Die Spitze eines grausamen Eisbergs: Der Japaner Tomo Sugao inszeniert Puccinis Oper „Turandot“ in Dortmund

Die eisumgürtete Prinzessin Turandot (Stéphanie Müther). (Foto: Björn Hickmann)

Die eisumgürtete Prinzessin Turandot (Stéphanie Müther). (Foto: Björn Hickmann)

Einem großen Dilemma musste Giacomo Puccini bei der Komposition seiner Oper „Turandot“ ins Auge sehen. Wie sollte er die Verwandlung einer Männer mordenden, unerbittlich grausamen Prinzessin in eine liebende Frau glaubhaft machen? Das Problem war ungelöst, als Puccini am 29. November 1924 starb. Seine „Märchenoper“ blieb Fragment und wurde auf Bitte des Dirigenten Arturo Toscanini von Franco Alfano zu einer Fassung ergänzt, die bis heute aufgeführt wird.

Von der Eiskalten angezogen wie die Motte von der Flamme, singt Prinz Calaf unentwegt von Liebe. Indessen glaubt ihm der japanische Regisseur Tomo Sugao kein Wort. Das zeigt seine Neuinszenierung am Theater Dortmund, in der Turandot dem Prinzen letztlich nicht mehr ist als der Schlüssel zur Macht. Aus Sicht der Regie geschieht es nicht zum ersten Mal, dass sie auf derart unmenschliche Weise benutzt wird. Vielmehr behauptet Sugao im 2. Akt, dass die drei Minister Ping, Pang und Pong die Prinzessin bereits im Kindes- und Jugendalter sexuell missbraucht haben. Turandots Traumatisierung erfolgt damit nicht auf dem Umweg über ihre Ahnin, sondern ganz direkt.

Wie allen Bewerbern, stellt Turandot (Stéphanie Müther) auch Calaf (Andrea Shin) drei Rätsel. (Foto: Björn Hickmann)

Um die angeblich aufblühende Liebe muss der Regisseur sich auf diese Weise nicht kümmern. Turandot und Calaf bleiben einander körperlich fern, auch im dritten Akt, der keine Annäherung zeigt und erst recht keinen Kuss – mag das Libretto auch anderes schildern.

Hier geht es um die Macht in einem Menschenfresser-Staat: Nicht zufällig sind die Chöre in dieser Produktion gekleidet wie zu Maos Zeiten. Trotz langer Geheimhaltung ist heute bekannt, wie Maos „Großer Sprung nach vorne“ manche Provinz so sehr in Hungersnöte trieb, dass tatsächlich Menschen gekocht und gegessen wurden.

Gewaltbereiter, aufgepeitschter Mob

Als wogende Masse sind Opernchor, Statisterie und Kinderstatisterie des Dortmunder Theaters an diesem Abend in ständiger Bewegung. Von drohenden Gesten leicht zu nackter Gewalt und animalischer Gier übergehend, bildet dieser aufgepeitschte Mob die bedrohliche Folie für Puccinis „Dramma lirico“. Turandot ist, so gesehen, nur die Spitze eines abstoßend antihumanen Eisbergs. Prinz Calaf, sein blinder Vater Timur und die Sklavin Liù stolpern wie Fremdkörper durch diesen chinesischen Albtraum. Dass die Personenführung der Hauptfiguren eher statisch ist, fällt bei diesem Gewusel nur wenig auf.

Pang, Ping und Pong (Fritz Steinbacher, Morgan Moody, Sunnyboy Dladla v.l.) versuchen Calaf (Andrea Shin, vorne) von seiner Bewerbung um Turandot abzubringen. (Foto: Björn Hickmann)

Pomp und Pracht gehören offenbar zu „Turandot“-Aufführungen wie das Feuerwerk zu chinesischen Festlichkeiten. Frank Philipp Schlößmann (Bühne) und Mechthild Seipel (Kostüme) enttäuschen die Erwartungen nicht: vom großen Glücksdrachen bis zur riesigen Mondscheibe, von prachtvollen Gewändern bis zum exotischen Kopfputz bekommt das Auge viel geboten.

Das große Podest als Spielfläche und die wuchtigen, zuweilen schräg gestellten Wand- und Deckenelemente taucht Ralph Jürgens stimmungsvoll in rotes und blaues Licht. Der von Fabio Mancini einstudierte Chor agiert vorzüglich und ist auch stimmlich gut disponiert, neigt am Premierenabend aber zuweilen zu exzessiver Lautstärke.

Blockhafte Wucht der Philharmoniker

Das liegt auch an den Dortmunder Philharmonikern, die unter der Leitung von GMD Gabriel Feltz exotisch kolorierte Tableaus entfalten, aber mehr Interesse an blockhafter Wucht zeigen als an Lautstärken, die sich vom Fortissimo aufwärts noch differenzieren ließen. Puccinis pentatonische Harmonien entfalten verlässlich ihre Wirkung, und das Xylophon setzt sich mit seinen trockenen Akzenten stets gut durch. Aber die Vielzahl der verschiedenen Gongs kommt kaum zur Geltung, und die markerschütternden Schläge auf das Tamtam, mit der Calaf seine Bewerbung um Turandot verkündet, gehen im Tutti nahezu unter – womöglich auch deshalb, weil das Instrument nicht auf der Bühne steht. Die Rhythmen im grotesken Masken-Terzett des 2. Akts, von Puccini bewusst holprig gestaltet, verrutschen in Dortmund nahezu ins Durcheinander. Am Ende bleibt mehr orchestraler Bombast im Ohr als Zauber.

Am Ziel seiner Wünsche: Calaf (Andrea Shin) hängt sich den Mantel des alten Kaisers um (Foto: Björn Hickmann)

Sängerisch kann diese Produktion mit einem Calaf punkten, der Strahlkraft und stimmliches Durchhaltevermögen vereint (Andrea Shin), und mit einer Turandot, die ihre eisigen Höhen bis zu einschüchternder Dramatik steigert (Stéphanie Müther). Als Liù wird Sae-Kyung Rim gefeiert. Sie erreicht mit ihrem harten Sopran große Lautstärken, ist damit aber kein glaubhafter Gegenpol zur Turandot. Vielmehr erhält die Eisumgürtete eine Stählerne an ihre Seite, der warme, mädchenhafte oder gar sehnsuchtsvolle Töne am Premierenabend gänzlich fehlen. Was Karl-Heinz Lehner aus der kurzen Szene des um Liù trauernden Timur macht, zeugt von beachtlicher stimmlicher und darstellerischer Kunst.

In der Schluss-Szene schleicht Turandot still davon, während Calaf sich den Kaisermantel des verstorbenen Altoum um die Schultern legt. In triumphaler Pose vor dem Chor verharrend, feiert er seinen Durchbruch zur Macht. So sehen sie wohl aus, die Sieger. Die Titelheldin hat uns mehr interessiert.

  • Termine und Informationen: https://www.theaterdo.de/detail/event/turandot/



Giacomo Puccinis „Turandot“ in Duisburg: Chinesisches Team löst die Rätsel nicht

Der Schlag auf den Gong entscheidet sein Schicksal: Wird Calaf (Zoran Todorovich) die unnahbare Turandot für sich gewinnen? Foto: Hans Joerg Michel

Der Schlag auf den Gong entscheidet sein Schicksal: Wird Calaf (Zoran Todorovich) die unnahbare Turandot für sich gewinnen? (Foto: Hans Jörg Michel)

Der Ausgangspunkt hat seinen Reiz: Wie sieht ein chinesischer Theatermann, mit der Tradition seines Heimatlands vertraut, ein europäisch exotisches Märchen über ein China, das es nur in der Vorstellung der vielen Bearbeiter des Stoffes gegeben hat? Huan-Hsiung Li hat bei seinem Europa-Debüt als Regisseur mit Giacomo Puccinis „Turandot“ die Perspektive des Märchenhaften vor die Aspekte des Symbolismus oder der Psychologie gesetzt, die man in der Fabel von der mit Eis umgürteten chinesischen Prinzessin entdecken kann.

Der Theatermann aus Taiwan bezeichnet „Turandot“ als ein „politisches, historisches, wirtschaftliches und kulturelles Märchen“ und als einen „Traum, der ein modernes Volk im Schlaf heimsucht“. Mehr noch: Er stilisiert Turandot geradezu zu einer Symbolfigur für das aufsteigende, moderne China – und Calaf wächst so in die Rolle eines Repräsentanten der Welt „außerhalb“. „Wenn Chinas Aufstieg an die Macht die Welt zum Verlierer macht, dann wird die Liebe der Prinzessin ein verzweifeltes Ende finden“, schreibt Li im Programmbuch.

Ein komplexes Vorhaben also für die Neuproduktion des Puccini-Klassikers an der Deutschen Oper am Rhein in Duisburg. Sie entsteht in Kooperation mit dem National Kaohsiung Center for the Arts (Weiwuying), das in der Hafenmetropole Kaohsiung im Süden Taiwans als hochmodernes Kulturzentrum für mehr als 6.000 Opern-, Theater- und Konzertbesucher entsteht und 2017 mit dieser „Turandot“-Produktion eröffnet wird. Und ein Programm, das auf der Bühne letztendlich in einem hübsch anzusehenden Bildertheater mit wenigen, die Deutung nicht befördernden Regiezutaten mündet.

Die Zutaten sind etwa die schlanke, weißgekleidete Tänzerin Yi-An Chen, auf die sich zu Beginn in einer regnerischen „city of uncertainity“ – so ein Projektionstext – ein Spot richtet. Die symbolische Gestalt taucht immer wieder auf, ergeht sich in heftigen Verrenkungen, als im dritten Akt die Herren Ping, Pang und Pong Kalaf auf wohlfeilen Sex als Ersatz für seine Fixierung auf Turandot hinzulenken trachten.

Doch die so bedeutungsheischend eingeführte Figur erklärt nichts. Ebenso wenig eine dunkel wogende Volksmenge mit Regenschirmen in der Eröffnungsszene. Die Anspielung auf Protestdemos in Hongkong 2014, bei denen Schirme benutzt wurden, wird nicht weitergeführt: Der Chor taucht bald – der „Traumlogik“ der Inszenierung folgend – in folkloristischen Gewändern auf.

Die Kostüme von Hsuan-Wu Lai sind nicht nur prächtig, sondern stellen Bezüge zu Charakter und Situation der Personen her. Foto: Hans Joerg Michel

Die Kostüme von Hsuan-Wu Lai sind nicht nur prächtig, sondern stellen Bezüge zu Charakter und Situation der Personen her. (Foto: Hans Jörg Michel)

Wenigstens arbeitet Hsuan-Wu Lai mit seinen Kostümen Entwicklung und Beziehungen der Personen durch: Das Blau des Lichts (Volker Weinhart) zu Beginn wird aufgegriffen im Blau des Kostüms von Liu. Und wenn Turandot, überwältigt von des Radikalität der Liebe und des Vertrauens Calafs, ihre prachtvolle rote Robe, ihren Panzer gegen die Außenwelt, abgelegt hat, trägt sie ebenfalls Blau; nicht so leuchtend wie Liu, sondern matter und mit einem Hauch in Schwärzliche. Ping, Pang und Pong changieren zwischen europäischer und chinesischer Kleidung. Und der Kaiser – Bruce Rankin singt ihn nicht als zittrigen Greis, sondern als kräftigen Mann – zitiert den Komponisten selbst in schwarzem Hut, Mantel und Anzug.

Wie entschieden diese Produktion in Bildern denkt, verdeutlicht die Bühne von Jo-Shan Liang: die Silhouette einer burgartigen chinesischen Stadt vor dem Rundhorizont, getaucht in Lichtstimmungen zwischen Kalkgrau, Tiefrot und Varianten von Blassblau bis Violett. Bespielt mit Videoprojektionen (Jun-Jieh Wang), die Grundfarbe mal mit explodierenden Klecksen beschmutzend, mal mit filigranen, laufenden Mustern bedeckend.

Hinauf zum Tor führt eine breite, straßenartige Fläche. Auf den Mauern der Stadt thront der Kaiser, schreitet Turandot herein, erstarrt ihr rotes Prachtgewand am Ende zu einer toten Hülle. Ein imponierendes Setting für die Aufmärsche des Volkes wie für die intimen Szenen zwischen Timur, Calaf und Turandot mit Liu, aber keines, das der Inszenierung Richtung geben würde.

Der Personenführung fehlt jedes Profil

Bilder-Theater also – und damit steht man an der Deutschen Oper am Rhein in der Tradition eines Überwältigungs- und Illustrationstheaters, das letztlich das Illusionstheater alter Prägung nicht abstreifen kann. Das ist, auch wenn es postmoderne Theater-Theorie anders will, nicht verwerflich. Die Frage ist, wohin ein Regisseur mit welchen Mitteln zielt. Und da verharrt Huan-Hsiung Li mit einer unprofilierten Personenführung auf dem Niveau hilfloser Staatstheater-Arrangements für rasch wechselnde Sängerbesetzungen.

Brigitta Kele (Liu), Sami Luttinen (Timur) und der Chor der Deutschen Oper am Rhein in der Neuproduktion von Puccinis "Turandot". Foto: Hans Jörg Michel

Brigitta Kele (Liu), Sami Luttinen (Timur) und der Chor der Deutschen Oper am Rhein in der Neuproduktion von Puccinis „Turandot“. (Foto: Hans Jörg Michel)

Die wunderlichen Primadonnen-Gesten von Linda Watson korrespondieren mit dem tenoralen Biedersinn von Zoran Todorovichs rührend komischem Niederknien vor seiner statuenhaften Diva. Timur bleibt als Nebenfigur ebenso im Ungefähren wie Liu über ihr Opferklischee nicht hinauskommt. Der Blick, der die Rätsel des Stücks beantworten oder wenigstens eine dezidierte Position erschließen würde, bleibt verschlossen. Turandot – ein hübsch erzähltes Märchen; der behauptete Bezug zur Gegenwart erschöpft sich in den Projektionen von Mega-City-Szenen zu Beginn der Akte.

Musikalisch wagt Axel Kober ein anfechtbares, aber unter seinen Voraussetzungen erhellend geglücktes Experiment: Wie wohl kaum ein anderer rückt er Puccini weg vom italienischen Melodramma, weg von der erhitzten Passion des Verismo, hin zur musikalischen Moderne. Die Duisburger Philharmoniker realisieren mit der nötigen Präzision einen scharf geschnittenen, gläsern glitzernden Klang, negieren kompromisslos jedes atmosphärische Ungefähr, aber auch – und da ist das Konzept anfechtbar – eine klanglich gestützte, weitbogige Phrasierung und die spannungsreiche Kantilene.

Konsequenz herrscht unter Kobers Szepter nicht in impressionistisch anmutenden Klangmixturen, nicht in fiebrigem Aufrauschen, nicht in überwältigenden Explosionen. Sondern in der Zügelung der Dynamik, in der geschärften Rhythmik und in expressiv demonstrierten Details, von einem rhythmischen Trommelmotiv in der Rätselszene bis hin zu freigelegten Dissonanzen und offenen Reibungen zwischen Instrumenten.

Puccini, der Melomane und Zauberer orgiastischer Klangexaltationen? Vergesst es! Hier regiert Puccini, der Komponist, der tief verwurzelt in der italienischen Tradition den Weg in seine Moderne freigekämpft hat. Nebenbei bemerkt: Kober hat mit diesem Zugang auch Franco Alfanos oft kritisierter Vervollständigung des Finales Gerechtigkeit angedeihen lassen.

Linda Watson debütiert als Turandot

Bei den Sängern konnte die Duisburger Premiere auf bekannte Namen setzen: Linda Watson, Brünnhilde in Bayreuth und Wien, Elektra in Amsterdam und Buenos Aires, hat sich nach langer Zeit wieder auf eine italienische Partie eingelassen und debütiert als Turandot. Ihr extremes Vibrato kann sie nur in Maßen zähmen; die unnahbare Prinzessin liegt ihrem Rundung und Farbe barem Sopran näher als die in ihrer ganzen Existenz erschütterte Frau im Finale. Für Zoran Todorovich ist der Weg zur Calaf eine logische Folge aus seiner Entwicklung ins Dramatische – von Norma und Madama Butterfly über Andrea Chenier bis Otello, Florestan und der mörderischen Partie des Paolo in Zandonais „Francesca da Rimini“. Ganz glücklich macht das nicht: Wenn er auf einem fremdkörperartigen fahrbaren Treppchen sein „Nessun dorma“ singt, funktionieren die Töne zwar, aber sie haben keine emotionale Farbe. Und die expansiven Phrasen sind nicht so durchgestützt, dass sie Passion, Brillanz und Durchschlagskraft hätten.

Brigitta Kele, bewährtes Ensemblemitglied, kann als Liu die schimmernde Schönheit ihres Soprans ausstellen, hat aber keine Chance, die mangelnde Charakterisierung durch die Regie vokal auszugleichen. Auch Sami Luttinen ist als Timur dazu verurteilt, schöne Töne ohne Relevanz zu produzieren. Das Trio der chinesischen Ministerialen ist mit Bogdan Baciu, Florian Simson und Cornel Frey ideal besetzt. Chor (Gerhard Michalski) und üppig besetzter, klangschöner Kinderchor (Sabina López Miguez) lassen keine Wünsche offen.

Die Neuinszenierung ist bis 26. Dezember in Duisburg zu sehen und wird in der Spielzeit 2016/17 in Düsseldorf wieder aufgenommen, bevor sie 2017 nach Taiwan geht. Info: http://operamrhein.de/de_DE/termin/turandot.13056002