Immer wieder eine Idee voraus: „Totalkünstler“ Timm Ulrichs bereichert die Dortmunder Ostwall-Sammlung

Künstler Timm Ulrichs vor seinem Schaf im Wolfspelz, im Hintergrund Museumsmitarbeiterin Natalie Calkozan. (Foto: Bernd Berke)

Die Namen der deutschen Kunst-Weltberühmtheiten spricht er mit leichtem Befremden aus: Joseph Beuys, Gerhard Richter. Sie seien bei weitem überschätzt, findet der auch nicht gänzlich unbekannte „Totalkünstler“ Timm Ulrichs (81). Wenn er erst einmal ins Plaudern gerät…

Anlass seiner unterhaltsamen, zwischen einem Hauch von Selbstmitleid und gehöriger Selbstironie schwankenden Suada ist ein Konvolut von 23 seiner Arbeiten, die als Neuerwerbungen bzw. Schenkungen in den Besitz des Dortmunder Museums Ostwall (MO) übergehen. 18 davon, vorwiegend aus den 1960er bis 1980er Jahren, sind vom 11. Juni bis zum 18. Juli im MO-Schaufenster auf der 5. Ebene des „Dortmunder U“ zu sehen.

Timm Ulrichs spricht von einem wahren Adrenalinschub, den der erfreulich namhafte Betrag für den Ankauf bei ihm ausgelöst habe. Er sei es nicht gewohnt, mit seiner Kunst finanzielle Erfolge zu erzielen – nicht einmal in seiner Wahlheimat Hannover, „wo ich hängen geblieben bin“. Vor lauter Begeisterung habe er deshalb für Dortmund noch etwas Geschenktes draufgelegt. Seine kleine Auswahl fügt sich jedenfalls zum Fluxus-Schwerpunkt im Dortmunder Haus.

Wie eine geglückte Adoption

In seinem Alter, so der kinderlose Mann (er erwähnt es eigens), müsse man an den Tod und als Künstler an die Nachwirkung denken. Am liebsten sähe er möglichst viele seiner Werke in Museen verwahrt, dort seien sie sicher vor gewinnsüchtigen Käufern und Verkäufern. Die Übergabe ans Museum komme ihm vor wie eine geglückte Adoption der Werke. Ganz in diesem Sinne hat er sich in letzter Zeit sogar daran gemacht, einzelne Arbeiten vom Markt zu nehmen, indem er sie zurückkauft. Kein leichtes Unterfangen, denn Stücke, die es einst für eine Handvoll Deutsche Mark gegeben hat, werden nun doch für Tausende Euro gehandelt.

Timm Ulrichs, der immerhin rund drei Jahrzehnte lang (bis 2005) wohlbestallter Professor an der Kunstakademie Münster gewesen ist, sagt von sich, er habe „nie eine richtige Wohnung gehabt. Ich wohne nicht, ich hause. Als Messie…“ Bevor wir das noch für bare Münze nehmen, wollen wir lieber schauen, was fortan im Dortmunder Museum verbleibt.

All diese kleinen Hauptwerke

Der Künstler selbst bezeichnet die Auswahl als „repräsentativen Querschnitt“ durch sein Oeuvre. Noch das kleinste Objekt gilt ihm, wenn die Idee nur zündet, als Hauptwerk: die rauschenden Muscheln als „Hörspiel“, weitere Muscheln als überdeutliche Anspielung aufs weibliche Geschlecht, die Dose mit einem – Achtung, gelüftetes Geheimnis! – innen drin verborgenen Dosenöffner, sein 1975 auf der Kunstmesse Art Cologne erstelltes Selbstbildnis als Blinder mit dem Titel: „Ich kann keine Kunst mehr sehen!“

Ein paar weitere Beispiele:

Eines der auffälligsten Exponate (präsentiert auf der 4. Ebene) ist die lebensgroße Doppelskulptur „Wolf im Schafspelz – Schaf im Wolfspelz. Ein Verwandlungskunststück“ (2005/2010). Tatsächlich hat der Künstler die Tiere derart präparieren lassen, dass ihre Felle vertauscht sind. Dazu bedurfte es eines kostspieligen Gutachtens, das Ausnahmen vom Artenschutz bescheinigte. Das Ergebnis vermag zu irritieren. Ist es schlimmer, wenn das (vermeintlich) Böse sich als das Harmlose tarnt, oder ist es umgekehrt womöglich noch abgründiger? Tiere sehen dich an und stellen dir Fragen.

Die Sache mit Wolf und Schaf

Ein paar Meter weiter finden sich zwei spielzeuggroße Herden unter dem Titel „Schwarze Schafe“. Doch halt! Es steht zwar in dunkles Tier allein in einer weißen Herde, doch auch ein einzelnes weißes Tier in einer dunklen Herde. Was heißt denn hier Minderheit, was heißt denn hier „verrufen“? Immer wieder gelingt es Ulrichs, mit beinahe unscheinbaren Maßnahmen erhellende Gedankenspiele anzuregen. Mitunter meint man, das Ergebnis nahezu wissenschaftlicher Versuchsanordnungen zu sehen, wie etwa bei jenem schräg stehenden Pendel, auf dessen Realisierung er Jahrzehnte warten musste, weil es vorher keine genügend starken Magneten für solche Zwecke gegeben hat. Timm Ulrichs hat einmal Edison als sein größtes Vorbild bezeichnet, denn der habe 200 Patente aus allen denkbaren Bereichen gehalten. Doch vor und nach aller „Wissenschaft“ dürfte bei Ulrichs eine große Portion Spontanität im Spiele sein.

Noch einmal Timm Ulrichs (81), vor einer Fotografie seiner selbst aus dem Jahre 1975 (Aktion „Ich kann keine Kunst mehr sehen!“ / © Timm Ulrichs). (Foto: Bernd Berke)

Geradezu verlieren kann man sich in den endlos vielen Details der 50-teiligen Fotoreihe „Die Welt im Wohnzimmer. Das Fernsehgerät als Sockel und Hausaltar“ (2001/2008), das so manche vorgestrigen Sonderbarkeiten der Gemütlichkeit aufleben lässt, aber nicht kurzerhand denunziert. Gerade das Gerät, mit dem „die Welt ins Haus“ kommen soll, wird zum Schauplatz höchst privater Reliquien, die sich auf dem Apparat angesammelt haben; in diesem Falle vor allem in slowenischen Seniorenheimen vorgefunden. Eins steht fest: Mit den öden Flachbildschirmen geht so etwas nicht mehr. Flackernd hinter- und doppelsinnig erscheint auch die Arbeit mit einem echten und einem täuschend echt fotografierten Keilrahmen für Leinwände, dem edlen Bildträger der Künste, der hier ins Alltägliche zurückgeholt wird. Wie hieß doch Ulrichs Aktion von 1961: „Werbezentrale für Totalkunst & Banalismus“. Hehr und heilig ist ihm nichts. Und nichts ist selbstverständlich.

Das tätowierte Augenlid

Erstaunlich, wie früh er manche Ideen oder auch Eingebungen gehabt hat! Den Einfall, sein gesamtes Leben von der Geburt bis zum Tod zu filmen, hegte er um 1961 (!), als wirklich noch niemand vom Selfie-Wahn zu phantasieren wagte. Mit Tätowierkunst experimentierte er bereits in den frühen 70ern, als die heute so inflationären Tattoos allenfalls bei Seeleuten und manchen „schweren Jungs“ üblich waren. Just die Einbeziehung des eigenen Körpers, lange hernach im Kunstbetrieb als Neuheit beschrien, hat Ulrichs sehr (vor)zeitig betrieben. Mal ließ er sich so tätowieren, dass er selbst zur Zielscheibe wurde. Ein andermal ließ er sich die Filmabspann-Worte „The End“ aufs Augenlid schreiben. Hintergedanke: Beim allerletzten Schließen der Augen am Lebensende würde der Schriftzug erscheinen. Gelegentlich erklärte sich Timm Ulrichs zum lebenden Kunstwerk und stellte sich auch schon mal als Schlafender aus.

Heute würde man vielleicht flapsig sagen: Der Mann war „ganz weit vorn“. Hätte er auch nur eine dieser Ideen konsequent zu seinem Markenzeichen gemacht, wäre ihm vielleicht lukrativer Kunstmarkt-Erfolg beschieden gewesen. Doch das war seine Sache nicht. Mit immer neuen Ideen, nie so recht zu fassen, irrlichterte er durch die Kunstszene.

Wenn schon nicht Richter (der Ulrichs zufolge notfalls drei Bilder parallel pinseln könnte) oder Beuys („Den habe ich bei den Mutiples längst abgehängt“), wen ließe er denn dann gelten? Seine rigide Auswahl: In der Nachkriegskunst sei lediglich Dieter Roth (1930-1998) „satisfaktionsfähig“, dem übrigens 2016 im Museum Ostwall die Ausstellung „Schöne Scheiße“ gewidmet war. Zu seinen Anregern zählt er auch Dadaisten wie Richard Hülsenbeck (der in Dortmund begraben liegt) und vor allem Raoul Hausmann (1886-1971). Bei aller strengen Auswahl weiß Ulrichs: „Niemand steht für sich allein. Wir alle brauchen Gleichgesinnte.“

„Timm Ulrichs. Willkommen im Museum Ostwall“. 15. Juni bis 18. Juli 2021, geöffnet Di+Mi 11-18, Do+Fr 11-20, Sa+So 11-18 Uhr, Mo geschlossen. Museum Ostwall im Dortmunder U, „Schaufenster“ auf Ebene 5. Leonie-Reygers-Terrasse, 44137 Dortmund, Info-Tel. 0231 / 50-2 47 23.

www.dortmunder-u.de 

 




Olympische Spielstraße, München, 1972 – Erinnerungen an ein fröhliches Projekt, dem der Terror ein jähes Ende setzte

Abschnitt der Spielstraße mit erkennbar entspannten Besuchern. Weiße Luftballons markierten Hotspots des Parcours. (Foto: Urbane Künste Ruhr 2020 / Henning Rogge)

Der Mann im Hamsterrad hatte eine beeindruckende Ausdauer. Jeden Tag lief er seinen Marathon, und er schonte sich nicht. Die Fußverletzungen, die er sich im Rad zuzog, mussten schließlich sportärztlich behandelt werden.

Gleichwohl war er nicht Sportler, sondern Künstler: Timm Ulrichs, der vor wenigen Monaten seinen 80. Geburtstag feierte, prangerte vor bald 50 Jahren in seinem Hamsterrad – auch die Bezeichnung Tretmühle wäre wohl zulässig – die scheinbare Sinnlosigkeit körperlicher Leistungserbringung zu Sportzwecken an. Und seine Aktion wurde lebhaft wahrgenommen, stand das überdimensionale Hamsterrad doch auf der „Spielstraße“ der Olympischen Spiele in München. 1972 war das, verdammt lang her.

Wohl eine Performance, über die wir nichts Näheres wissen. Doch die Ballons kennen wir. (Foto: Skulpturenmuseum Glaskasten Marl)

Von Werner Ruhnau geplant

Die Spielstraße hatte der Essener Architekt Werner Ruhnau konzipiert, den man im Ruhrgebiet vor allem wohl wegen des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier kennt, das 1959 eröffnet wurde. Verbindendes zwischen einem Spaßparcours für die breiten Massen und einem opulent verglasten Musentempel springt möglicherweise nicht sofort ins Auge, doch wohnt beiden das Bestreben inne, Abgrenzungen in der Gesellschaft abzubauen, kulturelle Aktivitäten als partizipative Projekte zu gestalten und allen zu öffnen. Ruhnau war also durchaus der Richtige für die Münchener Spielstraße.

Anschlag auf die israelische Olympiamannschaft 

Dann kam der schreckliche Anschlag auf die israelische Olympiamannschaft, bei dem alle elf Geiseln starben. Zwar gingen die Spiele anschließend weiter, doch die Spielstraße wurde abgebaut, weggepackt und fast vergessen. Jetzt erinnert eine Ausstellung im Marler Kunstmuseum „Glaskasten“ an das Projekt.

Blick in die liebevoll zusammengestellte Ausstellung im Glaskasten Marl. (Foto: Urbane Künste Ruhr 2020 / Henning Rogge)

Wertvolle Eindrücke

Zusammen mit der Künstlerin Jana Kerima Stolzer und Britta Peters von Urbane Künste Ruhr hat Glaskastendirektor Georg Elben die Ausstellung konzipiert. Die Exponate stammen ausnahmslos aus dem Archiv Ruhnau, von irgendeiner Vollständigkeit kann natürlich nicht die Rede sein. Doch Timm Ulrichs’ Hamsterrad blieb als wohl größtes Exponat erhalten, außerdem einige skulpurale Arbeiten, Zeitungsartikel, Plakate, Siebdrucke und eine Widmung Andy Warhols, der sich die Sache damals auch einmal anguckte. Weiße Luftballons schweben über den Glasvitrinen gerade so, wie vor 48 Jahren solche Ballons die Stationen der Spielstraße markierten.

Viele Schmalfilme erzählen von der Spielstraße. Leider gibt es keinen Originalton dazu, nur kongenialen Sound. (Foto: Urbane Künste Ruhr 2020 / Henning Rogge)

Anita Ruhnau holte Künstler

Ruhnaus Frau Anita hatte etliche Künstlerinnen und Künstler zur Teilnahme bewegen können, was die Spielstraße, wenn man einmal so sagen darf, zu einem multifunktionalen Spektakel machte: Kunstpräsentation, Theater und Performances einerseits, Mitmachparcours andererseits.

Da liegt eine federnde Hüpfmatratze auf dem Weg und lädt sogar Anzugträger zum Selbstversuch ein, da gibt es Bühnenprogramme mit Publikumsbeteiligung, in der öffentlichen Siebdruckwerkstatt kann sich das Volk mit Rakel und Farbe versuchen. Super-8-Filme berichten von alledem. Glücklicherweise entstanden sie in reicher Zahl und wurden rechtzeitig digitalisiert, so dass sich Qualitätsverluste durch Alterung in Grenzen halten. In zwei relativ großen Räumen laufen diese Filme auf je drei Wänden, und wenn es in dieser ansonsten uneingeschränkt zu preisenden Ausstellung doch etwas zu kritisieren gibt, so ist es das weitgehende Fehlen von Sitzgelegenheiten in zentraler Position, von denen aus die alten Streifen mit möglicherweise noch mehr Genuss betrachtet werden könnten.

Ist es Sport oder ist es seine Verhöhnung? Mitunter spricht das alte Material keine klare Sprache (mehr). (Foto: Skulpturenmuseum Glaskasten Marl)

Langhaarige und Gamsbartträger

Erheiternd sind die Filme auch so, jedenfalls meistens. Langhaarige und Gamsbartträger dicht an dicht und trotzdem stressfrei, wie es scheint. Doch dann taucht in dem Gewusel eine merkwürdige Prozession auf, obskure Gestalten, ein rollendes Podest, ein Müllwagen… Das Straßentheaterstück „Olympiade 2000“, das auf der Spielstraße aufgeführt wurde und das Jana Kerima Stolzer für die Marler Ausstellung recherchierte und kunsthistorisch aufarbeitete, gefällt sich in der Dystopie eines pervertierenden, nurmehr wirtschaftlichen Interessen unterworfenen olympischen Sports. Das Stück schrieb seinerzeit der „Theatermacher“ Frank Burckner in Zusammenarbeit mit dem Zukunftsforscher Robert Jungk, und trefflich mag man sich darüber streiten, ob die düsteren Erwartungen der Autoren sich erfüllten oder mittlerweile längst schon überholt sind. Leider gibt es für die Filme keinen Ton, was besonders bei den abgefilmten (mehr oder minder spontanen) Bühnenereignissen schade ist.

Frühform der urbanen Künste

Die Spielstraße bot Kunst als Kommentar zu den Olympischen Spielen, einst und jetzt und zukünftig. Warum aber beteiligt sich „Urbane Künste Ruhr“ an der Marler Schau, jene Organisation, die in der Nachfolge des Kulturhauptstadtjahres ganz überwiegend öffentliche Orte im Hier und Jetzt mit aktuellen Kunstprojekten bespielt? Nun, die Verwandtschaft der Themen ist nicht zu leugnen, und ursprünglich, so Britta Peters, sollte die „Spielstraße“ nur ein Teil des Urbane-Künste-Projekts „Ruhr Ding: Klima“ sein, das nun aber, Corona ist schuld, auf die Mitte nächsten Jahres verschoben wird.

  • „Die Spielstraße München 1972“
  • Skulpturenmuseum Glaskasten Marl, Creiler Platz, Rathaus
  • Bis 1. November 2020
  • Geöffnet Di – Fr 11 – 17 Uhr, Sa und So 11 – 18 Uhr
  • Kein Katalog



Timm Ulrichs: Kunst auf die lockere Art

Recklinghausen. Wenn Kunststudenten ihre Werke zeigen, krähen nicht viele Hähne danach. Wenn aber ihr Professor, der seit Jahrzehnten einen „Namen“ hat, sich an die Spitze stellt, so verhält es sich schon anders. Beispielsweise Prof. Timm Ulrichs (65), der nun Abschied von der Münsteraner Kunstakademie nimmt, wo er in seiner Klasse seit 1972 etwa 280 Studenten betreut hat.

Jetzt ist in Recklinghausen ein Auswahl-Querschnitt aus all diesen Jahren zu sehen. Über den Daumen gepeilt, sind es fast 200 Werke von rund 100 Ulrichs-Schülern, garniert mit beispielhaften Arbeiten des freigeistigen Lehrmeisters, der auch schon mal eine Märklin-Modellbahn (beladen mit deutschem Wald) in künstlerischen Dienst nimmt. Manche erinnern sich auch an dies: Mit einer garstigen Porno-Kunst-Aktion hatte Ulrichs anno 1993 für einen Skandal in Iserlohn gesorgt.

Der aufwändig recherchierte Bilanz-Katalog verzeichnet seine sämtlichen Studenten – jeweils mit Passfoto von „damals“ (aus den Akten der Akademie) und kurzem Werdegang; ganz gleich, ob sie nur ein oder 30 (!) Semester in Münster verbracht haben. Hübsche Randnotiz: Recklinghausens Kunsthallen-Chef Ferdinand Ullrich zählte einst selbst zum Kreis der Eleven. Ursprünglich hat er Künstler werden wollen, dann hat er auf Kunstgeschichte umgesattelt.

Auch feste Größen der Sze¬ne, wie etwa Gregor Schneider (der Deutschland bei der Biennale in Venedig vertrat), haben ihre ersten Schritte bei Timm Ulrichs gemacht. Etli¬che andere zählen zum acht¬baren „Mittelfeld“ der Branche, einige haben sich ganz aus dem Beruf verabschiedet. So ist das eben.

Die kreuz und quer (un)sortierte Ausstellung ist „vielstimmig“, man sieht Beispiele für alle Genres zwischen Malerei, Installation und Video. Manche Stile und Moden der letzten 30 Jahre klingen an. Gemeinsamer Grundzug ist ironischer Einfallsreichtum, zuweilen frech-fröhlich gewendet. Kunst, die das Pathos meidet, die sich selbst nicht allzu schwer nimmt. Timm Ulrichs dürfte zur leichteren Gangart ermutigt haben.

Ulrichs, der in Münster als Professor für „Bildhauerei und Totalkunst“ firmierte, hat den jungen Leuten stets viel Freiraum gelassen. Das lockere Arbeitsklima kann man sich ungefähr vorstellen. Es teilt sich im entspannten Gestus der Ausstellung mit.

Doch Ulrichs hat nicht alle Interessenten zugelassen. Auswahl musste sein. „Ich war nicht wie Beuys, der unterschiedslos alle zu sich gerufen hat.“ Die Jahrgangsbesten wählte Ulrichs jeweils ganz subjektiv aus – und verlieh ihnen unfeierlich seinen „Timm und Struppi-Preis“…

Anfangs war Ulrichs selbst noch so jung, dass er gegrübelt hat: „Wie soll ich hier eigentlich den Professor spielen?“ Und noch heute sagt der beredsame, oft zu respektlosen Scherzen aufgelegte Mann: „Eigentlich weiß ich gar nicht, was Kunst ist.“ Kunst sei ein offener Begriff. Statt sich vorher festzulegen, solle man vom konkreten Einzelwerk ausgehen.

Ulrichs ist halt ein Sponti. Verhasst sind ihm die immer wieder verwendeten „Markenzeichen“ der Kunst, z. B. Nägel oder kopfüber hängende Porträts. Lieber täglich von vorn beginnen. Ein Vorbild? „Edison! Der hatte über 200 Patente aus allen Bereichen.“ Und wie sieht – ganz profan gefragt – das finanzielle Fazit seines Künstlerlebens aus? Ulrichs: „Obwohl ich viele Wettbewerbe gewonnen habe, habe ich mit Kunst kaum etwas verdient.“ Wie gut, dass er als Professor ein gesichertes Grundeinkommen hatte.

• „mit offenem Ende“ -Timm Ulrichs und seine Klasse an der Kunstakademie Münster 1972 bis 2005. Kunsthalle Reckling¬hausen. 24. Juli (Eröff. um 11 Uhr) bis 11. September. Di-So 10-18 Uhr. Katalog 10 Euro.

(Der Beitrag stand am 23. Juli 2005 in der Westfälischen Rundschau, Dortmund)




Künstler werben für Europa – auf Einladung der Straßburger SPD-Abgeordneten

Von Bernd Berke

Bonn/Dortmund. Mit der bundesweiten Aktion „Künstler malen ihr Bild von Europa“, will die SPD im Herbst für den europäischen Gedanken werben. In zwölf Großstädten, darunter Dortmund, werden Künstler Plakatwände mit europäischen Themen gestalten.

Start des Kunstspektakels, zu dem die SPD-Europa-Abgeordneten aufgerufen haben, ist am 18. September in Kassel (zwei Tage vor Schluß der „documenta“). In Dortmund werden am 21. September die Künstler Hanno Otten (Köln) und Henning Eichinger (Dortmund) auf dem „Alten Markt“ zwei eigens aufgestellte Wände zu Euro-Plakaten umfunktionieren.

Organisator der Malaktion, die in Städten aller Bundesländer und in Berlin stattfinden wird, ist Paul Pauly, ehedem Bonner Fraktionsmitarbeiter der „Grünen“ (speziell Joschka Fischers) und 1983 für deren vielbeachtete Kultur- und Wahlkampfaktion „Grüne Raupe“ sowie für Anti-Atom-Konzerte in Wackersdorf verantwortlich. Pauly, der 1984 aus den Diensten der Umweltpartei ausschied: „Bei den ,Grünen‘ gibt es immer noch Defizite in Sachen Kultur, deshalb mache ich das jetzt für die SPD.“

Pauly will den Künstlern, die u. a. durch Vermittlung des Deutschen Künstlerbundes zusammenkamen und je 2000 DM Honorar erhalten, größtmögliche Freiheiten lassen. So müsse es durchaus nicht beim bloßen Plakatmalen bleiben; auch andere Aktionen und die Einbeziehung der Bevölkerung seien möglich. Pauly setzt hierbei auf Künstler wie Ben Wargin (in München) oder Timm Ulrichs (in Hannover), die schon des öfteren für öffentlichkeitswirksame Auftritte gut waren.

Finanziert wird das Ganze aus jenem 50-Millionen-Etat, den das Europaparlament sich für „Reklame in eigener Sache“ genehmigte und der auf alle dort vertretenen Fraktionen verteilt wird. Die SPD, so Pauly („Die Bevölkerung weiß noch viel zu wenig über Europa“), werde ihren Anteil vornehmlich in Kultur investieren. Die Malaktion soll dabei nur eine von vielen Veranstaltungen sein.

Unter anderem ist auch ein großes Nordsee-Musikfestival für August 1988 im Gespräch, an dem alle Anrainerstaaten beteiligt sein sollen. „Ganz nebenbei“ will man so auf die drohende Umweltkatastrophe (Wasserverschmutzung) aufmerksam machen. Als möglichen Veranstaltungsort peilt Pauly das „Motodrom Halbemond“ bei Norden/Ostfriesland an, in dem rund 70 000 Zuschauer Platz finden und in dem sonst Speedway-Fahrer ihre Runden drehen. Auch eine europaweite Theatertournée schwebt Pauly vor. Die Bilder der herbstlichen Kunstaktion sollen übrigens der Nachwelt erhalten bleiben. Paul Pauly hat sich dazu ein Rahmensystem ausgedacht, mit dem die fertigen Bilder von den Plakatwänden genommen werden und zu Ausstellungen geschickt werden können.

Ganz ohne Politik geht’s bei der Kunstaktion nicht ab: Sie soll Auftakt zu einer größeren Informationskampagne sein, bei der man bereits jetzt die Europawahlen (Juni 1989) im Visier hat.




Vom Kopierer kommt die „Kunst auf Knopfdruck“

Beherzt rückt Jürgen O. Olbrich dem Kopiergerät zuleibe. Auf der dünnen Glasplatte (normale Bruchlast: 6 Kilogramm) tanzt er einen verwegenen Rock’n Roll. Ergebnis bei eingestellter Dauerfunktion: verwirrende Geflechte aus Fußabdrücken – Schwarz auf Weiß verewigt. Ein andermal ließ Olbrich Speiseeis aufdem Kopierer schmelzen und hielt den Zerfließ-Vorgang auf Kopien fest.

Derlei Aktivitäten durfte kaum ein Bürochef oder Kopierladeninhaber dulden. Immerhin: Millionen Menschen gehen täglich mit Fotokopiergeräten um. Doch nur ganz wenige kommen auf die Idee, dies spielerisch zu tun oder gar Kunst daraus zu machen. Einer von den Wenigen ist Klaus Urbons (32), der seit 1977 „Copy Art“ betreibt und jetzt in Mülheim/Ruhr das bundesweit erste „Museum für Fotokopie“ eingerichtet hat. Er zeigt dort rare Geräte aus den letzten 25 Jahren der rasant fortschreitenden Modellgeschichte – und Kunstwerke, die mit den Apparaten fabriziert worden sind. Besagter Jürgen Olbrich aus Kassel – Vertreter einer impulsiven Richtung von Copy Art – ist in der Eröffnungsausstellung vertreten.

„Copy Art“ ist möglicherweise die demokratischste Kunst, die es gibt. Urbons: „Für ein paar Groschen kann jeder mitmachen“. „Copy Art“ kann höchst simpel sein, sozusagen „Kunst auf Knopfdruck“, aber auch erstaunlich vielfältig. Es muß nicht immer so brachial zugehen wie bei Jürgen Olbrich. Eine Variante für Einsteiger sind etwa sogenannte Kopien-„Generationen“, das heißt, von einer Kopie wird wieder eine Kopie gezogen, von dieser Zweitkopie die nächste, usw. Der verblüffende Effekt ist in Mülheim anhand einer 100-teiligen Arbeit von Timm Ulrichs zu bestaunen: Die Umrisse eines abkopierten Buchdeckels werden zusehends blasser; gleichzeitig scheint die vermeintlich „seelenlose“ Apparatur selbst zeichnerisch kreativ zu werden: Sie ersetzt den verschwindenden Gegenstand durch frappierende Muster. Ulrichs kopierte übrigens ein Buch mit beziehungsreiehern Titel: Walter Benjamins „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ – eine Art „Bibel“ jeglicher Vervielfältigungskunst.

180-Grad-Darstellung des eigenen Gesichts

Klaus Urbons hat auch schon sehenswerte Selbstporträts per Kolpierer angefertigt. Er drehte beispielsweise während des Belichtungsvorgangs den Kopf und bekam eine zerrspiegelhafte 180-Grad Rundum-Ansicht des eigenen Gesichts. Weiterer Tip aus seiner Werkstatt: Legt man ein geeignetes Stück Gardine dazwischen, bekommt man obendrein ein hauchfeines Bildraster.

Verkleinerungen, Vergrößerungen, Farbkopien, nachträgliche Kolorierung von Hand, Montage oder Collage verschiedener Kopien eröffnen dem Ideenreichtum ein weites Feld. Es entwickeln sich regelrechte „Stilrichtungen“ – wie in Malerei und Skulptur. Durch Umbauten des technischen Innenlebens der Kopierer kann die Ausdrucksvielfalt nochmals gesteigert werden.

Kopier-Kunst kann zum teuren Vergnügen, ja zu einer Art Sucht werden. Klaus Urbons erinnert sich an die Zeiten, als er noch keine eigenen Geräte besaß: „Ich stand manchmal stundenlang im Copy-Shop. Nachher war ich einen ganzen Sack voller Kleingeld los, manchmal weit über 100 Mark.“ Offenbar stellen sich, ist man erst einmal dermaßen bei der Sache, Dauerlust-Gefühle wie bei Computerspielen oder an Spielautomaten ein. Urbons, der auch alle erdenklichen Texte zum Thema sammelt: „Comic-Zeichner haben dieses Phänomen längst entdeckt. Da gibt es viele Figuren, die ihr ganzes Geld im Kopierladen ver jubeln.“

Beinahe nostalgisch schwärmt der gelernte Schriftsetzer und Grafiker Urbons von den älteren Kopiergeräten. Heutige Apparate seien durchweg normiert und böten weniger Entfaltungs- und Spielmöglichkeiten. In der Anfangszeit aber hätten Konstrukteure die abenteuerlichsten Verfahren erprobt. Die Mülheimer Museumsstücke dokumentieren die Entwicklung.

Begonnen hat es (um das Jahr 1938) mit Naßkopierern, die eigentlich nur eine Weiterentwicklung der Repro-Kamera darstellen. Mit Geschick braucht man für eine Kopie mit solchen Maschinen „nur“ fünf bis sechs Minuten. Urbons bekam seine ersten Altgeräte aus jdem Gerümpelkeller eines Fachhändlers.

Die alten Geräte waren phonstarke Monstren

Heute hat er fast 40 Stück beisammen, die phonstark loslegen „wie Düsenjäger“ (Urbons) und bis zu einer halben Tonne wiegen. Das schafft neben Transportschwierigkeiten auf Dauer auch arge Platzprobleme. Urbons hat, außer seinem kleinen Museum, mittlerweile schon zwei Garagen randvoll mit Kopiergeräten bestückt. Dennoch sucht er weitere Raritäten. Für den Tag der Ausmusterung sind ihm schon die frühesten je gebauten Kopierer der Firma Xerox versprochen, die noch heute an der Technischen Hochschule Aachen in Gebrauch sind.

Inzwischen ist Urbons so gewieft, daß er schon Umbauten an Kopierern vornimmt, die die Hersteller nicht für menschenmöglich gehalten hätten. Fernziel: Der Mülheimer möchte einen Kopierer anfertigen, der ganz speziell auf Künstler-Bedürfnisse zugeschnitten ist.

Die neuesten Trends und Gags hat sich Urbons kürzlich auf der Hannover-Messe angesehen. Staunend stand er vor da Kopierern, die per Computer angesteuert werden können – das Verbindungsglied zwischen Computergrafik und „Copy-Art“: Weitere Neuheit, die ebenfalls für Künstler interessant ist: Relief-Kopierer, die – „Sprung in die dritte Dimension“ – fühlbar erhöhte bzw. vertiefte Oberflächenstrukturen vervielfältigen können. Ursprünglich war diese plastische Technik zur Wiedergabe von Blindenschrift erfunden worden. Schließlich träumt Urbons davon, via Telekopierer fixen Kontakt zu Zunftgenossen aufzunehmen.

Kopierkünstler ringen noch um ihre Anerkennung. Zwar läuft derzeit die erste einschlägige „Biennale“ in Barcelona, und seit 1980 ist eine Kopierausstellung auf US-Tournee, doch hat sich bislang noch kein renommiertes Museum dieser Richtung angenommen.

Die Preise freilich pegeln sich mittlerweile schon auf kunstmarktübliche Höhen ein. Ein Großformat in der Mülhimer Ausstellung fand für schlanke 1000 DM einen Käufer. Bescheidener gibt sich der gleichfalls ausgestellte Roland Henß-Dewald. Preisangabe unleT einer seiner Arbeiten: „1000 Blatt A-4-Papier“.

„Museum für Fotokopie“, 4330 MüIheim/Ruhr, Friedrichstraße 59. Ständige Geräte- und wechselnde Kunstausstellungen. Geöffnet donnerstags 18-21 Uhr. Besuchstermine auch nach telefonischer Vereinbarung (0208/34 461). Vorführung von Geräten und eigene Kopierversuche sind möglich. Die Eröffnungsausstellung dauert bis 30. Mai.

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Erschienen in der Rundschau-Wochenendbeilage vom 18. Mai 1985