„Sinnverlust ist Lustgewinn“: Zum Tod des Dichters und Cartoonisten F. W. Bernstein

F. W. Bernstein 2005 auf der Frankfurter Buchmesse. (Foto: Wikimedia /self-made by User:Fb78 - Link zur Lizenz:https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

F. W. Bernstein 2005 auf der Frankfurter Buchmesse. (Foto: Wikimedia Commons / self-made by User:Fb78 – Link: https://commons.wikimedia.org/wiki/User:Fb78 – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Abermals eine betrübliche Nachricht aus den höheren Gefilden der Kultur und der Komik: Der Dichter und Cartoonist F. W. Bernstein (bürgerlich: Fritz Weigle) ist gestern mit 80 Jahren nach langer Krankheit gestorben. Ihm höchstpersönlich verdanken wir auch den unverwüstlichen Zweizeiler, der in keiner Sprichwortsammlung fehlen darf: „Die schärfsten Kritiker der Elche / waren früher selber welche“.

Legendär ist Bernsteins enge, zeitweise geradezu symbiotische Zusammenarbeit mit Robert Gernhardt und F. K. Waechter. Diese drei vielfach begabten Künstler bildeten den Kern der nachmals berühmten „Neuen Frankfurter Schule“ des parodistischen Humors. Das grandiose Trio steigerte sich insbesondere mit „WimS“ („Welt im Spiegel“, von 1964 bis 1976 Beilage der Satire-Zeitschrift „Pardon“) in wunderbaren Nonsens hinein, wie man ihn in Nachkriegs-Deutschland bis dahin nicht gekannt hatte. Bernstein war zuweilen der Schrägste, Sperrigste und Verschrobenste von ihnen. Und das will nichts Geringes heißen.

„Verse von schnatternder Wucht“

Wenn man sich davon überzeugen will, sollte man beispielsweise zu diesem Buch greifen, das wir vor Jahresfrist schon einmal vorgestellt haben: 2017 ist im Kunstmann-Verlag von F. W. Bernstein der Band mit dem bezeichnenden Titel „Frische Gedichte“ erschienen. Als „Mein Programm“ stellte Bernstein dieser Gedichtsammlung solche erhabenen Zeilen voran: „Ihr sucht / Verse von schnatternder Wucht? / Ihr findet sie hier: / Alle von mir“.

Bei F. W. Bernstein kam unter Garantie niemals auch nur die Spur von Pathos oder Weihe auf. Ein hoher Ton wurde nicht geduldet. Kein Thema war ihm zu gering. Vieles hat er auf die elementaren Dinge des Alltags zurückgestutzt, gepflegter Nonsens lag dabei stets auf der Lauer. Markantes Zitat: „Sinnverlust ist Lustgewinn“.

Bloß nicht auf dem Bedeutungshocker sitzen

Unter dem demütigen Titel „So möcht ich dichten können“ heißt es über ein in diesem Sinne offenbar vorbildliches Oktett von Mendelssohn: „Das geht so froh über alle Zäune und umhuscht all / die üblen Möbel, die in der Lyrik herumstehen: / Tiefentisch, Bedeutungshocker, Sesselernst, / das Symbolbüffet, das Vertiko für Relevanzen“.

Kein Wunder, dass sich Bernstein gerade an Rilke rieb, der ja nicht einmal über Wurzelbürsten gedichtet habe. Auch Büstenhalter, Hosenträger und Wasserhähne habe kein Dichterfürst gebührend besungen. Bernstein hat Rilke derweil so ernüchtert parodiert: „Wer jetzt kein Geld hat, der kriegt keines mehr.“ Rilke also ganz und gar nicht. Hingegen könnte man meinen, bei Bernstein zuweilen einen leisen Nachklang von Heinrich Heine oder auch Ringelnatz zu vernehmen. Nein? Na, dann eben nicht.

„Die Zeit ist um. Es ist so weit…“

Der Mann gab sich jedenfalls so nonchalant, dass manche es stellenweise für Larifari halten mochten. Doch dahinter verbarg sich bei näherem Hinsehen und Hinhören ungleich mehr, melancholisches Leiden am Zustand der Welt inbegriffen. Apropos: „Weltende“ klingt bei Bernstein so gar nicht gravitätisch. Hört nur her:

„Die Zeit ist um. Es ist so weit. / Wir sind schon in der Nachspielzeit. / Schlusspfiff! Jetzt wird auferstanden! / Skelette raus, soweit vorhanden; / auf die Bühne zum Finale! / Weltgericht!“

Doch er konnte es auch zum Heulen schön und anrührend. Man lese sein bewusst schmuckloses „Nachruf“-Gedicht zum Tod von Robert Gernhardt – und schweige auch dabei andächtig still.

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F.W. Bernstein: „Frische Gedichte“. Verlag Antje Kunstmann, München. 208 Seiten, 18 Euro.

Als grundlegende Ergänzung empfiehlt sich der ebenfalls bei Kunstmann (bereits anno 2003) erschienene Band „Die Gedichte“.

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P. S.: Im Himmel wird wohl große Freude herrschen und des herzlichen Gelächters wird kein Ende sein, wenn sich Bernstein, Gernhardt und Waechter jetzt dort treffen.




Ruhrtriennale konzertant: Musikalische Endlosschleife zum Untergang der Titanic

Anu Tali und die Bochumer Symphoniker ließen dieTitanic sinken. Foto: Michael Kneffel/Triennale

Anu Tali und die Bochumer Symphoniker ließen die Titanic sinken. Foto: Michael Kneffel/Triennale

Nach fortwährender Erkundung neuer Formen des Theatralischen, begibt sich das Experimentallabor namens Ruhrtriennale tatsächlich einmal in die „Niederungen“ des traditionellen Konzertbetriebs. Um aber gleich wieder eine Art Avantgarde zu präsentieren. Mit zwei Frühwerken des 1943 geborenen englischen Komponisten Gavin Bryars, die Luciano Berios „Requies“ umrahmen. Das Fazit des Abends ist schnell umschrieben – spektakulärer Titel, überwiegend langatmige Musik.

Denn wenn Bryars nichts weniger als den „Untergang der Titanic“ klanglich verarbeiten will, dürfte mancher in Duisburgs Gebläsehalle wohl ein großorchestrales Spektakel erwarten. Um sich damit die Katastrophenbilder im Kopf zurechtzimmern zu können. Und wenn die präzise musizierenden Bochumer Symphoniker unter Leitung der estnischen Dirigentin Anu Tali am Beginn ein differenziertes Schlagwerkinferno entfachen, dass es klingt, als schramme im Sturm der Dampfer am Eisberg entlang, scheint die Tragödie greifbar.

Doch Bryars steht nicht der Sinn nach Effekt. Das Heftige weicht einem sanften Streicherhymnus, ungemein harmonisch, als wär´s ein Stück von Haydn. Ständige Wiederholung inbegriffen, mit minimalen Abweichungen, getragen vom tiefen Register der Bläser, die Schwärze des Meeres illustrierend. Inmitten Einspielungen von Interviewfetzen zum Unglück. So will uns Brayrs hinabziehen, lullt uns aber bloß ein.

Seine Nähe zum Minimalisten Michael Nyman ist offenkundig. Dafür steht noch mehr „Jesus’ Blood Never Failed Me Yet“. Der simple Gesang eines Stadtstreichers, aus dem Nichts kommend, lauter werdend, schließlich ersterbend, ist die (vom Tonband zugespielte), laufend wiederholte Grundlage des Stücks. Die Endlosschleife wird harmonisch aufs Angenehmste unterfüttert, mehr und mehr Orchesterstimmen verstärken die Grundierung, bis auch hier alles verblasst. Bryars’ große Meditation will uns einfangen, ist aber bloß Klang gewordene Vorhersehbarkeit.

Da bedarf es schon eines Luciano Berio, der orchestrale Bewegung in Statik gekonnt einflechten kann und dabei ein Füllhorn von Klangfarben über uns ausschüttet. Diese Musik kreist nicht verloren um sich selbst, sie schwebt um ein imaginäres Zentrum. Ein kleiner Glücksfall.

(Der Text ist zuerst in der WAZ erschienen.)




50 Jahre danach: „Pardon“ vor der Wiederwi(e)dergründung

Wenn das mal nicht reale Satire ist, die einst eben jene alte „Pardon“ vollends durch jeden Kakao gezogen hätte und den realen Satirikern auch noch angeboten hätte, ihn auszutrinken. „Pardon“ soll zum zweiten Male wiederbelebt werden.

Medial sachkundige Titel rühmen, dass „renommierte Autoren“ sich an der Beatmung einer Erstausgabe anlässlich der 50. Wiederkehr des Ersterscheinens (27. August 1962 nach Nullnummer 1961) beteiligen werden: Harald Schmidt, Eckart von Hirschhausen unter anderen, auch Hellmuth Karasek sei mit dabei. Das Ganze in Planung durch einen Ex-Chef der „Welt“ und Ex-Chef des „Focus“ mit Namen Wolfram Weiner, der den Titel „Pardon“ kaufte und, weil er ja im Hauptberuf so intensiv Finanztitel verlegt, nun auch damit lachend Geld verdienen will.

Hallo? „Pardon“ meinten in den Sechzigern Robert Gernhardt, Friedrich Karl Waechter, Kurt Halbritter, Hans Traxler, Chlodwig Poth, ein gewisser Vicco von Bülow, der auch das erste Titelbild zeichnete (Knollennasenmännlein mit Blumenstrauß in der erhobenen Hand, in dem die Zündschnur einer Bombe glimmt). Ach ja, und dann gehörte auch noch Erich Kästner zum ersten Redaktionsstamm, dem sich später Alice Schwarzer, Günter Wallraff, Robert Jungk, Freimut Duve oder Hans Magnus Enzensberger anschlossen. Oder es schrieben Günter Grass und Martin Walser für das Produkt der Gründer Erich Bärmeier und Hans A. Nikel, das in Auflage von 320 000 Stück verschlungen wurde, in besten Zeiten von 1,5 Millionen Leserinnen und Lesern – und einer davon war ich.

Hohe Schule des parodistischen Humors und legendärer Bestandteil der ursprünglichen "Pardon": die Beilage "Welt im Spiegel" (WimS), hier vereint in einem Zweitausendeins-Sammelband von 1979. (Foto: Bernd Berke)

Hohe Schule des parodistischen Humors und legendärer Bestandteil der ursprünglichen "Pardon": die Beilage "Welt im Spiegel" (WimS), hier vereint in einem Zweitausendeins-Sammelband von 1979. (Foto: Bernd Berke)

Und eine neue „Pardon“ soll uns nun von Witzeerzählern wie Hirschhausen und Schmidt nahe gebracht werden, vielleicht noch literarisch aufgehübscht durch Karasek, verlegt von einem einst führenden „Welt“-Mann? Das wird ja was werden.

„Pardon“ wurde einst von „Titanic“ abgelöst, die „Titanic“-Redaktion sog einen Teil ihres frühen Lebens aus den „Pardon“-Mitarbeitern und –innen. Sie bewegt sich bis auf den heutigen Tag in echter Tradition ihrer Vorgängerin und wenn die neuen Antreiber von „Pardon“ damit prahlen, dass es bei ihnen nicht vorkommen werde, mit einem nässenden Papst eigene Titel zu schmücken und anderen Titeln Schlagzeilen zu servieren, dann haben diese neuen Herren wenig verstanden von dem, was vor 50 Jahren angeschoben wurde.

Sicher war das Waechter-Teufelchen (F.K.Waechter zeichnete das pfiffig-freche Symbol fürs Titelblatt) nicht so krass, wie heutige „Titaniker“. Aber vor 50 Jahren wurden die Frechheiten des Blattes ebenso empört aufgenommen wie die aktueller Satiriker. Franz Josef Strauß versuchte allein 18 Mal, sich in Rechtsstreitigkeiten mit „Pardon“ zu messen, mochte vorauseilende Entschuldigungen im Namen des Blattes nicht akzeptieren. Er verlor 18 Mal, was ihn aber nie wirklich entmutigte, ebenso wenig wie die Redakteure.

Nun, offenbar hatte „Pardon“ seine begrenzte Zeit. Erst sagte Bärmeier ade, dann widmete sich Hans A. Nikel yogischen Flugversuchen, was zwar eine Titelstory brachte („Kein Witz. Ich kann fliegen!“) aber auflagenschädlich wurde. Die treuen Leserinnen und Leser kamen einfach nicht damit klar, dass ihr Blatt mal etwas todernst zu meinen schien, was niemand ernst nehmen konnte. Hennig Venske stieg dann zum Chefredakteur unter „Konkret“-Herausgeber Hermann L. Gremliza auf, „Pardon“ stieg stetig weiter ab, um dann 1984 gänzlich eingestellt zu werden.

2004 noch mal Beatmungsversuche durch Bernd Zeller aus Jena, der von Nikel die Namensrechte erworben hatte. Doris Dörrie, Wiglaf Droste und Roger Willemsen texteten. Und Harald Schmidt schrieb das Vorwort, einen Absagebrief. Schmidt ahnte wohl, dass dem Versuch seines Gagschreibers Bernd Zeller keine längere Lebenszeit beschieden sein würde.

Vielleicht aber war es auch die Tatsache, dass Zeller zu wenig zahlte und vielleicht ist es heute der Umstand, dass Wiederwi(e)derbegründer Weimer prima Kohle auf den Tisch legt, die Harald Schmidt bewegt, Bewegendes von sich geben zu wollen. Motto: Wir sind jung und brauchen Geld, Pardon!




Titanic: Der Mythos lebt weiter

Das neue "Titanic"-Building in Belfast/Nordirland. Foto: Häußner

An einen Schiffsbug erinnern die vier Spitzen des Ende März eröffneten "Titanic" Buildings in Belfast/Nordirland. Foto: Häußner

Um 2.12 Uhr nachts kündigt sich das Ende an: Ein Ruck, ein Zittern, dann beginnt sich das Schiff zu drehen, hebt sein Heck aus dem eiskalten Wasser. Sechs Minuten lang steigt das Ruder aus dem Meer, ragen die riesigen Schrauben in die klare Luft.

Um 2.18 Uhr donnert es im Rumpf des Giganten. Die gewaltigen Maschinen, die 50 000 PS auf die drei Schiffsschrauben brachten, rauschen durch den Schiffskörper, losgerissen aus ihren Verankerungen. Es ist das Todesbrüllen des Meeresriesen: Die Lichter erlöschen; zwei Minuten später gleitet die „Titanic“, in zwei Teile zerbrochen, fast geräuschlos in die Tiefe. 1 500 Menschen reißt sie in den Tod. Nur gut 700 werden gerettet. Das Ende des als unsinkbar gepriesenen Dampfers auf seiner Jungfernfahrt wird zum Mythos.

Mit der Zahl der Opfer ist der Mythos „Titanic“ nicht zu erklären: Die Geschichte der Seefahrt kennt weit höhere Verluste. So sterben alleine 1945 auf den drei Schiffen „Wilhelm Gustloff“, „Goya“ und „Cap Arcona“ jeweils zwischen 5 000 und 9 000 Menschen, als die Flüchtlingstransporte von alliierten Kräften versenkt werden. Doch die Tragödie der „Titanic“ ist mehr als eine Schiffskatastrophe: Sie steht für den gebrochenen Stolz einer technikgläubigen Zeit, für das Ende der „Belle Epoque“ mit ihrem Kontrast von Luxusglanz und Elend. Sie wird als Menetekel der nahenden Katastrophe gesehen, die wenige Jahre später das alte Europa ins Verderben reißen sollte. Und sie wirkt – wie der Turmbau zu Babel – als ein Symbol überheblicher Selbstüberschätzung des Menschen. Für sich gesehen unbedeutende Versäumnisse führen in ihrer Summe zu einem Unglück, das die Menschen an Bord des Schiffes nicht einmal wahr haben wollen, als es schon zu spät ist: Während in den unteren Kabinen der Dritten Klasse schon das Wasser steht, plaudert man in den Salons noch unbeschwert bei Brandy und Zigarren.

Die trügerische Zuversicht, die viele Passagiere blind auf die Allmacht der Technik vertrauen ließ, soll ein Steward in einem Satz zusammengefasst haben, den der Überlebende Albert Caldwell überliefert hat: „Nicht einmal Gott könnte dieses Schiff versenken“. Der Würzburger Fundamentaltheologe Elmar Klinger bezeichnet die Symbolik des „Titanic“-Untergangs als religiös: „Man hielt die ‚Titanic‘ für eine Großtat des Menschen, einen Triumph über die Natur. Und dann führt eine Verkettung banaler Umstände zum Untergang. Genau hier finden wir eine religiöse Faszination. Jeder kennt solche Situationen.“ Klinger weiter: „Ich sehe in der Katastrophe ein ‚Zeichen der Zeit‘. Es ist der Gegensatz von menschlicher Höchstleistung und menschlichem Versagen. Man entdeckt die Hinfälligkeit all dessen, was von Menschen gemacht ist. Das ist charakteristisch für das menschliche Leben überhaupt.“

In einem vor wenigen Wochen erschienenen Buch geht auch die Kultur- und Musikwissenschaftlerin Linda Maria Koldau auf die „Legenden“ um die „Titanic“ ein. Ihr geht es nicht nur darum, die Überlieferung von falschen Tatsachenbehauptungen zu reinigen, die sich nicht zuletzt durch die finanziellen Interessen der Reederei in die offiziellen Protokolle und Berichte eingeschlichen haben. Denn der White Star Line, aber auch der für den Funkverkehr verantwortlichen Marconi-Gesellschaft ging es laut Koldau darum, „Fakten zu verzerren und zu verschleiern und Unschuldige zu Schuldigen zu stempeln“.

Hätten die Konzerne haften müssen, wären immense Kosten auf sie zugekommen. Dies galt es, unter allen Umständen zu verhindern. Koldau kommt zu dem Schluss, dass Raffgier eine entscheidende Ursache für das Unglück war: Die Funker an Bord haben nicht nur Eiswarnungen nicht weitergegeben, sondern auch zu lange gezögert, das damals noch relativ neue Notsignal SOS zu morsen. Geholfen hätte es freilich nichts: Der „Titanic“ am nächsten stand die „Carpathia“, die sofort mit voller Kraft dem havarierten Schiff zu Hilfe eilte. Sie benötigte dennoch vier Stunden – viel zu lang, um die Menschen des rasch sinkenden Stolzes der „White Star Line“ noch zu retten. Dass der Funker des einzigen Schiffs in der Nähe, der „Californian“, gerade einmal zehn Minuten vor der Kollision der „Titanic“ mit dem Eisberg zu Bett ging, gehört zu den absurden und schicksalhaft scheinenden Momenten der Tragödie.

Koldau, derzeit noch in Aarhus in Dänemark lehrend, nimmt sich auch die Mythenbildung vor. Sie entdeckt in der „Titanic“-Katastrophe ein „perfektes Drehbuch“, gebildet nach dem Muster der griechischen Tragödie: Der Mythos vereine zentrale Motive des Erzählens in Reinkultur. Auch sie bescheinigt dem Mythos, nach und nach religiöse Züge angenommen zu haben.

Ein Mythos, der im Sinne des Philosophen Paul Ricœur neue Bereiche von Welterfahrung erschließt. In der „Mythisierung“ der „Titanic“-Geschichte geschieht eine Sinn-Schöpfung. Vielleicht ist das auch ein Weg für die Nachwelt, das zutiefst Sinnlose einer solchen Tragödie zu bewältigen. Bei einer Analyse im Sinne der „Metaphern des Bösen“ von Ricœur dürfte sich zudem bestätigen, dass der „Titanic“-Mythos auch dazu taugt, die zerstörerische Macht des Bösen zu erweisen: Er konstituiert einen Zusammenhang des Verderbens, der über Schuld oder Verantwortung des Einzelnen hinausgeht.

Die Geschichte vom Untergang der „Titanic“ ist jedoch auch eine Erzählung ergreifender Einzelschicksale: Von unglaublichen Zufällen, die zur Rettung führen. Von Feigheit und Verzweiflung. Von Edelmut und Größe. Von der Souveränität, mit der Menschen ihr Schicksal zu tragen wissen. Von Gentlemen, die im Angesicht des sicheren Todes Frauen und Kinder in die Boote geleiten und selbst zurückbleiben. Von dem alten Ehepaar Isidor und Ida Strauss, das so lange zusammen gelebt hat und nun auch zusammen sterben will. Von Priestern wie Pater Joseph Peruschitz aus Scheyern oder Thomas Byles, Pfarrer aus Ongar in Essex, die bis zum Schluss die Menschen beruhigen, tröstende Worte sprechen. Statt den angebotenen Platz im Rettungsboot einzunehmen, beten sie mit den Menschen noch, als sich das Heck schon aufrichtet, um Minuten später in die Tiefe zu fahren.

Oder von den Musikern um Kapellmeister Wallace Hartley, von denen keiner überlebt. Ob es der Gassenhauer „Autumn“ war oder der Choral „Näher mein Gott zu Dir“: Tapfer spielen sie, bis sie von Deck stürzen. Beiden, den Priestern und den Musikern, hat James Cameron in seinem soeben wieder in die Kinos gekommenen „Titanic“-Film wenigstens in kurzen Sequenzen ein Denkmal gesetzt.

100 Jahre später ist die Erinnerung an die „Titanic“ und ihre Opfer ungebrochen. Die letzte Überlebende, Millvina Dean, starb zwar 2009 – doch die Geschichte des Untergangs wird weitererzählt: Der Mythos sei unsinkbar, sagt Autorin Koldau. In Belfast in Irland, wo der Ozeanriese auf der Werft Harland & Wolff gebaut wurde, in Southampton, wo die Jungfernfahrt begann, im irischen Cobh (Queenstown), wo die „Titanic“ zu ihrer letzten Station anlegte, erinnern in diesen Tagen Ausstellungen, Veranstaltungen und Gottesdienste an das Unglücksschiff und seine Menschen.

In Belfast entwickelt sich ein ganzer neuer Stadtteil im Zeichen der „Titanic“. Ende März wurde ein 97 Millionen Pfund teures neues „Titanic Building“ eingeweiht. Vier Spitzen, die an einen Schiffsburg erinnern, sollen an die vier Epochen des Schiffsbaus in Belfast erinnern; der Glaskern des Baus an den Verderben bringenden Eisberg. Jeder Bug ist genauso hoch, wie die „Titanic“ von Kiel zu Deck war. Es steht in der Nachbarschaft zu den Resten des Docks, in dem die Schwesterschiffe „Titanic“ und „Olympic“ gebaut wurden. In einer aufwändigen multimedialen Inszenierung will es die Zeit vor 100 Jahren erlebbar machen, als die irische Stadt das Zentrum des Schiffbaus weltweit gewesen ist.

Das erwähnte Buch: Linda Maria Koldau „Das Schiff, der Untergang, die Legenden“. C. H. Beck Verlag, 303 Seiten, 19,95 Euro.




Max Goldt: Zimbo, Zimbo und nochmals Zimbo

Skandal ! Betrug ! Ich habe „Ein Buch namens Zimbo“ gelesen – und nirgendwo auch nur die leiseste Äußerung darüber gefunden, was es mit diesem „Zimbo“ denn auf sich hat. Oder sollte ich ausgerechnet jene zwei bis drei Zeilen auf Seite xyz übersprungen haben, in denen mir Auskunft zuteil geworden wäre? Wohl kaum. Es wäre fahrlässig, in diesem kanari-knallgelben Buch überhaupt etwas auszulassen.

Ist aber auch schnurzegal. Denn es handelt sich ja um ein Werk von Max Goldt, der die Leser schon mal ganz gern nett nasführt. Doch im Grunde treibt er beileibe nicht nur Schabernack, sondern gibt vielfach ein vernünftiges Maß der tagtäglichen Dinge. Man unterschätze das nicht in einer Zeit, in der so vieles verrutscht ist. Wir könnten einen neu geeichten „common sense“ allemal gebrauchen. Der unaufgeregte Gebrauch des Verstandes kann – paradox genug – aufregend und überdies erzkomisch sein. Hier spürt jemand haarfein auf, was vorgeht im Lande und was anders werden sollte. Nun gut. Jetzt aber Schluss mit der öligen Jury-Prosa.

Was haben wir vor uns: Sprachlich bestens gefeilte Kolumnen? Unterhaltsame, ja höchst vergnügliche Ratgeberliteratur zur Lebenshilfe im besten Wortsinne? Alltagsphilosophie der dezent gehobenen Sorte? Mal dies, mal jenes. Aber darin erschöpft es sich nicht.

Selbst wenn man seit vielen Jahren Bücher von Max Goldt liest, staunt man immer wieder, welche Haltungen er im Einzelnen zu den Zeitläuften einnimmt. Er kann da sehr eigen sein. In einem Umfeld, das allerlei Schrankenlosigkeiten zelebriert, wagt er es beispielsweise, auch Verbote als mögliche Kulturleistungen zu preisen. Hohe Zeit für solche Gedanken!

Nur ganz selten beschleicht einen das Gefühl, dass Goldt auch schon mal willkürlich gewagte Gegenpositionen zum Gängigen einnimmt, um just ihre Tragweite zu erproben. Warum auch nicht, wenn dabei so viel herauskommt, was anderen im Leben nicht einfiele?

Dem politisch korrekten Herumgeeiere ist Goldt jedenfalls abhold, ohne deshalb freiheitliche Positionen preiszugeben. Irgendwann, so spottet er, werde in Zeitungen nur noch stehen, Gewalt sei von „Geschöpfen“ verübt worden – ohne Nennung der Herkunft, des Alters, der Religion und des Geschlechtes. Es könnte ja „diskriminierend“ sein…

Max Goldt erweist sich abermals als Meister der Abschweifung. Herrlich zu sehen, welche rasanten Kurven seine Texte bisweilen nehmen, um in tollkühnen Volten bzw. Loopings zum Ursprungsthema zurückzukehren – oder vollends artistisch abzuheben.

Das Themenspektrum ist mal wieder denkbar breit. Da geht’s z. B. um vermeintlich allgegenwärtige Klagen über Sodbrennen, um Vor- und Nachteile von Umhängetaschen oder um die nach seiner Ansicht unsinnige Wendung „kreatives Chaos“. Wahre Künstler seien keineswegs Chaoten, sie entwirrten vielmehr das Durcheinander, befindet Goldt. Ferner erfahren wir, wie erhellend ein Pakistani und ein Texaner deutsche Marotten (Hunde-Manie und Polit-Debatten-Rituale) beschreiben, wie sich Worte mit bloßer Tralala-Bedeutung anfühlen und wie das „Berliner Plusquamperfekt“ klingt. Und köstlich ist’s zu lesen, wie sich Rechthaber und Besserwisser der inzwischen allzu vielen „Irrtümer“-Lexika bedienen, um mal wieder zu triumphieren.

Manche Formulierungen Goldts sind so trefflich und kostbar, dass man sie am liebsten in Seidenpapier einschlagen und verschenken möchte. „Dieser eisige Beauty-Apparatschik“ – wer könnte damit wohl gemeint sein? Doch nicht etwa Heidi Klum? Nun ja, eventuell doch.

Goldts Kunstfertigkeit ist mittlerweile hoch dekoriert worden, auch mit dem Kleist-Preis. Des Autors Dankrede dafür steht gleichfalls in diesem Buch. Kategorien wie „Alltag“ und „Satire“ lehnt er zur Selbstbeschreibung ab, auch sei er gar kein Kolumnist. Ja, was zum Teufel ist er denn dann? Am Ende vielleicht ein „Zimbo“?

Max Goldt: „Ein Buch namens Zimbo“ (Untertitel: „Sie werden kaum ertragen, was Ihnen mitgeteilt wird“). Rowohlt Berlin Verlag, 198 Seiten, 17,90 Euro.

P. S.: Kürzlich ebenfalls bei Rowohlt Berlin erschienen und ideal auch für Goldt-Leser geeignet ist der prachtvolle Sammelband „Titanic – Das endgültige Satirebuch – Das Erstbeste aus 30 Jahren“ (416 Seiten, 25 Euro) mit zahllosen satirischen, parodistischen etc. Frechheiten sowie gepflegtem Nonsens im Gefolge der „Neuen Frankfurter Schule“ seit 1979. Prädikat: Gehört pfeilgrad in jede Hausapotheke.




Kleiderhaken bürgen für Qualität – Max Goldts Buch „QQ“

Wenn man mal wieder nicht so recht weiter weiß im (Gesellschafts)-Leben, dann ist es an der Zeit, Max Goldt zu lesen. Er weist Wege, er schlägt Schneisen.

Sein neuer Band heißt „QQ”. Das Kürzel steht angeblich für „quiet quality”, also stille Güte. Nun ja. Gewiss. Der begnadete Kolumnist des Satireblattes „Titanic” steuert stets einen Schlingerkurs. Er kommt gedanklich von Hölzchen auf sonstwas, so dass man oft fürchtet: Jetzt trägt es ihn wirklich aus der Kurve, das kriegt er nicht mehr heil über die Runden. Doch man täuscht sich. Über dem assoziativen Gewimmel waltet denn doch sein gesunder Menschenverstand, der sich durch keine herrschende Meinung, keinen Trend und keinen Lifestyle blenden lässt.

Was lernen wir diesmal? Beispielsweise etwas über den Unterschied zwischen dem klugen und dem dusseligen Staunen. Zitat: „ . . . man sollte selbstdisziplinarische Maßnahmen ergreifen, um nicht an jene Grenze zu stoßen, hinter der das Staunen in Gaffen und entfesseltes Plappern übergeht.” Es folgt ein aberwitziges Beispiel: Jemand wird auf einer Party einem Moraltheologen vorgestellt, worauf man eben verschieden reagieren kann. Etwas weniger feinfühlige Variante: „Wow! Ich glaub, ich spinne: ein Moraltheologe! Ich dachte, die gäbe es nur im Fernsehen . . . Darf ich Sie mal fotografieren? Oh Schock, mein Akku ist fast alle . . .”

Mit Goldt sieht und hört man genauer hin: Da lernt man etwa den blasierten TV-Komponisten kennen, der für alle möglichen Sendeformate immerzu Mönchschöre einsetzt. Ferner geht’s um die bestürzend putzige Wesensart jener Frauen, an deren Handtaschen Teddy-Figürchen baumeln. Auch das soziale Prestige von Serien-Schauspielerinnen bei gewissen Privatsendern wird zeitdiagnostisch erörtert, es ist demnach vergleichbar mit dem eines Losverkäufers im Zoo. Wie präriehundsgemein!

Liebevoll geraten hingegen die kleinen Porträts wunderlicher alter Damen, die das Bild wahrer Großstädte laut Goldt mehr bereichern als jede schrille Jugend-Fraktion. Man schlürft dabei Formulierungen wie diese hier: „. . . während die andere mehr dem Typus des glückhaft im Eigenleben versumpften ,alten Mädchens‘ entsprach.”

Zwischendurch zerpflückt Goldt einen ebenso branchenüblichen wie bodenlosen Kritikersatz („Radikale Bestandsaufnahme des Lebensgefühls einer Generation”) in seine dummdreisten Bestandteile. Der Beitrag gehört in künftige Leitfäden für Leute, die über Kultur schreiben.

Ein Ausflug führt sodann in diverse Gaststätten. Als ein Qualitätsmaßstab wird da die Anzahl der Kleiderhaken hinzugezogen. Je mehr davon, umso solider und bodenständiger das Lokal! Sagen wir’s folglich mal so: Dieses Buch von Max Goldt ist ungelogen randvoll mit Kleiderhaken.

Max Goldt: „QQ”. Rowohlt Berlin, 156 Seiten, 17,90 €.