Toulouse-Lautrec: Brüchige Halbwelt

Henri de Toulouse-Lautrec, soso. Ist da nicht längst alles besehen und alles gesagt?

Nun ja, man wird jetzt auf Schloss Cappenberg schon einige Déjà-vu-Erlebnisse haben, wenn man die zahlreichen Farblithographien aus der Belle Époque betrachtet. Ein minimales Interesse an Kunst vorausgesetzt, kennt man solche und ähnliche Szenerien des brüchigen Luxus und der Moden aus den Pariser Cabarets, Varietés, Bars und Bordellen. Doch beim genauen Hinschauen kann man trotzdem noch spannende Einzelheiten entdecken.

Der bekanntlich kleinwüchsige, nach landläufigen Maßstäben alles andere als wohlgestalte Toulouse-Lautrec war – vermutlich in einer Gemengelage zwischen Anziehung und Abstoßung – fasziniert von den schimmernden, oft trügerisch galanten Halbwelten und brachte sie bildlich auf so manchen, seither stehenden Begriff. Eine von etlichen Inspirationsquellen waren dabei japanische Holzschnitte, natürlich aber auch die Schöpfungen aus dem Umkreis des französischen Impressionismus. Und Vincent van Gogh gehörte zu seinen Studienfreunden…

Toulouse-Lautrec besaß einen wachsam ironischen Blick für verborgene Hässlichkeiten und Absonderlichkeiten im mondänen Getriebe, auch ließ er sich von bloß äußerlicher Eleganz nicht blenden. Allerdings stellte er niemanden bloß, schon gar nicht die ärmeren Menschen, sondern ließ feine Diskretion angesichts erkannter Schwächen walten. Und er wusste wie nur je einer, wie triumphale Momente lockender Weiblichkeit erstrahlen müssen. Einige singende, tanzende und schauspielende Stars des Montmartre hat er erst mit seinen Bildern zu vollem Weltruhm geführt, beispielsweise Jane Avril, Yvette Guilbert und Aristide Bruant.

Allerlei dauerhafte Klischees über das frivole Paris der Kokotten leiten sich aus dieser Ära ab. Diese Langlebigkeit kommt nicht von ungefähr. Geradewegs zwischen freier Hochkunst und (werblicher) Gebrauchsanwendung fanden Toulouse-Lautrec und einige seiner Zeitgenossen gültige bildnerische Strategien und Formulierungen. Intensive Studien hinter den Kulissen der Amüsierbetriebe waren die Voraussetzung fürs Erfassen des Überzeitlichen im sonst so flüchtigen Augenblick. Famos vor allem die intimen, so gar nicht voyeuristischen Skizzen aus dem Bordell unter dem Titel „Elles“ (Sie). Sie zeigen die Huren in ihrem recht gewöhnlichen Alltag – bevor die Freier eintreffen.

Am anderen Endes des Schaffensspektrums sieht man grandios gelungene Werbung, vor allem für Vergnügungs-Etablissements: Schönere Plakate als damals hat es wohl nie wieder gegeben. Zuweilen sprühen sie geradezu im Rausch der Farben und Bewegungen. Doch beileibe nicht alles kommt als schreiende Reklame auf den Betrachter zu. Gerade Toulouse-Lautrec nutzt mitunter sehr delikate und dezente Farben. Zudem findet er frappierend wirksame Lösungen, um Schriften in die Bilder einfließen zu lassen.

Spätere Arbeiten um 1898/99 lassen die persönliche Tragödie des Henri de Toulouse-Lautrec ahnen. Die Bilder sind bei weitem nicht mehr so souverän und stilsicher gefasst wie vordem, der ganze Gestus wirkt fahrig unkontrolliert. Hauptgrund: Er kann vom Alkohol nicht lassen. Die Pariser Weltausstellung anno 1900, auf der einige seiner Bilder gezeigt werden, vermag der Syphilitiker nur noch im Rollstuhl zu besuchen. 1901 stirbt er, gerade einmal 36 Jahre alt.

In Cappenberg sieht man vielfach verschiedene Zustandsphasen der Druckwerke, so dass man teilweise den Werkprozess (und damit die leitenden Absichten) ein wenig nachvollziehen kann. Interessant auch der Ansatz, punktuell einige kaum minder großartige Zeitgenossen (Jules Chéret, Théophile-Alexandre Steinlen, Pierre Bonnard, Alphonse Mucha) neben Toulouse-Lautrec zu präsentieren. Ein wenig mehr Sorgfalt hätte allerdings die Beschriftung der Bilder verdient. Die meisten Titel sind nicht einmal übersetzt. Sapristi!

Henri de Toulouse-Lautrec und die Stars vom Montmartre. Bis 21. Juni. Schloss Cappenberg in Selm (Für auswärtige Unkundige sei’s gesagt: ein wunderschönes Ausflugsziel). Eintritt frei. Kein spezieller Katalog, aber Bücher über das Gesamtwerk von Toulouse-Lautrec (24,90 € bzw. 34,90€) sind vor Ort erhältlich.




Als der Champagner strömte: Münsteraner Picasso-Museum zeigt Plakatkunst von Toulouse-Lautrec und Zeitgenossen

Von Bernd Berke

Münster. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es in Paris eine veritable „Galerie der Straße“. So nannte man die Unzahl der plakatierten Reklamebotschaften, wenn man denn Gefallen an den künstlerischen Ausdrucksformen fand. Wer eher den Stadtreinigungs-Aspekt im Sinne hatte, sprach allerdings despektierlich vom „Plakatwahn“ („Affichomanie“). Um 1890 wurde ein Gesetz gegen wildes Anheften erlassen.

Längst werden ästhetisch ambitionierte Plakate auf dem Kunstmarkt hoch gehandelt. In Münster sind jetzt sozusagen Spitzenprodukte der Zunft zu sehen, sie stammen von Henri de Toulouse-Lautrec und einigen seiner Zeitgenossen. Bis dato hatten Plakate meist nur schwarz-weiße Buchstaben-Botschaften übermittelt. Um 1890 aber gediehen Bildhaftigkeit und Farbrausch.

Die rund 160 Exponate kommen aus 20 europäischen Museen. Toulouse-Lautrec (1864-1901) hat insgesamt 31 Plakate geschaffen, immerhin 25 dieser Motive sind in Münster zu sehen. Im Vergleich mit den durchaus beachtlichen Schöpfungen damaliger Mitbewerber (z. B. des Wegbereiters Jules Chéret oder von Théophile-Alexandre Steinlen) kann man die besonderen Qualitäten Toulouse-Lautrecs ausmachen: die ungeheuer treffsichere Pointierung und auch den Mut zur Drastik. Manche Tänzerin oder Diseuse fühlte sich zunächst von ihm allzu gröblich dargestellt. Trotzdem bekam er die Aufträge, denn keiner war besser.

Plakate erwiesen sich als Medium, in dem momentane, augenblicksschnelle Wirkkräfte der Kunst erprobt werden konnten – auf schmalem Grat zum Kommerz: Die Ausstellung führt zu den berühmten, gelegentlich frivolen Konzertcafés („Moulin Rouge“, „Chat Noir“), sie präsentiert Star-Plakate von damals Jane Avril, La Goulue, Aristide Bruant), unternimmt Streifzüge durch die Produktwerbung (Absinth, Liköre, Lakritzbonbons) und widmet sich gar dem seinerzeit grassierenden „Fahrrad-Wahnsinn“, der von Fußgängern als bedrohlich empfunden wurde.

Schließlich mündet all dies in einen Raum mit Pablo Picassos frühen, von Toulouse-Lautrec angeregten Plakat-Versuchen. Man kann sagen: Es war nicht das angeborene Metier des genialen Spaniers.

Prächtige Stücke sind in Münster zu sehen, so etwa Steinlens prägnante Werbung fürs „Chat Noir“ mit riesiger schwarzer Katze, deren Kopf von einem gotischen Ornament umfangen ist – eine bemerkenswerte Würdeformel.

Toulouse-Lautrec wagte es unterdessen, einen kabarettistischen Auftritt von Aristide Bruant mit dessen markanter Rückenansicht anzukündigen. Bruant, von Haus aus Bahnarbeiter, der auf der Bühne die Bourgeoisie rüde beschimpfte, war davon angetan. Sein Gesicht kannte ohnehin jeder.

Drei Damen wollen endlich ins Lokal

Hinreißend sind jene drei rot gewandeten Damen, die auf Georges Redons Plakat sehnsüchtig die Wiedereröffnung des Lokals Marigny erwarten. Bezaubernd auch das Champagner-Plakat des Mannes, von dem sich Toulouse-Lautrec inspirieren ließ: Der famose Pierre Bonnard erfasst das Strömen und Perlen des Schampus derart Sinnlich, dass man ahnt, warum diese Ära „Belle Epoque“ genannt wird. Die Blondine jedenfalls, die das prickelnde Edelgetränk genießt, schmilzt selig dahin.

„Plakatwahn – Toulouse-Lautrec und die französische Plakatkunst um 1900″. Picasso-Museum Münster, Königsstraße 5. Bis zum 15. Februar 2004. Di-Fr 11-18, Sa/So 10-18 Uhr. Eintritt 5 Euro. Katalog 29,80 Euro.




Im Schattenreich der Lüste – Ausstellungen über Toulouse-Lautrec und Hopper in Bremen

Von Bernd Berke

Bremen. Die Dame hat ihre Lippen ganz leicht gekräuselt und gestülpt. Zeichen einer bloßen Augenblickslaune? Nicht, wenn einer wie Henri de Toulouse-Lautrec hingeschaut hat. Sein Blatt „In den Vierzigern“ fängt den Zustand einer ranzig gewordenen Ehe in der unscheinbaren und doch vielsagenden Mimik eines Moments ein.

234 Lithographien umfaßt die großartige Ausstellung der Kunsthalle Bremen: Da sind sie alle beisammen – die verderbten Königinnen der Nacht, die etwas schäbigen Priesterinnen der Gier, dazu ihre Kunden und Kavaliere, zumeist fettwanstige Wüstlinge. Manche der Frauen wirken, als seien sie – nach vielerlei Ausschweifung – tief in ihrer Seele über alles Weltliche und Männliche erhaben.

Fasziniert und und angewidert

Das Panoptikum der „Pariser Nächte“ zwischen 1890 und 1901 zeigt keineswegs unvermischte Lebensfreude, sondern auch die Schatten der Lüste. Toulouse-Lautrec (1864-1901), der seit Kindheit krüppel- und zwergenhafte Mann, war als teilnehmender Beobachter in den Pariser Etablissements wohl zugleich fasziniert und angewidert vom sündigen Leben.

Um 1890 hatte ToulouseLautrec seinen unverkennbaren Stil längst gefunden. In der Kunsthalle plagt man sich daher nicht mit dem sinnlosen Unterfangen ab, Entwicklungslinien nachzuzeichnen. Man hat die Arbeiten stattdessen nach „Schauplätzen“ gruppiert: Theater- und Chanson-Bühnen, Vergnügungslokale, Bordelle usw.

Die Plakate von Toulouse-Lautrec gehören zum bildlichen Allgemeingut. Angeregt von japanischen Farbholzschnitten, hat der Franzose einen so souveränen Umgang mit menschlichen Silhouetten, formaler Staffelung, entschlossener Linienführung und Schriftzügen erlangt, daß die Wirkung bis heute anhält. Ob er nun Sensationen im „Moulin Rouge“, Auftritte von Größen wie Aristide Bruant und Jane Avril oder Theaterprogramme ankündigt – es sind stets, wenn es so etwas wie Analogie zu Ohrwürmern gäbe, „Augenwürmer“.

Nicht minder herrlich auch die vielen kleineren, oft skizzenhaften Blätter. Sie wirken unterschwellig, aber ebenso nachhaltig. Da ist zum einen das variantenreiche Licht- und Schattenspiel, besonders um die Augenpartien. Umschattete Blicke, rastlos, unbefriedigt, übernächtigt. Toulouse-Lautrec hat die erotischen Strategien der Näherung und der Lockung, aber auch der Abwehr, der Verstoßung und des Verwelkens unglaublich genau eingefangen. Gelegentlich findet er zu großer formaler Kühnheit. So etwa, wenn er eine in Paris gastierende amerikanische Tänzerin „nur“ als furiose Farbwolke darstellt. Der Wirbel mit Seidenschleier wirkt beinahe abstrakt.

Hoppers Denkmäler der Einsamkeit

Wenn man in Bremen ist, sollte man sich keinesfalls eine zweite Ausstellung entgehen lassen: druckgraphische Werke des Amerikaners Edward Hopper (1882-1968) im Kunstforum am Markt. Die Radierungen, Zeichnungen und Aquarelle des mittlerweile sehr populären Hopper stammen aus dem Whitney Museum of American Art.

Starker Kontrast zu Toulouse-Lautrec: Nach dessen bevölkerten Metropolen-Szenen sieht man nun Meer, Weite, Stadtwüste, vereinzelte Menschen. Hier sind die Nächte nicht gleißend, sondern funzelig. „Somewhere in France“ heißt, beinahe programmatisch, ein Bild – irgendwo in Frankreich. In einem solchen „Irgendwo“ verlieren sich Hoppers Figuren immerzu. Bei ihm ist der Mensch mit sich und seinen unerfüllten Sehnsüchten allein, selbst Gebäude wirken wie einsame Monolithen.

Elegischer Hang zum Unerreichbaren findet Ausdruck in ziellosen Passagen, Bootsfahrten in endlose Weite und Bahnstrecken, die ins Nichts zu führen scheinen. Unvergeßlich, wie intensiv Hopper die Körper zu wechselnden Tageszeiten herausmodelliert – wie unumstößliche Denkmäler des Alleinseins:‘

Toulouse-Lautrec: „Pariser Nächte“. Kunsthalle Bremen (Am Wall 207). Bis 22. Januar 1995. Di-So 10-20 Uhr. Eintritt Sa/So 15 DM. Wochentags 12 DM. Katalog 48 DM.

Edward Hopper: „Night Shadows“. Bremen, Kunstforum am Markt (Langenstr. 2 / Nähe Rathaus). Bis 30. November. Di/Mi 10-18, Do 10-21, Fr-So 10-18 Uhr. Eintritt 10 DM.