Was bringt das Netzwerk Bluesky?

Um es gleich vorwegzunehmen: So richtig zufrieden bin ich mit dem sozialen Netzwerk Bluesky noch nicht. Die unsägliche Dreckschleuder X (ehemals Twitter) von Elon Musk habe ich vor einiger Zeit leichten Herzens verlassen. Der Kerl wird den einen oder anderen Abgang sicherlich verschmerzen, aber wenn es in die Millionen ginge, wenn Deppen und Despoten der Dekade dort unter sich blieben…

Screenshot einer Bluesky-Einstiegsseite

Ach, wenn doch nur mehr globale Hochkaräter wie der britische „Guardian“ sich dort verabschiedeten! Doch man freut sich auch schon, dass Fußballclubs wie der FC St. Pauli, Werder Bremen oder der SC Freiburg jüngst X den Rücken gekehrt haben (Wann folgt endlich Borussia Dortmund – oder hat Rheinmetall Einwände dagegen vorgebracht?), oder wenn der Deutsche Journalistenverband (DJV) sich abwendet. Ein Effekt beim „X-odus“: Immerhin hat Bluesky mittlerweile die 20-Millionen-Marke deutlich überschritten, zeitweise sind täglich rund 1 Million Accounts hinzu gekommen. Da scheint ein Sog zu wirken.

Lassen wir X auch in diesem Text hinter uns. Bluesky (weitere Alternativen: Mastodon, Threads) scheint mir einstweilen recht unstrukturiert und dem Zufall unterworfen zu sein. Einen nennenswerten Überblick über das, was vorgeht, kann man sich zwar verschaffen, aber eigentlich nur, wenn man den Auftritten diverser klassischer Medien (vulgo Qualitätszeitungen) folgt. Das kann man aber auch auf anderen Wegen haben. Dazu bräuchte es kein weiteres Netzwerk.

Spaßeshalber habe ich gleich mal den Bluesky-Account des frischgebackenen Kanzlerkandidaten Olaf Scholz aufgerufen. Zum nämlichen Zeitpunkt hatte er erbärmlich wenig Follower, gerade mal 190 an der Zahl, heute (28. November, 12.42 Uhr mittags MEZ) sind es 432. Ähnlich wie schon bei TikTok (das ich konsequent meide), ist Scholz bzw. sind seine Ghostwriter offenbar sehr spät beigetreten, es liegen bis jetzt lediglich vier läppische Beiträge vor. Verschnarchte SPD halt. Oder wie soll man das sonst deuten? Wobei ich die parteifrommen Äußerungen, die in Scholzens Namen gepostet werden, nicht allzu schmerzlich vermissen würde.

Vollends rätselhaft ist mir, wer meiner Wenigkeit zu folgen beliebt. Es sind überwiegend Leute aus fernen Weltgegenden, mit denen ich niemals auch nur im Geringsten zu tun hatte, auch nicht virtuell. Ausweislich ihrer bisherigen Beiträge sind sie mental auch vollkommen anders unterwegs. Wie kommen sie auf mich? Was suchen sie bei mir? Oder sind es Bots und Trolle? Seltsam genug auch die Tatsache, dass mir z. B. der saarländische Ableger der Piratenpartei folgt.

Kurz und weniger gut: Mich beschleicht das Gefühl, bei Bluesky ziemlich viel zu verpassen und irgendwie hinter der Musik herzulaufen. Die einstweilen ungleich zivilisierteren Umgangsformen bei Bluesky (im Vergleich zum pöbelhaften X) sind angenehm, machen aber das Informations-Defizit bei weitem nicht alleine wett. Es fehlen hier eben viele, viele Leute, die etwas zu sagen hätten oder qua Amt und Würden (hihi) wichtig wären. Und es fehlen einige nützliche Funktionen.

Das Ganze muss noch weiter wachsen, auch auf der Anbieterseite. Wie die Bluesky-Geschäftsführerin Rose Wang im FAZ-Interview verriet, hat das Netzwerk bislang nur 20 Mitarbeiter (Stand 26. November). Kaum zu glauben. Der prozentuale Anteil aktiver Accounts, die Beiträge publizieren, ist immerhin wohl deutlich höher als bei der Konkurrenz. Apropos Konkurrenz: Wie die Süddeutsche Zeitung berichtet, können Bluesky und Mastodon in beiden Richtungen miteinander verknüpft werden. Und noch’n Presse-Bezug: Laut „Spiegel“ hat sich Stephen King von X verabschiedet, hat sodann Bluesky ausprobiert, ist aber schließlich zu Threads gewechselt. Robert Habeck sei unterdessen sogar zu X zurückgekehrt… Alles fließt.

Wie auch immer: Spannende, gern auch kontroverse (aber faire) Debatten können bei Bluesky einstweilen nur sehr bedingt aufkommen. Somit fehlt auch die Motivation, sich selbst „einzubringen“. Oder habe ich nur noch nicht den richtigen Kniff gefunden und den „Discover-Feed“ noch nicht ausreichend bemüht?

Kann ja alles noch werden? Hoffen wir’s.




„Sei Teil unserer Bücherwelt!“ – Wie sich der Piper Verlag seine Rezensenten wünscht

Was Goethe wohl zu all dem gesagt hätte? Wahrscheinlich wieder sein berüchtigtes „Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent." (Foto: Bernd Berke)

Was Goethe wohl zu all dem gesagt hätte? Wahrscheinlich doch wieder sein berüchtigtes „Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent.“ (Foto: Bernd Berke)

Der Piper Verlag hat sicherlich seine langjährigen Verdienste. Doch jetzt, in Zeiten der Digitalisierung (*gähn*), bricht er offenbar zu neuen Ufern auf. Auch für Blogger(innen) zeigt sich das Münchner Haus neuerdings aufgeschlossen; allerdings nur unter gewissen Bedingungen, die auf der Piper-Homepage unter der nüchternen Zeile „Unsere Kriterien zur Zusammenarbeit“ dargelegt werden.

Zusammenarbeit also. Nicht etwa kritische Öffentlichkeit oder dergleichen Schmonzes von vorgestern. Und wohl auch kaum ein Gedanke an herkömmliche Rezensionen, die vielleicht mal weniger günstig ausfallen könnten. Gefragt ist allenfalls das, was manche neckisch „Rezis“ nennen – ganz so, als würden sie „Supi“ sagen.

Wohin die Reise bei Piper geht, lässt sich im weiteren Verlauf ahnen. Alle Zitate mit Hervorhebungen wie im Original:

  • „Dein Blog oder Youtube-Kanal existiert länger als ein Jahr und verfügt über ein gültiges Impressum.
  • Du schreibst und postest regelmäßig auf Deinen Kanälen.“

So weit sicherlich nachvollziehbar. Der Piper Verlag, seit März 2016 von der vormaligen FAZ-Literaturchefin Felicitas von Lovenberg geleitet, will sich halt nicht mit gar zu flüchtigen sozialmedialen Erscheinungen oder Phantomen plagen, die womöglich nur Rezensions-Exemplare einsacken wollen und dann ihre Portale löschen oder verwaisen lassen.

Am liebsten total virale Influencer?

Allerdings fällt hier schon auf, dass man es eben auch – und vielleicht ganz besonders? – auf YouTuber(innen) abgesehen hat. Wäre es denkbar, dass dem Hause Piper mittlerweile jene „Influencer“, die ein Buch ohne hochtrabendes Gelaber empfehlend in die Kamera halten, lieber sind als kritische Geister, die sich mit wirklichen Rezensionen abmühen? Hätten sie eventuell am allerliebsten hipstermäßige Leute mit der viralen Mega-Power eines Rezo, die ein Buch kurzerhand als „cool“ oder „geil“ bezeichnen?

Nun, ganz so hoch (bzw. eigentlich tief) liegt die Latte nicht. Wir lauschen weiter und erfahren etwas über die Mindestanforderungen:

  • „Dein Instagram Account hat mindestens 2.000 Follower, auf Facebook und Twitter folgen Dir mindestens 1.000 Fans und mindestens 5.000 Abonnenten schauen Deine Videos auf Youtube.“

Instagram, Facebook und Twitter scheinen also schon mal Pflicht zu sein, desgleichen YouTube. Aber das alles genügt noch nicht. Die jeweiligen Gefolgsleute müssen auch möglichst zahlreich und lebhaft reagieren, am besten trampeln und johlen, wenn das denn ginge:

  • „Damit wir sehen können, dass Deine Follower an Deinen Inhalten interessiert sind, ist uns auch eine gute Interaktionsrate wichtig.“

Damit wäre die intellektuelle Spreu vom kaufmännischen Weizen gesondert. Es würde einen schon interessieren, welche Verlags-Kontrollettis auf welche Weise die Interaktionsrate ermitteln und beurteilen. Überdies wäre es interessant zu erfahren, was nach ein oder zwei negativen Besprechungen geschähe. Dann wäre doch höchstwahrscheinlich Schluss mit lustig.

Aber selbst im Falle des Wohlverhaltens bleibt noch mehr zu tun, nämlich dies:

  • „Deine Besprechungen pflegst Du in die gängigen Online-Shops und Communities ein.“

Sprich: Die Empfehlungen soll man z. B. auch bei Amazon, Thalia usw. verbreiten – mit ganz, ganz vielen ***** Sternchen, versteht sich. Womit man dann endgültig ein verlängerter Arm oder besser ein nützliches Sprachrohr der Piper-Presse- und PR-Abteilung wäre. Wie lautet doch gleich die in eine rosarote Wolke gepackte, geradezu enthusiasmierende Überschrift auf der entsprechenden Web-Seite:

„Sei Teil unserer Bücherwelt!“

Nein, danke!




Twittern im Theater: Das goldene Zeitalter für Social Media

KarteGestern war ich im Schauspiel Dortmund. Es war eine Einladung. Ich sollte mein Handy mitbringen, um damit während der Vorstellung zu fotografieren, zu filmen und Kurz-Texte darauf schreiben, so viele wie ich will. Dafür gab es freies W-Lan, ein Bier und eine Brezel. Es war mein erstes TweetUp, und es war – tja. Es war so, dass ich am Ende das Bedürfnis verspürte, mehr als 140 Zeichen zu schreiben. Also bitte, hier der Erfahrungsbericht.

Ein TweetUp ist eine Zusammenkunft von Twitterern, also Nutzern des gleichnamigen Microblogging-Dienstes, die während einer Veranstaltung über diese Veranstaltung kommunizieren – miteinander und mit dem Teil der Öffentlichkeit, der ihnen folgt. Damit man sich im Strom der ständig tickernden Tweets auch findet, wird vorab ein Hashtag bestimmt, den alle Twitterer in ihre 140-Zeichen-Kurznachrichten mit aufnehmen.

Der Hashtag hat das Zeichen einer Raute, #, er ist eine Art Code- und Schlagwort. An diesem Abend hieß der Hashtag #ZeitalterDo, denn das zu betwitternde Theaterstück hieß „The Return of Das goldene Zeitalter – 100 Wege, dem Schicksal das Sorgerecht zu entziehen“. Es war die Wiederaufnahme aus der vergangenen Saison, ein Stück über die unerträgliche Leichtigkeit der Routine und Rituale, die unser Leben beherrschen.

Hundert Male gehen in dem Stück uniformiert gekleidete Menschen Treppen rauf und runter, durchgetaktet und doch variantenreich. Die Figuren – darunter Heine, Goethe, eine „Erklär-Bär“, diverse Nachrichten-Sprecher sowie Adam und Eva – agieren auf spontanen Zuruf der Regie. Jeder Abend verläuft etwas anders – und doch wurde jeder Gedanke in diesem Stück schon einmal gedacht, jeder Satz schon einmal gesprochen, so oder anders.

Sie ist verstörend beruhigend, diese Wiederkehr des Immergleichen, die Routinen und Rituale sind absolut verrückt und doch vertraut und gut. Wir haben uns in ihnen eingerichtet, und auch ein vermeintlich exzentrischer Ausbruch aus dem Alltag ist wenig originell, sondern eine vor-gedachte, vorgelebte Sollbruchstelle.

Kay Voges’ und Alexander Kerlins „Goldenes Zeitalter“ ist eine verstörend wahre, absolut unterhaltsame, nachdenklich machende, musikalisch und filmisch genial umgesetzte Allegorie auf das Leben. Mehr zum Stück bitte nachlesen in der Besprechung der Premiere von Anke Demirsoy oder Rolf Pfeiffers aktuelle Besprechung  – die Wiederaufnahme hat zwar einen anderen Untertitel und einige neue Szenen und Figuren, ist aber in Regiekonzept und Aussage deckungsgleich.

Ebenso neugierig wie auf das Stück, das ich noch nicht kannte, war ich auf das TweetUp: Wie würde ich mit der Möglichkeit umgehen, nonstop am Smartphone fummeln zu können? Was würde ich twittern, wieviel – und wie würde das die Konzentration und die Rezeption beeinflussen?

Zunächst bekamen wir Twitterer eine Einführung samt Vorstellungsrunde. Einer nach dem anderen nennt seinen richtigen und seinen Twitter-Namen und dazu einen persönlichen Hashtag, der das Befinden oder den eigenen Kontext angibt. „#Durst“, sagt einer, „#Ichfreuemichdassichdabeibin“. Die Kolleginnen und Kollegen fotografieren sich gegenseitig, fotografieren die Brezeln, den einführenden Dramaturgen und laden sie auf Twitter hoch. Soll ich auch schon? Ich fotografiere meine Eintrittskarte und schreibe dazu, dass man heute im Zuschauerraum trinken und fotografieren darf. Hm. Das haben die anderen auch schon getwittert.

Die meisten meiner Twitter-Kollegen stammen eher aus der Social-Media- denn aus der Kulturszene, und so hat man die Begleitmaterialien mit etwas mehr Infos versehen als für Theaterkritiker üblich: Die Twitterer erfahren zum Beispiel, dass das Schauspiel nur eine Sparte des Theaters ist und dass es auch noch Oper, Ballett, Philharmoniker und Kindert- und Jugendheater gibt.

Außerdem sagt die Mitarbeiterin aus der Öffentlichkeitsarbeit, dass es eine Burka-Szene geben wird und dass wir diese Bilder bitte nicht twittern sollen. Man wolle mit der Szene niemanden verletzen, und es könne ein falsches Licht auf die Inszenierung werfen, wenn diese Szene zusammenhanglos auf Twitter erscheine. Ich horche auf: Das ist neu. Von so einer Bitte habe ich noch nie gehört. Ich denke an den Kabarettisten Martin Kaysh, der 2013 mit Burkini ins Schwimmbad ging und daraus eine Nummer machte – aber das war vor Paris. Was ist von der Bitte zu halten? Wieso nimmt man die Szene ins Programm, hat aber gleichzeitig Angst, dass sie zu öffentlich wird? Die Gedanken dazu auf 140 Zeichen zu bringen – unmöglich. Ich twittere: Ok. Es wird eine Burka-Szene geben, aber mit der will man niemanden verletzen. Spannung steigt… #zeitalterdo“.Burka

Es ist nicht das erste TweetUp des Dortmunder Schauspiels, man sammelt schon seit etwa einem Jahr Erfahrungen mit dem Format. Regelmäßig werden Twitterer und Blogger eingeladen, von Proben oder Veranstaltungen zu berichten. Es gab sogar interaktive Inszenierungen, in die die Tweets der Zuschauer eingebunden wurden; in denen sich Zuschauer und Schauspieler auf digitalem Wege beeinflussten. Das ist an diesem Abend nicht so – von den Aktivitäten der Twitterer nehmen vor allem die Twitterer selbst Notiz und Teile des Publikums, die schon vorab durch Aushänge informiert wurden: Wundern Sie sich nicht, dass da eine ganze Zuschauerreihe am Handy spielt – die sollen das.

Dann geht es los. Ich habe mir vorgenommen, mein Handy wie einen Schreibblock zu benutzen. Gewohnt, während der Vorstellung ständig etwas später meist Unlesbares und Halbgares auf Papier zu notieren, will ich nun eben zum Handy greifen. Doch das funktioniert nicht. Meine Beobachtungen, Beschreibungen, Wertungen würden auf Twitter keinen Sinn ergeben, außerdem zögere ich, etwas zu veröffentlichen, das ich am Ende des dreistündigen Abends vielleicht ganz anders sehen werde. Ich schreibe etwas über das wiederkehrende Geräusch der Klospülung und erhalte sogar mehrere Retweets und „Favs„. Aber was soll irgendjemand damit anfangen, der nicht im Stück war?

kloDie Idee, der auf Twitter folgenden Öffentlichkeit von dem Stück in einer Sinn ergebenden Reihenfolge zu erzählen, gebe ich also schnell auf. Das entspräche schließlich auch nicht den Nutzungsgewohnheiten auf Twitter, wo sekündlich neue Tweets die alten verdrängen. Niemand wird meinen Botschaften in der von mir gedachten Reihenfolge folgen.

Es bleibt nur, auf griffige – und kurze! Zitate und Gedanken zu warten. Auf Witziges, Überraschendes, Aktuelles. Schlagzeilen schreiben, den Nachrichtenfaktoren folgen.

AdamDass die Schauspieler ihre Szenen in Dauerschleife wieder und wieder bringen, kommt mir entgegen: Wenn mir nach dem zweiten Durchgang auffällt, dass diese zwei Sätze ein schönes Video ergäben, halte ich beim nächsten Durchgang einfach drauf.

Die Qualität der Bilder aus dem dunklen Zuschauerraum ist erstaunlich gut, was an den großformatigen Bildern auf der Leinwand über der Bühne liegt. Wenig überraschend, dass ich dabei vor allem auf die spektakulären Bilder anspringe: Adam und Eva im Nackedei-Kostüm, der lustige Erklär-Bär, ein groß auf die Leinwand projiziertes vermeintliches Brecht-Zitat, mit dem das Schauspiel die aktuelle Diskussion um die Aufführung von Brechts Stücken kommentiert: „Der Urheber ist belanglos“.Brecht

Dann kommt die Burka-Szene, die wirklich gut ist: Drei Verschleierte stehen vorne auf der Bühne, dahinter riesengroß auf der Leinwand zwei wasserstoffblonde, gleich geschminkte und gekleidete Schauspieler, die da singen: „Ich bin anders als, du bist anders als, er ist anders als sie.“ Ich mache ein Video und lade es hoch. Es ist mein elfter Tweet aus der Vorstellung, vier weitere werden folgen, und ich finde nicht, dass da irgendetwas aus dem Zusammenhang gerissen ist – zumindest nicht mehr, als bei Twitter irgendwie immer alles aus dem Zusammenhang gerissen ist. Für den Kontext sorgt eigentlich nur der Hashtag.

Irgendwann, ich habe mich gerade in meinen Twitter-Rhythmus eingefunden, beginne ich damit, zu beobachten, was die anderen so twittern, verbreite ihre Tweets weiter, antworte und kommentiere. Phasenweise schaue ich minutenlang nicht auf die Bühne, dann wieder lange Zeit nicht aufs Handy. Das geht bei diesem Stück gut – es wird ja sowieso alles wiederholt.

Am Ende habe ich mich keine Sekunde gelangweilt und habe, anders als viele andere Zuschauer, meinen Platz nicht zum Bierholen verlassen. Wie wäre das ohne die Ablenkung durchs Twittern gewesen? Ich weiß es nicht. Und wie wäre es, über ein Stück zu twittern, das eine Geschichte erzählt, das sich entwickelt, das Beobachtung und Aufmerksamkeit erfordert? Ich kann und will es mir nicht vorstellen – genauso wenig kann ich mir vorstellen, mir parallel zum Twittern auch noch Notizen für eine ausführliche Kritik zu machen.

Twitter ist ein eigenes Medium, das einer eigenen Logik folgt. Als Medium der Theaterkritik ist es höchstens ergänzend geeignet, es bereichert die reflektierte Auseinandersetzung um spontane Eindrücke. In Zukunft, wenn Twitter in Deutschland populärer geworden ist, könnte es auch den gepflegten Zuschaueraustausch nach der Vorstellung ins Digitale verlagern bzw. erweitern – viele Menschen möchten nach einem Theaterabend gerne wissen, wie es anderen gefallen hat, haben aber Scheu, sich selbst in solche Diskussionen zu begeben.Danke

Als Medium der Kritik ist der Theatertwitter aber, zumindest von Seiten des Theaters, erstmal gar nicht gedacht. Es ist ein Instrument der Öffentlichkeitsarbeit und soll vor allem die Botschaft transportieren, dass – ja, dass am Theater getwittert wird. Was, das spielt gar keine große Rolle.

Und genau das ist auch okay. Es ist gut. Es hat tatsächlich Menschen ins Theater gebracht, die dort vorher selten waren, und es erweitert die Öffentlichkeit für das Schauspiel. Und mir hat es Spaß gemacht.

Übrigens, wenn Sie mir auf Twitter folgen wollen, bitte hier entlang.




Wie man ganz schnell in die Zeitung kommt

Früher war’s gar nicht so leicht, als Normalsterblicher namentlich in die Zeitung zu kommen. Anonym hatte es erst recht keinen Zweck. Auch drangen etliche (unbequeme) Themen nicht vor bis in den Druck. Weitaus mehr als jetzt waren Zeitungen noch Sortier- und auch Kontrollinstanzen, sie verstanden sich gar als Leuchttürme. Journalisten glaubten einfach noch, den besseren Durch- und Überblick zu haben. Diese Selbstgewissheit hat sich längst verflüchtigt.

Ein Symbol muss sein: Früher verstanden sich Zeitungen noch als Leuchttürme... (Foto: Bernd Berke)

Ein Symbol muss sein: Früher verstanden sich Zeitungen noch als Leuchttürme... (Foto: Bernd Berke)

Seit einigen Jahren gibt es zudem jene „Bürgerreporter“, die manchen (vorwiegend lokalen oder „bunten“) Redaktionen einige Recherche-Arbeit abnehmen und kräftig Kosten sparen helfen. Das lockt (neben redlichen, doch unprofessionellen Zuträgern) auch viele Nachbarschafts-Aufpasser und Wichtigtuer an. Überdies zapfen Zeitungen heute gern die sozialen Netzwerke an. Auch da kann man gratis wildern und Infos abgreifen. Dass dort eingestellte Befindlichkeiten besonders authentisch seien, ist spätestens seit der Arabellion geradezu ein Mythos (der allerdings ebenso heftig bezweifelt wird).

Schwenk ins Provinzielle: Kürzlich gab es mal ein kleineres Erdbeben mit Epizentrum am Niederrhein und Ausläufern bis ins Ruhrgebiet. Bei Facebook konnte man ziemlich genau verfolgen, wo die Grenzlinien verliefen, und zwar nahezu in Echtzeit. Beispiel: Die Essenerin vermeldete beunruhigt, sie habe soeben ein Wackeln verspürt, der Düsseldorfer bestätigte das, aus Dortmund kam hingegen die Mitteilung, hier sei aber so was von gar nichts zu bemerken. Na, und so weiter. Man konnte also die rudimentäre Vorform einer Nachricht verfolgen. Allerdings hätte es noch einiger Nachforschungen bedurft, um sie in einem seriösen Medium zu publizieren. Sollte man meinen.

Kleines Gegenbeispiel. Ich zitiere aus einem mit heißer Nadel gestrickten Online-Bericht der in Koblenz erscheinenden „Rhein-Zeitung“, offenbar eine Mischung aus Agenturmaterial und fix angepappten Zutaten. Dort hieß es am 8. September zum besagten Erdbeben: „In Rheinland-Pfalz spürten viele Menschen das Beben… Aus Neuwied meldete S. W.* über Twitter: ,Das ganze Haus hat gewackelt.'“

Das ist doch mal eine Nachrichtenquelle! Die „Rhein-Zeitung“ betreibt just in Neuwied eine Lokalredaktion, doch sie zitiert einen x-beliebigen Einwohner, der sich via Twitter ausgelassen hat.

Wenn derlei private Ausrufe offenbar umstandlos den Weg in ein etabliertes Medium finden, so könnten sich dies nicht nur Witzbolde zunutze machen. Da braucht sich nur ein Freundeskreis zu verabreden, zeitgleich eine erfundene Neuigkeit auszustreuen – und schon steht’s im Blatt…

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* Die Rhein-Zeitung (http://www.rhein-zeitung.de) hatte Vor- und Zunamen des Twitterers ungekürzt genannt.