Auf Augenhöhe: Lydia Steier stellt sich mit „Aida“ der legendären Regie von Hans Neuenfels

„Aida“ in Frankfurt: vorne in der Bildmitte Nicholas Brownlee (Amonasro) und Guanqun Yu (die Aida der Premiere), dahinter Claudia Mahnke (Amneris; in rotem Kleid), umgeben vom Ensemble. (Foto: Barbara Alumüller)

Eben noch besang die ägyptische Gesellschaft Ruhm und Ehre, da wird das Opernhaus dunkel und durch die Schwärze dröhnen Explosionen, Granateneinschläge, Geschützfeuer und tuckernde Panzermotoren.

Lydia Steier lässt in ihrer Frankfurter Neuinszenierung von Giuseppe Verdis „Aida“ den Krieg nicht zum beschaulichen Kostümfest verniedlichen. Sie beschwört ihn mit Geräuschen im Finstern. Beklemmend, unheimlich, und für manchen Zuschauer unbehaglich nahe rückend.

Radikal ist die Inszenierung der amerikanischen Regisseurin auch, wenn es um die (Über-)Zeichnung einer verkommenen, gealtert erstarrten Gesellschaft geht. Da marschieren keine knackigen Soldaten auf, wenn Radamès zum Feldherrn gekürt wird. Da versammelt sich eine Horde seniler Ordensträger, teilweise in den Rollstuhl gebannt, teilweise nur noch vom Sauerstoffgerät inspiriert, um mit „gloria“ und „onore“ den Krieg zu verklären und in eine zittrige Ekstase gereckter Greisenfäuste zu geraten.

Den Krieg muss Hausmeister Radamès erledigen, eher ein Zufallswahl, weil er gerade mit einem Wagen in den Raum fährt, um Fußbodenpaneele zu verlegen. Denn wir befinden uns nicht zwischen Palmen und Pyramiden, sondern in einem abgeranzten Saal (Bühne: Katharina Schlipf), wie er in einem Kolonialgebäude in Kairo vorfindbar sein könnte: Art-Deco-Lampen, die nicht mehr funktionieren, eine eingebrochene Decke mit einer Galerie, von der später der König und seine Entourage herabschaut, siffige Fliesen mit Schimmelrändern.

Erinnerung an „Putzeimer-Aida“ von 1981

Guanqun Yu (die Aida der Premiere) und Stefano La Colla (Radamès) in der Finalszene der Oper. (Foto: Barbara Alumüller)

Die vergreiste Gesellschaft hält sich Jugend nur in uniformierter Form: Junge Männer sind da nicht präsent, aber ein Kind: Mehrfach taucht ein kleiner Junge in der Uniform von Radamès auf – eine Metapher für die Seele des Heerführers oder (mehr noch) ein Sinnbild einer Jugend, die gemeuchelt und als Opfer davongetragen wird? In solchen Momenten ist Steiers detailverliebte Inszenierung in Gefahr, den Fokus zu verlieren und sich erläuternd auf Nebenkriegsschauplätzen zu verzetteln.

Präsent sind Kohorten junger Frauen, alle in adretten rosa Dienstmädchen-Kostümen und einheitlichen lackschwarzen Frisuren, die an brave japanische Manga-Schulmädchen erinnern. Am Anfang schrubben zwei von ihnen den Boden – eine ironische Anspielung auf die „Putzeimer“-Aida von Hans Neuenfels, die 1981 an der Frankfurter Oper Furore machte und zu einer Ikone des Regietheaters wurde? In Steiers Setting gelten Unterordnung und Disziplin alles, das macht Amneris brutal deutlich: Ein Fehler beim Frisieren entfacht ihre Wut, der Schuldigen bohrt sie die Augen aus. Eine andere Dienstbotin, die ihr beim sadistischen Metzeln in den Arm fällt, wird eiskalt abgestochen.

Man glaubt es kaum, dass eine solche enthemmte Gewalttäterin später ihre andere Facette, die der verzweifelt liebenden Frau zeigen wird. Eine harte Szene, auf die im Zuschauerraum ein massiver Buhruf reagiert. In der Tat: Steier flüchtet nie in malerische Opern-Harmlosigkeiten; sie nimmt die Zumutungen, die im Libretto Antonio Ghislanzonis stehen, radikal ernst. Das hat sie bereits 2011 in Heidelberg getan: Die Frankfurter Version darf als überarbeitete Neuauflage der damals heftig diskutierten Inszenierung gelten.

Der aufgewertete Ramfis

Eines ihrer Kennzeichen ist die erheblich erweiterte und aufgewertete Figur des Ramfis, eine Paraderolle für Andreas Bauer Kanabas. Ein soignierter Herr in schwarzem Anzug, äußerlich gelassen mit der Zigarette zwischen den Lippen. Aber ein Mensch, der offenbar unter seinem inneren Zwiespalt leidet und mit der ideologischen Weltsicht seiner Klasse nicht einverstanden ist. Die Fernchöre der Tempelszene im ersten Akt erklingen eher im Kopf von Ramfis: Er windet sich, presst die Hände an die Schläfen, klagt, wimmert, greint vor innerem Schmerz. Wenn am Ende der Oper Amneris entkräftet nach „Frieden“ ruft, wirft er sich auf eine Bank, eine Pistole in der Hand. Ob er damit einen Alptraum beendet, bleibt offen.

Amneris wird in Steiers Version zur Hauptperson der Oper. Ihr Auftritt ist der eines Mannweibs, der graue Anzug mit roter Krawatte ist eine perfekte Mimikry, um in einer maskulin korsettierten Gesellschaft eine Rolle zu spielen. Nur die weißblonden Haare markieren den Rest einer auf ein sexuelles Signal reduzierten Weiblichkeit. Als es darum geht, Radamès für sich einzunehmen, wechselt sie auf eine andere Kleidungschiffre: Mit rotem Abendkleid und neuer Frisur wird sie zur femme fatale; später, in der Szene des Triumphs, tritt sie mit kunstvollen weißen Haaren auf wie eine der ältlichen Sponsorinnen der Met aus der amerikanischen Society. Siegfried Zoller hat einfach tolle Kostüme erdacht.

Mit der Mimikry ist es erst vorbei, als sie im vierten Akt um das Leben von Radamès kämpfen muss: Da wälzt sie sich im Unterrock in der schmutzigen Brühe, die im dritten Akt als Nil-Reminiszenz schwappt und in der die Leiche des von Radamès erschossenen Amonasro liegt. Der erhebt sich mit mahnendem Arm wie der tote Siegfried in der „Götterdämmerung“. Amneris küsst ihn, schließt ihn in die Arme – eine der sinistren, verstörenden Szenen, mit denen Steier ihre Inszenierung verrätselt. Ramfis „erlöst“ Amneris mit einer Drogenspritze. Im Triumphmarsch erhielt auch Radamès seinen Cocktail in den Nacken gespritzt: Er, der traumatisierte Kriegsheimkehrer, hat keine so rechte Lust zu feiern; nach der Injektion stimmt er begeistert willenlos in den kollektiven Jubel ein.

Bei Claudia Mahnke sitzt jedes Detail

Frankfurt hat das Glück, mit Claudia Mahnke eine Darstellerin für die Amneris zu haben, die in imponierender Detailschärfe die Entwicklung dieses Charakters auszuspielen weiß. Da sitzt jede Nuance zwischen höhnischem Lächeln, die Gesichtszüge verzerrender Wut, namenloser Verzweiflung, trostlosem Leid. Jeder Schritt, jede Bewegung der Arme und Hände, jedes Drehen des Kopfes hat seine Bedeutung, macht die Figur sprechend und lebendig.

Nur die Stimme Mahnkes will nicht so recht zur Vollblut-Italianità einer Amneris passen. Das Legato wird durch ein grießeliges Flackern aufgeraut, in der Attacke fehlt der strahlend-präsente Ton. Mahnke kann den Wechsel zum tiefen Register nicht gut verblenden, versucht, die sonore Contralto-Lage allzu brustig und ordinär einzuholen. Dazwischen gibt es, wenn es um entspanntes Singen geht, Momente cremiger Tonfülle und subtil ausgeleuchteter Passion.

Aida ist die Ukrainerin Ekaterina Sannikova, ein typischer Sopran aus dem Osten mit ausgeprägtem Vibrato und fleischiger, manchmal ins Gaumige rutschender Tongebung. Solche Stimmen werden heute – vielleicht auch mangels Alternativen – für „Verdi-Sängerinnen“ gehalten, haben aber weder die Finesse des Stils noch die Flexibilität in der Bildung des Tons. Am passendsten gelingen Sannikova „Numi pietà“ und „O patria mia“ im Dritten Akt, aber es fällt auch auf, dass sie die Phrasen nicht auf dem Atem blühen lassen kann und immer wieder zurücknimmt, wo sie den Ton befreit strömen lassen müsste.

Auch Stefano La Colla operiert an den Grenzen seiner stimmlichen Mittel. Er bemüht sich um Piano-Schattierungen. Aber an ein „b“ im Piano oder Diminuendo am Ende der Auftrittsarie des Radamès glaubt man eh nicht mehr. Dort, wo er Kraft einsetzt, sind das Ergebnis eher enge Trompetenstöße. Der ätherische Schluss der Oper wird auf diese Weise zu einem bemühten Vorwärtshangeln von Phrase zu Phrase, bei der die technische Bewältigung volle Aufmerksamkeit fordert – an schimmernde, zu verhaltenem lyrischem Leuchten gesteigerte Bögen darf man nicht denken.

Dynamische Strapazen

Nicholas Brownlee ist in Wagners „Meistersingern“ als Hans Sachs und in Giordanos „Fedora“ als klug gestaltender Sänger aufgefallen; dass er den Amonasro vor allem als Chance auffasst, voluminöse Stimmgewalt aufzufahren, enttäuscht. In den kürzeren Rollen: Kihwan Sim (König), Kudaibergen Abildin als eindrucksstarker Bote und Monika Buczkowska als Priesterin. Das am besuchten Abend arg lärmig aufspielende Opern- und Museumsorchester blieb unter seinem Niveau, das auch durch Dirigent Erik Nielsen nicht zu heben war: Neben gekonnt formulierte Details treten zu viele klanglich undifferenzierte und dynamisch strapazierte Stellen.

Das Triumphbild, in dem der Chor von Tilman Michael seinen großen Moment hat, gefällt sich in massiertem Gedröhn, das man vielleicht der martialischen Stimmung für angemessen halten mag, das aber Verdis gezieltes Arbeiten mit „banaler“ Musik eher im Getöse erstickt als offenbar macht. Mit Lydia Steiers „Aida“ hat die Frankfurter Oper wieder ein Repertoirestück, das in seiner entschiedenen Art, den Themen auf den Grund zu gehen, auf Augenhöhe mit Neuenfels‘ legendärer Inszenierung steht.

Weitere Vorstellungen: 17., 21., 26., 29. Dezember; 1., 13., 20. Januar 2024, Info: https://oper-frankfurt.de/de/spielplan/aida/

 




Elementare Eifersucht: Giuseppe Verdis „Stiffelio“ an der Oper Frankfurt

Kein Raum für Intimität: die gläserne Kirche in Johannes Schütz' Bühnenbild für den Frankfurter "Stiffelio". Foto: Monika Rittershaus

Kein Raum für Intimität: die gläserne Kirche in Johannes Schütz‘ Bühnenbild für den Frankfurter „Stiffelio“. Foto: Monika Rittershaus

Dieser Kirchenbau ist gläsern. Alles ist sichtbar. Es gibt keinen Raum für das Intime zwischen den Menschen. Eine Frau steht abseits. Ihr hüftlanges Haar ist ein Signal: Es verrät sexuelle Attraktivität – ein Fetisch für Männer. Und es zeichnet sie als Sünderin. Denn in der christlichen Gemeinde, zu der Lina gehört, ist die Ehe heilig. Und ihr sexuelles Vergehen ein unaussprechliches Verbrechen.

In seiner Frankfurter Inszenierung von Giuseppe Verdis immer noch selten gespieltem Meisterwerk „Stiffelio“ hat der australische Regisseur Benedict Andrews das von Bühnenbildner Johannes Schütz geschaffene Symbol sinnstiftend eingesetzt. Zunächst ein bescheidenes, kreuzförmiges Kirchlein ohne Turm, wie es in vielen angelsächsischen Ländern auf dem Land anzutreffen ist, rückt es im ersten Gebet Linas als schwarzer, bedrohlicher Schattenbau in den Hintergrund, hebt sich im zweiten Akt zu einem wuchtig aufragenden Kreuz, gerät aus dem Lot, als sich der Konflikt um den Ehebruch Linas zuspitzt und strahlt am Ende, brüchig erleuchtet, über der Szene, in der Stiffelio, ihr Ehemann und gleichzeitig Pastor der protestantischen Gemeinde, ein Bibelwort aus dem Johannes-Evangelium in die Tat umsetzt: Wie Jesus der Ehebrecherin, so verzeiht Stiffelio seiner Gattin.

Andrews hat sich in Deutschland unter anderem mit Regiearbeiten an der Berliner Schaubühne, mit einer preisgekrönten Inszenierung von Botho Strauß` „Groß und klein“ – sie wurde auch bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen gezeigt – und mit Sergej Prokofjews mystischer Oper „Der feurige Engel“ an der Komischen Oper Berlin empfohlen. Bernd Loebe hat ihn, stets auf der Suche nach interessanten neuen Namen, an die Frankfurter Oper geholt.

Seine Handschrift ist nicht plakativ, bedient sich keiner privatistischen Chiffren. Andrews setzt darauf, das Beziehungsgeflecht zwischen den Menschen spürbar zu machen, kann auf der Bühne schmerzhafte Spannung erzeugen. In dem Moment, in dem die scheinbar geordnete Welt der kleinen Gemeinschaft auseinanderbricht, beginnt die Drehbühne zu rotieren: Die Figuren verlieren den Boden unter den Füßen, sind gezwungen, sich zu orientieren, können sich nicht mehr in einem stabilen Koordinatensystem halten. Die Bewegung mag nervig sein – konsequent ist sie.

Dominanz und Bedrohung: das Kreuz ist ein ambivalentes Symbol in der Inszenierung von Giuseppe Verdis "Stiffelio". Foto: Monika Rittershaus

Dominanz und Bedrohung: das Kreuz ist ein ambivalentes Symbol in der Inszenierung von Giuseppe Verdis „Stiffelio“. Foto: Monika Rittershaus

Wie gezielt Andrews szenische Zeichen einsetzt, zeigt ein anderes Detail: Stiffelio, von einer Dienstreise zurückgekehrt, predigt seiner Gemeinde über die Schlechtigkeit der Welt. Er steht dabei innerhalb des Kirchleins an einem Fenster, durch das er die Zuschauer adressiert. Es ist der Blick von innen nach außen – aus der geschlossenen, moralisch eindeutig georteten Gemeinde, hinaus auf die Außenwelt. Aber die Predigt wird so auch als „Fensterrede“ qualifiziert: Als Stiffelio entdeckt, dass seine Frau keinen Ehering mehr trägt, gerät er außer sich. Verdi greift musikalisch zu entfesselter Dramatik, die den 37 Jahre später uraufgeführten „Otello“ ahnen lässt.

Stiffelios Eifersucht bricht im zweiten Akt noch elementarer aus: Er vergisst sogar den „heiligen Ort“, den er vorher eingeklagt hat, und schwört dem Sexpartner Linas furchtbare Rache mit der Waffe in der Hand. Verdi zeigt sich in dieser Szene auf dem Höhepunkt seiner musikalischen Charakterisierungskunst. Das „Miserere“ aus dem Hintergrund ist wie eine innere Stimme, die Stiffelio erinnert, dass Jesus selbst am Kreuz noch dem Verbrecher vergeben hat. Auch für das damals unerhörte Ende – ein Gottesdienst auf offener Szene mit langem Orgelsolo – findet Verdi eine lapidare, aber durch ihre schroffe Kürze so anrührende wie dramaturgisch packende Sprache.

So man in einer Oper davon sprechen kann, ist Verdis Theologie in „Stiffelio“ beachtlich. Gemeinsam mit seinem Librettisten Francesco Maria Piave charakterisiert er in gewohnter, skizzenhaft anmutender Kürze die ambivalente Atmosphäre solcher verschworener religiöser Gemeinschaften, geprägt von einem hohen Ideal, von Eifer und Entschiedenheit; auf der anderen Seite aber auch bedroht von Rigorismus, Sozialkontrolle und moralischer Überstrenge. Dafür stehen bei Verdi der alte Geistliche Jorg, ein unermüdlicher Mahner an die religiösen Pflichten, und Linas Vater Stankar. Der Offizier versucht mit allen Mitteln, den Ehebruch seiner Tochter zu kaschieren, um die Familienehre zu retten und die Stabilität der Gemeinde zu sichern. Dafür schreckt er auch vor einem Mord nicht zurück, den er schließlich an Linas Verführer Raffaele vollzieht. Der wiederum ist einer der schwachen Verdi’schen Liebhaber, eine Person ohne Profil.

In „Stiffelio“ erkennen wir Themen wieder, die Verdi ein Leben lang beschäftigt haben. Die verblendeten Väter – Stankars Duett mit Lina erinnert an Vater Germont in „La Traviata“ – und die rigorosen Systeme, gestützt von Geistlichen, denen jeder Anflug von Barmherzigkeit fremd ist, wie dem Inquisitor in „Don Carlo“. Es mag auch sein, dass die Ehebruch-Thematik des „Stiffelio“ Verdi besonders berührt hat: Er lebte zu der Zeit mit seiner späteren Frau Giuseppina Strepponi zusammen, ohne verheiratet zu sein, und hat die moralische Missbilligung in seiner Heimat schmerzlich erfahren.

Das Kreuz leuchtet im Finale. Vergebung eröffnet eine Perspektive. Foto: Monika Rittershaus

Das Kreuz leuchtet im Finale. Vergebung eröffnet eine Perspektive. Foto: Monika Rittershaus

Auch die Gemeinde in Andrews‘ Frankfurter Regiearbeit findet die verzeihende Reaktion Stiffelios nicht gut: Die Damen in ihren bunt gemusterten, züchtig übers Knie reichenden Kleidern, die Männer in ihren korrekten Hemden, Krawatten und Blousons – Victoria Behr hat sich von Fotos einer mennonitischen Gemeinde in Südamerika anregen lassen – nehmen ihre Stühle und gehen. Aber der Raum ist geöffnet, die Frau, der Prediger, das Evangelienbuch stehen im Licht des Kreuzes. Andrews legt nahe: Eine Perspektive hat sich eröffnet.

Die musikalischen Perspektiven, die Verdi mit der 1850 in Triest schon dank der Zensur verstümmelt uraufgeführten Oper eröffnete, können erst gewürdigt werden, seit 1968 Abschriften des verloren geglaubten Werks im Konservatorium von Neapel entdeckt wurden. In Köln gab es 1972 einen ersten Versuch in Deutschland, sich dem „Stiffelio“ zu nähern. Erst seit 1993 eine kritische Edition auf der Basis der in Verdis Villa S. Agata aufbewahrten Teile des Autographs erschien, waren gültige Aufführungen möglich. Doch trotz seiner unverkennbaren Qualitäten blieb „Stiffelio“ eine Rarität. Man arbeitet sich lieber zum hundertsten Mal am unmittelbar danach entstandenen „Rigoletto“ ab. Erst in jüngster Zeit rückt das Werk dank der Inszenierungen in Wien, Mannheim, Krefeld und jetzt Frankfurt stärker in den Blick der deutschen Opernlandschaft.

Sorgfältig ausdifferenzierte Vielfalt in der Musik

Für die Musik zeichnet in Frankfurt Jérémie Rhorer verantwortlich, ein seit einigen Jahren vor allem mit Mozart-Opern erfolgreicher Dirigent, der nun mit „Stiffelio“ seinen ersten Verdi dirigiert. Man spürt seine Herkunft aus der historisch informierten Praxis – Mark Minkowski etwa ist einer seiner Mentoren – in der sorgfältig ausdifferenzierten Vielfalt, mit der er Dynamik und Akzentuierung lebendig macht. Phrasen einfach so durchziehen – das gibt es bei Rhorer genau so wenig wie den bedenkenlosen Lärm, den man etwa vor kurzem in einer „Stiffelio“-Neuinszenierung am venezianischen Teatro La Fenice von dem jungen Italiener Daniele Rustioni zu hören bekam.

Aber Rhorers Zugang hat auch seine Tücken, etwa wenn er das eingängige dritte Thema der Ouvertüre zu eilig nimmt und das Tempo steif formt. So wird Verdi zur geschmähten „Leierkasten“-Musik. Und ein Crescendo ist bei ihm eben etwas Anderes als bei Rossini mit seinem lustvollen mechanistischen Spiel. Auch die Ensembles dirigiert Rhorer bisweilen zu quadratisch, ohne mit den Sängern zu atmen. Niemand hat – auch in der „alten“ Musik – ein Verbot flexibler Phrasierung aufgestellt, wie sie für Verdis expressive Melodik essentiell ist.

Sara Jakubiak als Lina (links) und Russell Thomas als Stiffelio. Foto: Monika Rittershaus

Sara Jakubiak als Lina (links) und Russell Thomas als Stiffelio. Foto: Monika Rittershaus

Auch bei den Sängern bleibt die Frage nach stilistisch adäquatem Verdi-Gesang ein bisweilen schmerzliches Thema. Russell Thomas, der laut Libretto „ahasverianische“ Pastor Stiffelio, hat die stimmliche Statur eines Otello, projiziert strahlende Tenorattacken in den Raum, überzeugt durch eine unverspannte, glänzend fundierte Tongebung. Zumindest, solange es dramatisch bleibt. Die leisen Töne, die „erstickte“ Stimme, die halblaute Farbe des Entsetzens, der Verzweiflung oder der Drohung sind dagegen technisch zweifelhaft mit einer Art Falsett dünn und hauchig gebildet.

Sara Jakubiak kann für die Lina einen großen, zur Passion und zu seelenvollem Lyrismus fähigen Sopran einsetzen, aber ihr Ton spricht nicht leicht genug an, um die Kantilene der Sehnsucht, die herbe Süße der Trauer, das verlöschende Licht gebrochener Lebenskraft in der Lasur eines souveränen Verdi-Soprans schimmern zu lassen. Dario Solari präsentiert als Stankar, was man sich gemeinhin unter italienischem Gesang vorstellt: einen großen, lauten, rauen Bariton.

Alfred Reiter gibt dem Jorg einen öligen, in den Ensembles reibungsvollen Bass. Vincent Wolfsteiner, als Raffaele der Auslöser aller Konflikte, hatte einen schlechten Abend – von seiner bisherigen Wirkungsstätte Nürnberg hat man von dem Tenor weit bessere Eindrücke mitgenommen. Der Chor Tilman Michaels zeigt sich präsent und bewegungsfreudig; das Frankfurter Orchester beherrscht Verdis Leichtigkeit ebenso wie das zupackende Fortissimo, ohne in Lärm zu verfallen oder die Sonorität des Tons zu dünn und luftig zu fassen.

Für die Rezeptionsgeschichte dieser Oper ist Frankfurt – nach Helen Malkowskys überzeugender Inszenierung in Krefeld/Mönchengladbach zum Verdi-Jahr 2013 – ein Meilenstein und hoffentlich ein Impuls.

Aufführungen in Frankfurt: 25., 28. Februar; 3., 5. und 12. März. Info: www.oper-frankfurt.de