Neuer Chefdirigent, viel Elan: Rasmus Baumann leitet die Neue Philharmonie Westfalen

Guter Einstand: Rasmus Baumann und die Neue Philharmonie Westfalen. Foto: Pedro Malinowski/NPW

Guter Einstand: Rasmus Baumann und die Neue Philharmonie Westfalen. Foto: Pedro Malinowski/NPW

Die Neue Philharmonie Westfalen (NPW) ist ein außergewöhnliches Orchester. Das manifestiert sich schon in seiner Stärke: Mehr als 120 Köpfe zählt der Klangkörper, eine derart große Besetzung findet sich sonst kaum in der Republik. Doch wer nun glaubt, dies sei Ergebnis einer üppigen Finanzausstattung, befindet sich auf der falschen Fährte.

Die NPW ist vielmehr aus einer Fusion erwachsen, aus der Zusammenlegung des Westfälischen Sinfonieorchesters Recklinghausen und des Philharmonischen Orchesters Gelsenkirchen. Ursache war schon damals, 1996, dass beide Städte Probleme mit der Finanzierung hatten.

Mit der Fusion bekam die NPW, mit Sitz in Recklinghausen, zugleich einen neuen Status, den eines Landesorchesters. Damit wuchsen die Aufgaben, zugleich aber wurde die Finanzierung auf mehrere Schultern verteilt. Geld kommt vom Land NRW, vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe, von den Städten Recklinghausen und Gelsenkirchen, zudem vom Kreis Unna. Dafür müssen die Musiker in Städten der Region auftreten, die kein eigenes Orchester haben, garantieren den Opernbetrieb im Musiktheater im Revier (MiR), geben dort, in Gelsenkirchen, neun Symphoniekonzerte, die auch in Recklinghausen und Kamen zu hören sind. Spezielle Programme für Kinder und Jugendliche kommen hinzu.

Ein Berg von Verpflichtungen also, der nur bewältigt wird, weil sich das Orchester, kraft seiner Stärke, aufteilen kann, um vor Ort präsent zu sein und gleichzeitig in einer anderen Stadt zu gastieren. Doch so schön das alles klingt, so groß ist nun wieder die Not. Vier Jahre haben die Musiker auf Gehaltserhöhungen verzichtet. Jetzt aber steht für 2014 eine tarifliche Anpassung in Höhe von 1,5 Millionen Euro an. Und alle Träger tun sich schwer, die Summe aufzubringen. Krisengespräche sind angesagt, ein bereits vielbeschworener „Runder Tisch“ soll bald Realität werden.

Partituren sind für Rasmus Baumann sein "wichtigster Reichtum". Foto: NPW

Partituren sind für Rasmus Baumann „mein wichtigster Reichtum“. Foto: NPW

Doch trotz aller Probleme wurden neue Zeichen gesetzt. Und im Zentrum steht Rasmus Baumann, vor kurzem als Chef der NPW benannt, ausgestattet mit einem Fünf-Jahres-Vertrag, in Nachfolge des zuletzt eher glücklosen Heiko Mathias Förster. Der neue Mann am Pult ist für das Orchester kein Unbekannter: Am MiR hat Baumann als Generalmusikdirektor die Qualität des Klangkörpers erheblich steigern können. Manche Opernpremiere wurde zur musikalischen Sternstunde.

Dennoch ist es etwas anderes, im Orchestergraben zu dirigieren, als vor 120 Musikern auf dem Podium zu stehen. Denn die NPW in ihrer Gesamtheit hatte zumindest unter Förster nicht gerade Glanzvolles zu bieten. Technische Unzulänglichkeiten bestimmten das Hörbild, ein wenig transparenter Klang. Und manchem war eine gewisse Spielunlust durchaus anzusehen. Hier gegenzusteuern wird die große Aufgabe Baumanns sein. Der neue Chef ist gefragt als Motivator, als akribisch probender, zugleich charismatischer Leiter. Denn klar dürfte sein: Nur ein Qualitätsschub, verbunden mit einem attraktiven Programm, lockt mehr Besucher, bringt also mehr Einnahmen. Je mehr sich also das Orchester in der Region verwurzelt, desto weniger können sich die Träger aus ihrer Verantwortung stehlen.

Den Auftakt dazu haben die Neue Philharmonie Westfalen und Rasmus Baumann nun mit dem 1. Sinfoniekonzert intoniert. Wie es sich für einen ordentlichen Beginn gehört, mit der „Festlichen Ouvertüre“ von Schostakowitsch, gefolgt von einem „Schlager“ des Virtuosenrepertoires (Tzimon Barto spielt Tschaikowskys b-moll-Klavierkonzert), schließlich Rachmaninows so mitreißende wie ergreifende 2. Sinfonie. Und am Ende ist klar: Es darf wieder genau hingehört werden, wenn sich die NPW der Musik hingibt.

Das ist einem Dirigenten geschuldet, der in höchster Konzentration am Pult wirkt, der zudem sehr körperlich agiert. Dann scheint er jede musikalische Phrase zu durchleben, sein Schwung überträgt sich aufs Orchester. Entsprechend klingt Schostakowitschs Ouvertüre als hellblitzendes Jubelstück, klar geformt, nur in seiner treibenden Rhythmik noch ein wenig hakelig. Ein klangsattes Entrée, das Lust auf mehr macht.

Berühmter Solist des 1. Simfoniekonzerts: der Pianist Tzimon Barto. Foto: Malcolm Yawn

Berühmter Solist des 1. Simfoniekonzerts: der Pianist Tzimon Barto. Foto: Malcolm Yawn

Wenn indes Tzimon Barto anhebt, die ersten Tschaikowsky-Akkorde ins Klavier zu stanzen, dann aber plötzlich ins wachsweiche Samtpföteln übergeht, wenn er binnen Sekunden Ausdruck, Dynamik und Tempi wechselt, ist für das Orchester vor allem eines angesagt: Kampf. Dieses Stück muss offenkundig, mit diesem überaus eigenwilligen Solisten am Flügel, geradezu neu erarbeitet werden. Was nicht ohne Folgen bleibt. Hörner und Holzbläser können bei der Tongebung manche Unsicherheit nicht verbergen, im feurigen Finalsatz, wenn Barto das Tempo nach Gutdünken anzieht, hechelt der Rest irgendwie hinterher.

Andererseits erstaunt die Homogenität, Sensibilität und Glut der Streicher, sowie deren Fähigkeit, Spannung aufzubauen. Dass indes manche Steigerung in Richtung großorchestrale Wucht im Beliebigen versandet, ist ein Makel. Barto indes zelebriert und sinniert unbekümmert vor sich hin, um im nächsten Moment pianistisch aus der Haut zu fahren. Er macht das technisch souverän, allein der Sinn, er will sich nicht erschließen.

Wie schön, dass dann die Interpretation der Rachmaninow-Sinfonie viel mehr von dem Potential zu erkennen gibt, das in diesem Orchester schlummert. Plötzlich werden Höhepunkte organisch angestrebt, scheuen die Streicher nicht den satten Breitwandsound, geschickt dem Kitschverdacht ausweichend. Im 2. Satz kommen die Musiker rhythmisch deutlich besser auf den Punkt. Der Eindruck festigt sich, dass Aufbruchstimmung herrscht, zudem größere Aufmerksamkeit. Die Hörner gewinnen an gestalterischer Kraft, das Klarinettensolo im Adagio ist von langem Atem geprägt und klingt wunderbar sehnsüchtig.

Dieses Konzert ist ein Versprechen für eine spannende Saison, für Einsatz und Spielfreude. Zugleich mag es als flammendes Plädoyer gesehen werden, die Neue Philharmonie Westfalen nicht hängen zu lassen.




Philharmonie Essen: Klang-Erkundungen mit Wolfgang Rihms Zweitem Klavierkonzert

Wolfgang Rihm und Essen: Das ist eine ausdauernde Geschichte, die ihren Höhepunkt 2008/09 hatte, als die Philharmonie dem Komponisten von Weltgeltung mit 17 Konzerten eine umfassende Hommage bereitete. Unter anderem wurde damals sein 11. Streichquartett uraufgeführt.

Im Juni dieses Jahres dann erneut eine Uraufführung: „Verwandlung 6“, eine „Musik für Orchester“, geschrieben zum zehnjährigen Bestehen der neuen Philharmonie. Jetzt wäre es beinahe zu einer deutschen Erstaufführung gekommen: Rihms Zweites Klavierkonzert erklang im Rahmen einer Tournee des Gustav Mahler Jugendorchesters unter Christoph Eschenbach, die am Sonntag in Köln endete.

In Salzburg uraufgeführt: das Zweite Klavierkonzert Wolfgang Rihms. Auf dem Foto: Solist Tzimon Barto, Dirigent Christoph Eschenbach und Mitglieder des Mahler Jugendorchesters. Foto: Marco Borelli / Lelli

In Salzburg uraufgeführt: das Zweite Klavierkonzert Wolfgang Rihms. Auf dem Foto: Solist Tzimon Barto, Dirigent Christoph Eschenbach und Mitglieder des Mahler Jugendorchesters. Foto: Marco Borelli / Lelli

Es ist noch keine vierzehn Tage her, dass Tzimon Barto als Solist das neue Werk in Salzburg uraufgeführt hatte. Seither hatte er es in Deutschland in Hamburg, Lübeck und Dresden gespielt, gemeinsam mit den jungen Musikern des 1986 von Claudio Abbado gegründeten Orchesters. Unter ihnen sind auch zwei aus Essen: der Trompeter Lukas Müller und der Fagottist David Schumacher. Beide studieren an der Folkwang Hochschule der Künste.

Rihm nennt das neue Werk bewusst sein „Zweites Klavierkonzert“: Er komponiert mit Blick auf die Geschichte der Gattung. „Rondo“ nennt er etwa den zweiten Satz, bezieht sich damit auf ein klassisches Formmodell. Doch er ahmt nicht nach. Sondern er erfindet neu, während er zurück blickt. Das macht seine Musik zugleich fasslich und ungreifbar, vertraut und enthoben.

In den Mini-Dialogen des Klaviers mit den wunderbaren jungen Solisten des Orchesters streifen sich Klänge wie feine Fäden von Dunst; in transparent schimmernden Flächen und delikat ausbalancierten Verdichtungen verschmelzen sie zu still tönenden Seen. Oft sagt man, die Qualität eines Orchesters zeige sich im „piano“: Mit den tausend Schatten von „Leise“ in Rihms Konzert hat sich das Jugendorchester das beste Zeugnis ausgestellt. Solist Tzimon Barto erwies exquisiten Klangsinn und die Demut, sich einbinden zu lassen in geduldige Klangerkundungen.

Barto, der in seiner Jugend gern den amerikanischen Strahlemann gab, ist zu einem höchst sensiblen Künstler gereift. Mit der geforderten Delikatesse füllt er die Bögen, die ihm Rihm im pianissimo für das Klavier schreibt. Klarinetten und Bassklarinette antworten ihm, setzen ein behutsames sforzando wie eine flüchtige Nuance auf den Ton. Rihm lässt den Klang changieren, führt ihn, getragen von schwebenden Streichern, über das Fagott zum Horn.

Erst nach 90 Takten ist ein erster dynamischer Akzent erreicht, markiert von der Posaune und beantwortet von einem glänzenden Bogen und feinnervigen Skalen des Klaviers. Und erst weitere 70 Takte später blitzt der volle Orchesterklang auf, wenn Hörner, Blechbläser, Vibraphon und Röhrenglocken, umschwirrt von der Harfe, einen dynamischen Gipfel erreichen. Nach dichten Passagen des Klaviers, teils solistisch, teils im sensiblen Dialog mit dem Orchester, verklingt das Konzert nach einer halben Stunde still: Das Pianissimo des Klaviers mischt sich mit den leisen Kontrabässen; zwei Atemzüge, dann verweht ein einsam ersterbendes „Fis“ im Raum.

Freute sich über seine Uraufführung zum Jubiläum "10 Jahre Philharmonie Essen": der Komponist Wolfgang Rihm. Mit Dirigent Tomás Netopil genießt er den Beifall. Foto: Volker Wiciok

Freute sich über seine Uraufführung zum Jubiläum „10 Jahre Philharmonie Essen“: der Komponist Wolfgang Rihm. Mit Dirigent Tomás Netopil genießt er den Beifall. Foto: Volker Wiciok

Rihms Konzert prunkt nicht mit seiner technisch-kompositorischen Raffinesse. Es fordert den Hörer. Es will in seinen feingesponnenen Verästelungen, in seinem Gespinst von nuancierten Klängen erlauscht werden. Ein denkbar schroffer Kontrast zum lärmenden Gestampfe der geräuschhaften Hörverschmutzung um uns herum – und auch ein Gegenprogramm zu jenen zeitgenössischen Strömungen in der Musik, denen ein halbes Dutzend voll zuschlagender Perkussionisten noch kaum genug sind.

Dass es im Mahler Jugendorchester auch laut zugehen kann, bewies es mit Bruckners Siebter Symphonie. Hat Christoph Eschenbach sich bei Rihm mit sorgsamen Zeichen in den Dienst des delikaten Sensualismus gestellt, ließ er bei Bruckner die Zügel los: Viel zu rasch waren dynamische Höhepunkte erreicht, viel zu eilig explodierten die berühmten, von den Blechbläsern getoppten Tutti. Zudem zelebrierte Eschenbach die Tempi extrem langsam, legte etwa das „sehr schnelle“ Scherzo breit und schwer an. Und das Adagio fiel an den „schönen Stellen“ in dumpfklingende Lethargie.

Leuchtende, unangestrengte Natürlichkeit suchte man vergebens – und die majestätischen Bruckner-Apotheosen waren verschenkt, weil dem Effekt schon vorher lautstark der Druck abgelassen wurde. Am Orchester lag es nicht: Die jungen Musiker begeisterten, etwa in Celli, Violinen und Holzbläsern, mit wundervollen Details. Dass sie sich nicht zum Ganzen fügten, ist ihnen nicht anzurechnen.




Schubert-Abend von Tzimon Barto in Essen: Exerzitien der Stille

Tzimon Barto spricht fünf Sprachen fließend, lernt Mandarin und schreibt an seinem literarischen Riesenwerk "The Stelae". Der Pianist, der den Tod zweier Söhne verkraften musste, lebt auf einer Ranch in Florida. (Foto: Eric Brissaud)

Ein einsamer Lichtstrahl schneidet den Konzertflügel aus der Dunkelheit heraus. Die Tür zur Bühne öffnet sich. Herein schreitet ein hünenhaft großer, vom jahrzehntelangen Bodybuilding gestählter Amerikaner.

Tzimon Barto, seit den 1980er Jahren quasi ständiges Mitglied im Kreis der internationalen Pianisten-Elite, geht langsam zum Instrument. Die Zeichen stehen auf Kontemplation. Barto ist im Begriff, seinen Beitrag zur Schubert-Reihe der Philharmonie Essen zu leisten.

Dafür lässt er sich Zeit. Viel Zeit. Eine Stunde und fünfzehn Minuten benötigt er für drei „Moments musicaux“ und die Sonate G-Dur D 894. Um satte 40 Minuten wird er das für 22 Uhr angekündigte Konzertende überschreiten. Aber der Pianist dehnt nicht nur die Tempi, sondern auch den dynamischen Rahmen seines Vortrags. Über weite Strecken murmelt er Schuberts späte Klavierwerke im sanftesten Pianississimo vor sich hin. Harsche Fortissimo-Ausbrüche schockieren, sinken alsbald aber wieder in den säuselnden Strom der Musik zurück.

So absurd das zuweilen anmuten mag, so konsequent hält Barto diesen Ansatz durch. Er verweigert dem Publikum einen Wohlfühl-Schubert. Im Zentrum dieser späten Klavierwerke, per se eine Musik an der Grenze zum Verstummen, steht bei ihm eine große Leere. Seine Schubert-Interpretationen sind ein Exerzitium der Stille, eine Meditation über die Verlorenheit des Menschen und die Gebrochenheit unserer Existenz. Bartos Schubert muss man aushalten, ja im Wortsinne durchsitzen. Sein Klavierklang aber ist schlichtweg herrlich: rund und volltönend im Bass, leuchtend im Diskant, wunderbar farbenreich und warm in den Mittellagen. Indes führt Barto diesen Reichtum nicht vor, sondern nimmt ihn häufig bis zur Unhörbarkeit zurück.

Wie ein frischer Windstoß wirken da die Sechs Etüden des 1980 geborenen Briten George King, der vor zwei Jahren den von Barto ins Leben gerufenen Kompositionswettbewerb gewann. Nahezu frohgemut hämmert Barto ihre maschinenhafte Motorik in die Tasten, erfreut sich an rasenden Tonrepetitionen, bleibt im Andante aber doch einem poetischen Duktus treu.

Warum sich Barto in der Schubert-Sonate leichte Fehlgriffe leistet, ist angesichts solcher Fingerfertigkeiten nachgerade rätselhaft. Obgleich er bewusst nicht auswendig spielt, um Genauigkeit und einen lebendigen Dialog mit dem Notentext zu erzielen, scheint er in der Sonate zuweilen verkrampft an den Noten zu kleben. Manches Ländler-Thema klingt da seltsam hölzern. Auch wirkt es unfreiwillig komisch, wenn Barto zwischen dem ersten und zweiten Teil eines Themas geräuschvoll umblättern muss.

Nach vier weiteren Impromptus, die im Andante vollends zu versanden drohen, ist es geschafft. Nicht ohne Grund gibt Barto den herzlichen Beifall am Ende an sein aufmerksames Publikum zurück, das sich selbst von einem losplärrenden Handy nicht aus der Konzentration reißen ließ.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)