Über alle Gegensätze hinweg – Andreas Maiers Huldigung „Mein Jahr ohne Udo Jürgens“

Da schreibt ein viel beachteter Belletrist im hochrenommierten Suhrkamp-Verlag ein ganzes Buch über – Udo Jürgens. Ja, ist der Schlagermann denn überhaupt literarisch themenwürdig?

Das fragt sich Andreas Maier (zuletzt: „Die Straße“, „Der Ort“) auch selbst unentwegt, der gelinde Zweifel ist konstitutiver Bestandteil des Buches „Mein Jahr ohne Udo Jürgens“. Doch zugleich erfahren wir von einer Art – nun, nennen wir es ruhig beherzt „Erweckung“, die den am 21. Dezember 2014 gestorbenen Musiker mehr und mehr als quasi überzeitliches, dem Alltag enthobenes Phänomen wahrnimmt, in dem gleichsam alle Gegensätze aufgehoben sind… Nanu?

42519Als Kind hatte Andreas Maier noch Jürgens’ Erfolgslied „Siebzehn Jahr, blondes Haar“ vernommen. Dann setzte eine langjährige Pause ein, in der derlei Klänge nur noch peinlich waren. Die meisten von uns dürften wohl in dieser Phase verharren, wenn nicht sich darin verschanzen.

Bei Andreas Maier setzt jedoch irgendwann eine zunächst zögerliche Rückkehr ein, deren Fortgang man beinahe als reuiges Konvertitentum bezeichnen könnte. Maier hebt freilich nicht völlig ab, sondern verankert diese Bewegung in seiner heimatlichen Region, bezieht sie innig auf die Stimmungslage in gewissen Frankfurter Äppelwoi-Wirtschaften, wo Jürgens’ allzeit radikale Emotion im rechten Moment auf ein – alkoholisch befeuertes – kollektives großes „Ja“ treffen kann.

Und so singt denn auch die gesamte Kneipe hingebungsvoll seine Lieder, als sich die Nachricht von Jürgens’ Tod verbreitet. Welch’ eine gefüllte Gegenwart, wie sie wohl kein zweiter Künstler dieses Genres hervorrufen könnte. Ja, man muss sagen: Diese Stunden hätte man wohl auch gern miterlebt. Wer sonst stiftet schon derlei Gemeinschaft?

Also gut. Werden wir erst mal wieder nüchtern.

Maier schickt sich an, nicht nur etliche populäre Mythen seiner jüngeren Jahre (z. B. zwischen Asterix, Beatles, Perry Rhodan und Raumschiff Enterprise) anklingen zu lassen, er arbeitet auch heraus, wie Udo Jürgens hinter und neben all diesen Hervorbringungen immer und immer da gewesen ist. Einzelne Songs werden deutend herauspräpariert, teilweise mikrostrukturell bis kurz vor die Parodiegrenze, also Zeile für Zeile (besonders „Merci Chérie“), bis sich tatsächlich so etwas wie ein beständiges „Narrativ“ des Udo Jürgens ergibt.

Obwohl er so angetan ist, muss Maier doch immer wieder innehalten, etwa so: „Aber wodurch wurde er wichtig? Es war ja nicht mein Ziel und Vorsatz, diesen Chansonnier und, in seinen kommerziellsten Augenblicken, Gassenhauser-Wodka-Trallala-Unterhalter Einzug in mein Leben halten zu lassen.“

Der Autor kommt zu dem Schluss, dass Jürgens wie kaum ein anderer geeignet sei, eine bestimmte Art des Weltzugangs zu eröffnen, etwas ganz und gar Offenes und Allgemeines zu verkörpern – jenseits aller sonstigen Zersplitterung. Nach und nach sucht Maier diesen Erzählzusammenhang zu (re)konstruieren.

Verblüfft stellt er dabei fest, dass diejenigen, die Udo-Jürgens-Konzerte besucht haben, im Umkreis der Hallen gar nicht identifizierbar waren – anders als praktisch alle anderen Fans: „Hier aber war nichts charakteristisch, abgesehen von einem gewissen Glanz, der auf allen Gesichtern lag.“ Vielleicht lag’s auch an der allgemeinen Vorfreude, habe doch nach solchen Konzerten die „Koitalquote“ enorm hoch gelegen, wie Maier mutmaßt. Lassen wir die These mal so stehen. Auch eine Formel wie die vom Klassizismus des Nichtssagens setzt ja etwas in Gang. Und dass niemand die Musik des Udo Jürgens adäquat nachspielen kann, hat doch wohl gleichfalls etwas zu bedeuten.

Jedenfalls sind wir uns nun in Maiers Gefolge zum Hymnus vorgedrungen. Diese Musik sei nicht cool oder hip, sie bewege sich weit außerhalb solcher bequemen Geschmacksurteile. Bei einem Jürgens-Auftritt fühlt sich Maier nach jedem Lied, als habe er „fünfmal hintereinander Doktor Schiwago geschaut“. Ganz großes Kino der Emotionen also. Erschöpfend in jedem Sinne.

Nun. Man kann in derlei Gefilde nicht so ohne weiteres folgen. Man erlebt, wie da einer „in Zungen“ redet. Unter der Hand ist dies denn wohl ein selbsterfüllendes Buch geworden. Das Projekt war nun einmal eingestielt, die Verlagsmaschinerie angeworfen, also musste eine inhaltliche Entsprechung her. Dennoch ist es mehr als nur das.

Dass dieser Text unsere Geschmacksbildung (nicht nur) auf dem Pop-Sektor hinterrücks gründlich infrage stellt, ist nämlich ebenso wahr. Rechthaberisch oder auch nur einfordernd ist Andreas Maier bei all dem an keiner Stelle. Soll man deshalb sagen, dies sei ein angenehmes Buch? Oder ist es nicht vielmehr auf einschmeichelnde Weise unbequem?

Andreas Maier: „Mein Jahr ohne Udo Jürgens“. Suhrkamp Verlag. 218 Seiten. 17,95 €.




Udo Jürgens lebt nicht mehr – doch so vieles klingt noch nach

Udo Jürgens singt "Siebzehn Jahr', blondes Haar"... (Screenshot aus: https://www.youtube.com/watch?v=2-g7bDHHEnA)

Udo Jürgens singt „Siebzehn Jahr‘, blondes Haar“… (Screenshot aus: https://www.youtube.com/watch?v=2-g7bDHHEnA)

Irgendwie teilten wir uns allerlei im Leben. Obwohl er mir stets mit 15 Jahre voraus ging. Obwohl er „meine Musik“ nie machte, mochte ich vieles von dem, was er mit seiner Musik verbreiten wollte.

Udo Jürgens, der ewig jugendliche Musikant, der als Udo Jürgen Bockelmann zur Welt kam, der Mann, den ein glühender Antifaschismus befeuerte, der „sich für die Schweiz schämte“, als deren Bürger sich Anfang des Jahres 2014 mit knapper Mehrheit für die Vorstellungen der Eidgenössischen Volksinitiative „Gegen Masseneinwanderung“ aussprachen, er starb jetzt, am 21. Dezember des selben Jahres: Im Alter von 80 Jahren wollte sein Herz nicht mehr schlagen.

Ich höre noch, wie Robert Lembke ihn grantelnd fragte, nachdem das Schweinderl schwerer geworden war und der Ratetrupp Udo Jürgens Namen lauthals ins Studio posaunt hatte: Er möge ihm doch verraten, warum er diese entsetzlich langen Haare trüge, er sei doch sonst ein richtig netter Kerl. Udo begann freundlich und geduldig dem älteren Robert zu erläutern, dass es nun mal Mode der Zeit sei und es ihm zudem wirklich gefiele. Er konnte Lembke nicht nachhaltig überzeugen, aber für einen netten Kerl hielt er ihn doch.

Ich höre noch, wie er zum ungeteilten Entzücken des Publikums in der Theateraula zu Kamen „Siebzehn Jahr‘, blondes Haar“ schmetterte und ich in einem Ausbruch von Leidenschaft den Takt mit dem rechten Fuß stampfte. Zurück in der Redaktion tippte ich als erstes die Überschrift: „Spät kam er nach Kamen, aber er kam und kam nicht zu spät“. Tags drauf maulte mein damaliger Chef Günter Schaumann, dass in Überschriften Satzzeichen nichts zu suchen hätten. Er sollte in den folgenden Jahren nicht der Letzte sein, der sich darüber mokierte.

Ich höre noch, wie es an meinem 50. Geburtstag aus den Disko-Lautsprechern bedauernd scholl: „Ich war noch niemals in New York …“ Noch ahnte ich nicht, dass ich ein paar Stunden später genau dorthin abheben sollte.

Ich höre noch Bing Crosby, wie er für den Titel „Come Share the Wine“ bejubelt wurde, der als „Griechischer Wein“ europäische Charts in Serie stürmte und den damaligen Oberhellenen Karamanlis bewegte, Udo Jürgens und seinen Texter Michael Kunze mit rotem Teppich zu empfangen, weil sie so schön emotional gespiegelt hätten, was Gastarbeiter aus ihrer Heimat in deutscher Ferne so bewegte.

Ich höre noch das „Ehrenwerte Haus“ oder „Rot blüht der Mohn“, nur zwei Beispiel-Melodien dafür, dass Udo Jürgens und seine Texter (u.a. Eckart Hachfeld) Politik und gesellschaftliche Probleme nicht aus ihrer Form der populären Musik heraushalten wollten.

Und ich höre noch heute gern „Viel Dank für die Blumen“, das Lied, das eine jede Folge „Tom und Jerry“ einleitete und dessen unübertroffene Fröhlichkeit das vorweg nahm, was kurz darauf an einem Feuerwerk des gezeichneten Slapsticks abgebrannt wurde.

Der unverwüstlich wirkende Udo Jürgens, dessen Bruder Manfred ein ungemein begabter Fotograf war, zu dessen Familie mütterlicherseits der Dadaist Hans Arp zählte, der mehr als 1000 Titel schrieb und gleich mehrere Generationen in seinen Bann zog; nun ist sein schöpferisches Leben beendet. Und vor wenigen Wochen schrieb mein Freund Lars Reckermann noch, wie sehr es sich gelohnt habe, sein letztes Konzert in diesem Jahr besucht zu haben.

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Für die Revierpassagen hat Britta Langhoff im November eines der letzten Konzerte von Udo Jürgens besucht – in Oberhausen.




Chapeau für einen der Großen im Musikgeschäft – Udo Jürgens in Oberhausen

„Udo Jürgens? DU gehst zu Udo Jürgens? Freiwillig?“ So ungefähr darf man sich die Reaktionen auf mein erklärtes Vorhaben vorstellen, zum Oberhausener Gastspiel des Entertainers zu gehen.

Und auch der ein oder andere Leser wird sicher irritiert eine Augenbraue hochziehen, denn bisher bin ich wohl eher als inoffizielle Punk-Rock-Beauftragte dieses Kulturblogs aufgefallen. Aber ja – ganz freiwillig war ich mit einer Freundin bei diesem Konzert. Unsere Motive waren zwar eher privat begründet, aber das tut hier nun mal nichts zur Sache, wenngleich es erfreuliche Beweggründe waren.

Aber wenn ich schon einmal da war, kann ich auch davon berichten. Denn lohnenswert ist Udo Jürgens live allemal, auch wenn der eigene Musikgeschmack eigentlich ein ganz anderer ist. Meine Erwartungshaltung war es, ein Stück deutsche Musikgeschichte einmal live zu erleben und eine perfekte Show zu sehen. Denn für perfekte Shows habe ich – ungeachtet des Stils – ein Faible, ist doch gerade das vermeintliche Leichte so schwer perfekt darzubieten.

Das Fazit vorweg: Unsere Erwartungshaltung wurde nicht enttäuscht, ganze drei Stunden boten Udo Jürgens und das Pepe Lienhard Orchester perfekte Unterhaltung. (Nur so zum Vergleich: Unser Sohn war neulich in den Westfalenhallen bei einem Konzert des hochgelobten Rappers Macklemore, der hatte bereits nach anderthalb Stunden fertig, zum selben Konzertkartenpreis wohlgemerkt).

Udo Jürgens live ist etwas ganz anderes als ein Fernsehauftritt des Entertainers, es ist eine ganz andere Welt, in die Udo Jürgens auf der Bühne sein Publikum mitnimmt. Eine Welt, in der Lieder die Menschen verbinden und auf die er seine Fans schon mit einem grandiosen Opening einstimmt. Die Halle ist dunkel, auf der Leinwand erscheint eine Weltkugel, das Orchester spielt, man hört seine Stimme „Die Welt braucht Lieder“ singen und dazu sehen wir eine virtuelle Weltreise. Das Konzert hat noch gar nicht wirklich angefangen und man schluckt bereits den ersten Kloß im Hals herunter.

Danach geht es zunächst gemächlich weiter. Gassenhauer haben erst im letzten Teil des Konzerts ihren Platz. Das ist wohl in jedem Musikgenre gleich. Zunächst präsentiert Udo Jürgens Lieder, die durchaus dem Anspruch eines Chansons genügen, sowohl aus seinem neuen Album „Mitten im Leben“ als auch aus den vergangenen Jahrzehnten.

Thematisch ist er breit aufgestellt, gerne auch mit aktuellem Bezug wie im „gläsernen Menschen“, wo er sein Publikum eindringlich vor zuviel Naivität im Umgang mit „Neuland“ warnt. Bei Udo Jürgens hat Unterhaltung eben auch immer mit Haltung zu tun. Auch wenn manche Wahrheiten wie die, dass man seine Fehler gefälligst erstmal bei sich selbst suchen soll, schlicht sind – es bleiben dennoch Wahrheiten. Es entbehrt auch nicht eines gewissen Charmes, wenn der Grandseigneur seinem gutsituierten Publikum ins Gewissen redet. Einer muss es ja machen.

Das heißt nicht, dass seine Hits zu kurz kommen, ganz und gar nicht. Fast alle bekannten Stücke kamen zumindest in Medleys zu Gehör, manch altes Schätzchen wie das fast 50 Jahre alte „Und immer wieder geht die Sonne auf“ kam zu neu arrangierten Ehren. In seinen Ansagen betonte Udo Jürgens, dass er seine Hits nach wie vor gerne singt, für ihn sind es Lieder, denen er viel verdankt und für die er sich niemals schämen würde.

Dabei wird aber durchaus die Gelegenheit genutzt, den oder anderen Hit ganz anders arrangiert zu bringen. Wenn beispielsweise der – mich über die Jahrzehnte zuverlässig nervende – „Griechische Wein“ als Ballade gesungen wird, fällt tatsächlich doch mal auf, welch bewegenden Text dieses Lied hat und man kommt nicht umhin, den Vergleich mit BAP’s „Verdamp lang her“ zu ziehen. Welch grandiose Missverständnisse der Popgeschichte diese Lieder doch sind. Welch bewegende, persönliche Texte und dann oft genug als Schenkelklopfer im Bierzelt genutzt. Schön, das mal so ganz anders gehört zu haben.

Seit 38 Jahren bestreitet Udo Jürgens seine Konzert nun mit dem Pepe Lienhard Orchester. Länger als die meisten Ehen dauern, wie der Sänger augenzwinkernd anmerkt. Zusammen alt geworden, zusammen perfekt geworden und geblieben. Von der ersten bis zur letzten Minute sitzt da jeder Ton, nichts wirkt abgenudelt, alles ist sorgfältig arrangiert und auf den Punkt dargeboten.

Exzellente Musiker hat er da um sich versammelt, die auch erfreulich viel Raum und Zeit bekommen. Erstaunlicherweise ist es nicht so, dass das Publikum keinem anderen Gott neben ihm huldigen darf. Viele Soli sind zu hören, auch andere Sänger bekommen eine Plattform, was vor allem den ausführlichen „New York“-Teil zu einem besonderen Erlebnis macht.

Zum Schluß gibt es natürlich die obligatorische Bademantel-Nummer, aber bitte – Rituale wolle gepflegt sein, vor allem, wenn man sie selbst erfunden hat. Und zugegeben: Ein Mann alleine am Flügel, dessen Stimme auch mit 80 Jahren noch eine Halle von der Größe der Arena Oberhausen mühelos trägt, das nötigt ja auch Respekt ab.

Nur folgerichtig, dass das Publikum den Entertainer euphorisch feierte. Aber mit so einem Lebenswerk darf man sich ruhig auch episch feiern lassen, das haben andere weit weniger verdient. Entsprechend gerührt und dankbar nahm Udo Jürgens diese Ehrbezeugungen auch an.

Auch wenn er immer sagt, dass er im Gegensatz zu anderen Künstlern seine letzte Tournee niemals ankündigen würde, er wird wissen, dass jede Tournee, jedes Konzert schon das Letzte sein könnte und es wird entsprechend zelebriert. Mit Respekt und Würde, aber auch mit Sentimentalität. Und wenn in 30 Jahren vielleicht meine Enkel noch zu „Ich war noch niemals in New York“ feiern, dann kann ich sagen „Ich hab‘ den Mann live gesehen und es war sehr beeindruckend“. Chapeau, Udo Jürgens.