Die Landschaft des Schreibens kartographieren – „Literarische Orte im Ruhrgebiet“ jetzt als Buch

Gastautor Daniel Kasselmann über einen literarischen Ruhrgebietsführer:

Die Literaturkarte Ruhr wurde an der Ruhr-Universität Bochum erstellt. Im Oktober 2015 fand dort ein Seminar in den Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaften zusammen und setzte sich das Ziel, die vielseitige Literaturszene des Ruhrgebiets übersichtlich organisiert und für jeden zugänglich zu präsentieren.

Nach fünf Monaten der Recherche und der Erstellung von über 200 Markern stellte das Wissenschaftsteam die Karte online (www.literaturkarte.ruhr). Seitdem kann diese Karte ständig erweitert werden. Das Team der Literaturkarte Ruhr ruft dazu auf, weitere literarische Schauplätze, Institutionen oder Autoren des Ruhrgebiets zu ergänzen.

Schon über 300 Markierungspunkte

Die Wissenschaftler der Literaturkarte Ruhr haben inzwischen nicht nur über 300 Marker an Orten auf der Karte gesetzt (wo sich Literatur entweder institutionell konstituiert, das Ruhrgebiet als Schauplatz von Literatur dient oder Wohnort von Autoren ist), sie vermessen darüber hinaus das Format der literarischen Szene des Ruhrgebiets.

Nun hat der Klartext-Verlag für alle Leser 1.0 und Papierbuchliebhaber einige dieser Literaturschauplätze in Buchform herausgebracht, ausgewählt und aufbereitet von den Redaktionsmitgliedern Philip Behrendt, Anna Brendt, Tina Häntzschel, Stephanie Heimgartner, Leonie Hohmann, Caroline Königs und Sofie Mörchen.

Texte aus drei Jahrhunderten zeigen die literarische Vielfalt und Wandelbarkeit des Ruhrgebiets. Anhand von über 30 Orten kann man die literarische Seite des Ruhrgebiets mit dem Buch „Literarische Orte im Ruhrgebiet. Wegweiser zu Schauplätzen der Literatur“ entdecken.

Nicht nur „Klassiker“, sondern auch Geheimtipps

Zu jedem Ort gibt es einen Literatursteckbrief mit Angaben zu Ort, Adresse, Koordinaten, ÖPNV-Anbindung und dem bezugnehmenden literarischen Werk.  Aufmacher ist sodann jeweils ein Text über das literarische Werk, es folgen Hintergrundinformationen zu Ort und Autor, außerdem Verweise zur weiteren Literatur und allgemeine Infos.

Die Reihenfolge der Orte ist streng alphabetisch – von Bochum über Dortmund, Essen, Gelsenkirchen, Hattingen, Marl, Oberhausen, Recklinghausen bis Wetter. Das ist deshalb gewöhnungsbedürftig, weil zum Beispiel auf Frank Goosens „Sommerfest“ (Bochum) die „Jobsiade“ von Carl Arnold Kortum (ebenfalls Bochum) folgt. Es macht die Lektüre aber auch spannend, wird man doch literarisch von einem Jahrhundert in ein anderes katapultiert.

Neben den Klassikern wie „Jobsiade“ und „Milch und Kohle“ finden sich literarische Geheimtipps wie „Endstation Emscher“, „Ruhrtal-Sagen“ und „Als die Omma den Huren noch Taubensuppe kochte“.

„Literarische Orte im Ruhrgebiet“ ist ein weiterer Beleg dafür, dass wir es mit einer sehr lebendigen und geschichtsreichen Szene zu tun haben. Das Ruhrgebiet hat eine eigene Tradition, eine genuine „Handschrift“.

Behrendt / Brendt / Häntzschel / Heimgartner / Hohmann / Königs / Mörchen: „Literarische Orte im Ruhrgebiet. Wegweiser zu Schauplätzen der Literatur.“  Klartext Verlag, Essen 2019. 144 Seiten, Broschur 16,95 €.




„Ruhrgebietchen“: 36 Ansichten des Reviers

Laut Wikipedia ist das Ruhrgebiet mit 5,1 Millionen Einwohnern der größte Ballungsraum Deutschlands und der fünftgrößte Europas. Nun kommen gleich 36 Autoren daher, durchmessen mit ihren Beiträgen das Revier oder zumindest Teile von ihm. Ihr gemeinsamer Band, der im Verlag Henselowsky Boschmann erschienen ist, trägt den geradezu verniedlichenden Titel „Ruhrgebietchen“…

Da könnte man natürlich fragen, ob die Verfasser vielleicht doch die falsche Messlatte angelegt haben. Aber ihnen geht es weniger um Zahlen und Statistiken, sie erzählen vom Leben und Alltag der Menschen, von ihren Werten und Charakteren.

Überwiegend Sympathie für die Region

Mit dem Titel kommt wohl eher die Sympathie zum Ausdruck, die ein jeder, der an dem Buch mitgewirkt hat, für die Region empfindet, zumindest irgendwie. Und da man es nun mal mit dem Ruhrgebiet zu tun hat, kann ein solches Wohlwollen kaum davon abhalten, auch die Schattenseiten beim Namen zu nennen.

Denn offen und geradeheraus zu sein, gehörte lange Zeit zu den Merkmalen der Leute im Revier, wie es beispielsweise Einhard Schmidt-Kallert am Beispiel eines Bochumer Studenten herausstellt. Als besagter Erich sich 1968 (vollgesogen mit Rudi Dutschkes revolutionären Ideen) in die nächste Eckkneipe begab, wusste ihn einer der Stammgäste nach wenigen Sätzen zu erden.

In der Fremde vermisst man dann doch etwas

Dass es am und im Revier doch so manches zu bemängeln gibt und gab, daran lassen viele Autoren keinen Zweifel. Beispielsweise schreibt Heinrich Peuckmann über die Umweltschäden, die Kohle und Stahl zur Folge hatten. Die Emscher färbte sich lila, angesichts „des Zeugs“, das da hineingekippt wurde, und die Luft hing voller Rußpartikel. So schildert er Erinnerungen an seine Kindheit, in der solche Begleiterscheinungen aber wie selbstverständlich zum Leben dazugehörten. Wenn er heute schon mal mit seiner Heimat hadern sollte, dann sind es meist Situationen, in denen es allzu grobschlächtig oder prolohaft zugehe, so der Autor. Nimmt er Reißaus, merkt er jedoch andernorts schon sehr schnell, was ihm fehlt: beispielsweise die Treuherzigkeit der Menschen, die Solidarität untereinander oder die Fähigkeit zu Ironie und Selbstironie.

Immer noch Image-Defizite in Sachen Kultur 

Darüber hinaus hebt Peuckmann ein Charakteristikum des Reviers hervor, das, wie auch weitere Verfasser anmerken, in den Köpfen vieler Menschen kaum verhaftet ist: Die Region ist eine ausgeprägte Kulturlandschaft. Welche Vielfalt allein bei den Theatern im Ruhrgebiet besteht, hat Joachim Wittkowski, Gymnasiallehrer in Selm und Lehrbeauftragter am Germanistischen Institut der Uni Bochum, brillant zusammengefasst. Überraschen mag an dem Aufsatz auch, dass viele Bühnen auf eine lange Geschichte zurückblicken. Das über Jahrzehnte vorhandene Bild vom Revier, in dem nur Malocher und Kulturbanausen leben, mag da überhaupt nicht mehr verfangen. Der Autor fordert dazu auf, Imagearbeit zu betreiben, damit die Stärken der Region deutlich werden. Die Chancen, die sich im Jahr 2010 geboten haben, als das Revier Kulturhauptstadt Europas war, seien nicht genutzt worden.

Love Parade, Schimanski und Zaimoglu

Mit der Tragödie der Love Parade, die Teil des Kulturhauptstadt-Programms war, setzt sich Gerd Herholz (ebenso wie Heinrich Peuckmann gelegentlich auch Autor der Revierpassagen) auseinander und bindet sie ein in die Geschichte der Stadt Duisburg und das Bild, das auch ein Kommissar Schimanski zu prägen wusste. Wie lobenswert sei es doch da, meint Herholz, dass der Schriftsteller Feridun Zaimoglu einen Roman in Duisburg spielen lässt und dazu vorher intensiv recherchierte, wie es dort denn eigentlich und wirklich zugeht.

Trinkhallen oder Buden gehören allerorten zum Ruhrgebiet. Margret Martin trägt eine Geschichte bei, die erst so gar ins Bild passen will. Die Hauptfigur, so viel sei verraten, lebt in direkter Nachbarschaft zu einer Bude und mag den Lärm nicht mehr ertragen, doch die Verfasserin bietet dem Leser eine Auflösung des Problems, die schmunzeln lässt.

Ernüchterung für Schalker und Borussen

Wer im Übrigen Schalke-Fan sein sollte und eine Antwort sucht, warum es 2001 nicht geklappt hat und auch sonst die Schale einfach nicht in die Arena will, der wird nach der Lektüre des Buches klüger sein. Herr Luca, so der Name des Autors, hat den Fußballgott befragt – persönlich. Aufmunterung oder Hoffnung für die königsblauen Fans sehen aber anders aus. Im Gegenzug wird sich auch mancher Borusse seine Gedanken machen, wenn er Udo Feists Anmerkungen zur BVB-Familie liest. Ernüchternd fällt seine Bilanz aus, zu sehr regierten Geld und Geschäft, als dass von echtem Glanz gesprochen werden könne.

Man musste schnell und billig bauen

Warum es in manchen Städten des Ruhrgebiets eher trist aussieht und oftmals auch schlichte Bauten das Bild bestimmen, erörtert Gerd Puls in seinem Aufsatz „Hammer und Schlegel, Spaten und Axt“. Arbeitssuchende aus der ganzen Republik landeten in den 50er und 60er Jahren im Revier, denn hier gab es Jobs. Die Leute unterzubringen, war eine Mammutaufgabe, die schnell, einfach und preiswert gelöst werden musste. Von allzu seligen Wirtschaftswunderjahren kann nach den Ausführungen des Autors kaum die Rede sein, gehörten doch Prügeleien und Schlägereien auch und gerade in Familien zum Alltag. Als Ursache vermutet er, dass die Männer die schrecklichen Erlebnisse auf den Schlachtfeldern nicht verarbeitet hatten.

„Urgesteine“ in den Kommunen

Zur Geschichte und Politik der Region liefern unter anderem Werner Boschmann und Thomas Rother wichtige Beiträge, indem sie so genannte „Urgesteine“ des kommunalen Geschehens portraitieren, die meist über Jahrzehnte in einer Stadt das Sagen hatten.

Klischees über das Ruhrgebiet werden Leser in dem Buch vergeblich suchen, und auch Pia Lüddeckes Geschichte über einen Taubenvater (oder Taubenvatta, um im Jargon zu bleiben) nimmt ein eher skurriles Ende.

Zusammenhalt ja, Metropole nein

Einige Autoren erzählen, wie sie, endlich flügge, das Revier verlassen haben und feststellen mussten, dass sie doch mit der neuen Heimat fremdelten und ihrem Herkunftsort verbunden blieben.

Mehr Zusammenhalt der Städte im Ruhrgebiet, das wünscht sich Sigi Domke, aber auch nicht zu viel: Städtehaufen ja, Metropole nein, eben doch ein Ruhrgebietchen.

„Ruhrgebietchen – was deine Kinder an dir lieben und was nicht“. Verlag Henselowsky Boschmann, 224 Seiten, 9,90 Euro.




Aufruhr in der Provinz: Das Jahr 1968 in Westfalen

„1968 in Westfalen“: Der Buchtitel lässt aufhorchen, stehen doch Sauer- und Münsterländer ebenso wie Bewohner von Bergmannssiedlungen im Revier nicht gerade in dem Ruf, Rebellionen anzuzetteln. Folglich müsste es doch eigentlich vor 50 Jahren ganz ruhig geblieben sein, als in Frankfurt, Hamburg, München und Berlin Studenten in Scharen mit der Parole „Unter den Talaren Muff aus 1000 Jahren“ auf die Straße gingen.

Der Historiker Thomas Großbölting von der Uni Münster betreibt in dem Band nun eine Spurensuche. Er will rekonstruieren, was das Jahr 68 im Westfalenland nun wirklich ausgemacht hat. Herausgekommen ist dabei weit mehr als eine simple Chronik von Ereignissen, sondern die prägnante und zugleich einordnende Darstellung eines Umbruchjahres mit seinen Folgewirkungen für die Provinz. Großbölting ist übrigens der Ansicht, dass Dortmund oder Münster seinerzeit eher Mittel- als Großstädte gewesen seien.

Vom kurzen und vom langen ’68

Auch in Westfalen riefen die Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg und des charismatischen Bürgerrechtlers Martin Luther King, das Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke sowie die Massaker der US-amerikanischen Soldaten in Vietnam massive Reaktionen hervor. Die Menschen versammelten sich in großer Zahl zu Gedenk- oder auch Gebetsstunden, auch kam es zu offenen Protesten gegen Rassismus, Diskriminierung und das militärische Vorgehen der USA in Indochina.

Nachdem Großbölting gleich zu Beginn seines Buches erklärt hat, 1968 könne nicht rein als Jahreszahl verstanden werden, sondern sei vielmehr Chiffre für Widerstand, Proteste und Revolte, geht er auf die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge und Entwicklungen jener Zeit ein. Dabei kommt er zu einer aufschlussreichen Unterscheidung. Der Wissenschaftler spricht von dem „kurzen“ und dem „langen“ 1968.

Er meint damit einerseits die eher ereignisorientierte Ebene. Die beginnt für ihn bereits am 2. Juni 1967 mit dem Tod von Benno Ohnesorg, den während der Demonstration gegen den Besuch des persischen Schahs der Polizist Karl-Heinz Kurras erschoss. Diese Phase endet mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze Ende Mai 1968 im Bundestag – gegen alle Widerstände in der Bevölkerung.

Nachhaltige Veränderung der Gesellschaft

Andererseits – und das ist dann die Langversion – hat 1968 zu nachhaltigen gesellschaftlichen Veränderungen geführt. Nach Darstellung des Historikers sind „ökologisches Bewusstsein, Gleichstellung von Mann und Frau, die Akzeptanz verschiedener Formen von Sexualität, Friedensorientierung, Emanzipation und Partizipation“ heute nicht nur Teil des Mainstreams, sondern man definiere damit auch die „Loyalität zum System“.

An diesen Umwälzungen und speziell an dem „kurzen“ 1968 haben traditionelle Unistädte wie Münster mit den Studierenden ihren Anteil, aber ebenso die dazu im Vergleich noch sehr jungen Hochschulen in Ruhrgebiet. Dass es überhaupt zur Gründung der Unis in Dortmund, Bochum oder Bielefeld kam, steht im engen Zusammenhang mit dem Bildungsnotstand, der nicht nur in Deutschland, sondern in der damaligen westlichen Welt in Folge des Sputnik-Schocks ausgemacht wurde. Sputnik hieß der erste Satellit, den die Sowjetunion ins Weltall geschickt und damit im Westen Bedrohungsängste ausgelöst hatte. Mit der Forcierung von Bildung wollten nun die Industriestaaten im Wettlauf mit den Russen deutlich punkten.

Bildungsnotstand als Keim der Kritik

Bildungsnotstand und Kritik am Bildungssystem sollten allerdings auch zum Thema der Studierenden werden. Ihr Aufbegehren in Westfalen entsprang aber vor allem universitären Anlässen, wie beispielsweise in Bochum als Protest gegen eine geplante Univerfassung. Oftmals ging es allerdings auch um politischen Ereignissen, unter anderem bei der wohl größten Aktion in Münster mit über 2000 Beteiligten, die den damaligen Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger bei einem Besuch der Stadt mit Sprechchören ob dessen Nazi-Vergangenheit empfingen.

Nun ist das Buch aber nicht nur lesenswert, weil es aufzeigt, dass auch Studierende in Westfalen es verstanden, auf die Straße zu gehen, sondern es beschreibt auch das gesamte Ausmaß von Aufruhr in Westfalen und darüber hinaus. Wenn man so will, blieb kaum eine gesellschaftliche Gruppe verschont, auch die Kirchen nicht. Beim Katholikentag in Essen gab‘s Debatten am laufenden Band und eine bis dahin kaum gekannte Heftigkeit der Kritik an den Kirchenoberen. Schüler und Lehrlinge machten Front gegen zu hohe Busfahrpreise, Jugendliche forderten mehr Jugendzentren. In Bochum oder auch in Münster machten Aktivistinnen von sich reden, die die traditionelle Rolle von Mann und Frau in Frage stellten und damit die Emanzipationsbewegungen nach vorne brachten.

Als Rudi Dutschke mit Johannes Rau diskutierte

Dass es in diesen stürmischen Zeiten auch Momente gab, die von Sachlichkeit geprägt waren, macht der Autor am Beispiel einer Debatte in der Wattenscheider Stadthalle deutlich. Im Februar 1968 diskutierte dort der damalige Fraktionschef der NRW-SPD (und spätere Bundespräsident) Johannes Rau mit Rudi Dutschke, der sich nach Meinung von Beobachtern nicht als radikaler Studentenführer präsentierte, sondern eher als „parteipolitischer Konkurrent der SPD“.

Wer nun wissen möchte, wo denn eigentlich der Protest seinen Ausgang nahm, den nimmt Großbölting mit auf einen Besuch in den USA Mitte der 60er Jahre, als Studierende sich für Redefreiheit auf dem Campus einsetzten, Woodstock zur Legende wurde, Schwule und Lesben, Native Americans sowie Vietnamkriegsgegner Demonstrationen organisierten. Apropos USA: Großbölting nutzt die letzten Zeilen des Buches, um eindringlich darauf hinzuweisen, dass die heutige Liberalität, die zweifellos 68 zuzuschreiben ist, keineswegs eine Selbstverständlichkeit darstellt.

Thomas Großbölting: „1968 in Westfalen. Akteure, Formen und Nachwirkungen einer Protestbewegung“. Ardey Verlag, Münster. 172 Seiten, 13,90 €.




Rückblick auf einen Lebenslauf, der schon in der Schulzeit auf Literatur hindeutete

Unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann, über menschlich und literarisch prägende Begegnungen in seiner Schüler- und Studentenzeit:

Meinen ersten Lehrer habe ich geliebt. Noch bis zu seinem Tode hatte ich brieflich Kontakt mit ihm, denn er war inzwischen nach England verzogen und hatte dort noch einmal geheiratet.

Der Autor Heinrich Peuckmann (Bild: privat)

Der Autor Heinrich Peuckmann (Bild: Homepage www.heinrich-peuckmann,de / privat)

Als es zu seinem 80. Geburtstag einen Empfang in der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei gab, ließ er auch mich einladen und wir hatten unser letztes Gespräch. Er erzählte mir, was er im letzten Jahr von mir gelesen hatte, wir witzelten dabei wie immer. Am Ende wollte er wissen, was unsere gemeinsamen Freunde machten, vor allem mein Autorenkollege Horst Hensel.

Grundschüler beim späteren Kultusminister

Jürgen Girgensohn hieß er, der das kleine I-Männchen Heinzchen Peuckmann 1956 an der Kamener Falkschule in seine Schullaufbahn einwies, der vor allem später, als ich Lehrer wurde, als Kultusminister mein oberster Chef war.

Wenn der Minister Girgensohn meine Schule besuchte, stand meinem Schulleiter der Angstschweiß auf der Stirn, ich dagegen freute mich. Es kam ja mein alter Lehrer und wir hatten immer etwas zu bereden. „Na, du Schlingel!“, rief er mir einmal zur Überraschung meines Schulleiters zu, als er mich auf dem Flur unserer Schule entdeckte. Es war ein guter, kreativer Schulanfang mit ihm, der sich auch so fortsetzte.

Verbindungen zu Hüsch und von Manger

Mein Lehrer im zweiten Schuljahr hieß Wolfgang Bär, und der war nun ein halber Künstler. Neben dem Unterricht baute er die Kamener Volkshochschule auf und gestaltete das Kulturprogramm der Stadt mit, in dem tatsächlich Hanns Dieter Hüsch seine ersten Auftritte hatte. Bevor er als Kabarettist seine großen Erfolge feierte, war Hüsch schon in Kamen gewesen.

Später entdeckte und förderte Bär auch noch Jürgen von Manger, schied für ihn sogar aus dem Schuldienst aus und wurde dessen Manager. Auf manchen Schallplatten, die von Manger veröffentlichte, ist als Ansprechpartner, etwa in „Die Fahrschulprüfung“ auch mein alter Lehrer Wolfgang Bär als Prüfer zu hören. Er war meine erste Begegnung mit einem Lehrer, der literarische Neigungen hatte, wenn auch nicht so ausgeprägte, dass es zu einem eigenen Werk gereicht hätte.

Die Aufsatzmappe des Rektors

Danach übernahm Rektor Ballhausen meine Klasse und es war mit dem Künstlerischen, so schien es mir, endgültig vorbei. Ballhausen war eher der strenge, preußische Lehrertyp mit grauem Anzug und Fliege. Wenn jemand zu laut in der Klasse war, winkte er ihn mit langem Finger aus der Bank, dann ging es in sein Rektorzimmer und es gab drei Schläge mit dem Rohrstock auf den Hintern.

Hans Ballhausen hatte die Eigenart, dass er sich Aufsätze seiner Schüler, die er für gelungen hielt, in eine schwarze Kladde eintragen ließ. „Dann habe ich etwas für meine Pensionszeit“, erklärte er. „Ich kann dann, wenn ich an euch denken will, eure schönen Aufsätze lesen.“

Alle wollten sich gerne in diese Mappe eintragen, alle wollten sich dadurch auszeichnen, auch ich. Aber meine Aufsätze fand er erst ganz zum Schluss für würdig, in seine Mappe eingetragen zu werden, vorher hat er mich nie berücksichtigt. Alle durften sich eintragen und waren entsprechend stolz darauf, ich durfte es nicht.

Oft bin ich später bei Schullesungen von Schülern (vor allem der Grundschule) gefragt worden, warum ich Schriftsteller geworden sei. Ich habe dann immer geantwortet, dass ich es so genau auch nicht erklären könnte, und dass ich es eigentlich gar nicht hätte werden dürfen. Mein Volksschullehrer jedenfalls hätte mich nicht verstanden. „Wahrscheinlich“, habe ich manchmal hinzugefügt, „hat dieser Lehrer nie einen Schüler unterrichtet, der später Schriftsteller wurde. Den einzigen, den er je hatte, hat er nicht verstanden.“

Es war eine Erklärung, bei der ich gut wegkam, die aber den entscheidenden Fehler hatte, dass sie nicht stimmte. Hans Ballhausen war, wie ich sehr viel später in einem westfälischen Autorenverzeichnis feststellte, selber Schriftsteller. Vor allem mit der westfälischen Schriftstellerin Margarete Windthorst, einer Autorin mit deutlich katholischem Anspruch, die 1946 den Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis bekam (die sie denn auch neben Kleist als ihr Leitbild angesehen hat), hat er sich ausführlich beschäftigt. Ballhausen gilt als ihr Biograph in ihrer mittleren Lebensphase.

Tradition der Short Story

Zusätzlich gab er Anthologien zur Arbeiterliteratur heraus, ein Thema, mit dem auch ich mich später (zu) lange im „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ beschäftigt habe. „Wir Werkleute all. Ein Querschnitt durch die soziale Dichtung nach der Jahrhundertwende“, hieß eine dieser Anthologien. Ein anderer Buchtitel lautet „Mutter Erde. Gedichte“. Es sieht ein bisschen so aus, als würde es unheilvoll raunen in seinen Büchern, aber das tut es nicht. Es ist das christliche, nicht das Nazi-Weltbild, das durchschimmert und das ihn wohl zu Margarete Windthorst hingezogen hat, die wegen ihrer christlichen Botschaft von den Nazis aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen wurde.

Ich war überrascht, als ich es später, sehr viel später erfuhr. Es war also nicht so, dass Ballhausen einen heranwachsenden Schriftsteller missverstanden hätte, weil er keine Ahnung von künstlerischer Arbeit gehabt hatte. Nein, er war selber ein Schriftsteller gewesen und hatte eine andere Autorin selbstlos gefördert.

Vielleicht, denke ich heute, war wirklich nicht viel dran an meinen ersten Aufsätzen. Vielleicht hatte Ballhausen recht und nicht ich. Er liebte es, das fiel mir wieder ein, wenn Aufsätze unmittelbar begannen, ohne lange Einleitung. Er folgte darin, so kommt es mir im Rückblick vor, der amerikanischen Short Story, während ich vermutlich brav jeden Aufsatz mit einer klaren Einleitung in Zeit, Ort und Handlung begonnen habe, die ich heute selbst bei meinen Schülern bekämpfe: „Es war an einem schönen Sonntagmorgen, als mein Vater die Fahrräder aus dem Keller holte …“

Man weiß, wie solche Aufsätze enden: im Regen am Sonntagnachmittag unter einem Baum stehend. Meine erste Begegnung mit einem Lehrer, der gleichzeitig Schriftsteller war, verlief also gar nicht glücklich.

Als Arbeiterkind nicht zum Gymnasium

Dazu passt auch das Ende unserer Begegnung, denn als es darum ging, welche Schule ich nach der vierten Klasse besuchen sollte, war Ballhausen gegen einen Wechsel zum Gymnasium. Arbeiterkinder (mein Vater war Bergmann) hätten am Gymnasium erfahrungsgemäß Probleme mit dem Englischunterricht. Nein, ich sollte besser zur Realschule wechseln.

Gertrud Bäumer, die große Pädagogin, hat ein paar Jahrzehnte vorher in Kamen unterrichtet und sie schreibt in einem ihrem Bücher sehr liebevoll, aber auch erschreckt über die Bergarbeiterkinder, die sie damals unterrichten musste. Wie mager sie waren, wie ärmlich gekleidet, wie fernab von jeglicher Bildung. Zu meiner Zeit hatte sich daran sicher einiges geändert, wenn auch nicht alles.

Natürlich trug ich, wie meine Mitschüler auch, gestopfte oder geflickte Kleidung, ein paar Mal musste ich sogar Pullover meiner Schwester auftragen, die meine Mutter „schick“ fand. Und unsere Sprache war deftig, mindestens gewöhnungsbedürftig: „Wo wohnst du?“ „Anne Ecke vonne Nordenmauer.“ „Wie heißt das?“ „Auffe Ecke anne Nordenmauer.“ (Originalton Klassenkamerad). Vielleicht war es das, was uns Schüler und speziell auch mich von Ballhausen trennte. Einer sittsam-katholischen Wohlanständigkeit entsprachen wir sicher nicht.

Das Wort eines Rektors galt damals noch etwas, jedenfalls in einer Arbeiterfamilie wie meiner, also wechselte ich zur Realschule Oberaden, wo ich – ein kleiner Trost – wieder auf Girgensohn traf, der sich inzwischen vom Volksschullehrer zum Realschullehrer fortgebildet hatte.

Bloß keine Verwaltungslaufbahn

Aber als ich dort immer öfter den Satz hörte: „Wenn ihr später mal bei einer Verwaltung arbeitet“, die klassische Realschullaufbahn damals, wusste ich, dass ich von dort weg musste. Verwaltung, darunter stellte ich mir dunkle Räume vor mit verstaubten Akten und mit Ärmelschonern womöglich, die ich tragen müsste.

Dabei war ich der ersten dunklen Alternative ja schon fast entkommen, einem Leben als Bergmann nämlich, das alle meine früheren Klassenkameraden erwartete, deren Väter Bergleute waren. Sich aus diesem Kreislauf herauszuarbeiten war damals fast unmöglich. Immerhin, mit der Realschule hatte ich den ersten Schritt dazu getan, jetzt wollte ich auch den nächsten tun. Weg von der Realschule, weg von der Aussicht, Bürokrat zu werden.

Ich machte die Aufnahmeprüfung am Aufbaugymnasium in Unna, bestand und wechselte mit einem anderen Klassenkameraden nach vier Jahren Realschule dorthin. In der neue Klasse wartete Gerd Puls auf mich, Kamener Schriftsteller, der schöne Gedichte und Erzählungen geschrieben hat.

Mit Dieter Pfaff in einer Klasse

Dieter Pfaff kam später hinzu, den ich von allen meinen Klassenkameraden, trotz seines Todes vor drei Jahren, bis heute am häufigsten sehe, nämlich mindestens einmal in der Woche im Fernsehen in allen möglichen Rollen, die bei ihm immer durch eines verbunden sind. Durch eine tiefe Menschlichkeit nämlich, die mich an sein, besser an unser damaliges politisches Engagement für eine humane Gesellschaft erinnert. Dieter ist sich auf seine Weise treu geblieben, vor allem hat er seinen damaligen Plan, Schauspieler zu werden, mit großem Erfolg umgesetzt.

Außerdem traf ich auf den zweiten Lehrer, der gleichzeitig Schriftsteller war, auf den Deutschlehrer Rudolf Schlabach, dessen Höspiele wir abends im WDR hörten und über die wir am nächsten Morgen in der Deutschstunde diskutierten.

Schon wieder ein Schriftsteller als Lehrer

„Herr Schlabach, warum haben Sie die eine Figur so und jene anders gestaltet? Warum haben Sie die eine Szene vorgezogen und die andere nachgestellt?“ Es waren Fragen zum Inhalt, aber auch zur Form, die uns in den Diskussionen bewegten und bei denen ich eines für meine spätere literarische Arbeit lernte: Literatur hat eine dezidiert handwerkliche Seite, es gibt keine feststehenden Regeln, man kann so oder auch anders machen. Wie es richtig ist, das ergibt sich immer neu aus dem Inhalt.

In diesem Sinne besprachen wir nicht nur Schlabachs Hörspiele, mit diesen Fragen gingen wir auch an die Literatur heran, die wir nach dem Lehrplan lesen musste: Kleist, Schiller, Fontane. Es waren anregende, kreative Deutschstunden, die wir erlebten und die nicht nur mich beeinflussten. „Schlabach war ganz wichtig für mich“, hat mir Dieter Pfaff später bestätigt, und er hat ihn auch angerufen, nachdem ich ihm dessen Telefonnummer gegeben habe und hat es ihm gesagt.

Schlabach hat später an der bekannten Hörspielreihe „Papa, Charly hat gesagt …“ teilgenommen, deren beste Texte in gleich mehreren Anthologien bei Rowohlt erschienen sind. Schlabach war an allen beteiligt. Er hat zudem einen Band mit dramatischen Texten veröffentlicht („Glänzende Aussichten“, Asso-Verlag Oberhausen) und den Roman „Die Bauweise von Paradiesen“. In Hude, wo er inzwischen, alt geworden, lebt, schreibt Schlabach weiter, aber es fällt ihm zunehmend schwer, in Verlagen unterzukommen. Ich versuche, ihm den einen oder anderen Tipp zu geben, denn die Verbindung ist nie abgerissen.

An der Ruhr-Uni bei Gerhard Mensching

An der Universität Bochum, im Nachhinein wundere ich mich nicht mehr darüber, traf ich auf dieselbe Konstellation: auf den Uni-Dozenten, der Schriftsteller war. Diesmal war es Gerhard Mensching, der nebenbei eine Puppenbühne betrieb, die Stücke dafür selber schrieb und zusammen mit seiner Frau auf Tournee ging. Eine Zeitlang war er sogar Präsident des deutschen Puppenspielerverbandes. „Lemmy und die Schmöker“ hieß seine Fernsehserie, die auf witzige Weise für Lesekultur bei Kindern warb. Etwas, das heute noch wichtiger wäre als damals, aber leider im Fernsehen der Doku-Soups keine Chance mehr hat.

Mensching lernte ich in seinem Seminar über Kafka kennen. Wir untersuchten Kafkas Erzählung „Beschreibung eines Kampfes“, zu der Kafka zwei Fassungen geschrieben hatte, untersuchten beide Abschnitt für Abschnitt in Form von Referaten, um herauszufinden, wie und warum Kafka die Überarbeitung vorgenommen hatte. Wir wurden auf diese Weise gut in genaue Textarbeit eingeführt.

Der Sohn des Stahl-Managers

Als ich zusammen mit einem Kommilitonen einen Abschnitt untersuchen sollte, haben wir beide den Ansatz des Seminars komplett über Bord geworfen. Es war ein guter Student, mit dem ich zufällig kombiniert worden war, sein Vater gehörte zum Management eines großen Stahlkonzerns und ich musste, wenn ich ihn anrufen wollte, mich über die Zentrale des Konzerns verbinden lassen. Ein Mann mit einer ganz anderen Sozialisation also, wie ich feststellte. Einmal in der Woche ging er zur schlagenden Verbindung, etwas, das in der Zeit der Studentenrevolte verpönt war und das auch er selbst kritisch beurteilte. Aber sein Vater verlangte es von ihm und solange er hinging, bekam er von ihm jede Unterstützung. Im Übrigen war er Marxist, also Materialist, und er konnte nicht verstehen, dass jemand wie ich Theologie studierte, also, in philosophischen Kategorien gedacht, Idealist war.

So diskutierten wir bei unseren Treffen zuerst stets über Feuerbach, Marx und die Bibel, dann gingen wir an die Textarbeit und fanden schnell heraus, dass beide Fassungen von Kafka so unterschiedlich waren, dass man nicht mehr von zwei Fassungen sprechen konnte, sondern dass es zwei unterschiedliche Erzählungen waren. Wir entwickelten Strukturbilder zu den Erzählungen, zeigten auf, welche Punkte in der zweiten Fassung deutlich ausgebaut waren und wie diese neue Schwerpunktsetzung die inhaltliche Aussage grundlegend veränderte.

Als wir vor Mensching das Referat vortrugen, musste ich den größten Teil übernehmen, mein Mitstreiter, der die besten Ideen beigesteuert hatte (schade, dass ich seine Spur verloren habe!) hatte am Abend vorher ein Verbindungstreffen gehabt und stand mit geröteten Augen neben mir. Ich weiß noch, wie Mensching immer erstaunter auf unser Strukturschema blickte, wie er schließlich begann, den Kopf zu schütteln und sagte: „Jetzt müsste unser Seminar neu beginnen. Das ist der Ansatz, nach dem wir eigentlich gesucht haben.“

Von nun an war ich in allen seinen Seminaren ein gern gesehener Student, immer ging es dabei um die Machart von Literatur, um einen ebenso textkritischen wie kreativen Ansatz, für den Mensching unter den Germanistikprofessoren und Dozenten offen oder versteckt kritisiert wurde. Sie wollten über Literatur forschen, dass einer der Ihren selber Literatur schreiben wollte und schrieb, ging ihnen nicht in den Sinn.

Folgenreiche Schreibseminare

Mensching richtete Schreibseminare an der Uni ein, ich weiß nicht, wie viele Studenten, die später Autoren und Journalisten wurden, durch diese Schule gingen. Einmal haben wir bei ihm das Strukturschema eines guten Unterhaltungsromans entworfen. Ein richtiges Rezept für einen solchen Roman haben wir entwickelt. Natürlich musste es ein politisches Thema sein, das gestaltet werden sollte, so etwas passte nicht nur zur 68er-Zeit, das passte auch zu Mensching. Mit Unterhaltung die Menschen aufzuklären, ein wunderbarer Gedanke, von dem wir heute so weit entfernt sind wie nie zuvor.

Am Romananfang, so entwickelten wir, musste eine kriminalistische Szene stehen, in der die Hauptfigur als Opfer vorgestellt wurde, dann musste die Gegenposition dargestellt werden, die aber noch nicht den Täter zeigte, dann sollte etwas Erotisches folgen, so etwas trug immer gut zur Unterhaltung bei, dann musste der eigentliche Täter vorgestellt worden. Es war ein richtiges Drehbuch für einen politischen Unterhaltungsroman, das ich leider danach verloren habe. Aber Mensching hatte es nicht verloren, wie ich viele Jahre später feststellen wollte.

Natürlich machte ich bei ihm Examen, natürlich durfte ich in meiner Examensklausur nachweisen, dass die Erzählhaltung bei einer Siegfried-Lenz-Erzählung viel zu umständlich war, eine verkappte Ich-Erzählung, wo es personal viel besser gegangen wäre, natürlich redeten wir zwischendurch immer wieder über eigene literarische Pläne.

Nach dem Examen verlor ich leider den Kontakt, bekam aber mit, dass Gerhard Mensching sehr erfolgreich begonnen hatte, Romane zu veröffentlichen, gute Unterhaltungswerke mit aufklärerischem Anspruch („Löwe in Aspik“) und auch er hatte irgendwie mitbekommen, dass ich publizierte, wenn auch lange nicht so erfolgreich wie er.

Das literarische Handwerkszeug

In achtziger Jahren nahmen wir wieder Kontakt auf, zuerst brieflich, dann telefonisch. Wir verabredeten, dass ich in einem seiner Schreibseminare, die er noch immer an der Uni veranstaltete, inzwischen mit Zustimmung seiner Fachkollegen, als Referent auftreten sollte, dass ich über das literarische Handwerkszeug referieren und es an eigenen Texten belegen sollte, während er zu meiner Lehrerfortbildung kommen wollte, die ich über viele Jahre für die Bezirksregierung Arnsberg in Hagen veranstaltete und in der ich kreative Schreibformen für den Deutsch- und Literaturunterricht an Gymnasiallehrer vermittelte.

Ich war froh, den Kontakt wieder gefunden zu haben, da starb Mensching ganz plötzlich. Es war eine völlig unerwartete Nachricht, die mich bewegt hat.

Meine Frau schenkte mir für die folgenden Ferien Menschings letzten Roman „E.T.A. Hoffmanns letzte Erzählung“, in der es darum ging, dass Hoffmann als Jurist dem Turmvater Jahn bei der Demagogenverfolgung einen fairen Prozess vermitteln wollte, was der Obrigkeit ganz und gar nicht gefiel und weshalb sie ihn nicht nur mit einem Disziplinarverfahren überzogen, sondern womöglich sogar vergiftet hatten.

Drehbuch für einen Unterhaltungsroman

In Überlingen, im Stadtteil Nussdorf in direkter Nähe zum Wohnhaus von Martin Walser, habe ich den Roman auf einer Wiese am Bodensee liegend gelesen und stellte zu meiner Überraschung fest, dass ich das Konzept des Romans kannte. Mensching hatte unser gemeinsames Drehbuch eines guten Unterhaltungsromans entweder verinnerlicht oder sogar noch schriftlich vorliegen gehabt, jedenfalls las ich einen spannenden, formal gut aufgebauten unterhaltenden Roman, der mich begeisterte. Ich weiß noch, dass meine Frau irgendwann rief: „Lass uns gehen, es zieht ein Gewitter auf!“ und dass ich antwortete: „Einen Moment noch. Jetzt kommt gleich ein erotisches Kapitel!“, was wiederum meine Frau verwunderte. „Kennst du den Roman etwa schon?“ Ich konnte sie beruhigen. Nein, ich kannte ihn nicht, ich kannte und liebte nur seine Machart.

Im Nachhinein bedauere ich es sehr, dass ich den Kontakt zu Mensching über einige Jahre verloren und erst kurz vor seinem Tode wieder gefunden habe. Mit ihm war es immer eine kreative, äußerst fruchtbare Zusammenarbeit, die meine Studentenzeit so sehr bereichert hat.

Die nächsten Generationen

An allen Bildungsinstitutionen, an denen ich gelernt habe, bin ich also auf Lehrer gestoßen, die selber geschrieben haben. Komisch, denke ich im Nachhinein, so viele von diesem Typus gibt es doch gar nicht. Aber während mir meine beiden ersten als Lehrer vorgesetzt wurden, während es mit dem ersten schlecht, dem zweiten dagegen sehr gut lief, habe ich mir den dritten an der Uni selbst ausgesucht. Ich hätte ja auch bei anderen Professoren studieren können, aber ich habe in jedem Semester den Kontakt zu Mensching gesucht.

Inzwischen bin ich das selber geworden, ein Lehrer, der gleichzeitig Schriftsteller ist und aus meiner Schreibschule am Bergkamener Gymnasium sind einige Schüler hervorgegangen, die schriftstellerisch tätig wurden. Vier, die ich unterrichtet habe, haben Bücher veröffentlicht, Jugendromane, Gedichtbände, Science-Fiction-Romane. Eine meiner Schülerinnen ist mit ihren Liebesromanen stets in der Bestsellerliste des Spiegel, bei amazon war sie für einen Tag auf Verkaufsrang 1. Einige sind Journalisten, auch beim Rundfunk, geworden, einer betreibt die bekannteste Internetseite zu Arno Schmidt. Erstaunt stelle ich fest, dass meine Schullaufbahn fast so etwas wie ein Weg durch die westfälische Literaturgeschichte ist. Und sogar noch einer, der sich fortsetzt.




Gerhard Mensching: Germanist, Puppenspieler, Romanautor – eine wehmütige Erinnerung

Revierpassagen-Gastautor Heinrich Peuckmann, in Bergkamen lebender Schriftsteller, erinnert an den 1992 verstorbenen Bochumer Autor und Germanisten Gerhard Mensching, der viele seiner Studenten nachhaltig beeinflusst hat:

Romane und Erzählungen von Gerhard Mensching zu lesen, löst bei mir Freude und Wehmut zugleich aus. Freude, weil es ein schönes Leseerlebnis ist, sich mit den phantasievollen Geschichten dieses Autors, die immer auch mit der Realität spielen, zu beschäftigen. Wehmut, weil ich an der Ruhruniversität in Bochum bei Mensching Germanistik studiert habe. Nein, nicht einfach nur studiert, sondern er und seine Seminare haben mich geprägt.

Vieles, was ich später als Schriftsteller an Kenntnissen und Techniken gebraucht habe, habe ich mir bei ihm aneignen können. Nach meinem Examen haben wir uns für einige Jahre aus den Augen verloren, dann aber den Kontakt wiederbelebt. Wir haben in Briefen und Telefongesprächen gemeinsame Projekte abgesprochen, doch als wir sie umsetzen wollten, ist er ganz plötzlich verstorben.

mensching

Wehmut also, wenn ich auf ihn und seine Geschichten stoße, weil sich die Frage aufdrängt, was noch möglich gewesen wäre. Möglich bei ihm, diesem unglaublich kreativen Menschen, aber auch bei uns, denn die Zusammenarbeit mit ihm, das weiß ich, wäre für mich fruchtbar gewesen. So bleibt nur die tief befriedigende, aber von Melancholie durchzogene Freude, seinen Geschichten wieder zu begegnen oder andere, die ich noch gar nicht kannte, zu entdecken.

In E.T.A. Hoffmanns Tradition

Mensching stand in der Tradition der Novellistik des 19. Jahrhunderts, vor allem E.T.A. Hoffmann, der Gespenster-Hoffmann, hatte es ihm angetan. In jedem seiner Seminare tauchte er mindestens am Rande auf und wer Hoffmann kennt, weiß, dass man sich auf einen platten Realitätsbegriff bei ihm nicht verlassen darf. In Fichtescher Tradition, nach der das Ich sich sein Gegenüber selbst setzt, ist ein objektives Weltverständnis nicht zu erwarten.

Bei Mensching gespenstert es ebenfalls, können Gegenstände durch die Wand gereicht werden, passieren Dinge, die mit normalen Maßstäben nicht vereinbar sind. Aber immer entwickelt Mensching daraus Geschichten, die der Leser ihm abnimmt, weil er daraus eine neue, in ihrem eigenen Sinne glaubhafte Realität entwickelt.

Beispielhaft dafür steht sein bester Roman, „E.T.A. Hoffmanns letzte Erzählung“. Natürlich passieren in diesem Roman die tollsten Dinge, ganz im Sinne von Hoffmann, aber der Hintergrund der Geschichte, dass der Dichter gar keines natürlichen Todes gestorben ist, sondern der preußische Geheimdienst nachgeholfen hat, weil ihm dieser politische Kopf zu gefährlich war, ist absolut glaubhaft. Mensching entwickelt diese Überlegung an der Romanfigur Friedrich Rieger, der dem schon gelähmten Dichter als Sekretär gedient hat und dem Hoffmann seine letzten Geschichten diktierte. Zwanzig Jahre nach Hoffmanns Tod spürt Rieger plötzlich, dass er selber verfolgt wird und er beginnt zu ahnen, warum das so ist. E.T.A. Hoffmanns letzte Erzählung spielt eine Rolle, noch immer scheinen die Herrschenden Angst zu haben vor diesem kritischen Dichter.

Was einen Unterhaltungsroman ausmacht

Als ich den Roman kurz nach Menschings Tod las, erinnerte ich mich an ein Seminar bei ihm, in dem wir uns das Konzept eines guten Unterhaltungsromans überlegten. Zuerst einmal, notierten wir, muss er ein wichtiges, auch politisches Thema haben, wobei für Mensching der politische Anspruch auf gar keinen Fall vordergründig sein durfte. Anfangen, meinten wir, müsse der Roman mit einer spannenden Episode, dann müsse etwas Erotisches folgen, was bei Mensching sowieso immer eine Rolle spielte, dann muss die Gegenseite gezeigt werden, dann wieder turbulente Aktion. Mensching fand gut, dass wir so ein Konzept erstellten, die Unterscheidung zwischen ernsthafter und unterhaltender Literatur hat er sowieso nie mitgemacht. Unterhaltung kann auch ernsthaft sein, sie kann vor allem Tiefgang haben, das war seine Position. Genauso wie es unsere war.

Phantastische Welt des Puppentheaters

Wenn man die Wurzel seiner phantastischen Geschichten fassen will, liegt der Bezug zu Hoffmann nahe. Bei Mensching kam aber noch etwas anderes hinzu. Die ersten Jahrzehnte seiner schriftstellerischen Arbeit hat er mit Puppenspiel verbracht. Mensching hatte ein Puppentheater, er spielte selber und schrieb die Stücke dazu. „Lemmi und die Schmöker“, der bekannte Bücherwurm, hat viele Jahre lang im Fernsehen die Kinder erfreut.

Kann man einen solchen Schriftsteller ernst nehmen? Aber ja, Tankred Dorst, der bekannte Theaterschriftsteller, mit dem Mensching befreundet war, hat genauso angefangen. Mensching hat mir mal eines von Dorsts Puppentheaterstücken in Schreibmaschinenschrift geliehen. Und wer Puppentheater liebt, wer Kinder in eine phantastische Welt hineinziehen will, muss einfach phantasievoll schreiben. Ich glaube, dass Mensching diese Erfahrung aus seinen Anfängen auf seine neun Erzählbände, Novellen und Romane übertragen hat, die er in nicht einmal einem Jahrzehnt geschrieben hat.

Eruptives Schreiben

Ja, es waren nur wenige Jahre, in denen er ernsthaft schrieb, denn Mensching hat lange nach einem eigenen Weg gesucht. Sollte er Wissenschaftler werden oder Puppenspieler oder doch Autor? Als er sich zum Schreiben von Romanen und Novellen entschloss, war es wie eine Eruption. Jedes Jahr gab es eine Publikation von ihm, und so musste es auch sein, denn es blieben ihm leider nur noch wenige Jahre.

Hochaktuell ist zum Beispiel die Erzählung von Herrn Krotta, der irgendwann beschließt, dass es Zeit sei zu sterben. Er weiß, dass so etwas von einem Institut erledigt wird, das mehrere Varianten des Sterbens anbietet. Krotta wählt den teuren, den Liebestod, seine Frau ist einverstanden, möchte aber noch ein bisschen leben. Am vereinbarten Todestag erscheint Krotta eine wunderschöne Frau und sein Todeswunsch erlischt augenblicklich. Diese Frau zu besitzen und mit ihr zu fliehen, ist plötzlich ein lohnenswertes Ziel. Warum sterben, wenn das Leben so schön sein kann? Die Frau geht darauf ein, gemeinsam flüchten sie in ein Hotel, wo Krotta bei der ersehnten Umarmung aber plötzlich einen heftigen Schmerz verspürt. Kurz drauf ist er tot. Die Frau verlässt das Hotel und trifft draußen im parkenden Wagen ihren Mann. Der hat ebenfalls gerade jemanden ins Jenseits befördert. Die beiden sind zufrieden, dass ihre Aufträge wie gewohnt geklappt haben. Sie werden Sonderprämien bekommen und haben folglich Geld genug, um erst mal essen zu gehen.

Das ist weiß Gott eine Mensching-Geschichte! Sie hat ein skurriles Thema, fast eine wie aus unserer Zeit, dazu einen Schuss Gesellschaftskritik durch den bestellbaren Tod und außerdem eine Portion Erotik. Der Leser weiß nicht, ob er lachen oder weinen soll.

Verdienstvolles Lesebuch

Prof. Walter Gödden hat in „Nylands kleine westfälische Bibliothek“ (Nyland-Stiftung, 59227 Ahlen) ein Lesebuch mit ausgewählten Texten von Gerhard Mensching herausgegeben. Die sehr verdienstvolle Publikation befördert einen Autor ans Tageslicht, über den sich schon Dämmerung ausgebreitet hatte. Dämmerung, aber kein Schatten, denn dazu sind Menschings Texte viel zu gut.

Gödden hat die Auswahl sehr geschickt getroffen, ein Reader ist entstanden, bei dem auch die Textauszüge in sich geschlossen und für den Leser verständlich sind. Vor allem macht die Textauswahl Lust, sich mit diesem Autor zu beschäftigen, dem neun Jahre reichten, um sich weit nach vorn zu schreiben. Nach der Lektüre dieses Lesebuchs hat der Leser garantiert Lust, sich mit einem von Menschings Romanen oder Novellenbänden zu beschäftigen.

„Lesebuch Gerhard Mensching“. Zusammengestellt von Walter Gödden. Aisthesis Verlag, Köln, 2013. 176 Seiten, 8,50 Euro. ISBN 978-3-895289842.