Cleverer Onkel und ein Kultur-Eckchen für die Damen – Carl Sternheims „Tabula rasa“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Diese Farbsymbolik ist schon reichlich dick aufgetragen: Wenn in der Wuppertaler Inszenierung von Carl Stemheims Stück „Tabula rasa“ wirtschaftlich-politische Dinge verhandelt werden, spielen sie sich in Wolf Münzners Bühnenbild auf einer großen grauen Fläche ab, die bis in die Tiefe der Bühne reicht und fast nur den Herren der Schöpfung vorbehalten bleibt.

Für die dienenden Damen gibt’s links vorn, schräg nach hinten gekippt, ein kleines rosarotes „Kultur-Eckchen“ mit Klavier, Staffelei, Ballettstange und Spiegel. Die Verbindung beider Sphären ist denkbar gering und wacklig: Mit einem Bein ragt ein Tisch aus dem grauen in den rosaroten Bereich, nur gestützt von einer winzigen Klassiker-Büste.

An dem Tisch residiert Wilhelm Ständer, Sozialdemokrat auf Abwegen: Heimlich ist er zum Mitaktionär der Rodauer Glasfabriken geworden. Nach wie vor kehrt er den kämpferischen Arbeiter heraus, doch hinter verschlossenen Türen und Vorhängen läßt er sich von einer Magd bedienen und lebt wie ein Bourgeois. Die Geschichte: Um von diesem Widerspruch, der bei einer Generalrevision zum Betriebsjubiläum ans Licht zu kommen droht, abzulenken und schließlich „reinen Tisch“ zu machen (sprich: sein egoistisches Selbst ausleben zu können), setzt er ein Scheingefecht um eine Arbeiterbücherei in Gang und spielt dabei radikale und gemäßigte Sozialdemokraten gegeneinander aus; Revolte und Rückzug halten so einander aufs Prächtigste die Waage und verschaffen Ständer den nötigen Handlungsspielraum.

Das Fatale an Sternheims 1919 uraufgeführtem Stück: Es baut als Gegner Ständers nur kleine Popanze und Phrasendrescher auf, die furchtbar leicht zu überwinden sind – und es billigt Ständers rigorose Selbstverwirklichung; ganz im Sinne Nietzsches.

Satirische Spitzen abgebrochen

Doch wild-entschlossen geht es hier keineswegs zu: In Ulrich Greiffs Wuppertaler Inszenierung ist Ständer (redlich bemüht wie auch die anderen Darsteller, die alle mehr können, als sie hier zeigen dürfen: Gerd Mayen) alles andere als ein selbstsüchtiger Dämon. Er wirkt wie ein netter, cleverer Onkel, der halt weiß, wie man ans Geld rankommt, und dies dem Publikum augenzwinkernd mitteilt. Diese Haltung billigt sich, weil nett und „harmlos-alltäglich“, noch viel leichter. So hat denn die ganze Sache einen Grundgestus von Versöhnlichkeit, satirische Spitzen sind abgebrochen.

Komik überhaupt stellt sich in dieser – über weite Strecken erschreckend hilflosen – Inszenierung nur in Ansätzen ein (am ehesten noch bei Andreas Peckelsen als gemäßigtem „Sozi“ Artur Flocke), sie bleibt meist äußerlich: Die teilweise abstrusen Kostüme wirken eher wie „Narrenschellen“, die man den Figuren angehängt hat.

Überdies sind Raum- und Zeiteinteilung ungeschickt gehandhabt: Der weitläufige Bühnenraum verlangt unnötig lange Wege von den Schauspielern; dabei wird sinnlos Zeit verbraucht, es entstehen ungefüllte „Textlöcher“, die Aufführung findet keinen Rhythmus. Extrem wird das, wenn ein ganzes Arbeiterstatisten-Heer gemächlich Einzug hält und noch umständlich Stühle bereitgestellt werden. Die nachfolgende Massenszene ist die ärgste des Abends, sie erhebt sich nur wenig über Laienspielniveau.

Nur höflich-wohlwollender Beifall für die letzte Schauspiel-Premiere der Intendanten-Ära Fabritius.




Provokation ohne Ertrag – Franz Xaver Kroetz‘ „Stallerhof“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

In der Geisterbahn bekommt die geistig „zurückgebliebene“ Stallerhof-Tochter „Beppi“ dermaßen Angst, daß ihr etwas höchst Peinliches passiert. Der alte Hofknecht Sepp heißt sie die Unterwäsche ausziehen und beseitigt hilfreich die Spuren des Malheurs. Dann geschieht’s, wie in einem Anfall: „Nimmt sie, entjungfert sie“, heißt es lakonisch in Franz Xaver Kroetz‘ Szenenanweisung.

Auf dem Wuppertaler Bühnenboden folgt die Andeutung eines hastig-bizarren Beischlafs. Einem praktizierenden Zyniker im Parkett reichte das quicke Tempo noch nicht: „Schneller!“, feuerte er die Darsteller lautstark an. Auch andere wollten es hinter sich haben: Diese Szene der „Stallerhof“Inszenierung (Regie: Ulrich Greiff) sorgte bei der Premiere für einen veritablen Publikums-Exodus. Dutzende verließen zornig das Elberfelder Schauspielhaus. Hier kann Theater noch schockieren.

Der Inhalt des 1972 uraufgeführten Kroetz-Stücks ist rasch erzählt: Besagter Knecht schwängert die debile Beppi; deren Eltern jagen Sepp vom „Stallerhof“ und vergiften seinen Hund. Sie überlegen, ob sie Beppis Leibesfrucht abtreiben sollen (hier flüchteten erneut einige Zuschauer), können sich aber nicht dazu durchringen. Schlußbild: Die Wehen setzen ein.

Das Fatale an der Aufführung ist gar nicht die Drastik einiger Szenen (die schließlich im Text stehen), sondern der geringe künstlerische Ertrag der Provokation. Das Bühnenbild (Rosemarie Krines) zeigt simultan alles her, was zur engen bäuerlichen Welt gehört: Riesenbett mit Kruzifix, Heuballen, Herdstelle samt Eßtisch, ländliches Ausflugslokal.

Bei Kroetz heißt es zum Bühnenbild: „Äußerst sparsam. Nur Versatzstücke“. In Wuppertal wird zu vieles vorgezeigt, beinahe wie in einem Museum bäuerlicher Kulturdenkmale; ganz so, als fürchte man, vor dem Publikum sonst „mit leeren Händen“ dazustehen bzw. als mißtraue man der Phantasie der Zuschauer. Ähnliches gilt für die Musik (Heinz Becker/Karl-Heinz Stegmann), die jedes Körnchen des Geschehens zu Tönen verarbeitet – vom Katzengejammer bis hin zum Jahrmarktsrummel. Und: Die Geisterbahn-Fahrt wird durch albernes Lichtgeflacker „verdeutlicht“.

Auch der Text wird über weite Strecken schlicht ausgebreitet, nicht ausgelotet. Die bayerischen Dialekt-Tupfer vermitteln hier allenfalls blasses Kolorit, nicht aber Schärfe und Kontur. Auch in den langen Redepausen der „sprachenteigneten“ Figuren klingt wenig nach, oft ist es nur die schiere Leere statt gezielt quälender Stille.

Franz Träger und Isabel Zeumer als Stallerhof-Ehepaar vermögen ihren Figuren kaum Tiefenschärfe zu verleihen. Dörte Steindorff (Beppi) und besonders Günther Delarue (Sepp) stehen hingegen für ein paar anrührende Szenen ein, in denen spürbar wird: Es ist zwar eine trostlose Liebe zwischen den beiden. Aber es ist eine Liebe.




Dichtes und konzentriertes Schauspielertheater – Ibsens „Gespenster“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Schon Theatertradition hat die Spöttermeinung, nach der mit dem medizinischen Fortschritt ein Großteil der Konflikte in Henrik Ibsens „Gespenster“-Drama sich von selbst erledigt hätte. Das schlimme Erbteil des alten Lüstlings Alving, der seinem Sohn Osvald Syphillis und Hirnparalyse „vermacht“, hätte quasi ausgeschlagen werden können, und der ganze Familienabgrund, den dieses 1881 uraufgeführte Stück aufrührt, wäre bedeckt geblieben.

Man muß gar nicht an „Aids“ denken, um dem Stück neue Aktualität aufzuzwingen. Es handelt natürlich nur nebenbei auf medizinischer, vor allem aber auf psychologischer und gesellschaftlicher Ebene von den „Gespenstern“ einer Vergangenheit, die „nicht einmal vergangen ist“, mächtig das Heute überschattet und „späte Geburt“ eher zum Fluch macht.

Ulrich Greiffs Wuppertaler Inszenierung riskiert keine Neudeutung, sie ist konventionell wie ihr Bühnenbild (Rosemarie Krines), das Ibsens Anweisungen sehr getreulich folgt und so ähnlich schon vor Jahr und Tag hätte gebaut werden können. Greiff erliegt diesmal nicht den Versuchungen jener Art von Regietheater, mit dem er schon manches Mal Schiffbruch erlitten hat; er stützt sich hier ganz auf die Schauspieler. Und siehe da: es wird gutes Schauspielertheater, wie man es in dieser Dichte und Konzentration in Wuppertal lange nicht gesehen hat. Guten Gewissens kann man diesmal auch von wirklicher „Sprechkultur“ reden, die die Aufmerksamkeit zusätzlich in Bann schlägt.

In einer langen Reibe von „Aussprachen“ wird der Kampf der tödlichen Wahrheiten wider die verlogenen Ideale ausgetragen, wird das Trugbild der gutsituierten Familie Alving gnadenlos demontiert: Hervorragend Lin Lougear als Witwe Helene Alving, die stets bedrohte Balance zwischen Stolz und Verzweiflung haltend; auch Siegfried Maschek als Osvald hütet sich, die Anzeichen seiner Hinfälligkeit zu sehr zur Schau zu stellen. Günther Delarue als „Tischler Engstrand“ – ein Kabinettstück dummschlauer Verschmitztheit, etwas auch von jener Uneindeütigkeit einlösend, die Ibsen mit seiner legendären Antwort auf die Frage erzielte, ob denn Engstrand das Kinderasyl der Helene Alving in Brand gesteckt habe: „Zuzutrauen wär’s dem Kerl schon!“

Gerd Mayen als „Pastor Manders muß eine schwierige Gratwanderung absolvieren; allzu gestrig wirken die ordnungsfrommen Sittenthesen Kirchenmannes, so daß stellenweise Gelächter im Zuschauerraum aufkommt. Doch es wird auch deutlich, daß Manders ein großes Kind ist, das an Idealen hängt wie an Rockzipfeln; nur sind es die falschen, und der ganze Mann ist bemitleidenswert.

Es gab langen, herzlichen, beinahe erleichterten Beifall. Im Publikum klafften größere Lücken. Haben manche, nach der Kündigung des Wuppertaler Intendanten, das Theater bis auf weiteres aufgegeben?




Das Mädchen-Pensionat von Theben – Aischylos in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Wer das „siebentorige Theben“ erbaut hat, ist spätestens seit Bert Brechts Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“ kein großes Geheimnis mehr: Nicht Herrscher waren es (die ließen bauen), sondern das gemeine Volk. Von jenen, die die Stadt hernach in tödliche Gefahr brachten, handelt Aischylos um 467 v. Chr. uraufgeführtes Stück „Die Sieben gegen Theben“, mit dem das Wuppertaler Theater jetzt die neue Saison eröffnete.

Auf dem Geschlecht von Eteokles und Polyneikes, den Söhnen des Ödipus, lastet der Fluch der Götter. Die Brüder haben eine Art „Rotations-System“ vereinbart: Jeder soll abwechselnd ein Jahr in Theben regieren. Doch – und damit setzt die Tragödie ein – Eteokles verweigert die Übergabe der Herrschaft und läßt die Stadt verbarrikadieren.

Von allem abgehoben, sitzt – in Ulrich Greiffs Wuppertaler Inszenierung – Gregor Höppner als „Eteokles“ auf einem hohen Metallgerüst; ein Usurpator, der sich ums Niedere nicht kümmert und in luftiger Höhe Kriegs- und Machtpläne schmiedet. Zu Beginn trägt eine graue Schar von Männern, wort- und also widerspruchslos gehorsam, Steine über die Bühne: Vorbereitungen zur großen Schlacht.

Widerstand formiert sich allein im zwölfstimmigen Chor der „thebanischen Jungfrauen“. Mit Klagen und Anrufungen der Götter (und Göttinnen!) wollen die Mädchen Eteokles von seinen Kriegsplänen abbringen. Daß dies Unterfangen vergeblich sein muß, wird in Wuppertal schmerzlich klar, wirken doch die Chorpassagen hier nur selten aufrüttelnd, sondern eher wie die Aufsage-Übungen einer Schulklasse. Man spürt manchmal förmlich, wie die Gruppe die Taktzeiten der Sprechpausen innerlich mitzählt, um dann gemeinsam wieder einzusetzen. Gewiß stecken viel Fleiß und Disziplin dahinter, aber ein Theater-Ereignis ist das nicht.

Anfangs, vor der Katastrophe des gegenseitigen Brudermords, wird da auch noch gestrickt und gekichert, so daß man sich in einem Mädchen-Pensionat wähnt. Und nun gar: Als hantierten sie mit Bauklötzen, setzen sie kurz vor der Pause Schachteln zu immer wieder stürzenden Türmen aufeinander. Symbolhandlung für die Nutzlosigkeit von Geduld oder eher ein hilfloser Einfalt der Regie?

Es gibt plausiblere Ideen: Etwa in der Szene, in der Eteokles vom „Boden“ redet, der zu verteidigen sei, dann aber erst vom Gerüst herabsteigen und drunten eine Luke öffnen muß, um an Thebens Erde zu geraten. Da wird bildhaft deutlich, wie absurd weit sich der Mann von den Realitäten entfernt hat. Aus dem Mittelmaß ragt auch Holger Scharnberg als „Späher“ heraus, der Eteokles die Stärke der anrückenden Feinde ausmalt. Scharnberg macht daraus ein Kabinettstück nach Art Shakespear’scher Narren.




Wechselbäder zwischen Revolte und Schunkellied – Lokalrevue „Oh, du mein Wuppertal“ uraufgeführt

Von Bernd Berke

Wuppertal. „Oh, du mein Wuppertal“ heißt die Revue. „Ach, du meine Güte!“, könnte man antworten. Denn schier alles, was nicht niet- und nagelfest war, wurde für diese (andernorts kaum nachspielbare) Uraufführung im Wuppertaler Schauspielhaus gleichsam „eingemeindet“. Stellenweise wuchs sich das zu einem monströsen Panoptikum der Beliebigkeit aus.

Worauf herauf? Sollte es eine Polit-Revue sein – mit jenen Texten von Ernesto Cardenal (dessen Bücher in einem Wuppertaler Verlag erscheinen) und Heinrich Böll (der 1966 die Eröffnungsrede im Wuppertaler Schauspielhaus hielt)? Oder ein Abend mit karnevalsreifen „Vertällches“, dargeboten vom Orts-Original Hans „Ötte“ Geib? Oder gar doch ein poetischer Abend mit Lyrik der Wuppertalerin Else Lasker-Schüler? Oder eine trunkene Liebeserklärung an Stadt und Region mit dem „Bergischen Heimatlied“ und Songs à la „Mädel, fahr mit mir Schwebebahn“? Ja, das alles, auf Ehr‘, das gab es – und noch mehr.

Sicher: In einer Revue mag es drunter und drüber gehen. Aber irgend ein lenkender Sinn und Fingerspitzengefühl sollten doch erkennbar sein. Cardenals Revolutionsgedichte, ein Punk-Ballett („Schade, daß Beton nicht brennt“) – und dann ein Schunkellied zum Mitsingen, das geht einfach nicht zusammen. Das sind mehrere Programme. So gemixt, wird das Ernste schnell harmlos, das Heitere infam.

Die Textsammler Wolf Jürgen Brehm, Ulrich Greiff (auch Regie) und Lothar Schwab mochten, so scheint es, kein Archiv auslassen. Fleißig haben sie noch den letzten Winkel nach lokal Verwertbarem durchkämmt. Sicherlich habensie noch Funde in petto, die der Revue aufhelfen können. Es gab nämlich auch so schon durchaus gute Ansätze. Besonders vor der Pause ließen einige geschickt zusammengestellle Texte aufhorchen. Goethes Besuch in Elberfeld etwa (1774 beim Literaten Jung-Stilling) und des „Dichterfürsten“ vernichtende Kritik an pfäffischer Frömmeiei daselbst. Sodann der erhellende Bezug zu einem Brief von Friedrich Engels, der sich exakt demselben Thema widmete. Zuvor, auch dies eine Funken schlagende Zusammenfügung, Immermanns Notiz über Pferde, die seinen „Hamlet“ störten, sowie die Überleitung zu den heutigen Tierversuchen eines Chemieriesen am Ort.

Die Umsetzung: Schwierig, weil Ulrich Greiff so vieles, was auseinanderstrebte, Schlag auf Schlag auf die Bühne bringen mußte. Ein Wechselbad. Die Technik mußte sozusagen Himmel und Hölle in Bewegung setzen, Massenbilder (bühnenfüllend: Wuppertaler Jugend) wechselten abrupt mit intimen Szenen. Notdürftige Klammer war das Anfangs- und Schlußbild (Bühne: Rosemarie Krines) mit Showflitter auf Schwebebahnmasten. Sechs Profi-Schauspieler „vertrugen“ sich recht gut mit Tanzgruppe und Laiendarstellern Die Musik-Band gehörte zu den Pluspunkten.

Übrigens: Von einem aus Wuppertal stammenden Kanzlerkandidaten war auch die Rede. Der, niemand anders als der bibelfeste Johannes Rau, saß im Publikum und nahm vergnügt die (auf Bonn gemünzten) Ratschläge aus den Büchern „Salomo“ und „Jesus Sirach“ zur Kenntnis.




„Dantons Tod“: Die Revolution als Kasperltheater

Von Bernd Berke

Wuppertal. „Dantons Tod“ ist von der ersten Szene an eine Tatsache, die nur noch nicht ganz eingetreten ist.

Der ehedem revolutionäre Melancholiker verbirgt sich vor der elenden Schreckensherrschaft Robespierres unter Julies weißem Rock – und der ist schon ein symbolisches Leichentuch. Mit Georg Büchners Stück, dessen Untertitel „Die Revolution frißt ihre Kinder“ lauten könnte, eröffnete das Wuppertaler Schauspielhaus die neue Spielzeit.

Von „Revolution“ ist nichts mehr zu spüren in Ulrich Greiffs Inszenierung. Robespierres Guillotinen-Terror, im Namen einer genußfeindlichen „Tugend“ rasend geworden, hat nicht nur die politische Vernunft, sondern die ganze Realität ausgelöscht. Simon (Holger Schamberg) hockt, dem Publikum zugewandt, wie ein Shakespearscher Narr in seinem Souffleurkasten und pocht – zum Ersten, zum Zweiten, zum Letzten – die Stationen des Unaufhaltsamen ab. Ausverkauf der Utopie.

Die Bühne (Einrichtung: Wolf Münzner) ist diagonal geteilt. Vom rechts spielen sich die traumwandlerischen Szenen aus Dantons Sphäre ab, hinten links gibt ein zweiter Vorhang sodann den Blick aufs „Volk von Paris“ frei. Rund 160 Statisten nennt das Programmheft. Sie haben keinen echten Aktionsraum, sondern verharren meist auf einer riesigen schwarzgrauen Treppe, die schräg in die Bühne hineinragt und so beengend ist, wie das ganze Konzept dieser Aufführung.

Dieses Volk ist in erster Linie tumbes „Beifallsvieh“, die Revolution ein Kasperltheater: Wer immer von den Führern „Seid ihr auf meiner Seite?“ ruft, kann alsbald mit einem vielstimmigen „Ja“ rechnen.

Alles nur Traum und Theater also. Und so erlebt man auch Szenen künstlicher Erstarrung, die nur hin und wieder weiterrücken, um dann gleich wieder einzurasten. Triebkräfte gibt es da nicht. Alles, was geschieht, „geschieht eben“.

Die Revolution ist längst keine mehr. Danton soll geopfert werden, um das hungernde Volk noch einmal anzustacheln. Heiner Stadelmann spielt den „Danton“ als schwerblütigen Fatalisten, der seinen letzten Antrieb, die Früchte der politischen Umwälzung genußreich zu verzehren, freilich nicht recht glaubhaft machen kann. Lebendig darf er nicht sein, nur kurze Augenblicke des Aufloderns kann er zeigen. Eine schwierige Rolle. Siegfried Maschek gibt Dantons Widersacher Robespierre als vereinsamten Demagogen. Insgesamt bietet das Ensemble eine geschlossene Leistung. Ohne schlimme Schwachpunkte, aber auch ohne Szenen, die wirklich betroffen machen könnten. Trotzdem: orkanartiger Beifall.




Endloses Trauma der Verfolgten – Judith Herzbergs „Schadenfreude“ in deutscher Erstaufführung

Von Bernd Berke

Wuppertal. Mut zum eigenwilligen Spielplan beweisen die Wuppertaler Bühnen. Binnen zehn Tagen gab es nun schon die zweite deutsche Erstaufführung. Nach Ayckbourns „Stromaufwärts“ jetzt: Judith Herzbergs „Schadenfreude“ (Regie: Ulrich Greiff).

Judith Herzberg (50), geboren in Amsterdam, ist Jüdin. Ihr Stück (Originaltitel: „Leedvermaak“) führt eine Anzahl von Menschen bei einer Hochzeitsfeier zusammen. Die jüdischen Eltern der Braut haben zwar die KZ-Haft überlebt, sind aber seelisch zerstört. Unauslöschliehe Nachwirkungen auch bei der Braut „Lea“, die „damals“, ihrer Identität beraubt, zu einer christlichen „Kriegsmutter“ kam. Dazu die Eltern des Bräutigams, die jeweiligen Ex-Ehepartner der Brautleute; schließlich „Daniel“, der wie eine Leidensfigur aus den Kriegstagen in die Jetztzeit hereinragt.

Hochzeiten veranlassen für gewöhnlich die Älteren zur Bilanz, die Jüngeren zur Zukunftsschau. Doch wenn da keine nennenswerte Zukunft ist, sondern nur übermächtige Vergangenheit, dann weiten sich die üblichen Beziehungskatastrophen in neue Dimensionen. Das Trauma der Verfolgung bricht immer wieder durch, macht jedes Gespräch zur Verletzung, jede Annäherung zur Entfernung.

Gespielt wird auf der breiten Fläche des Foyers, gleichsam in „Cinemascope“. Die Fassade: üppiges Buffet, Hut- und Mantelablage, blaue Sitzgarnitur, große Zimmerpflanze. Und Treppen, die ausgiebig genutzt werden. Es herrscht ein unaufhöfliches Kommen und Gehen. In Dutzenden von Mini-Szenen defilieren die Figureneinzeln, paar- oder gruppenweise vorbei. Auf scheinbar unverbindliches Party-Gewäsch folgt Ehezerwürfnis, auf Jux und Dollerei tiefgründelnde Lebensphilosbphie, und zwischendurch – beinahe wie ungewollt – obsessive Erinnerung an die Kriegszeit. Schaden, ja und Freude auch, hie und dort. Aber „Schadenfreude“? Bei uns Zuschauern?

In Wuppertal wird die Nummern-Dramaturgie recht unelegant umgesetzt. Merklich aufs Stichwort hin erscheinen manche Darsteller, liefern Szenen ab. Manchmal wird über den Text sinniert, anstatt daß er „gegeben“ wird. In der Konversation raschelt Papier. Rühmlichste Ausnahmen: Ursula von Reibnitz als Leas Mutter Ada, Siegfried Maschek als Bräutigam Nico.

Das Stück verweigert Herleitungen und psychologische Stimmigkeit, es führt seine Personen nur punktuell vor. Unmerklich haben sich von Szene zu Szene die Beziehungen verschoben, Erdverwerfungen gleich. In Wuppertal aber bleibt das meist schimärenhaft, ungreifbar, wirkt wie aneinandergepappt.

Verständlich, daß ein deutsches Theater bei diesem Thema nicht den Mut zum possenhaften Vaudeville aufbringt, das doch im Programmheft so zustimmend als Ingredienz des niederländischen Theaters bezeichnet wird. Folge aber: Da das Lachen sich nicht einstellt, kann es auch nicht im Halse steckenbleiben.




Büchners „Woyzeck“ in Wuppertal – Inszenierung lässt vieles offen

Von Bernd Berke

Wuppertal. Mit Georg Büchners „Woyzeck“ ist das so eine Sache. Seit Generationen streiten sich die Philologen, in welche Reihenfolge die Szenen gehören (wovon u. a. abhängt, ob Woyzecks Gang ins Wasser als Selbstmord oder als Reinigung anzusehen wäre), ja die Gelehrten sind sich noch nicht einmal einig, ob es sich um ein „Fragment“ handelt oder ob die offene Dramenform als in sich abgeschlossen zu gelten hat.

Wuppertals Bühnen haben sich in Gestalt des Regisseurs Ulrich Greiff und seines Dramaturgen Lothar Schwab dafür entschieden, die Sache nicht gar so ernst zu nehmen. Im Programmheft läßt Schwab durchblicken, daß man die Szenen nahezu beliebig umstellen könne, was während der Proben auch mehrfach geschehen sei.

Und so läßt denn diese Inszenierung vieles offen. Sie umkreist gleichsam ihre Hauptfigur (den nicht nur mit medizinischen Versuchen geschundenen Franz Woyzeck), greift den oder jenen roten Faden auf, läßt ihn fallen, faßt an anderer Stelle wieder zu. So kommt es, daß auch die Motivationen sich auffächern. Ist nun, so fragt man sich, Woyzeck das Opfer sozialer Umstände oder seiner eigenen Seelenverwirrung oder gar der allgemeinen Unzuträglichkeit menschlicher Existenz? Auch Ansätze, Woyzeck überhaupt nicht mehr als unbedarftes Opfer, sondern als messerscharf denkenden (und träumenden) Menschen darzustellen, sind vorhanden.

Manches wirkt umständlich. Heftigst werden Kulissen geschoben,  ja einmal rollt mitten in der Szene, die ganze graue Silhouette einer Stadt weg. Den Protagonisten werden zuweilen Laufleistungen abverlangt, die das Stück nicht um ein Jota vorwärtsbringen. Und wenn ein wallendes Tuch, mit blutrot verlaufendem Fleck besprenkelt, zunächst die ganze Bühne bedeckt und sich wie ein wörtlich zu nehmendes „Verhängnis“ bläht, sodann aber als bodenlose Rutschbahn für eine Bühnenleiche (die von Woyzeck erstochene Marie. de ihn betrogen hat) dient, dann schlägt Umständlichkeit in Abwegigkeit und unfreiwillige Komik um.

Eher ablenkend als sinnerhellend wird auch die Figur des „Idioten Karl“ eingesetzt. Im Text nur mit wenigen Sätzen ausgestattet, ist sie hier – das Haupt bandagiert – ständig anwesend, trinkt, raucht und vollführt pantomimische Darstellungen.

Auf Heiner Stadelmann, der die Titelrolle spielt, lastet viel; er entledigt sich seiner Aufgabe bemüht, wenn auch nicht immer zureichend (sein Mord etwa wirkt wie ein Zufall, der auch hätte unterbleiben können); Isabell Zeumer als „Marie“ tritt gar nicht recht in Erscheinung. Glanzpunkte hingegen im grotesken Panoptikum rund um Woyzeck: Gerd Mayen als „Doktor“ liefert einen wahnsinnigen Wissenschaftler – immer hart am Rande des Klischees, aber doch glückhaft daran vorbei. Heinz Voss als Hauptmann setzt seine Mittel ökonomisch ein und erzielt viel Wirkung. Für Wuppertaler Verhältnisse gab’s nur mäßigen Beifall.