Neue Sicht auf altes Motiv: Thomas Schüttes „Frauen“ im Museum Folkwang Essen

Einer der "Großen Geister" Thomas Schüttes vor dem Essen Saalbau. Foto: Werner Häußner

Einer der „Großen Geister“ Thomas Schüttes vor dem Essen Saalbau. Foto: Werner Häußner

Die Essener müssten ihn kennen. Zumindest drei seiner Werke. Wer durch den Stadtpark geht, am RWE-Pavillon der Philharmonie vorbei, kann sich ihrem Eindruck nicht entziehen. Drei Riesen marschieren da auf. Klobig und doch filigran, humanoid geformt und doch wie Wesen von einem anderen Planeten, mit wulstigen Körpern und Gliedmaßen. Das Trio „Große Geister“ stammt von Thomas Schütte, der als einer der bedeutendsten Bildhauer der Gegenwart gilt.

Der in Düsseldorf lebende Künstler hat soeben den Ernst-Franz-Vogelmann-Preis für Skulptur 2014 erhalten. Es ist eine der renommierten Auszeichnungen; dafür spricht auch die Dotation mit 25.000 Euro. Um seinen Rang zu bestätigen, hätte Thomas Schütte den Preis nicht gebraucht, eine schöne Anerkennung ist er dennoch.

In Essen gibt es momentan jedoch noch mehr Schütte: Das Folkwang Museum zeigt noch bis 12. Januar 2014 seine „Frauen“. Die Serie von achtzehn monumentalen Plastiken ist erstmals komplett in Deutschland zu sehen. Die Arbeiten in Bronze, Stahl oder Aluminium variieren das Thema des liegenden weiblichen Körpers. Kunstgeschichtlich nun wahrlich kein Neuland. Doch was Thomas Schütte aus dem Vorgegebenen macht, ist eine kühne Verbindung eines alten Motivs mit einer neuen Sicht. Tradition ist sichtbar nicht in der Negation, nicht im offenen Protest. Sondern in einer Verschmelzung mit einer durch und durch zeitgenössischen Formsprache, die sich Schütte unverwechselbar für sich selbst und aus sich heraus angeeignet hat.

In den weiten, voluminösen Räumen des neuen Folkwang Baus liegen sie, wunderbar proportioniert, auf Tischen. Sind das Arbeitstische? Bahren? Labor-Installationen? Oder einfach nur Sockel in der archaischen Form einer Platte mit vier Beinen? Dem Betrachter bleibt überlassen, was er sehen will. Aber Schüttes Anordnung hat einen demonstrativen Charakter, der sich auch von der Figur distanziert. Sie zeigt den „Werk“-Charakter, die Scheu vor dem Fertigen, vor der Behauptung einer Vollendung.

Thomas Schütte: Frau Nr. 5. Foto: Museum Folkwang

Thomas Schütte: Frau Nr. 5. Foto: Museum Folkwang

Perfekt sein wollen nur die Oberflächen. Die Skulpturen sind edel verarbeitet. Schwarz glänzender, makelloser Lack. Kühl wertvolle Silberglätte. Spiegelndes Gold. Grelle Lackschichten in Magenta, Blau oder Rostrot, wie der Metallic-Überzug eines teuren Sportwagens. Selbst die schwarz mattierte Bronze, das Rostbraun des Stahls wirken vollendet. Und die Größe der Skulpturen lässt die porigen Oberflächen des rohen Aluminium-Gusses oder des unbearbeiteten Metalls versöhnlich hinter die gewaltige Form zurücktreten.

Schütte ist weit davon entfernt, sich ständig selbst zu zitieren. Die „Frauen“ haben ein Thema gemeinsam, doch wie es konkret ausformuliert ist, variiert der Bildhauer ständig. „Frau 12“ von 2003 etwa ist gegenständlich aufgefasst, anatomisch wenig verfremdet. „Frau 8“ dagegen, aus dem Jahr 2001, zeigt abstrakt fließende Formen und große glatte Flächen. „Frau 16“ von 2005 wirkt auch durch das Material – unbearbeitetes Aluminium – wie ein Reflex auf die arte povera. Und „Frau 15“, entstanden zwischen 2003 und 2009, spiegelt das Licht auf ihrer rostroten Metallic-Lackierung tausendfältig; erinnert mit kantig-prismatischen Flächen an die geometrisch inspirierten Gemälde eines Lyonel Feininger.

Thomas Schütte: Aluminiumfrau Nr. 4. Foto: Nic Tenwiggenhorn

Thomas Schütte: Aluminiumfrau Nr. 4. Foto: Nic Tenwiggenhorn

Die Großskulpturen fangen den ersten Blick ein, aber darüber sollte der Besucher nicht die Keramiken vergessen. Zwei Werkgruppen, die „Ceramic Scetches“ und „Es tut mir leid – es tut mir sehr leid“, sind präsentiert in hohen Regalen, leider oft oberhalb der Sicht normal großer Menschen. Die Keramiken sind keine Entwürfe zu konkreten Frauen-Skulpturen, obwohl sich ihre Formen im Großen zum Teil wiederfinden. Sie sind eher inspirierende Vorarbeiten, die aber selbständig und autonom gesehen werden wollen – Dokumente der „Formsuche“, wie Schütte sie selbst nennt.

Auch hier wechselt das Formenspektrum zwischen organisch-körperlich und intuitiv-abstrakt. Manche sind gegenstandslose Gebilde, geformt aus fetten Tonwürsten, farbenfroh glasiert. Andere nehmen den Bewegungsgestus einer Figur auf, ohne den Körper nachzuformen. Wieder andere repräsentieren emotionale Gebärden: einen Schrei, ein Aufbegehren, auch Verinnerlichung oder Verzweiflung. Bei anderen ist die Anatomie brutal gestört durch deformierte Köpfe oder zerdrückte Gliedmaßen. Die absichtslose Souveränität der Form lässt diese „Scetches“ dennoch fertig – und faszinierend – wirken.

Thomas Schütte. Foto: Michael Dannemann

Thomas Schütte. Foto: Michael Dannemann

Mit viel Spaß am Hintersinn und an der traumhaft sicher aufs Blatt geworfenen Zeichnung betrachtet man die circa 100 Zeichnungen und Aquarelle aus der Werkgruppe „Deprinotes“ aus den Jahren 2006 bis 2008: spontan wirkende, oft humorvolle Capricci, mit denen sich Thomas Schütte dem rätselvollen, verstörenden Alltag, aber auch den „großen Themen“ von Himmel und Hölle nähert – mit feinsinniger Naivität oder mit sanftem Sarkasmus.

Thomas Schüttes „Frauen“ sind bis 12. Januar 2014 im Folkwang Museum Essen zu sehen. Das Museum ist Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr, Freitag von 10 bis 22.30 Uhr geöffnet. Der Eintritt für Museum und Sonderausstellung kostet acht Euro, ermäßigt 5 Euro. Am 13. Dezember, 19 Uhr, kommt Thomas Schütte selbst ins Folkwang und spricht über seine Schöpfungen.

Der Katalog „Thomas Schütte. Frauen“ ist bereits 2012 – zur ersten kompletten Ausstellung aller 18 Großskulpturen im Museo d’Arte Contemporanea Castello di Rivoli bei Turin – im Verlag Richter & Fey, Düsseldorf, erschienen. Er enthält auf 160 Seiten unter anderem 195 Fotos und Beiträge von Andrea Bellini und Dieter Schwarz. Der Preis beträgt 39 Euro.




documenta 8: Zitate haben Konjunktur

Von Bernd Berke

Vom „Zeitgeist“ über die „Westkunst“ bis „von hier aus“ – an großen Überblicken zu neuesten Kunst-Stimmungen war in den letzten Jahren kein Mangel. Kassels „documenta“, mythenumwobenes Resümee im Fünfjahresabstand, gerät durch solche Trendschauen ins Gedränge. Die „documenta“ hat’s schwer, ihren Platz zwischen Museum und Kunstmarkt zu behaupten oder gar wegweisende Trendmarkierungen zu setzen.

Vollends zur Zwickmühle gerät die Situation, weil die documenta für das abgelegene Kassel ein enormer Wirtschaftsfaktor ist. Dem Ausstellungsetat von rund 7,7 Mio. DM stehen erhoffte Mehreinnahmen von rund 20 Mio. DM in Hotel- und Gaststättengewerbe gegenüber.

Der Erfolgszwang kann auch den künstlerischen Leiter der documenta nicht unberührt lassen. So mußten Manfred Schneckenburger und sein Team eine publikumswirksame Leitlinie finden: Die Rückkehr der Kunst zu gesellschaftlichen und geschichtlichen Bezügen, der Aufbruch in Richtung Öffentlichkeit und Nützlichkeit – unter solchen Markenzeichen soll das Spektakel bis zum 20. Septembe 400 000 Schaulustige aus aller Welt anlocken.

Das süffige Konzept verliert sich jedoch in einer beispiellosen Vielfalt von künstlerischen Stilformen und Qualitäten, einer „neuen Unübersichtlichkeit“ fürwahr. Alles scheint moglich, viele Künstler bedienen sich im angehäuften Repertoire der Kunstgeschichte nach Belieben, theatralisch-plakativ aufbereitete Zitate haben Konjunktur. Politisch interpretierbare Kunst bildet nur einen Strang.

Die „Wilden“ fehlen – kein Lüpertz, kein Penck, kein Immendorff. Rigoros ist dieser Bruch mit der documenta 7 (1982), deren Auswahl einem beherzt-einseitigen Bekenntnis zur neoexpressiven Heftigkeit und zur auratischen Würde der Kunst gleichkam. Statt dessen geht man jetzt – besonders in der „Orangerie“ – sehr forsch aufs Publikum zu. Das dort ausgebreitete Design sowie die Architektur-Modelle sind in der Mehrzahl gefällig-unverbindliche Spielereien, die – zieht man zum Vergleich die apokalyptischen Visionen (Beuys, Robert Morris, Helmut Schober u. a.) im „Fridericianum“ heran – schon zynisch wirken: Spielen bis zur Katastrophe?

Mehr noch: Manche Künstler lassen sich anstecken. Design und freie Kunst entwickeln sich aufeinander zu; Designer streben nach Ausdruck jenseits der Funktion, einige Künstler hingegen nach Nutzanwendung. Nicht jeder entgeht dabei der Gefahr einer Auslieferung ans flott (über)inszenierte Schmankerl.

Die Installationen in Auepark und City sollen sich gegen die verbaute Stadt behaupten. Das gelingt ausgerechnet jenen Künstlern am besten, die die Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens einbeziehen: Ulrich Rückriem, der sich mit einem Haus für seinen Stein dem Platz verweigert und Norbert Radermacher, der ironisch zwei kleine Vasen auf die monströsen Pfeiler eines Parkhauses postiert.

Zumindest als Idee großartig ist eine vieldiskutierte Arbeit dieser documenta 8: lan Hamilton Finlays vier Guillotinen sollen die Achse zwischen einem Barock- und einem Klassizistik-Bau als historischen Ort erfahrbar machen.

Derlei sinnfällige Einlassung auf Geschichtlichkeit kann nicht durchweg bescheinigt werden. Eher täppisch etwa scheinen mir Arheiten z.B. von Ugo Dossi, der mit Elektro-Tricks einen schalen Mythenzauber („Brennender Dornbusch“) entfacht, oder vom Giuseppe Penone, der in überdimensionale Blumentöpfe Gewächse plaziert – eine nette Saaldekoration für den nächsten Parteitag der „Grünen“.

Natürlich gibt es – Manfred Schneckenburger zum Trotz – auch auf dieser documenta 8 wieder „Kunst über Kunst“. Ein schlagendes Beispiel liefern die Exilrussen Komar/Melamid, die mit ihrem frechen Mammut-Puzzle „Yalta“ die ganze Kunstgeschichte aufrollen. Auch Nam June Paiks Video-Beitrag über Joseph Beuys oder Mark Tanseys akademisch anmutende Malerei gehören hierher. Andere Künstler vergewissern sich überlieferter Mittel, so etwa der Israeli Zvi Goldstein, der Formen des russischen Konstruktivismus aufgreift oder Siah Armajani, der das herkömmliehe Vokabular der Architektur neu buchstabiert.

Zwiespältig jene Arbeiten im Zeichen der Nützlichkeit: Thomas Schüttes „Eis-Tempel“, Reminiszenz an französische Revolutionsarchitektur im Dienste des Eisverkaufs, besticht noch durch ironische Brechung. Scott Bartons Freiluft-„Ottomane“ hingegen ist schlichteste Minimalkunst.

Im Dickicht der Vielfalt kann man sich aber doch immer wieder in Kunst-Abenteuer verstricken, die man in solcher Fülle letztlich nirgendwo sonst findet und die die Fahrt nach Kassel lohnen. Nur zwei Beispiele: Marie-Jo Lafontaines faszinierende Videowand ..Stählerne Tränen“, die die Rhythmen von Körperstählung und Gewalt in erhellende Beziehung setzt, und Richard Baquiés „Amore mio“, ein Straßenkreuzer als sezierte Wunschmaschine.

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Erschienen in der WR-Wochenendbeilage