Rio Reiser wäre jetzt 65 – er fehlt mehr denn je

Screenshot aus: https://www.youtube.com/watch?v=_UlTvJ2POXM

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Zum Platz der Kulturen hinter der Backsteinfassade des Kulturzentrums Lindenbrauerei in Unna führt ein Weg. Er heißt “Rio Reiser-Weg”, benannt nach dem legendären Frontmann der ebenso legendären Gruppe “Ton, Steine, Scherben”.

Rio Reiser wäre heute 65 Jahre alt geworden. Und ich fragte mich gerade, ob er im Rentenalter schweigsamer geblieben wäre und den Versuch unterlassen hätte, der fortschreitend wirrer werdende Welt auf seine Art den Zerrspiegel vorzuhalten. Ich denke nein.

Rio Reiser, der am 20. August 1996 mit nur 46 Jahren starb, hieß bürgerlich Ralph Möbius. Er hatte einen Bruder mit Namen Gert und einen, der heißt Peter Möbius und blieb einst durch das Langzeitengagement des “Hoffmanns Comic Teater” in Unna hängen. Damals, in den 1980er Jahren, trieb es auch Rio Reiser dorthin, und er machte Musiken für wegweisende Projekte am Hellweg. Noch heute gibt es dort viele, die dem Musiker und Protagonisten linker Bewegungen Deutschlands liebend-kritisch verbunden blieben.

Rio wählte seinen Künstler-Nachnamen mit Bedacht: Er zog nicht von ungefähr die Romanfigur Anton Reiser herbei, die Karl-Philipp Moritz in seinem – wenn man so will “Lebenswerk” – zwischen 1785 und 1786 in drei Teilen in Berlin veröffentlichte. Anton war in diesem “psychologischen Roman” der Spross einer kleinbürgerlichen Familie, der hoch begabt nach Anerkennung und fortschrittlichen Wegen für sich und seine Zukunft strebte, der den engen Grenzen einer pietistischen Umgebung entweichen wollte, der aus dieser Umgebung zum Rebellen geradezu geboren wurde und Erfolg aus der selben Kraft schöpfte, die ihn rebellieren ließ. Diese Kraft ließ ihn aber auch sein individuelles Scheitern ertragen, in diesem Umfeld, das bisweilen zu stark für ihn war.

Rio Reiser gehörte zu den handverlesenen Intellektuellen seiner Zeit, die Karl-Philipp Moritz und seinen Gedanken zu dessen Epoche und deren besonderen Zwängen näher getreten waren. “Rebell” – das ist die treffende Bezeichnung für ihn. Abseits der immer wieder herunter gebeteten verurteilenden Stereotype, die ihn gern auch heute noch in die Nähe von Gewalt und revoluzzend-zerstörerischen Ambitionen stellen. Ja, er konnte in seinen Texten und in seinem realen Leben auch mal um sich rüpeln. Aber ihn auf solche Einzelfälle zu reduzieren, wird ihm ebenso wenig gerecht, wie ihn auf die Textzeile “… macht kaputt, was euch kaputt macht …” einzudampfen. Auch sollte man sein Lebenswerk nicht nur unter der Zeile „Rio, König von Deutschland“ in Erinnerung bewahren.

Die Deutsch-Rock-Band, deren Frontman er war, “Ton, Steine, Scherben” in der Exegese ihres Namens in die Nähe von Trümmern zu rücken, die nach einem revolutionären Akt übrig bleiben, ist auch völlig blödsinnig. Eine Herkunftsanalyse des Namens besagt, dass Heinrich Schliemann beim Ausheben von Troja Pate stand (“Was ich fand, waren nur Ton, Steine, Scherben.”) Eine andere Version entlehnt den Bandnamen einer alternativen Antwort auf die damalige IG Bau, Steine, Erden, was auch recht wahrscheinlich klingt.

Nun balgen sich völlig unterschiedliche Unterströmungen seit langem darum, ob Rio eine nennenswerte Bedeutung für die bundesdeutsche Nachkriegskultur hatte oder nicht, oder ob er sogar eher schädlich für sie gewesen sein könnte. Sagen wir es so: Das Schädlichste für die abendländische Nachkriegskultur war stets die reichsdeutsche Vorkriegszeit (so um die 12 Jahre während) und deren Nachbeben, die bis heute ihre Ausschläge auf einer nach oben hin offenen Richter-Skala hinterlassen. Und die kamen nicht von einer politischen Linken. Die seismischen Quellen waren woanders zu verorten.

Und daher meine, wenn auch sehr persönliche Einschätzung: Rio Reiser war nicht nur wesentlicher Teil eines kulturellen und gesellschaftlichen Fortschritts, er war nicht nur ein bedeutender Faktor in der modernen deutschen Musik, er war nicht nur ein kluger und facettenreicher Poet, Künstler, Sänger – Rio Reiser war in Europa so etwas wie der Bob Dylan einer Generation, die für sich Hirnselbsständigkeit erzwang, wenn versucht wurde, ihnen diese zu verweigern. Und das ist mehr als mancher Denker, mancher Dichter und fast alle Lenker dieses Landes in der Vergangenheit zu Wege gebracht haben.

Vielleicht fehlt dem Deutschland von heute, das Pegida und AfD-Populismus als akut beklagt, vielleicht fehlt ganz Europa, das Phantomschmerzen aus sogenannter „Islamisierung“ beklagt, vielleicht fehlt aber auch dem Europa, das die Terroropfer von Paris betrauert, heute eine wuchtige Stimme wie die von Rio Reiser. Sie war wahrlich nicht traumschön. Das war Bob Dylans Stimme auch nie. Aber Rio rüttelte unverdrossen wie Dylan an der Engstirnigkeit der Gesellschaft.

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Bands, die von den „Scherben“ erben – sehenswerter Kinofilm „Der Traum ist aus“

Von Bernd Berke

Sie waren hart, sie waren politisch plakativ – und ihr Sänger Rio Reiser hatte wohl mehr Charisma als zwei Grönemeyers oder zwanzig Petrys: „Ton Steine Scherben“ war seit den späten 60ern eine der besten deutschen Rock-Bands. Viele haben sie mit den Rolling Stones verglichen.

Thomas Schuchs Kinofilm „Der Traum ist aus“ verfolgt in etlichen Konzertmitschnitten und Gesprächen jene Traditionslinie, die von den „Scherben“ ausgeht und sich bis heute fruchtbar verzweigt. Freilich sind auch zeitbedingte Brüche nicht zu übersehen. Heute brüllt keiner mehr mit dem Furor des (1996 gestorbenen) Rio Reiser heftige Hass-Zeilen wie „Macht kaputt, was euch kaputt macht“. Es waren damals authentische Texte, doch Ehrlichkeit klingt heute anders.

Einige der stärksten deutschen Gruppen beziehen sich jetzt mehr oder weniger deutlich aufs Vorbild. Teilweise gibt es direkte personelle Verbindungen; andere hörten mit flatternden Ohren und pochendem Puls den Power-Sound der Rebellion, den sie nicht mehr vergessen haben. Nachdenkliche „Erben der Scherben“ (Untertitel des Films) kommen hier zu Wort: Leute von „Element of Crime“, „Die Sterne“, „Tocotronic“, „Britta“, „Dritte Wahl“, „Neues Glas“ usw.

Überwintern zwischen Hoffen und Bangen

Manche streben vor allem nach dem druckvollen Vortrag der Vorläufer, andere hegen zudem noch sozialistische Rest-Zuversicht, wieder andere wähnen sich im postmodernen Niemandsland. Hier und da ist Resignation zu spüren, sozusagen der Widerspenstigen Lähmung. Eine Szene also, die gleichsam überwintert zwischen Hoffen und Bangen, zwischen innigem Nachglühen und Anflügen von Blasiertheit.

Das Zeit-Panorama beginnt mit dem radikalen 68er-Umfeld von „Ton Steine Scherben“. Damals ging etwa ein wilder Linker mitten in einer TV-Diskussion mit der Axt auf den Studiotisch los. Da gab’s echte Scherben. Solche Anarchos hätten es Rio Reiser & Co. nie verziehen, wenn die bei einer konventionellen Plattenfîrma Profit gemacht hätten. ( Also rockten und hungerten die Jungs sich anfangs durch, spielten oft für Stullen.

Zeittypisch auch die Landkommunen-Phase der „Scherben“ um 1977, ein freischwebendes Lebens-Experiment sowohl im Vorfeld der Grünen als auch der Punks. Sexuelle Libertinage war Inbegriffen. Doch mit Schlüsselloch-Blicken hält sich der Regisseur nicht auf. Durch kluge Zusammenstellung gelingt es ihm, akute Bruchlinien im linken (Selbst)-Bewusstsein aufzuspüren. Und die Songs im Film sind klasse, ob von Rio selbst oder seinen „Nachfahren“. Gut, dass es eine Indigo-CD mit dem Soundtrack gibt.

Ab heute in einigen Programmkinos, z. B. „Roxy“ in Dortmund (22.45 Uhr).