Preis für grotesken Humor: Ulrich Holbein ausgezeichnet

Loriot hat ihn erhalten. Ernst Jandl, Robert Gernhardt, Hanns Dieter Hüsch, Ingomar von Kieseritzky, Ror Wolf, Katja Lange-Müller, Gerhard Polt, F. W. Bernstein, Peter Rühmkorf, Herbert Achternbusch und fünfzehn weitere um ihre Vertrautheit mit dem Grotesken oft beneidete Persönlichkeiten ebenfalls. An diesem Wochenende geht der Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor an Ulrich Holbein. Sollte Ihnen der Name unbekannt sein? Verwechseln Sie ihn gar mit einem anderen Herrn Holbein? Das wäre betrüblich.

Seit seiner Kindheit trägt der 1953 geborene Ulrich Holbein zur Weltverschönerung bei. Davon kann man sich beispielsweise in dem wundervollen Buch Bitte umblättern! überzeugen, das 2010 im Elfenbein Verlag erschienen ist. In diese Reihung verheißungsvoller Textanfänge gehört auch ein netter Kinderbrief an den Uropa, säuberlich auf Linienpapier geschrieben und mit Buntstiftzeichnungen am Blattrand. Leider erfahren wir nichts über die Uroma, denn der Brief bricht wie jedes Dokument dieser „Einhundertelf Appetithäppchen“ nach der ersten Seite ab – oftmals mitten im Satz oder Wort. Beim Umblättern tut sich ein neuer Text auf, oder eine Zeichnung oder eine Collage. In einem anderen Text des Bandes wird Satz für Satz die persönliche Entwicklungsgeschichte des Autors der Entwicklung der Menschheit gegenüberstellt. Überzeugend.

Im gleichen Verlag war zuvor Isis entschleiert erschienen, eine Geschichte, die sich ausschließlich aus Zitaten zusammensetzt. Das liest sich etwa so:

Ekkehard Wiederholz: Wenngleich es auch für den Angler appetitlicher sein mag, nur mit sauber gewaschenen Därmen zu arbeiten, würden sie jedoch mit einer gründlichen Säuberung im Wasser ihrer gesamten Duftstoffe und damit ihrer ganzen Anziehungskraft als guter Köder beraubt. Jegliche Därme dürfen daher nur leicht ausgedrückt, das heißt zwischen zwei zusammengepreßten Fingern hindurchgestreift, nicht aber gewaschen werden.
Leonardo da Vinci: Viele werden sich ein Haus aus Därmen bauen und sogar in ihren eigenen Därmen wohnen.
Ulrich Holbein (seinem Vater die Wurst wegreißend): Vorsicht! Du fügst ihr lebensgefährliche Bißwunden zu!
Walter Holbein (die Wurst sofort zurückerobernd): Gib das Ding her!
Ulrich Holbein: Die Wurst war damals schon mein Opa – spürst du das nicht beim Reinbeißen, wie er »Aua!« ruft?
Herta Müller: Der Fuchs war damals schon der Jäger.
Wilhelm Busch: Die Strafe bleibt nicht aus. Jeder Jäger wird mal ein Hase, früher oder später, denn die Ewigkeit ist lang.
Bishma: Geschöpfe, deren Fleisch ich in dieser Welt esse, essen das meinige in der nächsten Welt.
Elias Canetti: Das Tier, das man gegessen hat, merkt sich, wer es war. Seine Seele lebt weiter und wird im Jenseits zu einem Menschen. Dieser wartet geduldig auf den Tod seines Verzehrers. Sobald er im Jenseits ankommt, findet das Opfer ihn, packt ihn, zerschneidet ihn und ißt ihn auf.“
Und so weiter.

Aus lauter Zitaten besteht auch eine „Love Story“ in Ulrich Holbeins Weltverschönerung (2008). Die Textmontage aus Werken von 162 Autoren beschreibt der Menschheit liebste Beschäftigung, die – so dargestellt – in ihrer Austauschbarkeit ziemlich lächerlich erscheint. Aber ob die im gleichen Band veröffentlichten zwölf Thesen und elf praxisorientierten Tipps zum Thema „Wer raffiniert onaniert, rettet die Welt“ den Leser aus dem Dilemma befreien?

In der 13. Ausgabe der Zeitschrift Oya (anders denken. anders leben) erscheint im März/April 2012 der Anfang von Holbeins neuestem „Liebesroman“ Traumpaar ohne Notbremse – wieder nur eine einzige Seite. Klingt ein Liebesroman so? „Sie knallte mir alles mögliche vor Latz und Kopf. Sie ging mir auf den Geist, auf Keks und Wecker und Sack und Gemüt. Es hagelte Blöff und Jux und Sex und Peng und Tschüs.“ Bei Ulrich Holbein schon – neben zarteren Tönen des vorerst letzten Romantikers.

Ein ausgeprägter Individualist ist der an diesem Wochenende geehrte Ulrich Holbein allemal – in seiner literarischen Stilvielfalt, in seiner extravaganten Selbstgestaltung, der Eremitage im Knüllgebirge, den Lektüre- und intellektuellen Präferenzen. 23 Bücher und 892 Einzelpublikationen hatte der Autor bereits bis zum Abbruch seines Netztagebuchs „ulyversum“ im Jahr 2008 vorzuweisen. Einer breiteren Leserschaft ist er durch die Kolumnen „Sprachlupe“ in Die Zeit und „Standardsituationen“ in der Süddeutschen Zeitung bekannt geworden. Als einen Vielschreiber kann man ihn jedoch allenfalls in quantitativer Hinsicht bezeichnen. Holbein ist, wie er selbst sagt, „anders als alle, die anders als andere sind.“

Subjektiv zusammengefasste Lebensläufe von 255 Exzentrikern, Eigenbrötlern, komischen Käuzen und Aposteln aller Art hat Ulrich Holbein in seinem dickleibigen Lexikon Narratorium (2008) vereint, von denen insgesamt 48 in diesem Jahr in den beiden Bänden Heilige Narren und Heilige Närrinnen im Marixverlag neu herausgebracht werden. Doch umfasste das Narratorium bei weitem nicht nur Gurus und Glückssucher, vermeintliche oder echte Heilige im engeren religiösen Sinne, sondern auch von Holbein verehrte Großliteraten wie Jean Paul oder Arno Schmidt.

Ulrich Holbein würde perfekt in sein eigenes Narratorium passen und wird zu Recht mit dem Literaturpreis für grotesken Humor ausgezeichnet, den die Stiftung Brückner-Kühner alljährlich in Kassel vergibt. Die Lobworte am Samstagabend im Kasseler Rathaus sprachen Harry Rowohlt (für den Förderpreisträger Tino Hanekamp) und Bazon Brock (für Ulrich Holbein). Holbeins langjährige Partnerin, die Komponistin Viera Janárčeková, komponierte für den Abend “Tangomutanten für Quetschkommode und kleine Bassgeige”.

Daneben wurde im Kasseler Rathaus die Ausstellung “Lieber eine falsche Weltsicht als gar keine Flügel! Seufzer, Statements, Appelle” mit emblematischen Fotocollagen von Ulrich Holbein eröffnet. Denn Holbein ist nicht nur ein Wortkünstler. Auf Buchmessen trifft man ihn meistens mit einer handlichen Kamera an. Er knipst, er montiert, er collagiert und textet Sprechblasen.

Der Glückwunsch aus dem Ruhrrevier erscheint im Netz mit einem Tag Verspätung. Der Gratulant hat sich gestern einmal mehr in Ulrich Holbeins Büchern festgelesen und fand die Lektüre vergnüglicher, als seinerseits einen Artikel zu schreiben.

Letzte Buchveröffentlichungen von Ulrich Holbein u.a.:

Heilige Narren. 22 Lebensbilder. Wiesbaden: Marixverlag 2012.
Heilige Närrinnen. 22 + 4 Lebensbilder. Wiesbaden: Marixverlag 2012.
Bitte umblättern! Einhundertelf Appetithäppchen. Berlin: Elfenbein 2010
Narratorium. Zürich: Ammann 2008.
Ulrich Holbeins Weltverschönerung. Frankfurt am Main: Zweitausendeins 2008.
Januskopfweh. Glossen, Quickes und Grotesken. Berlin: Elfenbein 2003.
Isis entschleiert. Heidelberg: Elfenbein 2000.

Ulrich Holbein auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober 2011 / Aufnahme: W. Cz.




Der ganze Wahnwitz in einem Buch – „Narratorium“ von Ulrich Holbein

Jetzt wollen wir’s aber wissen: Welches Buch hat in dieser Saison die größte thematische Spannweite? Welcher Band versammelt in hochkonzentrierter Form den meisten Wahnsinn?

Nun, da mag es einige Kandidaten geben, doch die reichhaltigste Fundgrube in beiderlei Hinsicht dürfte das „Narratorium” sein. Im Titel klingt Doppelsinn an: Es geht um schier unerschöpfliche Vorräte an Erzählstoff (also „narrative” Qualitäten), zugleich aber um Narretei und Besessenheit jeder denkbaren Sorte. Da steht nun der finstere Terrorfürst Osama bin Laden neben einem Fuzzi wie Dieter Bohlen, der erzpessimistische Denker E. M. Cioran neben der erotischen Tanzikone Josephine Baker, Jesus neben Hitler, Klaus Kinski neben Kafka, Joseph Beuys, Bhagwan, Rudolf Steiner, Janis Joplin oder Prinz Charles. Und so weiter. Gütiger Himmel, hilf!

255 Kapitel zum Kopfschütteln

Der enzyklopädisch belesene, allzeit scharfzüngige Autor Ulrich Holbein hat recherchiert wie ein Berserker. Er ist in Auswahl und Darstellung nicht zimperlich; er jagt echte Genies (z. B. den Romancier Jean Paul), Visionäre und halbwegs harmlose Apostel, doch auch Diktatoren und Mörder durchs Panoptikum.

Holbein hat ein radikal subjektives, verstörendes, höchst unterhaltsames Lexikon der „Verrückten” aus zweieinhalbtausend Jahren Menschheitsgeschichte zusammengetragen. Die meisten Gestalten haben tatsächlich gelebt, einige der Porträtierten sind fiktiv, haben aber das kollektive Bewusstsein geprägt. Man lernt hier bizarre Leute kennen, von denen man noch nie gehört hat. Und über die, von denen man schon etwas wusste, erfährt man oft noch Bestürzendes.

In rasanten, stark zugespitzten und süffig formulierten Porträts filtert Holbein die Essenz von 255 größtenteils irrwitzigen Lebensläufen, garniert mit typischen Zitaten und Selbsteinschätzungen der Beschriebenen. Da kommt man aus dem Kopfschütteln oft gar nicht mehr heraus. Religiös, aber auch weltlich Verzückte und Verirrte aller historisch verbrieften Zeiten betreten da die Bühne; ferner Schamanen und Sonderlinge, Weltverbesserer, Gurus, Exzentriker, Extremisten, Unholde, Verbrecher und überhaupt auffällige Gestalten jeder Schattierung.

Methoden zur „kunstgerechten Kreuzigung“

Wir greifen willkürlich ein Beispiel heraus: den irrlichternden Freigeist namens „Mynona” (alias Salomo Friedlaender), der von 1871 bis 1946 sein schrilles Wesen getrieben hat. Dieser Mann, den man mit Fug randständig nennen könnte und der doch auch etwas Genialisches hatte, dachte sich mit Akribie Methoden zur „kunstgerechten Kreuzigung” von Heilanden aus, schrieb Abhandlungen über die „Funktion der Milz auf der 3. transzendentalen Ebene” sowie „über Stimmbandverkümmerung in der Vagina von Hermaphroditen”. Seltsam genug.

Zudem focht „Mynona” leidenschaftlich für die Nichtverbesserung von Druckfehlern und verlangte im Laden stets „Toilettenpapier mit Trauerrand”. Genug, genug. Es ist nur ein Bruchteil seiner gehäuften Absonderlichkeiten. Jetzt rechnen Sie das mal auf 255 Lebensläufe hoch! Dass „Mynonas” Biographie in der NS-Zeit eine tief tragische Wendung nahm, verleiht der Darstellung – weit über kuriose Aspekte hinaus – historische Tiefenschärfe. Genau diese Einordnung in größere Zusammenhänge ist die Stärke des Buches. Ulrich Holbein ist ein Durchblicker sondergleichen – und klingt manchmal selbst ganz schön hochmütig. Geschenkt.

Glückliche Erschöpfung nach der Lektüre

Und der Nutzen? Wenn man das Buch gelesen hat, darf man glücklich erschöpft feststellen: Man hat gedanklich den ganzen Kreis dessen durchschritten, was Menschen anrichten können. Auch lernt man, mit welchen Ideen und Taten sich Menschen im Lauf der Zeiten verführen ließen. So erkennt man womöglich die Muster wieder und wappnet sich gegen böse Wiederholungen.

Diese ungeheure alphabetische Ansammlung erträgt man allerdings nur dosiert. Schon einzelne Lebensbilder strapazieren Toleranzbereitschaft und Vorstellungsvermögen, nötigen aber auch immer wieder ungläubiges Staunen ab über ungeahnte Grenzgänge des Lebens.

Wer man auch sei: Am Ende dieser aufregenden Lektüre kommt man sich selbst in aller Bescheidenheit wohl „fürchterlich normal” vor. Wenn das kein Zugewinn an höherer Weisheit ist!

Ulrich Holbein: „Narratorium”. 255 Lebensbilder. Ammann Verlag. 1008 S., 39,90 Euro.

(Der Autor Ulrich Holbein, Jahrgang 1953, lebt abseits vom großen Getriebe im hessischen Knüllwald. Bisherige Bücher von ihm hießen z. B. „Die vollbesetzte Bildungslücke”, „Ozeanische Sekunde”, „Das Schwein der Erkenntnis”, „Typologie der Berauschten”, „Weltverschönerung”).

Weitere Infos u. Debatte im Internet: http://www.narratorium.net




Der Autor als Fabelwesen oder: Roman aus der Datenbank – Ulrich Holbeins Suada „Warum zeugst du mich nicht?“

Von Bernd Berke

Ist Ulrich Holbein ein Mensch oder eine Datenbank? Zu jedwedem Thema hat dieser Autor eine Flut von passenden Zitaten aus der gesamten Weltliteratur parat. So einen Kerl hat die deutsche Literatur lange nicht mehr gesehen.

Ist dieses Fabelwesen, 1954 in Erfurt geboren, jetzt in Nordhessen lebend, Deutschlands (post)modernster oder nur sein modischster Schriftsteiler, ein Gegenwarts-Kasper ohne weiteren Tiefgang?

Holbein nimmt praktisch sämtliche Einwürfe, die seinen Roman „Warum zeugst du mich nicht?“ betreffen könnten, in diesem selbst vorweg. Er hat seine eigene Kritik mitgeschrieben, aber auch die Lobhudelei auf sich selbst. Ein äußerst schwieriger Patron also. Stets mit dem Hirn schon eine Windung weiter, eine Ebene höher, so scheint es. Wie der Igel, der den Hasen immer schon zurufen kann: „Ick bün all hier“.

Kein Thema und alle Themen zugleich

Der Titel spielt sowohl auf die Zeugung eines Kindes als auch auf die Schaffung eines literarischen Werkes an. Die beiden Themenfelder werden vielfach übereinander geblendet und mit vielen Dutzend anderen derart versetzt, daß man von einem uferlosen, ja ozeanischen (ein Holbein-Lieblingswort) Buch sprechen kann. Es hat kein Thema, und es hat möglicherweise alle. Das schadet dem Fortgang des Romans ebenso wie Holbeins ungeheure Belesenheit. Diese veranlaßt ihn immer wieder zu bandwurmartigen Aufzählungen im Imponiergestus, als wolle er sagen: „Seht her, was ich euch noch zu bieten habe!“

Schon die Einleitung ist eine Suada des Größenwahns, bei der der Autor nur mühsam in eine Erzählerrolle schlüpft. Dieser Erzähler behauptet frechweg, er sei über alle Literatur zwischen Homer, Shakespeare, Goethe, Botho (gemeint: Botho Strauß) und Bodo (gemeint: Bodo Kirchhoff) weit, weit erhaben. Auch sein Psychoanalytiker ist längst durchschaut: So einem Durchblicker ist nun wahrlich auf Erden nicht zu helfen.

Uferlose Aufzählung statt Erzählung

Aufzählung statt Erzählung, das ist Holbeins größtes Leiden. Und wenn er denn einmal ins Erzählen gerät, so wird es schnell ziellos bizarr, so etwa beim Streifzug durch einen Sexshop der Zukunft, beim blutigen Vernichtungsfeldzug gegen seine eigenen Figuren (Metzelei per ComputerLöschtaste), bei seinen sarkastischen Exkursen in fernöstliche Heilslehren.

Ein gewisses Vergnügen an solchen Dingen trübt er allemal selbst, indem er schlichtweg überdreht. Holbein hat Mühe, seine Ideenfülle stilistisch zu bändigen. Er geht mit seinen Stoffen nicht ökonomisch um, er verschleudert sie en masse. Das Deutsch, das er schreibt, ist eben nicht von jener Edelgüte à la Handke oder Botho Strauß. Und: Seine Figuren bleiben seelenlos.

Holbein ist überdies ein Autor, dem man ständig mißtrauen muß. Führt er einen nicht andauernd hinters Licht? Das mag ja produktiv sein. Aber ist er nicht auch völlig scham- und herzlos, so wie er erzählt? So ganz ohne jede Überzeugung, wie einer, der sozusagen überhaupt keine Verwandten kennt? Da bewegt sich einer haltlos durchs Reich der Sprache, der offenbar immer nur mit Buchstaben umgegangen ist. Ein brillanter Essayist, der sich aufs Terrain des Romans verirrt hat.

Aber, wie gesagt: All diese Einwände sind dem Manne bewußt. Wie soll man ihm nur beikommen?

Ulrich Holbein: „Warum zeugst du mich nicht?“ Roman. Haffmans Verlag, Zürich, 262 Seiten. 36 DM.