen für die oftmals gerühmte Kapelle in Vence entwirft. Das Gefühl von Spiritualität, das sich vor diesen Werken einstellt, entsteht also wohl nicht zufällig. Ein weiteres Verfahren: Matisse gibt Gesichtern einen maskenhaften Ausdruck; eine andere Stufe auf der Skala zwischen allgemeinen Mustern und individueller Prägung.

Schönheit ohne Zweck paßt selten ins deutsche Konzept

Man findet in dieser Ausstellung ein Panorama menschenmöglicher Stimmungslagen. Die Gesichter schauen somnambul, beseelt, sinnend, lockend, meditativ, lachend, heiter, bestürzt. Ganz wie im richtigen Leben, doch ungleich deutlicher und unverstellter. Welch eine überragende Kunst, die dies zu zeigen vermag.

Ganz im Gegensatz zur maskenhaften Typisierung steht eine Art kinematographischer Zugang zum Porträt. Überzeugt, daß ein einzelnes Bild nicht das wandelbare Wesen eines Gesichtes wiedergeben kann, schuf Matisse häufig Bilderserien, in denen die stetige Veränderlichkeit der Emotionen aufscheint. Solange es lebendig ist, gleich das Gesicht einer fortwährenden Musik oder eben einem unaufhörlichen „Film“.

Bielefelds neuer Kunsthallen-Leiter Thomas Kellein meint, die deutsche Mentalität habe bisher eine intensivere Beschäftigung mit Matisse erschwert. Hierzulande habe man Experimente mit Linie und Farbe fast immer theorielastig betrieben. Einer wie Matisse, der Kunst auch als entspannende Ästhetisierung des Lebens begriff, habe nicht in dieses Schema gepaßt. Ganz und gar zweckfreie Schönheit ist bei uns ziemlich suspekt.

Henri Matisse:„Das unbekannte Gesicht“. Kunsthalle Bielefeld, Artur-Ladebeck-Straße 5. Bis 24. November. Tägl. außer montags 11-18uhr, Mi bis 21 Uhr, Sa ab 10 Uhr. Eintritt 8 DM. Katalog 48 DM.