Festival Klangvokal in Dortmund: Musikalische Schätze und Raritäten aus acht Jahrhunderten für die menschliche Stimme

Bei so manchem Festival wird das Blaue vom Himmel versprochen – und der Horizont bleibt dann doch grau. Beim Dortmunder „Klangvokal“, seit der Gründung geleitet von Torsten Mosgraber, ist das anders: Die zehnte Ausgabe mit dem Thema „Auf Schatzsuche“ löst tatsächlich den Anspruch ein, aus dem reichen Spektrum der Musik für eine, mehrere oder viele menschliche Stimmen ein paar ungewöhnliche Farben nach vorne zu spielen. Vom 11. Mai bis 10. Juni 2018 lässt sich bei 23 Veranstaltungen die Vokalmusik der letzten 800 Jahre durchstreifen. Dabei kommen nicht nur Klassik-, sondern auch Crossover- und Weltmusik-Fans auf ihre Kosten.

Dirigent, Komponist und Organist: Wayne Marshall. © Wayne Marshall

Dirigent, Komponist und Organist: Wayne Marshall. © Wayne Marshall

Die Eröffnung am Freitag, 11. Mai steht im Zeichen des 100. Geburtstags von Leonard Bernstein. Wayne Marshall, Komponist, Dirigent und Organist, steht am Pult seines WDR Funkhausorchesters und bringt die „Chichester Pslams“ und Bernsteins Erste Sinfonie „Jeremiah“ mit. Der Kammerchor der TU Dortmund und der Philharmonische Chor Essen übernehmen die Partien der Vokalensembles auch in Francis Poulencs „Gloria“ und „The Fruit of Silence“ des lettischen Komponisten Peteris Vasks, geschrieben 2013 auf einen Text von Mutter Teresa.

Monteverdi-Oper rekonstruiert

Eine Rarität erklingt am Freitag, 18. Mai in der Reinoldikirche: Der Philharmonische Chor des Dortmunder Musikvereins und die Dortmunder Philharmoniker führen – gemeinsam mit den renommierten Solisten Eleonore Marguerre (Sopran), Thomas Laske (Bariton) und Uwe Stickert (Tenor) – Jules Massenets Oratorium „Ève“ auf. Am Freitag, 1. Juni mischen sich Alt und Neu auf eine Weise, die so ungewöhnlich wie umstritten ist: Zum ersten Mal erklingt in einer öffentlichen Aufführung im Orchesterzentrum NRW eine rekonstruierende Neukomposition von Claudio Monteverdis Oper „L’Arianna“.

Claudio Monteverdi auf einem Stich aus dem 19. Jahrhundert. Alle Abbildungen des Komponisten sind dem einzigen überlieferten Porträt von Bernardo Strozzi nachempfunden, das im Tiroler Landesmusem Innsbruck hängt.

Claudio Monteverdi auf einem Stich aus dem 19. Jahrhundert. Alle Abbildungen des Komponisten sind dem einzigen überlieferten Porträt von Bernardo Strozzi nachempfunden, das im Tiroler Landesmusem Innsbruck hängt.

Claudio Cavina, italienischer Countertenor und Experte für Alte Musik, wollte nicht warten, bis vielleicht eines Tages die Originalpartitur Monteverdis in einer verschlossenen Bibliothek oder einem vernachlässigten Archiv auftauchen könnte, und hat sich auf der Basis eines tiefgründigen Wissens um Kompositionsweise und Aufführungspraxis des 17. Jahrhunderts an eine musikalische Ausformung gemacht, die er selbst allerdings nur ungern als „Komposition“ bezeichnet.

Ausgehend von Ottavio Rinuccinis Libretto, dem erhaltenen berühmten „Lamento“ aus der Oper und Kompositionen wie dem „Ballo delle Ingrate“ hat er selbst Musik im Geiste Monteverdis geschrieben. Die Aufführung mit Cavinas Ensemble La Venexiana, die „L’Arianna“ bereits 2015 in Venedig erstmals gespielt haben, umfasst in etwa 100 Minuten die acht Szenen plus einen Prolog der ursprünglichen Oper. Davide Pozzi leitet das Ensemble und elf Solisten.

Geschichte der Büßerin Maria Magdalena

„Echten“ Barock gibt es dann am Sonntag, 10. Juni in St. Reinoldi zu hören: Das Ensemble Le Banquet Céleste gastiert unter Damien Guillon mit einem der mindestens 43 Oratorien des in Wien gestorbenen Venezianers Antonio Caldara. „La Maddalena ai piedi di Cristo“, wohl um 1700 für Rom geschrieben, thematisiert in einem allegorischen Spiel um die irdische und himmlische Liebe die Geschichte der Büßerin Maria Magdalena auf der Basis des Lukas-Evangeliums.

Auf dem Weg zum Weltstar: Marina Rebeka singt in Dortmund in Verdis "Giovanna d'Arco". ©Janis Deinats

Auf dem Weg zum Weltstar: Marina Rebeka singt in Dortmund in Verdis „Giovanna d’Arco“. ©Janis Deinats

Auch die Oper kommt wieder zu ihrem Recht: Mit der Sopranistin Marina Rebeka, in New York als „Norma“ und Mathilde in Rossinis „Guillaume Tell“ gefeiert, und dem aufstrebenden Bariton Baurzhan Anderzhanov aus Essen erklingt am Sonntag, 27. Mai im Konzerthaus „Giovanna d’Arco“, ein früher verschmähtes Werk aus Giuseppe Verdis mittlerer Schaffensperiode, das in den letzten Jahren etwa durch Aufführungen in Salzburg (mit Anna Netrebko), aber auch durch szenische Produktionen in Bonn und Bielefeld neu entdeckt wurde. Daniele Callegari dirigiert das WDR Funkhausorchester Köln, es singt der LandesJugendChor Nordrhein-Westfalen.

„Gänsehaut-Musik“ aus Belgien

Die Vielfalt der Chormusik durch die Jahrhunderte setzen Ensembles aus Großbritannien, Estland und Tschechien präsent. Oder aus Belgien: Dem 2004 von Lionel Meunier gegründeten Ensemble Vox Luminis wird etwa von Bayerischen Rundfunk bescheinigt, „Gänsehaut-Musik“ zu machen. Am Samstag, 12. Mai singt der Chor in der Marienkirche Motetten der Bach-Familie aus dem 17./18. Jahrhundert, darunter unbekannte „Bäche“ wie Johann Christoph oder Johann Ludwig, dem Vetter Johann Sebastians, der in Meiningen als Kapellmeister wirkte.

Der Estnische Philharmonische Kammerchor singt am Sonntag, 20. Mai in der St. Nicolaikirche A-cappella-Chormusik von Arvo Pärt, Cyrillus Kreek und Veljo Tormis. Mit einem so raren wie erlesenen Programm kommen das Ensemble Clematis und der Choeur de Chambre aus Namur am Samstag, 26. Mai in die Maschinenhalle von Zeche Zollern. Unter Leonardo García Alarcón öffnet der Chor die Welt der barocken geistlichen Musik der iberischen Halbinsel und greift auch in die „Neue Welt“ aus, wo Komponisten an Kathedralen oder in Jesuitenreduktionen tätig waren. Tomás Luis de Victoria ist noch der bekannteste von ihnen, aber von Juan de Araujo, der in Lima (Peru) und an anderen lateinamerikanischen Bischofskirchen wirkte, von Matheo Romero, Kaplan mehrerer gekrönter Häupter, oder von Mateu Fletxa et Vell, dem Musiklehrer der Töchter Kaiser Karls V., haben selbst Spezialisten noch kaum etwas gehört.

Rund 150 Chöre beim Fest in der Innenstadt

Zu den ältesten Wurzeln geistlicher Musik dringt am Dienstag, 29. Mai in der Marienkirche das Ensemble Tiburtina mit Musik von Hildegard von Bingen vor. Aus England und Spanien kommt die Musik, die The Tallis Scholars am Samstag, 9. Juni in der Propsteikirche singen. Und nicht zu vergessen ist das 10. Fest der Chöre am Samstag, 2. Juni, bei dem zwischen 10 und 22 Uhr rund 150 Chöre in der Dortmunder Innenstadt ihr Können dem Publikum präsentieren.

Freunde der Weltmusik können sich auf die Argentinierin Lily Dahab (Sonntag, 13. Mai), das Ensemble Saz’Iso aus Albanien (Samstag, 19. Mai), auf portugiesischen Fado mit Gisela João am Freitag, 25. Mai und auf Yorkstone Thorne Khan am Donnerstag, 7. Juni freuen, die britischen Folk und indische Musik miteinander verbinden.

Infos und Karten: www.klangvokal-dortmund.de




Das Fundament zur Musik: Dortmunder Festival „Klangvokal“ präsentiert die Vielfalt des Singens

Bild: Festival Klangvokal Dortmund

Titelmotiv des Programmbuchs (Bild: Festival Klangvokal Dortmund)

Georg Philipp Telemann, vor 250 Jahren in Hamburg verstorben, prägte einen berühmten Satz. Singen, so schreibt er in einem Brief an Johann Mattheson, sei „das Fundament zur Musik in allen Dingen“. Komponisten wie Instrumentalisten sollten des Singens kundig sein. „Also präge man das Singen jungen Leuten fleißig ein“.

So gesehen, müsste Dortmund eine der musikalischsten Städte in Deutschland sein, denn hier wird eifrig gesungen: Rund 300 Chöre und Vokalensembles soll es in der Stadt und ihrem Umfeld geben – und 130 von ihnen lassen zum neunten Mal beim „Fest der Chöre“ zwischen St. Reinoldi und St. Petri lebendig erleben, welche Vielfalt des gemeinsamen Singens möglich ist: vom diffizilen Chorsatz bis zum kraftvollen Volkslied, vom Gospel bis zum Shanty, von liturgischem Gesang bis zum Popsong. Am Samstag (17. Juni) also wird es in der Dortmunder Innenstadt an allen Ecken und Enden klingen, beginnend mit dem gemeinsamen Singen um 12 Uhr auf dem Alten Markt, ein Ereignis, das in den vergangenen Jahren stets Tausende von Besuchern angezogen hat.

Weit über die Grenzen hinaus

Das Chorfest ist Teil des ehrgeizigen Festivals „Klangvokal“, das seit 2009 immer wieder für künstlerische Höhepunkte gesorgt hat – man denke allein an die Deutsche Erstaufführung der Urfassung von Giacomo Puccinis früher Oper „Edgar“ oder an Franz Schmidts monumentales Oratorium „Das Buch mit sieben Siegeln“ im letzten Jahr. Das Musikfest hat aber auch den Blick geweitet über Grenzen der Gattungen, der Länder und der Kontinente hinaus: Wie singen die Menschen in Aserbeidschan oder in Zypern?

In diesem Jahr steht von 28. Mai bis 25. Juni in 20 Veranstaltungen so etwas wie eine Selbstvergewisserung an: Wie klingt eigentlich die „Heimat Europa“? Wie verändert sich Vokalmusik im Lauf der Jahrhunderte? Was nimmt sie an Einflüssen in sich auf? Wie sieht die Zukunft des Singens aus zwischen technisch perfektem, ausziseliertem Belcanto und vulgär deklamiertem Rap?

Enorm hoher Anspruch

Festival-Direktor Torsten Mosgraber hängt den Anspruch hoch: „Mit dem Thema ‚Heimat Europa‘ begleitet das Klangvokal Musikfestival Dortmund den aktuellen Diskurs um die Zukunft auf unserem Kontinent und belebt ihn mit vokalmusikalischen Kostbarkeiten vom 14. Jahrhundert bis heute.“ Wenn das nicht nur wohlfeiler Marketing-Sprech bleiben soll, hat sich das Festival-Team einiges vorgenommen.

Lawrence Brownlee, einer der führenden Rossini-Tenöre der Gegenwart. Foto: Derek Blanks

Lawrence Brownlee, einer der führenden Rossini-Tenöre der Gegenwart. (Foto: Derek Blanks)

Das Programm, wenn man es so lesen will, behauptet zunächst den klassischen Belcanto als Ausgangspunkt des Singens: Bei der Eröffnung am Sonntag (28. Mai) wird mit Gioacchino Rossini einer der Komponisten zu Klang gebracht, der noch die verfeinerte Kunst des Singens aus dem 18. Jahrhundert geschätzt und ins nächste Jahrhundert gerettet hat, gleichzeitig aber mit einer neuen Epoche unmittelbarerer Emotionalität und mit veränderten technischen Möglichkeiten konfrontiert war. Seine Oper „Le Comte Ory“ steht als ironisch blitzendes Juwel am Ende der Ära des Ziergesangs. Mit Lawrence Brownlee – flankiert von Sängerinnen wie Jessica Pratt oder Stella Grigorian, die in der Vokalkunst einen Namen haben – erwartet ein Virtuose des kunstreichen Rossini-Gesangs im Dortmunder Konzerthaus sein Publikum.

Der Opernkunst huldigen

Die Oper mag man als Mekka des Gesangs ansehen, und ihrer heiligen Kunst wird reichlich gehuldigt: Antonio Vivaldis Pasticcio „Il Tamerlano“ – auch bekannt als „Bajazet“ – kommt am 2. Juni zur Aufführung, Henry Purcells „King Arthur“ am 24. Juni. Mit Georg Friedrich Händels „Acis und Galathea“ kehren am 10. Juni das mit hervorragenden Sängern und Instrumentalisten besetzte Collegium Marianum und die Puppenspieler von „Buchty a loutky“ aus Prag nach Dortmund zurück, um Händels „Masque“ zu spielen.

Mit Edward Elgars „The Dream of Gerontius“ steht am Pfingstmontag (5. Juni) in der Reinoldikirche ein Hauptwerk des englischen Chorgesangs auf dem Programm. Der Philharmonische Chor des Dortmunder Musikvereins und die Dortmunder Philharmoniker realisieren unter Leitung von Granville Walker Elgars klangüppige Vertonung eines Poems von Kardinal John Henry Newman. Ein – immerhin gläubiger – „Jedermann“ steht vor dem Sterben und beschreitet nach seinem Tod einen Weg jenseits von Raum und Zeit, der ihn durch die klanglichen Welten von Engeln und Dämonen vor das Gericht Gottes und mit der Verheißung der Erlösung ins Purgatorium führt, die jenseitige Reinigungsstätte, die in der katholischen Tradition als Fegefeuer bezeichnet wird. Das Werk hat übrigens nach einer desaströsen Uraufführung unter Hans Richter in Birmingham seinen Siegeszug mit zwei Aufführungen in Düsseldorf 1901 und 1902 angetreten. Heute gilt es vielen als Hauptwerk von Elgars vokalem Schaffen.

Chormusik durch die Jahrhunderte

Chormusik vom 14. Jahrhundert bis zur Gegenwart ist bei weiteren sechs Konzerten zu hören, etwa am Pfingstsonntag (4. Juni) in der Nicolaikirche mit dem Chor des Lettischen Rundfunks und dem Großen Abend- und Morgenlob op. 37 von Sergej Rachmaninow, einem monumentalen Gipfelwerk der russischen liturgischen Musik. Oder am Freitag, 9. Juni in St. Bonifatius, wo das französische Ensemble Correspondances unter Sébastien Daucé Barockmusik des 17. Jahrhunderts singt. Die Schola Gregoriana Pragensis stellt am Dienstag (13. Juni) in der Marienkirche geistliche Gesänge, aber auch weltliche Chansons der Zeit Kaiser Karls IV. vor. Und an Fronleichnam (15. Juni) verweist Frieder Bernius mit Kammerchor und Barockorchester Stuttgart zwei Kantaten vor, die Johann Sebastian Bach zur Feier des Reformationsfestes geschrieben hat und die in diesem Jahr an den Beginn der konfessionellen Umwälzungen vor 500 Jahren erinnern.

Soul, Blues, Pop: China Moses, Tochter der Jazz-Sängerin Dee Dee Bridgewater, präsentiert ihr neues Programm „Nightintales“ am Donnerstag (1. Juni) im „Domicil“, die international erfolgreiche polnische Sängerin Anna Maria Jopek kommt mit ihrem Quartett am Donnerstag, 22. Juni, ebenfalls in dieses Dortmunder Forum für aktuelle Musikrichtungen.

Das Dortmunder Konzerthaus. (Foto: Häußner)

Auch Bespaßung gehört dazu

Wer’s mag, wird sich am 18. Juni einen Sonntagnachmittag im Konzerthaus gönnen und an den Lippen der zum „Opernvulkan“ stilisierten Simone Kermes hängen, die sich nicht zu schade ist, die Wahnsinnsszene aus Gaetano Donizettis „Lucia di Lammermoor“ in eine Reihe mit Schlagern und Filmsongs zu stellen und sich dabei vom „bekanntesten Protagonisten des deutschen Schlagers“, Roland Kaiser, assistieren zu lassen. Die Neue Philharmonie Westfalen hat die dankbare Aufgabe der Begleitung übernommen, der Mann oder die Frau am Pult ist noch nicht bekannt. Zur Vielfalt des Singens und zur Heimat Europa gehört eben auch die Art musikalischer Bespaßung, die gemeinhin als besonders populär angesehen wird.

Auf einem originelleren Niveau wird sicherlich der Abschlussabend des Festivals Kurzweil verbreiten: Zarzuelas, die spanische Form unterhaltenden Musiktheaters, laden am Sonntag (25. Juni) auf der Seebühne im Westfalenpark die hoffentlich laue Sommernacht mit feurigen Rhythmen und federleichten Melodien auf. Das WDR Funkhausorchester unter Enrico Delamboye entführt mit dem Flamenco-Gitarristen Santiago Lara und den Sängern María Rey-Joly und Ismael Jordi auf die iberische Halbinsel, wo Zarzuelas nach wie vor gerne gespielt und von allen großen einheimischen Gesangsstars hingebungsvoll gesungen werden.

Karten: Tel. 0231 / 50 299 96 – Internet: www.klangvokal-dortmund.de

 




„Grenzen soll man überschreiten“ – Gespräch mit „Klangvokal“-Chef Torsten Mosgraber

Mit dem 8. „Fest der Chöre“ steuert das Dortmunder Musikfestival Klangvokal an diesem Samstag (4. Juni) auf seinen besonders publikumswirksamen Gipfel zu. 140 Chöre mit rund 4000 Sängerinnen und Sängern treten in der gesamten Dortmunder Innenstadt auf.
Hier ein Gespräch mit dem Klangvokal-Direktor Torsten Mosgraber über Konzept und Zukunftspläne des Festivals, das vor allem Grenzbereiche zwischen verschiedenen Musikrichtungen auslotet:

Klangvokal-Direktor Torsten Mosgraber (© Jan Schürmann)

Klangvokal-Direktor Torsten Mosgraber (© Jan Schürmann)

Revierpassagen: Denkt man ans Konzerthaus, an die Oper, die Chorakademie, das Orchesterzentrum und nicht zuletzt an Ihr Festival, so muss man Dortmund inzwischen wohl als Musikstadt bezeichnen, oder?

Torsten Mosgraber: Auf jeden Fall. Hinzu kommen domicil, FZW, künftig die neue Pop-Halle auf dem Phoenix-Gelände, Veranstaltungen wie Juicy Beats und Mayday. Es ist sehr wichtig für eine Stadt, so ein ausgeglichenes Musikleben zu haben und Akzente in den unterschiedlichsten Bereichen zu setzen. Gerade in den letzten zehn Jahren hat sich hier vieles zum Guten entwickelt. Das Konzerthaus nimmt eine exzellente Entwicklung, die Oper hat jetzt wieder bessere Besucherzahlen, auch die Philharmoniker haben mehr Publikum als zuvor.

Große Gesangstradition der Stadt

Revierpassagen: Klangvokal hatte 2009 Premiere. Jetzt sind Sie beim 8. Festival angelangt. Wie ist das Konzept entstanden?

Mosgraber: Ich hatte das Glück, das Festival von Anfang an entwickeln zu können. 2010 war ja Dortmund als Teil des Ruhrgebiets Kulturhauptstadt Europas. In diesem Zusammenhang hat der Kulturdezernent Jörg Stüdemann mich gefragt: Was können wir hier Neues entwickeln? Ich bin dann sehr schnell auf die Gesangstradition in Dortmund gestoßen, zu der Bergmanns-Chöre und andere Chöre beigetragen haben. Diese Tradition wird bis heute wunderbar fortgeführt. Daher auch das „Fest der Chöre“ als Herzstück des Festivals.
Doch die Idee reicht weiter. Wir haben das erste Festival gegründet, das Vokalmusik aller Arten zusammenführt – von der Oper über hochqualitativen Pop und Jazz bis zur Weltmusik. Auf diese Weise können wir auch unterschiedliches Publikum ansprechen und beispielsweise Jazzfreunde für Klassik begeistern. Oder umgekehrt.

Revierpassagen: Gelingt diese Durchmischung des Publikums?

Mosgraber: Gestern ist die marokkanische Sängerin Hindi Zahra im domicil aufgetreten. Wir hatten ein unglaublich buntes Publikum. Die Künstlerin hat nachher gesagt, eine so tolle Publikumsmischung habe sie noch nie erlebt. Überhaupt sagen viele Künstler, gerade aus den südlichen Ländern: Ihr habt ein wahnsinnig tolles und offenes Publikum bei eurem Festival. Das finden wir europaweit nur ganz selten.

Musikalische Entdeckungsreisen

Revierpassagen: Wie erklären Sie sich diese Offenheit?

Mosgraber: Ich habe früher u. a. in Dresden gearbeitet. Dort ist man vergleichsweise weniger aufgeschlossen, gerade anderen Kulturen gegenüber. Das ist das Aufregende an Dortmund, dass es sich mit Einwohnern aus über 140 Nationen sehr weltoffen zeigt.
Wir erreichen mit unserem ungewöhnlichen Ansatz ein Publikum, das sich gemeinsam mit dem Festival weiter entwickelt hat.
Künstler und Publikum gehen gemeinsam auf musikalische Entdeckungsreisen. Irgendwann sind die Leute dann auch in Konzerte gegangen, um sich einfach überraschen zu lassen. Sie sind neugierig und hören sehr konzentriert zu. Das ist heute nicht mehr selbstverständlich.
Mir war übrigens auch immer wichtig, dass wir nicht gleich zu radikal werden. Die Kommunikation mit dem Publikum darf nicht abreißen. Und es ist wichtig, dass wir unsere moderaten Kartenpreise halten können.

Screenshot der "Klangvokal"-Homepage (© Klangvokal)

Screenshot der „Klangvokal“-Homepage (© Klangvokal)

Neue Spielstätten erschlossen

Revierpassagen: Das Festival hat sich also im Laufe der Jahre verändert?

Mosgraber: Ja. Nicht nur, was das Publikum anbetrifft. Wir haben nach und nach auch neue Spielstätten einbezogen, zum Beispiel mehrere Innenstadt-Kirchen. In Zukunft wollen wir weitere Orte bespielen, vor allem in den Dortmunder Außenbezirken. Wir wollen damit auch zeigen, wie viele Facetten diese Stadt hat.
Es ist mir generell wichtig, dass wir uns immer weiter entwickeln und nicht stehen bleiben. Auch musikalisch wollen wir immer wieder Neues erkunden.

Revierpassagen: Das alles setzt auch eine gewisse finanzielle Ausstattung voraus.

Mosgraber: Wir sind gerade in Gesprächen über die kommenden Jahre. Seit 2014 hatten wir eine relativ konstante Förderung. Jetzt müssen wir mit der Politik zusammen schauen, wie es weiter geht. Die Finanzen sind – wie in allen anderen Bereichen – sehr, sehr knapp.
Fest steht: Klangvokal ist längst ein fester Bestandteil des kulturellen und sozialen Lebens dieser Stadt. Und es ist ein Werbefaktor für Dortmund.

Besucher aus Berlin und Hamburg

Revierpassagen: Wie sehen Sie Klangvokal im kulturellen Zusammenhang des Ruhrgebiets, etwa mit ebenfalls grenzgängerischen Festivals wie der RuhrTriennale, den Jazztagen in Moers usw.

Mosgraber: Es gibt recht wenige Überschneidungen mit anderen Festivals. Wir hatten einige Künstler, die danach bei der RuhrTriennale aufgetreten sind. Insofern gibt es auch gewisse Verbindungen.
Grundsätzlich aber versuchen wir, etwas Eigenes, Individuelles zu entwickeln und damit auch ein Publikum anzuziehen, das – wie bei RuhrTriennale und Ruhrfestspielen – durchaus nicht nur aus der Region kommt. Wir haben immer wieder Besucher aus den Niederlanden und Belgien. Bei manchen Konzerten reisen nicht wenige Leute aus Berlin, Hamburg oder München an. Ansonsten kommen die meisten unserer Besucher aus einem Radius von 50 Kilometern rings um Dortmund.

Monteverdi trifft Gospel und Blues

Revierpassagen: Welche kommenden Klangvokal-Termine liegen Ihnen besonders am Herzen?

Mosgraber: Wir haben einige Projekte entwickelt, bei denen es um Dialoge verschiedener Musikrichtungen geht, so auch heute (Freitag, 3. Juni, 20 Uhr im domicil, Hansastraße – d. Red.), wenn die Popsängerin Mine und das Berliner Barockensemble Lautten Compagney ein Monteverdi-Programm gestalten – eine sehr spannende Konstellation.
Am Sonntag (5. Juni, 19.30 Uhr, Orchesterzentrum, d. Red.) gastiert das Ensemble Matheus aus Frankreich. Sie kombinieren Monteverdi mit traditioneller Musik des Mittelmeer-Raumes, außerdem mit Gospel und Blues. Klingt zunächst ein bisschen verrückt. Aber genau solche Begegnungen liegen mir am Herzen. Man kann und soll Grenzen überschreiten.
Das Motto unseres Festivals lautet ja auch „grenzenlos“. Es geht vorwiegend, aber eben nicht nur um musikalische Grenzen, sondern auch um Grenzen zwischen den Kulturen. Damit gewinnt das Festival gesellschaftliche Relevanz. Auch in diesem Sinne ist es gut, dass wir diesmal zum Beispiel Künstler aus Aserbaidschan und dem Iran im Programm haben.

Das Wetter im Blick behalten

Revierpassagen: Die Wetterlage verheißt allerdings nicht nur Gutes für eine Freiluftveranstaltung wie das „Fest der Chöre“.

Mosgraber: Wir haben einige Vorsichtsmaßnahmen ergriffen. So steht die Kinderbühne nicht mehr unter freiem Himmel, sondern zieht kurzfristig in die Rathaushalle um. Falls es Gewitter gibt, werden die Open-Air-Bühnen unverzüglich geräumt.

Revierpassagen: Apropos. Wegen des Wetters fällt am Wochenende im Westfalenpark das A-cappella-Festival komplett aus, an dem Sie ebenfalls organisatorisch beteiligt sind.

Mosgraber: Ja, das war eine schwierige Entscheidung, aber die Wetterberichte besagen, dass es dort gefährlich werden könnte. Und die Sicherheit geht natürlich vor. Wir holen das Festival am 8. und 10. Juli nach. Nur die „Wise Guys“ können dann nicht dabei sein.

Beruhigt in die City kommen

Revierpassagen: Ganz leidiges Thema: In Dortmund kommt es an diesem Samstag zu einer Neonazi-Demo, zu der Rechtsradikale aus ganz Deutschland anreisen. Wird das „Fest der Chöre“ dadurch beeinträchtigt?

Mosgraber: Ich habe gerade eben die Information erhalten, dass hauptsächlich die westliche Innenstadt („Unionviertel“, d. Red.), Dorstfeld und Huckarde betroffen sein werden. Wir hatten viele Vorgespräche mit der Polizei und fühlen uns sehr gut geschützt und unterstützt. Die Menschen können beruhigt zum „Fest der Chöre“ in die Innenstadt kommen.

Festival-Infos / Karten: www.klangvokal.de




Wachstum möglich: Dortmunder „Klangvokal“-Fest erstmals auf sicherem Grund

Die israelische Sängerin Yasmin Levy zählt zu den "Klangvokal"-Gästen in Dortmund. Foto: Klangvokal

Wer die Pressemappe aufschlägt, sieht ein Tütchen „Gelbe Riesen“ vor sich. Sonnenblumen-Saatgut ist drin, wohl als sinnfälliges Symbol für Wachstum, letzthin fürs strahlend-duftige Sommergefühl. Ganz so wie das Bild auf dem Flyer des Dortmunder „Klangvokal“-Festivals. Blauer Himmel, ein gelbes Blütenmeer, eine Dame in Weiß: Das Programmheftchen, das den musikalischen Veranstaltungsreigen für 2012 unter dem Titel „Begegnungen“ auflistet, mag also für Optimismus im Dienste der Kunst stehen.

Dazu besteht derweil wieder Anlass. „Klangvokal“, die Verbeugung vor dem Facettenreichtum der menschlichen Stimme in Oper, Oratorium, Weltmusik und Jazz, prägt seit 2009 das Kulturleben der westfälischen Metropole. Anfangs war das Festival finanziell einigermaßen üppig ausgestattet, doch setzte die Stadt sehr schnell die Sparschraube an. Am Ende des Kulturhauptstadtjahrs (2010) war nicht sicher, ob das Festival weiter existieren kann. Quasi in letzter Minute schuf der Rat eine tragfähige Finanzgrundlage.

Nun aber haben sich die Politiker dazu entschlossen, den städtischen Zuschuss für 2012 bis 2014 zu garantieren. Das sind in diesem Jahr 330 000 Euro, in den nächsten beiden Jahren indes jeweils 10 Prozent weniger. Und dennoch: „Klangvokal“-Intendant Torsten Mosgraber ist froh, endlich Planungssicherheit zu haben. „Viele berühmte Künstler kann man nur weit im Voraus verpflichten“, weiß er um die Bedingungen des internationalen Konzertlebens.

Zum städtischen Zuschuss kommen weitere Mittel, die der Freundeskreis gibt, lokale Sponsoren beisteuern und die sich inclusive des Kartenverkaufs-Erlöses auf 270 000 Euro summieren sollen. Mosgraber sieht auch hier optimistisch nach vorn: Der Zuschauer-Zuspruch habe sich inzwischen bei gut 70 000 eingependelt. Auf jeden Fall können die Besucher in diesem Jahr (vom 16. Mai bis zum 3. Juni) 26 Konzerte an elf Spielstätten genießen. Mit im Boot sind etwa der Jazzclub Domicil, Theater und Konzerthaus Dortmund sowie diverse Kirchen.

Die hohe Publikumszahl erklärt sich vor allem daraus, dass der Kern des Festivals das (nunmehr vierte) Fest der Chöre ist. Dann ist jeder eingeladen, die Dortmunder Innenstadt singend zu beleben. Hinzu kommt in diesem Jahr der 6. Internationale Gospelkirchentag, mit einer gewissermaßen aufgefächerten Großveranstaltung auf 35 verschiedenen Podien. Und das Galakonzert mit der a-cappella-Formation „Wise Guys“ in der großen Westfalenhalle dürfte ebenfalls Zulauf finden.

Den Reiz des Festivals machen aber jenseits allen Gesangsspektakels außergewöhnliche Weltmusik- oder Jazzabende aus. Und eben jene Begegnungen, die in ihren Kontrasten für Spannung sorgen sollen. Etwa das Eröffnungskonzert, in dem Händels „Israel in Ägypten“ auf Musik des vorderen Orients trifft – mit dem Barockensemble „L’arte del mondo“ und irakisch-jüdischen Musikern.

Für den Jazz mögen hier der Amerikaner Kurt Elling und die Dänin Caroline Henderson stehen, für die Weltmusik die Sängerin Angelique Kidjo aus Benin oder der südafrikanische a-cappella-Chor „Ladysmith Black Mambazo“. Das Abschlusskonzert wiederum mit Vivaldis Oper „Juditha Triumphans“ gestalten neben dem Sinfonischen Chor der Chorakademie Dortmund die Accademia Bizantinia unter Leitung von Ottavio Dantone. Die Titelrolle singt die berühmte amerikanische Mezzosopranistin Vivica Genaux.

„Klangvokal“, inzwischen offenbar von Politik und Verwaltung anerkannt als wichtiger Beitrag zur oft propagierten Musikstadt Dortmund, hat also alle Chancen auf Fortbestehen. Daraus muss ja nicht gleich ein Riese erwachsen.

Karten gibt unter Tel.: 01805/570005

http://www.klangvokal-dortmund.de