Dreimal Ina – „Bilder deiner großen Liebe“ von Wolfgang Herrndorf im Prinzregenttheater

Bilder deiner grossen Liebe 3 (c) Sandra Schuck

Von links: Miriam Berger, Johanna Wieking, Linda Bockholt (Foto: Sandra Schuck/Prinzregenttheater)

Als sich die Chance bot, ist sie entwischt: Isa, die es hinter vier Meter hohe Backsteinmauern verschlagen hat. Gründe dafür werden nur angedeutet, „Ich bin verrückt, aber nicht bescheuert“, sagt sie selbstbewusst. Isa ist die Hauptfigur des Stücks „Bilder deiner großen Liebe“, das jetzt seine Premiere im Bochumer Prinzregenttheater erlebte. Gleich drei Schauspielerinnen geben der jungen Frau Stimme und Gestalt, wenn sie auszieht, die Welt jenseits der Anstalt zu ergründen.

Der Autor von „Tschick“

Der Stoff des Stücks stammt von dem 2013 mit 48 Jahren viel zu früh verstorbenen Wolfgang Herrndorf. Robert Koall hat daraus eine Bühnenfassung gemacht, die jetzt zur Aufführung gelangte. Zum Werk Herrndorfs zählen einige unverstellte, klarsichtige, dabei jedoch auch launige Beschreibungen der Lebenswelten jüngerer Erwachsener wie „In Plüschgewittern“. Vor allem jedoch wurde er durch das vielgespielte Außenseiterstück „Tschick“ bekannt, dessen weibliche Hauptfigur Isa wir nun wiederbegegnen.

Bilder deiner grossen Liebe 4 (c) Sandra Schuck

Von links: Linda Bockholt, Miriam Berger, Johanna Wieking (Foto: Sandra Schuck/Prinzregenttheater)

Wenn Isa in dieser Inszenierung (Regie: Frank Weiß) mit Miriam Berger, Linda Bockholt und Johanna Wieking gleich dreifach besetzt ist, dann wohl nicht, um eine psychische Störung („multiple Persönlichkeit“) anzudeuten. Eher wirkt es wie der durchaus gelungen zu nennende Versuch, eine vielschichtige, reflektierte, reiche Persönlichkeit in empathischen Dialogen angemessen zu zeichnen.

Bestimmte charakterliche Eigenschaften sind den drei Darstellerinnen folgerichtig auch nicht zugeordnet, eher wirken sie wie Kinder im heiteren Spiel; nun gut, vielleicht ist Johanna Wieking ein kleines bisschen mehr Isa als die anderen, weil sie auch Isa in der „Tschick“-Produktion des Prinzregenttheaters war und weil sie mit ihrem häufigen großen Lächeln noch etwas mehr Erleben spiegelt als die beiden anderen. Aber alle erzählen sich die Erlebnisse in der Ich-Person.

Alle Drei sind sie auch respektable Musikerinnen, gleich der Opener des Abends ist ein munteres Rock-Geschrammel mit Schlagzeug, Bass und Gitarre. Auch Keyboard und Xylophon erklingen im Laufe des Abends, und außerdem singen sie sehr schön.

Bilder deiner grossen Liebe 5 (c) Sandra Schuck

Von links: Linda Bockholt, Johanna Wieking, Miriam Berger (Foto: Sandra Schuck/Prinzregenttheater)

Auf der Flucht

Die Handlung des Stücks – also das, was Isa in der Freiheit erlebt – bleibt indes Erzählung. Wir erfahren, dass Isa die Scheibe eines Geschäfts einschlug, um an Essen zu kommen, dass sie sich pfiffig und im wahrsten Sinne des Wortes in die Büsche schlug, um nicht eingefangen zu werden, dass sie auf einen Fußballplatz pinkelte, plötzlich das Flutlicht anging, feixende Spieler vor ihr standen, und last not least, dass sie die Psychopillen, die sie heimlich unter der Zunge hielt und nicht herunterschluckte, aufbewahrt hat, weil sie sie manchmal wirklich braucht. Auch wenn der Kopf dann leer und löchrig wird wie ein Sieb.

Schiffer und Räuber

Voller Übermut ist sie auf ein Binnenschiff gesprungen, dessen Steuermann sich Kapitän nannte, obwohl er gar keine Uniform anhatte, der über ihren Besuch in keinster Weise erfreut war, sie an der nächsten Schleuse auf jeden Fall wieder aussetzen wollte. Dann jedoch ließ er sich ausführlich über „Verdränger“ und „Gleiter“ unter den Binnenschiffen aus und erzählte schließlich von einem Bankraub, dessen Täter mit einem „Verdränger“ flüchteten, welcher sank, was den einen der beiden das Leben kostete. Ist der Schiffer der zweite Räuber? Jedenfalls behauptete er es.

Die Welt ist verrückt

Mit einem Schweinelaster ist Isa mitgefahren, hat den Schweinen Wasser gegeben, währen der Fahrer Pinkelpause machte und ihren süßen Arsch lautstark bewunderte, ein toter Förster kreuzte ihren Weg, und überhaupt ist Isas Trip voll von Zumutungen, Ungeheuerlichkeiten und Abgründen, dabei oft banal und geheimnisvoll zugleich. Gewiss ist sie nicht verrückter als die Welt um sie herum, Wolfgang Herrndorfs furioses Roadmovie lässt da keine Zweifel.

Doch mag die Welt auch irre sein – auf der Bühne des Prinzregent-Theaters sind diese anderthalb Stunden mit der verdreifachten Hauptdarstellerin ein großes Vergnügen. Das Publikum zeigte sich erwartungsgemäß begeistert.

 




Vollendet unvollendet: Wolfgang Herrndorfs „Bilder deiner großen Liebe“

Bilder Deinen großen Liebe „Verrückt sein heißt ja auch nur, dass man verrückt ist, und nicht bescheuert.“ Es kommt in Schüben, gegen die man sich nicht wehren kann – „wie Hunger oder Durst, oder wenn man ficken will“. Mit solcher Art Betrachtungen beginnen die „Bilder deiner großen Liebe“.

Ein junges Mädchen stellt diese Betrachtungen an. Sie steht im Hof einer Anstalt, betrachtet die blühenden Blumen, die Sonne am Himmel – das Klischee ist ihr bewusst. Mit dem Daumennagel berührt sie die Sonne, schiebt sie Millimeter um Millimeter zurück. Langsam verschiebt sich auch das Eisentor, welches die Anstalt vom Rest der Welt trennt. Das Mächden, welches eben noch die Sonne berührt hat, huscht hinaus. Sie hat keine Schuhe an, egal.

Sie zieht die Socken auch noch aus und beginnt barfuß ihre Wanderung. An der Autobahn entlang, durch Dörfer, Wiesen und immer wieder durch den Wald, der ihr, seit sie denken kann, ein Freund, ein Trost war. Mehr Freund als die meisten Menschen, denen sie begegnet ist in ihrem Leben oder die sie auf ihrer Wanderung noch treffen wird: Den Binnenschiffer, der mal ein Bankräuber war oder auch nicht, einen verdrucksten Schriftsteller, einen lüsternen Fernfahrer, auf dem Friedhof einen wohlwollenden Mann in grüner Trainingsjacke, ihr und uns bekannt.* Und auf einer Müllkippe trifft sie zwei Jungen, mit denen sie eine Zeitlang zusammenbleibt. Eine kurze, aber eine wahrhaftige, eine fast schon glückliche Zeitlang. Das wandernde Mädchen – wir kennen sie. Es ist Isa, die hinreißende, grandiose Isa aus Wolfgang Herrndorfs nicht weniger hinreißendem Jugendroman „Tschick“.

Der unvollendete Roman „Bilder deiner großen Liebe“ ist der letzte veröffentlichte Text des viel zu früh verstorbenen Wolfgang Herrndorf. Wolfgang Herrndorf war Schriftsteller, Maler, Illustrator und Blogger, der seinen hoch verdienten, berechtigten Erfolg erst erfuhr, als er schon unheilbar an einem Gehirntumor erkrankt war. In Konsequenz dieser unheilbaren, ihn zerstörenden Krankheit nahm er sich im August 2013 das Leben. Sein Leben mit der Krankheit und seine Vorbereitungen auf den Freitod teilte er in seinem tief berührenden, auch verstörenden Blog Arbeit und Struktur mit der Öffentlichkeit, posthum als Buch herausgegeben.

Der Veröffentlichung des fragmentarischen Isa-Textes stimmte er erst wenige Tage vor seinem Freitod zu. Zum Glück für uns, die Leser, die ihn und seine Texte schon länger begleitet haben. Ja, es ist unfassbar traurig, zum letzten Mal etwas Neues von Wolfgang Herrndorf lesen zu dürfen, aber es ist schön, es ist eine große Freude, dass es ein Text über Isa ist.

Wolfgang Herrndorfs Jugendroman „Tschick“, der Überraschungserfolg des Jahres 2010, ist ein großartiges Buch. Die Figur Tschick war grandios, die Figur Maik Klingenberg war grandios, aber seien wir ehrlich, die Grandioseste von allen war Isa. Die Figur, die auch Jahre nach der Lektüre am präsentesten in der Erinnerung ist. Isa, die Unbezähmbare, die Lebenskluge, so wild entschlossen, dem Leben wenigstens ein bißchen etwas abzutrotzden. Nicht nur die Protagonisten in Tschick liebten sie, nicht nur der Leser, sondern wohl auch Wolfgang Herrndorf.

Möglicherweise war Isa sogar diejenige von Herrndorfs Romanfiguren, die ihm am meisten bedeutete. Isa ist wohl die Romanfigur der letzten Jahre mit dem größten Potential. Es ist (bei aller Tragik des Schicksals von Herrndorf) eine weitere Tragik in sich, dass diese Figur mit ihm unvollendet gehen musste. Mit den letzten Zeilen der „Bilder“ kommt der Gedanke auf, dass Isa seine imaginäre Gefährtin war, die ihn in den Tod begleiten und doch zurückbleiben sollte, um für ihn noch etwas zu Ende zu bringen.

Den Titel „Bilder deiner großen Liebe “ hat Herrndorf selbst noch bestimmt, irgendwie ist er untypisch für ihn. Die Romanfigur Isa hat ein reales Vorbild aus dem Leben Wolfgang Herrndorfs. Ines, eine Frau, die mitten im Wald in einer Hütte wohnte, die barfuß durch den Wald streifte und über Katarakte kletterte, die ihm zum Einschlafen Musils „Fliegenpapier“ vorlas. Sie gab schon der Hauptfigur in den „Plüschgewittern“ ihren Namen, der Autor bezeichnete sie als „naturkindhaft“ und die Tage mit Ines, mit der ihn eine platonische Beziehung verband, nennt er die glücklichsten seines Lebens. (Nachzulesen im oben verlinkten Blog, Kapitel 6, 22.07.2010, 5:33h ) So betrachtet, passt der Titel dann doch wieder ganz gut. Ein weiteres schönes, berührendes Detail am Rande: Das Landschaftsgemälde auf dem Schutzumschlag ist ein Gemälde von Wolfgang Herrndorf selbst. Wie einem Hinweis im Buch zu entnehmen, hing es lange Zeit schief und ungerahmt und mit der Zeile „macht einem manchmal Angst: Die Natur“ an der Wand über seinem Schreibtisch.

„Bilder deiner großen Liebe“ ist keine Fortsetzung von „Tschick“. Es sind gerade mal sechs Seiten, die sich in den „Bildern“ mit der „Tschick“-Handlung überschneiden. Das mag manchen enttäuschen, zumal sich nach der Lektüre der Gedanke aufdrängt, dass die beiden Jungs für Isa bei weitem nicht das waren, was sie umgekehrt für die Jungs war. Für die „Bilder“ ist das aber völlig in Ordnung, „Tschick“ braucht keine Fortsetzung. „Tschick“ ist genauso wie es ist richtig.

Aber – so weiß der Leser schon vor der Lektüre ungefähr, was ihn erwartet. Ein Text aus der Sicht einer unzuverlässigen Erzählerin. Unter allen unzuverlässigen Erzählern, die es je gegeben hat, ist Isa wohl die unzuverlässigste. Sie mäandert durch Zeit und Raum und das liegt nicht nur daran, dass der Text den Herausgebern als Fragment vorlag. Aber gerade deswegen funktionieren die Bilder als Road Novel außerordentlich gut, gerade deswegen wirkt der Roman weit weniger unvollendet und fragmentarisch, als vor Lektüre erwartet. Es ist wirklich weniger der Roman, der unvollendet bleibt, als vielmehr Isa selbst, deren viel zu kurzes Gastspiel in der literarischen Welt man nur außerordentlich bedauern kann.

Die Herausgeber Kathrin Passig und Marcus Gärtner waren enge Freunde des Autors und zeichneten auch schon verantwortlich für die Veröffentlichung des Blogs als Buch. Man kann es nicht anders sagen, als dass sie es auch mit den „Bildern“ gut, sogar sehr gemacht haben. Man merkt (auch im erkärenden Nachwort der Beiden), dass sie sich den Entscheidungen, die sie zu treffen hatten und die eigentlich nur einem Autor zustehen, mit tiefem Respekt genähert haben. Sie haben sehr sorgfältig gearbeitet, leichtgefallen ist es ihnen auch nach eigener Aussage nicht. Sie verbergen vorhandene Lücken nicht, dennoch ist der Text zusammenhängend. Vor allem aber bewahren sie Wolfgang Herrndorfs ganz eigene Sprache und würdigen so die Einzigartigkeit des Autors.

Worte waren seine Bilder, je plastischer, desto lieber. Die gelegentlich etwas schief sitzende Grammatik – sie ist gewollt und die Herausgeber haben sie unverändert gelassen. So hat Wolfgang Herrndorf es sich gewünscht, so haben Passig und Gärtner es gemacht. Bloß keinen „Germanistenscheiß“ an den Text ranlassen, das war Herrndorf wichtig. Er wäre stolz auf das Ergebnis gewesen.

Auch wenn der Roman noch so oft unvollendet genannt werden wird, für mich als Leserin, die alle Werke Herrndorfs chronologisch zum jeweiligen Zeitpunkt ihres Erscheinens – angefangen mit den Erzählungen „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“ bis hin zum Blog – gelesen hat, für mich sind die „Bilder Deiner großen Liebe“ ein versöhnliches, wenn auch für immer traurig bleibendes Ende.

Wolfgang Herrndorf: „Bilder Deiner großen Liebe“. Rowohlt Berlin, 140 Seiten, € 16,95.

(*der Mann in grüner Trainingsjacke auf dem Friedhof entspricht einem bekannten Foto des Autors.)