Von Unna aus ein wenig die Welt verändern – Nachruf auf den vielseitigen Theatermann Peter Möbius

Peter Möbius (1941-2020). (Foto: Thomas Kersten)

Gastautor Horst Delkus mit einem Nachruf auf den Theatermann, Autor und Grafiker Peter Möbius, den älteren Bruder des legendären Rocksängers Rio Reiser („Ton Steine Scherben“). Peter Möbius hat vor allem in Unna und Dortmund gewirkt.

Ist das nicht der Bruder vom Rio? Ja, er war es. Rios großer Bruder, der mich da vor rund neun Jahren in meinem Büro bei der Wirtschaftsförderung des Kreises Unna aufsuchte. Die Kollegin outete sich als große Verehrerin von Rio Reiser: Das ist mein Lieblingsmusiker. Peter hat es gefreut.  War doch eine solche klammheimliche Liebe von notwendigerweise kapitalfreundlicher Wirtschaftsförderung zu dem exorbitant kapitalkritischen Möbius-Bruder eine ausgesprochen ungewöhnliche.

Was es mit „Hermann von Unna“ auf sich hat

Peter holte damals irgendwelche Unterlagen ab. Es ging um „Hermann von Unna, eine Geschichte aus der Zeit der Vehmgerichte“. Erzählt von Benedicte Naubert, die diesen Roman 1788 (!) veröffentlichte. Die Handlung ist simpel, aber der Roman förderte Unnas guten Ruf Anfang des 19. Jahrhundert in ganz Deutschland: Das Städtchen Unna hat ein wichtiges Salzwerk Königsborn; berühmter  aber ist es durch den viel gelesenen Vehmgerichts-Roman: Hermann von Unna!, schrieb 1834 ein gewisser Carl Julius Weber in seinen „Brief(n) eines in Deutschland reisenden Deutschen“.

Der Roman ist von nicht allzu großer literarischer Qualität. Aber sein Stoff wurde selbst in Schweden und Dänemark aufgegriffen und zu einem Theaterstück umgewandelt. Zu einem Schauspiel in fünf Akten. Mit Chören und Tänzen.

Feuer und Flamme für ein spezielles Vorhaben

Mehr als 200 Jahre später war dieser Stoff für den leidenschaftlichen Theatermann Peter Möbius eine Steilvorlage. Er schrieb mir: „Die Texte der Arien und Chöre sind grauenvoll: „Reim Dich , oder ich fress Dich“. Interessant dagegen sind die musikalischen Regieanweisungen, die Bemerkungen, wo und wie Tanzeinlagen und musikalische Überbrückungen in diesem Schauspiel vorgesehen waren. Du fragst Dich, wie es an der Zeitenwende vom Achtzehnten zum Neunzehnten Jahrhundert zu dieser Modewelle kommen konnte, die sich schwärmerisch dem Mittelalter hingab? Heute, bei uns, nennt man das Ostalgie, wenn die Ossis von vergangenen Zeiten schwärmen (…). Wenn die vertraute Wirklichkeit im Umbruch ist, verklärt sich die Vergangenheit. Das war auch in der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert so (…) Das Buch ist ein herrliches und kluges Plädoyer für die Flucht in eine fassbare Fantasiewelt, wenn die Wirklichkeit unfassbar geworden ist. Mehr dazu und was das mit dem Schauspiel „Hermann von Unna“ zu tun haben könnte, ein andermal.“

Peter hatte Feuer gefangen für dieses Projekt. Als ich ihm nachts schrieb, ich hätte endlich die Partitur gefunden für diese Oper, kam seine Antwort prompt. Am nächsten Morgen, kurz nach fünf Uhr: Deine Nachricht beflügelt mich, das Stück abzuschreiben und mit Reinhard Fehling über das Projekt zu reden. Ich kenne sonst niemanden, der so ein musikalisch-theatralisches Vorhaben fachkundig betreuen könnte. Doch das Projekt „Hermann von Unna“ wurde nach diesem kurzen Strohfeuer von uns beiden auf Eis gelegt, nicht weiter verfolgt. Ich bedaure es noch heute.

Argwöhnisch beobachteter Nachlassverwalter

Kennengelernt haben Peter und ich uns Mitte der neunziger Jahre, als ich wirtschaftsförderlich bei der Kreisstadt Unna anheuerte. Peter war für mich von Anfang an mehr als „der große Bruder von Rio“, dem Sängerpoeten, mit bürgerlichem Namen Ralph, dem jüngsten der drei Möbius-Brothers. Und der bekannteste. Als Rio am 20. August 1996 starb, gab es Berlin wenige Tage später zu seinem Abschied ein „Konzert der Freunde“. Ich wäre gerne hingefahren, konnte aber nicht. Aus beruflichen Gründen. Peter schenkte mir den Konzertmitschnitt. Zwei CDs mit Rios Liedern, gesungen von den Rest-„Scherben“, Ulla Meinecke, Marianne Rosenberg, Herbert Grönemeyer und anderen.

Peter wurde mit seinem Bruder Gert Rios Nachlassverwalter. Kein leichter Job, argwöhnisch beobachtet und verbunden mit viel Kritik von Rios ehemaligen Weggefährten und Fans aus der Ton-Steine-Scherben-Zeit. Zum Beispiel dafür, dass sie ein Zeile aus dem Kassenschlager „König von Deutschland“ an einen Elektronikkonzern verkauften, um damit das Rio Reiser-Haus in Nordfriesland als Begegnungsstätte für zwei weitere Jahre finanzieren zu können. Nachlassverwalter war nun weiß Gott nicht der Traumjob dieses Multitalentes, dem es –  das Schicksal vieler Allrounder – leider nicht vergönnt war, mit nur einem Werk oder nur einer Begabung, den ganz großen Durchbruch und die damit verbundene Anerkennung  als Künstler zu erreichen.

Schon mit 16 Jahren Bühnenbild-Assistenz bei Heinz Hilpert

Geboren wurde Peter 1941 in Berlin. Sein Vater war Ingenieur für Kartonverpackungen bei der Siemens AG; da er immer wieder mal versetzt wurde, musste die  Familie mehrmals umziehen. Peters Bruder Gert erinnert sich in seinem Buch „Halt dich an deiner Liebe fest. Rio Reiser“: „Während ich Lehrling bei der Versicherung war, hatte Peter, nachdem er bei der privaten Kunstakademie März in Stuttgart eingeschrieben gewesen war, mit sechzehn Jahren schon einen Job als Bühnenbild-Assistent am Göttinger Stadttheater, damals noch unter der Intendanz von Heinz Hilpert. Nach seiner Rückkehr nach Schmiden [bei Stuttgart; HD] bewarb er sich bei der Stuttgarter Kunstakademie die Professor Gerhard Gollwitzer, dem Bruder des progressiven Theologen Helmut Gollwitzer und wurde sofort ohne Prüfung aufgenommen.

…und auch noch ein hochbegabter Schauspieler

Die Folge war, dass Rio und mir dieser Bruder immer unheimlicher wurde. Dann bekam er auch noch eine kleine Rolle in dem Film von Frank Wisbar „Hunde, wollt ihr ewig leben“, einem kritischen Stalingradfilm. Mehr ging damals in unserer Familie nicht. Wir alle stürmten das Dorfkino in Schmiden, um zu prüfen, wie künstlerisch nachhaltig unser Familienmitglied den von Kugeln durchsiebten Reichswehrsoldaten darzustellen in der Lage war. Natürlich waren wir einhellig der Meinung, dass Peter das großartig gemachte hatte, und natürlich waren wir felsenfest davon überzeugt, dass er auch in Zukunft andere Rollen glaubwürdig darstellen würde. Eine Schauspielausbildung, diesen teuren Quatsch, so unser Vater, hätte Peter nicht nötig. Von Null auf hundert war er nun nicht nur ein begnadeter Maler, sondern auch ein hochbegabter Schauspieler – am besten Filmschauspieler.“

Später studierte Peter an der Akademie für Bildende Künste in Stuttgart, wo er mit Andreas Weißert Theater spielte. Wohl prägend waren für Peter die jungen Jahre in Nürnberg. Hier gründete er das Comic Teater, auch damals schon ohne „h“ geschrieben. Mit sechs anderen jungen Leute, die sich von der Nürnberger Kunstakademie kannten, zog er im Mai 1965 mit Traktor, einem umgebauten Bauwagen und 30 selbst angefertigten Masken und Kostümen einen ganzen Sommer durch Franken und Oberbayern.

Ohne erfolgreiches Theaterspiel kein Abendbrot

„Doktor, Tod und Teufel“ hieß das Stück, das sie auf Dorfplätzen und Märkten spielten. Eine harte Schule für das Comic Teater: „Wir mussten so spielen, dass das Publikum blieb. Sonst hätten wir kein Abendbrot gehabt. Denn gesammelt wurde erst zum Schluss“, erinnert er sich später in einem Interview.

Politisch prägend für Peter war – wie für viele seiner Generation – der  2. Juni 1967: Die Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg bei einer Demonstration am Ku’damm gegen den Schah von Persien. Peter war bei dieser Demonstration dabei. So wurde aus ihm ein Achtundsechziger. Als Andreas Weißert 1975 in Dortmund Oberspielleiter wurde, holte er Peter Möbius vom Theater am Turm, wo er bei Rainer Werner Fassbinder spielte, nach Dortmund.

Bundesweit beispielloses Engagement in Unna

In Dortmund wurde Peter Möbius Leiter des Kinder- und Jugendtheaters. Mit seiner Comic-Truppe inszenierte er 1975 „FeuerZirkus“  und „Die Struwwelpeter Revue“, Stücke die er selbst geschrieben hatte und zu denen Rio Reiser mit den Scherben die Musik machte. Die agile Truppe wurde in Dortmund gekündigt – man unterstellte ihnen Kontakte zu den Möchtegern-Stadtguerilleros vom „2.Juni“, einer RAF-ähnlichen Gruppierung.

Die Stadt Unna hatte damals den Mut, sie über eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme einzustellen, der ersten für eine Schauspielertruppe bundesweit. Mit dem Hoffmans Comic Teater (HCT) bekam Unna die kritische Masse an Akteuren, die Unna als Kulturstadt geprägt haben. Peter war der Motor und Spiritus Rector. Dabei waren unter anderem Hartmut Hoffmeister, Ingeborg Wunderlich, Andy Koch, Rio Reiser, Martin Paul, Uta Rotermund, Claudia Roth und etliche andere. Daraus entstanden sind zahlreiche kulturelle Einrichtungen, die bis heute das kulturelle Leben von Unna prägen: der Kinderzirkus Travados, das Werkstatt Theater Unna (seit 1999 das „Narrenschiff“), das soziokulturelle Zentrum Lindenbrauerei, das Stadtspielwerk und die Jugendkunstschule, zu deren 40jährigem Jubiläum Peter noch eine viel beachtete Laudatio hielt.

Rio Reiser lieferte oft die Songs zu Peters Projekten

Peters Stärke lag vor allem darin, künstlerische Projekte mit Breitenwirkung zu entwickeln. Immer wieder dabei: sein Bruder Rio Reiser, der zu vielen Projekten die Songs lieferte. Zu diesen Projekten gehörte das „Ruhrschrei-Festival“ unter der Liedbachbrücke in der Massener Heide, die „Märzstürme“ (1981), eine „große Freiheitsrevue“ zur Erinnerung and die Märzrevolution 1920 im Ruhrgebiet, die Unnaer Stadtoper „Wasser des Lebens“ (1989), das Musical „Die Braut der Brüder“, aufgeführt bei den Ruhrfestspielen 1995 sowie seine letzte große Inszenierung „Das Tor zum Paradies , „ein musikalisches Portrait in sieben Bildern“ über den streitbaren Prediger und Komponisten heute noch bekannter Choräle, Philipp Nicolai (1997).

Mit den „Märzstürmen“ zog das Hoffmanns Comic Teater durchs Ruhrgebiet. Zur Vorbereitung interviewte man noch Zeitzeugen, die von den Greueltaten der präfaschistischen Freikorps-Truppen im Ruhrgebiet berichteten. Rio Reiser schrieb dazu wunderbare Lieder. Ton Steine Scherben machte die Musik. Der Schreiber dieser Zeilen kann sich noch heute gut an die Aufführung in einem Zirkuszelt vor dem Dortmunder Stadthaus am heutigen Friedensplatz erinnern. Damals dabei unter anderem, als rotbackige Krankenschwester, die heutige Grünen-Politikerin Claudia Roth und die Dortmunder Kabarettistin Uta Rotermund.

Die Geschichte des inzwischen legendären Hoffmans Comic Teater wollte Peter immer aufschreiben. Ob er es noch geschafft hat, weiß ich nicht. Immerhin gab es 2018 in Unna noch eine Ausstellung: „51 Jahre Hoffmanns Comic Teater 1965 – 1981. Spuren und Impulse einer aufsässigen Künstlerbande“. „Dario Fo“, sagte er einmal, „das war unser Vorbild.“

Grafik und frühe Computer-Experimente

Peter Möbius war nicht nur Theatermann mit Leib und Seele, sondern auch ein hervorragender Grafiker. Er gestaltete etliche Programmhefte für das Summertime-Kulturprogramm in Unna, das er ebenfalls inspiriert und künstlerisch betreut hatte. Ein anderes Projekt von Peter, Jahre später, konnte leider nicht realisiert werden: Ein Computerspiel, das er in unzähligen Stunden in den neunziger Jahren am Computer entwickelte. Mit magischen Bildern und einer phantastischen Geschichte, alles am Computer mühevoll „gezeichnet“. Grafikprogramme gab es damals noch nicht. Daraus sollte eine CD entstehen. Diese Silberlinge kamen damals gerade auf  und waren so „in“ wie heute das Streamen. Ich konnte im den Kontakt zu einem Produzenten von CDs vermitteln. Der spezialisierte sich allerdings, wie sich dann herausstellte, mehr auf Pornos. Die waren marktgängiger. Das Projekt verschwand im digitalen Nirwana.

Einer, der sich ins politische Geschehen einmischte

Peter betätigte sich auch als Filmregisseur. 1990 war er als Autor und Koregisseur (mit Uwe Penner) von „Türmers Traum“. Der Film war ein Beitrag zur 700jährigen Geschichte der Stadt Unna. Mit rund 300 Mitwirkenden, darunter viel Volk, einigen Kommunalpolitikern, sowie Roman Marczewski, dem  heutigen Präsidenten des Ruhrgebiets-Karnevals Geierabend, und Cäcilie Möbius, Peters Tochter, heute Schauspielerin beim Theater Narrenschiff und anderswo. 1997 drehte Peter ein TV-Porträt seines Bruders Rio Reiser: „Ich bieg’ dir den Regenbogen – ein biografischer Dokumentarfilm“.

Als politischer Mensch mischte sich Peter Möbius immer wieder ein in das politische Geschehen seiner Wahlheimat Unna. Das brachte ihm nicht nur Freunde. Er war Mitgründer der Alternativen Liste in Unna, der GAL. Schrieb ein lesenswertes Memorandum zur Weiterentwicklung der Kulturpolitik in Unna, das leider viel zu wenig Beachtung fand. 2008 war er Mitinitiator eines Bürgerbegehrens. Verkleidet als Kommerzienrat, schlug er mit einer Glocke Alarm gegen den Abriss historischer Bausubstanz in Unnas historischer Innenstadt und ihren vermeintlichen Ausverkauf an Investoren. Der Mann mit Hut und Weste wusste, wie man Theater für`s Volk macht.

Peter Möbius starb in der Nacht von Ostersonntag auf Ostermontag, am 13. April, im Alter von 78 Jahren an einer Krebserkrankung.




(Fast) alles über „Kunst & Kohle“: 17 Museen in 13 Revier-Städten stemmen Mammutprojekt zum Ende der Zechen-Ära

Schwarz. Schwarz. Schwarz. Es ist, in mancherlei Schattierungen bis hin zu diversen Grauwerten, der beherrschende „Farb“-Ton dieses wahrlich ausgedehnten Ausstellungsreigens.

Weiße Nymphen am Fuße einer Kohlehalde: Blick auf Alicja Kwades Installation "Die Trinkenden" im Museum Ostwall im Dortmunder "U". (Foto: Bernd Berke)

Weiße Nymphen am Fuße einer Kohlehalde: Blick auf Alicja Kwades Installation „Die Trinkenden“ im Museum Ostwall im Dortmunder „U“. (Foto: Bernd Berke)

Hie und da erscheint die Finsternis schon im Titel: Schlichtweg „Schwarz“ lautet er im Bochumer „Museum unter Tage“, „Reichtum: Schwarz ist Gold“ heißt es derweil im Duisburger Lehmbruck-Museum. Anderwärts dominiert das Schwarz jedenfalls die verwendeten Materialien oder wird durch vielfältige Kontraste und sozusagen durch Legierungen anverwandelt. Wirklich kein Wunder, denn es geht ja im gesamten Revier um „Kunst & Kohle“.

Der Ausstellungssommer 2018 hat durchaus fordernden Charakter. Kulturbeflissene müssen sozusagen alles geben (bekommen dafür aber auch etliches geboten): In den letzten Tagen eröffneten eine raumgreifende Schau zur Geschichte des Steinkohle-Bergbaus in Essen und ein fünffach aufgefächertes Friedens-Projekt in Münster. Wir berichteten jeweils. Hier und jetzt aber geht es um eine weitere Unternehmung, die sich aufs Ende des deutschen Bergbaus bezieht und insgesamt alles andere von den Dimensionen her in den Schatten stellt: Gleich 17 Ausstellungshäuser in 13 Städten des Ruhrgebiets vereinen ihre Kräfte just zum revierweiten Ereignis „Kunst & Kohle“, das an den meisten Orten bis zum 16. September dauert.

Hilfreiches Netzwerk der RuhrKunstMuseen

Ohne das gemeinsame Netzwerk jener 20 „RuhrKunstMuseen“, die seit 2008 – damals im Vorfeld des Kulturhauptstadtjahres 2010 – zunehmend kooperieren, wäre der Kraftakt so nicht möglich gewesen. Auf diese Strukturen ließ sich aufbauen, als es darum ging, das weitläufige Themenfeld in aller Vielfalt, Breite und Tiefe darzustellen. Das Ganze soll natürlich auch touristisch beworben werden. Die nicht nur insgeheime Hoffnung: Wer für die Kunst ins Revier kommt, wird hier vielleicht auch ein bisschen „Kohle“ ausgeben.

Gruppenbild vor dem bereits teilweise verhüllten Herner Schloss Strünkede: Einige Museumsdirektor(innn)en des Reviers und Vertreterinnen der Stiftungen. (Foto: Bernd Berke)

Gruppenbild vor dem bereits teilweise verhüllten Herner Schloss Strünkede: Direktor(inn)en diverser Kunstmuseen des Ruhrgebiets und Vertreterinnen der beteiligten Stiftungen. (Foto: Bernd Berke)

Sprachspielchen beiseite. Schon seit 2011 liefen die Vorarbeiten zu „Kunst & Kohle“, bereits seit 2007 sah man ja das epochale Datum der letzten Zechenschließungen in Bottrop und Ibbenbüren unweigerlich kommen. Also kann man jetzt (inklusive museumseigener Mittel) auf einen stolzen Etat von 2,5 Millionen Euro zurückgreifen und Arbeiten von rund 150 Künstler(inne)n auf insgesamt 20000 Quadratmetern Ausstellungsfläche zeigen.

Hauptförderer ist mit 750.000 Euro einmal mehr die RAG-Stiftung, die vor allem gegründet wurde, um die enormen „Ewigkeitskosten“ (Grundwasserschutz etc.) nach dem Ende des Bergbaus zu tragen, welche jährlich rund 220 Millionen Euro ausmachen dürften. Das Stiftungsvermögen liegt allerdings auch, wie es in vornehmer Diskretion hieß, im „niedrigen zweistelligen Milliardenbereich“, so dass auch noch dies und das für Kultur und Bildung übrig bleibt. Außerdem sind bei „Kunst & Kohle“ u. a. die Kunst Stiftung NRW und die Brost Stiftung mit an Bord.

Im Bottroper Josef Albers Museum ausgestellt: Bernd und Hilla Becher "Fördertürme" (Fotografien, 1972-83) (© Estate Bernd & Hilla Becher, vertreten durch Max Becher, courtesy Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur - Bernd und Hilla Becher Archiv, Köln, 2018)

Im Bottroper Josef Albers Museum: Bernd und Hilla Becher „Fördertürme“ (Fotografien, 1972-83) (© Estate Bernd & Hilla Becher, vertreten durch Max Becher, Courtesy Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur – Bernd und Hilla Becher Archiv, Köln, 2018)

Wie bekommt man das in den Griff?

Das sind fürwahr imponierende Zahlen und Fakten. Doch wie bekommt man das gesamte, nahezu monströse Unterfangen als Besucher (oder Berichterstatter) „in den Griff“? Wie kann man sich welche Schneisen schlagen?

Wie zu hören war, schicken sich mehrere Regional-Zeitungen an, mit all den einzelnen Ausstellungen gleichsam in Serie zu gehen und so auch das von Journalisten gefürchtete „Sommerloch“ Stück für Stück zu füllen. Glückauf dazu! Wir bringen hingegen einen schier endlosen „Riemen“, der dennoch nur Hinweise und Stichworte enthalten kann…

Die einstige Bergbaustadt Hamm ist leider nicht dabei

Im Duisburger Lehmbruck-Museum zu sehen: William Kentridge "Drawing for Mine", Kohlezeichnung (1991) (© William Kentridge)

Im Duisburger Lehmbruck-Museum zu sehen: William Kentridge „Drawing for Mine“, Kohlezeichnung (1991). (© William Kentridge)

Einstweilen muss ich freimütig bekennen, nicht etwa alle 17 Ausstellungen gesehen zu haben. Das kann – außer dem federführenden Koordinator Prof. Ferdinand Ullrich (vormals Leiter der Kunsthalle Recklinghausen) – bisher wohl niemand von sich behaupten. Es ist ja auch schön, die Auswahl unter so vielen Optionen zu haben. Zur Erschließung größerer Bereiche werden (kostenlose!) Bustouren angeboten, die jeweils zu drei Ausstellungen führen. Ich habe fürs Erste eine westfälische Route im östlichen Ruhrgebiet vorgezogen – mit den Stationen Herne, Dortmund und Unna.

Apropos Ost-Revier: Hamm, früher eine ausgesprochene Bergbaustadt mit mehreren großen Zechen (Sachsen, Radbod, Heinrich Robert) ist aus unerfindlichen Gründen nicht am Projekt beteiligt. Freilich war das dortige Gustav-Lübcke-Museum in den letzten Jahren auch nicht mit personeller Kontinuität gesegnet. In Hagen, dessen zwei Kunstmuseen auch nicht mitmachen, hat man’s eh weniger mit der Steinkohle gehabt. Sonst aber sind praktisch alle Ecken und Enden der Region mit von der Partie.

Spektakuläre Verhüllung des Herner Schlosses mit Jutesäcken

Nun geht’s aber auf die Tour:

In Herne ist das größte und spektakulärste Kunst-Signal schon aus einiger Entfernung sichtbar. Dort hat der aus Ghana stammende Ibrahim Mahama, der auch schon die letzte documenta bereicherte, große Teile des Schlosses Strünkede unter dem bezeichnenden Titel „Coal Market“ mit Jutesäcken verhüllt. Anders als Christo, ist es ihm nicht in erster Linie um die ästhetische oder gar ästhetisierende Wirkung zu tun, seine Arbeit ist vor allem mit gesellschaftlicher und politischer Bedeutung aufgeladen.

Die in Asien gefertigten, überwiegend in Afrika verwendeten, nunmehr zerschnittenen und sodann in vielen Arbeitsstunden von freiwilligen Helfern miteinander vernähten Jutesäcke sind sichtlich gebrauchte Exemplare, sie riechen buchstäblich noch nach dem Schmutz und nach der Knochenarbeit auf den Transportwegen durch Afrika und auf interkontinentalen Strecken. In etlichen Säcken wurde tatsächlich Kohle transportiert (etwa von Afrika nach Europa), in anderen beispielsweise Lebensmittel. Wenn ein eher herrschaftliches Gebäude wie das Schloss damit verhüllt wird, ist dies eine nachdrückliche, auch provokante Erinnerung an globale Kapitalströme und weltweiten Warenverkehr, in dem vielen Ländern hauptsächlich die Drecksarbeit bleibt.

Trotzdem freut man sich in Herne über den ungewohnten Anblick. Das Schloss ist nämlich beliebte Kulisse für viele Hochzeiten. Es soll Brautpaare geben, die es kaum noch erwarten können, hier und möglichst bald zu heiraten, denn so besonders wird das alte Gemäuer später wahrscheinlich nie wieder aussehen…

Die Verwandlung von Holz durch Feuer

Weiter zur zweiten Station in Herne: In den Flottmann-Werken wurde einst der Abbauhammer erfunden und produziert, mit dem die Massenproduktion in den Revierzechen recht eigentlich begonnen hat. Heute sind von den vielen Werksgebäuden „nur“ noch die Flottmannhallen übrig. Dort stellt jetzt der englische Bildhauer und Zeichner David Nash seine Arbeiten aus, die gerade in dieser lichten Ausstellungshalle wunderbar zur Geltung kommen. Sie fügen sich derart gut zum Generalthema Kohle, dass man meinen könnte, es seien eigens hierfür ausgeführte Auftragsarbeiten. Doch das ist nicht der Fall.

Blick in die Ausstellung mit Arbeiten von David Nash in den Herner Flottmann-Hallen. (Foto: Bernd Berke)

Blick in die Ausstellung von David Nash in den Herner Flottmann-Hallen. (Foto: Bernd Berke)

Nash ist vorwiegend Holzbildhauer, doch seine in Herne präsentierten Skulpturen haben gleichwohl die Anmutung von Steinkohle-Produkten. Er rückt dem Holz mit Kettensägen,  Bunsenbrennern, zuweilen auch mit Flammenwerfern zuleibe und lässt es allseits gezielt verkohlen. Vorzugsweise sind die Skulpturen nicht zusammengefügt, sondern aus einem großen Stück herausgearbeitet. Aus all dem ergibt sich ein anregendes Wechselspiel zwischen natürlichen Oberflächen (Risse und Sprünge im Holz) sowie geometrischen Figurationen. Hier und in Nashs Zeichnungen wird man gewahr, wie vielfältig die Valeurs zwischen Schwarz, Grau und Weiß sind.

Auf nach Dortmund, durch den üblichen Nachmittagsstau. Hier geht es ins Museum Ostwall im Dortmunder „U“, sechste Etage. Edwin Jacobs, Direktor des Hauses, ist zugleich Sprecher des eingangs erwähnten Verbundes der RuhrKunstMuseen.

Bergmännische Laienkunst im Kontrast zu professionellen Positionen

Bergbau gilt gemeinhin als Männersache, doch hier haben sich drei Kuratorinnen Aspekten des Themas gewidmet: Regina Selter (stellv. Direktorin), Karoline Sieg und Caro Delsing. Sie haben nicht nur ermittelt und in einer Karte visualisiert, dass es in der Hoch(ofen)zeit der 50er/60er Jahre in Dortmund 15 fördernde Zechen gegeben hat. Sie haben zudem die Geschichte des Museums erforscht und herausgefunden, dass Leonie Reygers, die Gründungsdirektorin nach dem Zweiten Weltkrieg, ein Faible für naive Kunst und Laienkunst hatte. Demgemäß richtete sie einen entsprechenden Sammlungsschwerpunkt ein. Naive Kunst aus Paris zeigte sie schon 1952 unter dem heute treuherzig klingenden Titel „Maler des einfältigen Herzens“.

All das war Anlass genug, um im ersten Teil der Ausstellung die Bilder einiger naiver Künstler aus der Ostwall-Sammlung und vor allem Beispiele fürs Schaffen bergmännischer Laienkünstler zu versammeln. Gewiss, manche von ihnen haben zu einem eigenen Stil und eigenen Ausdrucksformen gefunden. Dennoch deutet schon die drangvoll enge „Petersburger Hängung“ darauf hin, dass die künstlerische Wertschätzung für diese Arbeiten insgesamt auch ihre Grenzen hat. Es sind teilweise etwas unbedarfte Idyllen. Doch ein paar Bilder künden auch von Ängsten und Alpträumen der Arbeitswelt.

Wenn Dinge des Bergbaus zu abstrakten Mustern geraten

Es geht ein deutlicher Riss durch diese Dortmunder Ausstellung, der auch gar nicht gekittet werden soll. Getrennt durch einen Kreativbereich, in dem Besucher sich einschlägig betätigen können, folgen als Teil zwei einige gegenwärtige künstlerische Positionen, die denn doch völlig andere, ungleich reflektiertere Zugänge zum Thema Kohle eröffnen – freilich sozusagen „von außen“ her, aus der Perspektive des professionellen Kunstbetriebs und lange nach der eigentlichen Zechenzeit.

Abstrakte Wirkung: Andreas Gursky "Hamm, Bergwerk Ost" (2008), C-Print (© Andreas Gursky / VG Bild-Kunst, Bonn 2017/18 - Courtesy Sprüth Magers)

Abstrakte Wirkung aufgehängter Bergmannskleidung in der Waschkaue: Andreas Gursky „Hamm, Bergwerk Ost“ (2008), C-Print (© Andreas Gursky / VG Bild-Kunst, Bonn 2017/18 – Courtesy Sprüth Magers)

Das Spektrum reicht hier von Andreas Gurskys Fotografie „Hamm, Bergwerk Ost“, der die aufgehängte Bergmannskleidung in der Waschkaue zu einer geradezu abstrakten Komposition verwandelt, beispielsweise bis zum Bochumer Künstler Marcus Kiel, der textile Hinterlassenschaften von Bergmännern zu einer – ebenfalls abstrakt wirkenden – Wandinstallation von gehöriger Größe zusammengefügt hat. Es sind dies originelle Bergbau-„Denkmäler“ besonderen Zuschnitts – und von besonderer Güte. Fron und Schweiß der bergmännischen Maloche haben sie allerdings weit hinter sich gelassen.

Die „Heilige Barbara“ als Modepuppe

Bemerkenswert z. B. auch die Arbeiten zweier Frauen: Die Modedesignerin und Künstlerin Eva Gronbach hat eine gesichtslose Frauenfigur mit leichtem Sommerkleid auf einen Haufen mit grober Bergmannskleidung postiert. Bei näherem Hinsehen merkt man, dass auch die Frauenmode aus recycelter Bergmannskluft gewonnen wurde. Überdies erweist sich die Figur als Anspielung auf die „Heilige Barbara“, die Schutzpatronin der Bergleute. Hier stellt sich recht deutlich die Frage nach einer Zukunft jenseits des Bergbaus, auf die auch die gesamte Ausstellungs-Serie zu gewissen Teilen abhebt. Nicht nur ein mehr oder weniger wehmütiger Abschied von der Kohle soll gefeiert werden, sondern man will erklärtermaßen auch Grüße in die heraufdämmernde Zukunft aussenden. Wohl auch darauf spielt der lokale Dortmunder Ausstellungstitel „Schichtwechsel“ an.

Installation in Dortmund: Eva Gronbachs Arbeit "Was vergeht, was bleibt, was entsteht". (Foto: Bernd Berke)

Installation in Dortmund: Eva Gronbachs Arbeit „Was vergeht, was bleibt, was entsteht“. (Foto: Bernd Berke)

Der zweite Frauenname folgt sogleich: Alicja Kwade fasziniert mit ihrer Installation „Die Trinkenden“, in der höchst konventionelle Porzellan-Nymphen („weißes Gold“) am Fuß einer Kohlehalde („schwarzes Gold“) knien. Daraus erwächst eine durchaus rätselhafte Spannung. Wer mehr von dieser Künstlerin sehen will, hat dazu reichlich Gelegenheit: Das Kunstmuseum in Gelsenkirchen widmet ihr im „Kunst & Kohle“-Kontext eine Einzelausstellung.

Überhaupt finden sich Querbezüge zwischen den Museen. Einen losen Anknüpfungspunkt gibt es etwa nach Oberhausen, wo in der Ludwiggalerie Bergbau- und Kumpel-Figuren im Comic das Spezialgebiet sind. Auch in Dortmund sieht man eine Arbeit in diesem Geiste: Stephanie Brysch, also eine weitere Frau, hat ihre Collage „Unter Tage“ aus Comic-Figuren erstellt, die sich allesamt unter die Erdoberfläche begeben.

In Dortmund drei Kuratorinnen, in Unna drei Künstlerinnen

Nun aber noch etwas weiter ostwärts nach Unna. Dort befindet sich das weit und breit einmalige Zentrum für internationale Lichtkunst mit etlichen „Ikonen“ des Metiers. Und siehe da: Hier sind drei Künstlerinnen mit ihren Licht-Installationen gar unter sich. Bergbau als Männersache? Das gilt längst nicht mehr, wenn es um die ästhetischen Hinterlassenschaften und die weiteren Aussichten geht.

Beitrag im Lichtkunstmuseum Unna: Diana Ramaekers' Neon-Installation "Mein Berg" (2015) (© Foto: Sergé Technau Photograhy, Courtesy by Diana Ramaekers)

Beitrag im Lichtkunstmuseum Unna: Diana Ramaekers‘ Neon-Installation „Mijn Berg“ (Mein Berg,  2015). (© Foto: Sergé Technau Photograhy, Courtesy by Diana Ramaekers)

Das Lichtkunst-Museum ist thematisch von vornherein prädestiniert, geht es doch zum Rundgang durch die ehemalige Linden-Brauerei einige Meter abwärts in den früheren Gärkeller; wenn man so will: unter Tage. Alle drei Installationen der meditativen Ausstellung „Down here – Up there“ (Hier unten, dort oben) spielen mit wechselnden Effekten von Licht und Dunkelheit.

Die Niederländerin Diana Ramaekers hat rot gefärbten Neonröhren montiert, deren Licht langsam entsteht und verlischt, immer und immer wieder – ein geheimnisvoller Energiefluss in der Dunkelheit. Nicola Schrudde hat ihren vielschichtigen Raum unter dem Titel „Schwarzdichte“ mit keramischen Plastiken und Videoloops so gestaltet, dass man nur allmählich und schemenhaft erkennt, was sich da begibt. Offenbar werden Kräfte der Natur beschworen, die in der Zukunft des Ruhrgebiets wieder mehr hervortreten sollen.

Schließlich Dorette Sturms raumfüllende „Breathing Cloud“, eine atmende Wolke also, die stets an- und abschwillt. Sehr sanftmütig kommt einem das vor – wie eine milde Verheißung. Man mag an die einst so schwarzen Wolken denken, die „damals“ über dem Revier hingen. Nun füllen sie sich offenbar mit neuem Leben. Und die Schwärze ist geschwunden.

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„Kunst & Kohle“: je nach Stadt ab 2., 3., 5. oder 6. Mai (Ausnahme: Küppersmühle in Duisburg erst ab 8. Juni). In den meisten Museen bis zum 16. September (Ausnahmen: Dortmunder „U“ nur bis 12. August, Museum Folkwang Essen nur bis 5. August).

Die beteiligten Museen (nach Städte-Alphabet) und ihre Themen:

Kunstmuseum (Bochum): Andreas Golinski „In den Tiefen der Erinnerung“
Museum Unter Tage (Bochum):
„Schwarz“
Josef Albers Museum (Bottrop):
Bernd und Hilla Becher – Bergwerke
Museum Ostwall im „U“ (Dortmund): „
Schichtwechsel“ – von der (bergmännischen) Laienkunst zur Gegenwartskunst
Lehmbruck-Museum (Duisburg): „
Reichtum: Schwarz ist Gold“
Museum DKM (Duisburg): „
Die schwarze Seite“
Museum Küppersmühle (Duisburg):
Hommage an Jannis Kounellis
Museum Folkwang (Essen):
Hermann Kätelhön – Ideallandschaft: Ruhrgebiet
Kunstmuseum (Gelsenkirchen):
Alicja Kwade
Flottmann-Hallen (Herne):
David Nash
Emschertal-Museum / Schloss Strünkede (Herne): „
Coal Market“ – Verhüllung durch Ibrahim Mahama
Skulpturenmuseum Glaskasten (Marl): „
The Battle of Coal“
Kunstmuseum (Mülheim/Ruhr):
Helga Griffiths „Die Essenz der Kohle“
Ludwiggalerie im Schloss (Oberhausen): „
Glück auf! Comics und Cartoons“
Kunsthalle (Recklinghausen):
Gert & Uwe Tobias
Zentrum für Internationale Lichtkunst (Unna): „
Down here – up there“
Märkisches Museum (Witten):
Vom Auf- und Abstieg

25 Euro (ermäßigt 15 Euro) kostet ein Kombi-Ticket, das auch zum mehrmaligen Besuch aller Ausstellungen über den gesamten Zeitraum berechtigt. Erhältlich in allen teilnehmenden Museen und unter der Ticket-Hotline der Ruhr Tourismus GmbH: 01806/18 16 50.

Kostenlose Bustouren, jeweils zu drei beteiligten Museen (ca. fünfeinhalb Stunden lang). Termine im Ausstellungs-Booklet: Anmeldungen unter buchungen@ruhrkunstmuseen.com oder telefonisch: 0203/93 55 54 723

Massiver Katalog in 17 Bänden im Wienand-Verlag, begrenzte Auflage der Gesamt-Publikation im großen Schuber, ansonsten in Einzelexemplaren für die beteiligten Museen erhältlich. Zur ersten Orientierung gibt es zudem ein Gratis-Booklet mit knappen Infos zu allen Ausstellungen.

Alle weiteren Informationen unter:

www.ruhrkunstmuseen.com/kunst-kohle.html




Das Flackern der Vergänglichkeit: Lichtkunst-Ausstellung „BRIGHT!“ in Unna

Es wird heller im Zentrum für Internationale Lichtkunst in Unna: 2015 hieß dort eine Wechselausstellung „DARK !“ und soll tatsächlich ziemlich finster umflort gewesen sein, jetzt steuert man mit „BRIGHT !“ als Haus der Lichtkunst standesgemäß aufs Gegenteil zu. Die Regler werden gleichsam hochgedreht. Und doch auch wieder nicht. Denn zugleich geht es um die Vergänglichkeit gewisser Lichtquellen. Nanu? Immer diese Widersprüche in der Kunst.

Eine mögliche Ansicht von vielen: Björn Dahlems Licht-Installation "Milky Way". (Foto: Bernd Berke)

Eine mögliche Ansicht von vielen: Björn Dahlems Licht-Installation „Milky Way“. (Foto: Bernd Berke)

Denken wir an die konventionellen Glühbirnen, die wir nicht mehr kaufen dürfen. Denken wir an Neon- und sonstige Leuchtstoff-Röhren. Alles im Rückzug begriffen, während LEDs sich auf breitester Front durchsetzen. Und damit schwindet auch so manche Lichtkunst früherer Tage tendenziell dahin. Jetzt hat der aus den Niederlanden stammende Museumsdirektor John Jaspers in Unna sozusagen ein (vor)letztes Aufflackern der genannten Leuchtmittel arrangiert.

Eigenwert der Räumlichkeiten

Wie in Unna üblich, hat man Künstler gebeten, Licht-Installationen eigens für die vorwiegend unterirdisch gelegenen Räumlichkeiten der früheren Lindenbrauerei zu konzipieren und aufzubauen. Diese Räume haben es atmosphärisch in sich. Schon ohne beigegebene Kunst waltet hier eine geradezu idealtypische Hintergrund-Ästhetik des Schäbigen, Rohen und längst Verlassenen.

Zurück zur Wechselschau: Für den Auftakt über Tage, kurz hinterm Eingangsbereich, sorgt Volkhard Kempter allerdings mit einer älteren Arbeit, der Lichtskulptur „Blister“ („Blase“, 2006). 50 Leuchtstoffröhren stecken in einem kugelförmigen Alu-Gerüst von drei Metern Durchmesser. Das schwebende Gebilde wirkt durchaus filigran und spiegelt sich in den großflächigen Fenstern der einstigen Brauerei-Schwankhalle. Eine Erscheinung, die auf kosmische Formen anzuspielen scheint und offenbar jederzeit explodieren könnte. Oder sind das nur grundlose Befürchtungen?

Da können die Betrachter nervös werden

Sodann geht’s hinunter auf acht bis zwölf Meter Tiefe. Da begegnen einem abermals Arbeiten von Volkhard Kempter: „True Light Standard II“ (1998) besteht aus kreisförmig angeordneten Leuchtstoffröhren, die einander anstrahlen, freilich nicht ruhig und kontinuierlich, sondern mühselig flackernd im dauernden Wechsel zwischen Ein- und Ausschaltung.

Raumvermessung mit meditativen Qualitäten: Pedro Cabrita Reis' "Standing and Laying". (Foto: Bernd Berke)

Raumvermessung mit meditativen Qualitäten: Pedro Cabrita Reis‘ „Standing and Laying“. (Foto: Bernd Berke)

Nach einer halben Minute ist der „Spuk“ jeweils vorüber, man möchte auch kaum länger hinsehen. Nicht nur die maximal belasteten Leuchtkörper selbst scheinen Stress zu haben, die Nervosität überträgt sich vielleicht auch auf Betrachter.

Bei näherem Hinschauen ist Kempters Fortführung „True Lite 2017“ im repräsentativen Säulenkeller noch fordernder. Auch hier ein fortwährendes Auf- und Abblitzen, so dass man am liebsten nicht ins flirrende Sammel- und Abklingbecken des Lichts gucken mag. Trotz allen Aufbäumens und letzter, wenngleich wohl schon recht kraftloser Leucht-Anstrengung: schmerzliches Schwinden, quälende Vergänglichkeit.

Das Staunen über den künstlichen Kosmos

Zwischendurch wird es ruhiger, ja beinahe erhaben. Zu Björn Dahlems raumfüllender, weit ausgreifender Installation „Milky Way“ (Milchstraße, 2017) gehört wahrhaftig auch eine unscheinbare kleine Milchflasche (Finger weg und Vorsicht, das weiße Zeug darin ist gar keine Milch!). Dahlem befasst sich mit kosmischen Theorien und Phänomenen, seine Raumkonstruktion aus Leuchtstoffröhren könnte eine Art Sternensystem darstellen, das sich aus Chaos und Zufall speist.

Freilich geht es hier nicht um wissenschaftliche Erkenntnis, sondern um eine eher „naive“ Haltung des Staunens. Einen „Mond“ im Holzgerüst (aus Glühlampen und Spiegeln) hat Dahlem gleichfalls konstruiert. Und auch dabei ist die bloße Erscheinung, ist das möglichst pure Anschauen wichtiger als etwaiges Wissen.

Künstlerpaar Ursula Molitor und Vladimir Kuzmin vor ihrer Arbeit "Extension - model 1:1" - mit Museumsdirektor John Jaspers (links). (Foto: Bernd Berke)

Künstlerpaar Ursula Molitor und Vladimir Kuzmin vor ihrer Arbeit „Extension – model 1:1“ – mit Museumsdirektor John Jaspers (links). (Foto: Bernd Berke)

Meditative Momente mit Leuchtkörpern

Das Künstlerpaar Molitor & Kuzmin (Ursula Molitor, Vladimir Kuzmin) bespielt einen Raum mit einer an vorgestrige Raumfahrt gemahnenden, beinahe „Sputnik“-haften Lichtskulptur, die den Titel „Extension – model 1:1“ trägt. Viele Tage lang haben sie gebaut und programmiert – und es ist noch nicht fertig, sondern prinzipiell ein work in progress, auf Erweiterung angelegt, wie der Titel schon andeutet. Herumliegendes Werkzeug und Kabelgewirr signalisieren, dass die Künstler jederzeit zurückkehren und etwas hinzufügen oder auch wegnehmen könnten. Mag sein, dass dies auch geschehen wird.

Wenn die verschiedenen Weiß-Tönungen der Leuchtstoffröhren verlöschen, erklingt die Stimme eines Musikers, der auf Englisch über (seine) Kunst spricht. Dann wieder Verstummen und Licht. Dann wieder Verlöschen und Stimme. Und so fort. Wie eine stetige Folge von Ein- und Ausatmung. Das gewinnt eine meditative Qualität, die im nächstens Raum womöglich noch intensiviert wird: Der arrivierte portugiesische Künstler Pedro Cabrita Reis (documenta, Biennale usw.) definiert hier mit seiner Installation „Standing and Laying“ die Raummaße neu. Die einfach erscheinende, doch ausgeklügelte Licht-Zeichnung, ein auf den Kopf gestelltes „T“, schwebt knapp über dem Boden und scheint die Schwerkraft in Frage zu stellen.

„BRIGHT !“ Vom 25. November 2017 bis 8. April 2018 im Zentrum für Internationale Lichtkunst, Unna, Lindenplatz 1. Tel: 022303 / 10 37 51. Besichtigung von Wechsel- und Dauerausstellung (dort u.a. Werke von Mario Merz, Mischa Kuball, Rebecca Horn, Christian Boltanski und Olafur Eliasson) praktisch ausschließlich im Rahmen von Führungen, Einzelheiten dazu hier: https://www.lichtkunst-unna.de/de/besuch

Weitere Infos: www.lichtkunst-unna.de

Heute (am 25. November 2017) findet die 2. „Nacht der Lichtkunst“ unter dem Motto „Hellweg – ein Lichtweg“ statt, und zwar in folgenden Städten der Region: Ahlen, Bergkamen, Bönen, Fröndenberg, Hamm, Lippstadt, Lünen, Schwerte und Soest. Details zum vielfältigen Programm: www.hellweg-ein-lichtweg.de




Künftige Zentrale beim „Hellweger“ in Unna: Ruhr Nachrichten wollen ihre Dortmunder Mantel-Redaktion aufgeben

Nein, so richtig überrascht ist man von einer solchen Nachricht längst nicht mehr. Dazu ist am einst leidlich blühenden Pressestandort Dortmund (in besseren Zeiten: zwei konkurrierende Mantel- und drei Lokalredaktionen) schon zu viel Unbill geschehen.

Titelschriftzug und Werbeslogan der Ruhr Nachrichten (© RN)

Titelschriftzug und Werbeslogan der Ruhr Nachrichten (© RN)

Jetzt, rund viereinhalb Jahre nach der kompletten Schließung der Rundschau-Redaktion (WR), stehen die Zeichen nochmals auf sicherlich Kosten sparenden Umbau, anders gesagt: auf weiteren Schwund.

Wie der in aller Regel gut unterrichtete Bülend Ürük für den renommierten Kress-Report berichtet, wollen die Ruhr Nachrichten (RN) ihre Mantel-Redaktion in Dortmund auflösen und sich noch mehr aufs Lokale konzentrieren. Inzwischen greift auch der WDR das Thema auf.

Da wedelt der Schwanz mit dem Hund

Ganz ehrlich: Der RN-Mantel (also regionale und überregionale Seiten übers Lokale hinaus) war nicht mehr wirklich konkurrenzfähig, die WAZ lag – nicht zuletzt durch ihre Berliner Redaktion – mit Eigenleistungen meistens klar besser im Rennen. Die RN behalfen sich vielfach mit bloßem Agenturmaterial, das eben alle Zeitungen haben.

Ab Oktober, so heißt es im Kress-Report weiter, sollen beim deutlich kleineren RN-Partner „Hellweger Anzeiger“ auch die RN-Mantelseiten entstehen. Da wedelt sozusagen der Schwanz mit dem Hund. Und unversehens wird das kleine Unna, wo der Hellweger Anzeiger erscheint, quasi zur Pressehauptstadt des östlichen Ruhrgebiets, während Dortmund in die zweite Reihe rückt. Ob der Mantelteil dadurch an Qualität gewinnt?

Höhere Verteilungs-Mathematik

Das Ganze soll angeblich ohne Entlassungen vonstatten gehen. Von den (gerade mal) 16 RN-Mantelredakteuren sollen neun auf die Lokalredaktionen verteilt werden. Sechs weitere bleiben laut Kress-Report als überregional ausgerichtete „Content-Agentur“ (branchenüblicher Managersprech) in Dortmund. Rein rechnerisch geht das zwar nicht auf, es bliebe ein Rest von einer Redaktionskraft. Aber es wird vermutlich eine höhere mathematische oder verlegerische Wahrheit dahinter stecken; zumal ja noch drei RN-Leute in die Mantelredaktion des „Hellwegers“ wechseln sollen. Zu hoffen wäre, dass alle ihren tariflichen Status behalten.

Ausnahme für den BVB-lastigen Sportteil

Eher als Ironie könnte man diese Kress-Einschätzung verstehen: „Sportfans können sich aber beruhigen, der Mantelsport, und damit vor allem BVB-Fußball, entsteht weiterhin in Dortmund.“ Wenn man weiß, dass die Ruhr Nachrichten und der BVB eine so genannte „Medienpartnerschaft“ pflegen, die kaum kritische Berichterstattung über den Verein und seine Geschäftsführung zulässt, wird man die Aussicht nicht unbedingt bejubeln. Ex-RN-Sportredakteur Sascha Fligge ist seit einiger Zeit BVB-Pressesprecher, pardon: Mediendirektor. Eine innige Verbindung von Blatt und Ballspielverein also.

Eine vielköpfige Chefredaktion

Ein Ding für sich ist die seit 1. Juli bestehende Chefetage der Ruhr Nachrichten, die eher an Dimensionen der New York Times oder eines DAX-Unternehmens denken lässt und folglich auch mit angloamerikanischen Kürzeln daherkommt. Mit Wolfram Kiwit (CSO), Hermann Beckfeld (CCP), Jens Ostrowski (CCQ) und ab Oktober Moritz Tillmann (CDO) werden sich nicht weniger als vier Chefredakteure mit je eigenen Zuständigkeiten tummeln. Ostrowski hat übrigens als Freier Mitarbeiter der Westfälischen Rundschau (WR) begonnen und seitdem offenbar persönlich goldrichtige Wege eingeschlagen.




Konjunktur mit Fußballbildchen: Das Wunder in Tüten aus Dortmund und Unna – zur Geschichte des Bergmann-Verlags

Anno 2011 war in den Revierpassagen einmal vom heute längst vergessenen Dortmunder Pinguin-Verlag die Rede. Unser Gastautor Horst Delkus (Kamen) hat dazu noch ein paar Hintergründe und Weiterungen recherchiert. Hier sein Bericht:

Mit Autogramm: Spielerkarte des BVB-Stürmers Siggi Held, Jahrgang 1942, der zu den Europacup-Gewinnern von 1966 gehörte. (Bergmann-Verlag/Sammlung Delkus)

Mit Autogramm: Spielerkarte des BVB-Stürmers Siegfried („Siggi“) Held, Jahrgang 1942, der zu den Europacup-Gewinnern von 1966 gehörte. (Bergmann-Verlag/Sammlung Delkus)

Für uns Jungs der fünfziger und sechziger Jahre bestand das Wirtschaftswunder vor allem aus Tüten. Wundertüten. Gekauft am Kiosk – „anne Bude“ – für einen Groschen, was damals 10 Pfennig, etwa 5 Cent waren. Diese Tüten waren gefüllt mit buntem Popcorn, Karl May-Figuren, Tieren aus Afrika. Und mit bunten Fußballbildern: Mannschaften im Postkartenformat und Spielerporträts im handlichen Format von 9 mal 6 Zentimetern.

Man konnte die Bilder in Alben einkleben, die „Doppelten“ tauschen, gegen eine Hauswand „schnibbeln“ (wer seine Karte am nächsten an der Wand liegen hatte, hatte gewonnen) und mit Autogrammen veredeln. Welche Anziehungskraft diese bunten Pappbilder damals hatten, kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Denn Fußballer kannte man meist nur dem Namen nach. Oder aus dem Stadion. Bilder, zumal in Farbe, waren noch selten.

Boom mit Beginn der Bundesliga

Ihren Boom erlebten die bunten Fußball-Karten mit Beginn der der Bundesliga im Jahr 1963. Beliebt wurden vor allem die Tütenbilder aus dem Bergmann-Verlag. „Der Name Bergmann“, so der „Spiegel“, „steht wie kein anderer für die Fußballbilder der sechziger und siebziger Jahre.“

Rückseite des oben wiedergegebenen Fotos von Siegfried Held. (Bergmann-Verlag/Sammlung Delkus)

Rückseite des oben wiedergegebenen Fotos von Siegfried Held. (Bergmann-Verlag/Sammlung Delkus)

Gegründet wurde Bergmann-Verlag 1964 in Dortmund. 1967 dann die Verlegung des Unternehmenssitzes nach Unna, 1975 in die Schweiz. Seitdem gab es auch die Kooperation mit Panini, dessen Bilder und Alben bis heute zur Fußball-Fankultur gehören.

Hervorgegangen ist der Bergmann-Verlag aus einem kleinen Dortmunder Kinderbuchproduzenten, dem Pinguin-Verlag am Westenhellweg. Der stellte Bilderbücher her wie „Der Baron Fox von Kolon“, eine italienische Lizenzausgabe. „Unbeholfen gezeichnet und gleich zu Beginn sprachlich fehlerhaft“, wie der Kulturjournalist Bernd Berke an dieser Stelle, nämlich 2011 im Revierpassagen-Blog befand, zudem eine „spindeldürre Geschichte“ von einem bösen Fuchs und einem guten Hasen mit „einer windschiefen politischen Codierung“.

Gegründet hatten den Pinguin-Verlag der Unnaer Heinz Bergmann und seine aus Italien stammende Ehefrau Maria Luisa. Neben Kinderbüchern vertrieb der Verlag seit Beginn der Bundesliga Postkarten mit deren Fußballvereinen.

Böser Fuchs, guter Hase (Copyright 1963 by editrice AMZ, Milano / Pinguin-Verlag, Dortmund)

Aus dem Vorläufer-Verlag: böser Fuchs, guter Hase in „Der Baron Fox von Kolon“ (Copyright 1963 by editrice AMZ, Milano / Pinguin-Verlag, Dortmund)

1964 erfolgte die Gründung der Bergmann GmbH als Beteiligungsgesellschaft. Mit dieser GmbH als Komplementär gründete das Unternehmerpaar die Bergmann GmbH & Co.KG. Ein Jahr später gründeten sie noch eine dritte Bergmann-Gesellschaft, die Bergmann GmbH & Co.KG Fußballbild-Vertrieb, später Sportbild-Vertrieb.

Aus Pinguin wurde Bergmann

Die Herstellung und den Vertrieb von Fußball-Bildpostkarten übernahm der Bergmann- vom Pinguin Verlag zum 1. Oktober 1964, „nachdem“, heißt es in einem Schreiben an die IHK, „ein Hamburger Verlag gegen die Herausgabe dieser Karten unter dem Namen Pinguin-Verlag protestiert hatte“. Der Pinguin-Verlag hatte bereits im ersten Jahr allein mit den Postkarten einen Umsatz von etwa 100.000 DM erwirtschaftet – bei einem Verkaufspreis von 15 Pfennig.

Legendäre deutsche WM-Siegermannschaft von 1954 als Postkarte aus dem Dortmunder Pinguin-Verlag. (Pinguin-Verlag/Sammlung Delkus)

Legendäre deutsche WM-Siegermannschaft von 1954 als Postkarte aus dem Dortmunder Pinguin-Verlag. (Pinguin-Verlag/Sammlung Delkus)

Bald wurden auch größere Bilder der Bundesligavereine sowie Karten einiger prominenter Fußballspieler vom neuen Verlag hergestellt. Die Kunden des Bergmann-Verlages bestanden anfangs aus großen Waren- und Kaufhäusern, aus Buchhandlungen und Sportvereinen sowie Schreibwaren- und Sportgeschäften, die diese Postkarten und Bilder wiederum an ihre Kundschaft verkauften. Fehlende Postkarten und Bilder konnten Sammler auch direkt über den Versandhandel des Verlages erwerben. Nicht ohne Stolz schrieb Heinz Bergmann: „Wir sind der einzige vom Deutschen Fußball-Bund lizenzierte Verleger, der die farbigen Fußball-Bildkarten herstellt und vertreibt.“ Diese Lizenz stellte sich für Bergmann schon bald als eine Lizenz zum Gelddrucken heraus.

Lukrative Kooperation mit Heinerle

Unscheinbar: das ehemalige Bergmann-Verlagshaus in Unna, Hochstraße 12. (Foto: Horst Delkus)

Unscheinbar: das ehemalige Bergmann-Verlagshaus in Unna, Hochstraße 12. (Foto: Horst Delkus)

Ein weiterer Coup gelang Heinz Bergmann, als er 1965 Hugo Hein aus Bamberg, den Erfinder der Heinerle-Wundertüten, als Kommanditisten an einer seiner drei Gesellschaften, den Sportbild-Vertrieb, beteiligte. Damit war dem Bergmann-Verlag eine neue wichtige Vertriebsschiene für die Fußballbilder gesichert. Die Firma Heinerle selbst hatte bereits seit 1959 diverse Bilder als Beilage in ihren millionenfach verkauften Wundertüten abgesetzt. Mit den Bildern von Bergmann – oder umgekehrt: mit den Wundertüten von Heinerle – gelang bald der Durchbruch auf dem umkämpften Markt der Sammelbilder. Eine Win-win-Situation, wie man heute sagt.

Das erste Bundesligaalbum des Bergmann-Verlages erschien im Jahr 1965: „Bundesliga 65/66“, damals noch mit dem Kultverein Tasmania Berlin. Bis 1984/85 kam dann in jeder Bundesligasaison ein Sammelalbum für jeweils 300 bis 400 Bilder heraus. Dazu gab es Sonderauflagen zum Beispiel zu Weltmeisterschaften. Diese Sammelalben waren neben der exklusiven DFB-Lizenz an den Bildrechten und den Heinerle-Wundertüten die dritte Säule des wirtschaftlichen Erfolges des Bergmann-Verlages. Denn ein Album sollte natürlich voll und möglichst komplett werden.

Sechs VW-Busse für die Auslieferung

Zwei Jahre nach der Gründung, Ende 1966, beschloss Heinz Bergmann, seine Verlagsaktivitäten an seinen Wohnort zu verlegen, nach Unna-Königsborn. Hier wuchs der Verlag weiter, hatte Ende 1967 sechs VW-Busse für die Auslieferung und zwölf Beschäftigte.

Die Produktpalette seines Verlages erweiterte Bergmann ständig. So erschienen Fußball-Postkarten als Reklamebilder. Für Knorr-Suppen zum Beispiel, für Aral und andere. Neben den Sammelalben gab der umtriebige Verleger auch Poster von Mannschaften heraus. Seine Rechte an den bunten Fußballbildern vergab Bergmann ebenfalls an andere Verlage, die die Bilder dann in Lizenz druckten. Auch im Fußballmagazin „Kicker“ erschienen Sammelmarken für Fußballbilder aus dem Bergmann-Verlag. Bergmann schaffte es so, zum Marktführer für Fußball-Sammelbilder zu werden.

Rückseite eines Fußball-Sammelbildes von Helmut Haller - als Werbung für Knorr-Suppen. (Sammlung Delkus)

Rückseite eines Fußball-Sammelbildes von Helmut Haller – als Werbung für Knorr-Suppen. (Sammlung Delkus)

1969 gab Bergmann gar – „mit freundlicher Unterstützung der Schallplatten-Industrie“ – ein erstes Sammelalbum über Musiker heraus, die „Schlager-Star-Parade `69“. Auch diese Bilder waren für 10 Pfennig pro Tüte am Kiosk zu kaufen.

Als die Qualität nachließ

Anfang 1975 erfolgte – aus mir unbekannten Gründen – die Auflösung der Bergmann-Gesellschaften in Unna und die Verlagerung nach Fribourg in der Schweiz – nun als Bergmann AG. Dort brachte der Verlag anstelle der Kartonbilder erstmals selbstklebende Bilder heraus. „Leider“, heißt es, „ließ die Qualität der Bildmotive stark nach. Hatte man sich bis dato mit wenigen Ausnahmen auf Porträts der Spieler beschränkt, bestimmten nunmehr lieblos fotografierte Spielszenenbilder den Eindruck. Noch dazu waren sie grobkörnig und nicht selten auch unscharf.“

…und dann trat Panini auf den Plan

1979 kam es zu einer weiteren entscheidenden Veränderung: Der Bergmann-Verlag gab in diesem Jahr das erste Bundesliga Fußball-Sammelalbum in Kooperation mit Panini heraus. Vermutlich war diese Kooperation mit dem italienischen Sammelbildhersteller der Anfang vom Ende der Eigenständigkeit des Bergmann-Verlages.

Das Aus für den Bergmann-Verlag kam dann 1984. Ironie der Geschichte für einen Verlag mit schwarz-gelben Wurzeln: Nach „80 Jahre Schalke 04“, der Jubiläumsserie für ein Faltposter, kam das Ende. „Neben vielen Spielszenenbildern der Bundesliga-Begegnung „Schalke – Karlsruhe“ aus der Saison 1983/84 umfasst die Serie Spielerporträts, welche der Verlag bereits in früheren Jahren publiziert hatte.“ Danach war es vorbei mit dem Bergmann-Verlag.

Doch Fußballbilder gibt es weiterhin. Auch heute noch sammeln und tauschen viele junge (und inzwischen alte Männer) die Bilder aus Tüten. Wen wundert`s?

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Quellen- und Literaturverzeichnis:

Westfälisches Wirtschaftsarchiv WWA, Dortmund: Signatur K1 Nr. 7841-7843; K1 Nr. 13595-98
Bergmann-Sammelalben 1965 – 1984 bei www.stickerfreak.de
Berke, Bernd: „Pinguin-Verlag in Dortmund? Nie davon gehört!“ in: www.revierpassagen.de vom 29. September 2011
Giesen, Klaus: Sammelbilder in www.sammlerforen.net/showthread.php?t=1243




Vergessen in Amerika – Haus Opherdicke widmet dem Maler Josef Scharl eine Werkschau

Albert Einstein (Bild: Sammlung Karsch/Nierendorf, Kreis Unna)

Ein Portrait Albert Einsteins schmückt den Titel des Katalogs und ist zudem das Plakatmotiv der Ausstellung. Das Portrait stammt von Josef Scharl, 1944 hat er den Wissenschaftler gemalt, die beiden kannten und schätzten einander. Scharl kam in München zur Welt und erfuhr dort als junger Künstler wesentliche Prägungen; als er jedoch seinen Einstein malte, lebte er schon seit sechs Jahren in den USA, geflohen vor den Nazis, die seine Arbeiten als „entartet“ klassifiziert und ihn mit einem Malverbot belegt hatten.

Josef Scharl, geboren 1896, hat Deutschland bis zu seinem Tod im Jahr 1954 nicht wiedergesehen. Haus Opherdicke, wohin der Kreis Unna regelmäßig zu Kunstausstellungen einlädt, bietet nun einen umfangreichen Einblick in das langjährige Schaffen des Künstlers.

Sonnenaufgang (Bild: Sammlung Karsch/Nierendorf, Kreis Unna)

Galerie Nierendorf

Scharl, wenngleich befreundet mit prominenten Kollegen, ist hierzulande heutzutage weitgehend unbekannt. In den Vereinigten Staaten hat er wohl nie so recht Fuß fassen können, trotz der Unterstützung, die ihm dort durch die berühmte Galerie Nierendorf zuteil wurde. Die Brüder Karl und Josef Nierendorf hatten sie in Berlin gegründet, 1936 eröffnete Karl in New York eine Dependance, die sich insbesondere auch der „entarteten“ deutschen Künstler annahm, die nach Amerika geflüchtet waren. Nach Kriegsende gingen große Teile des Bestandes der Galerie an das Guggenheim-Museum. Doch das ist eine andere Geschichte; jedenfalls existiert Nierendorf noch heute, in Berlin, und die Sammlung Karsch/Nierendorf ist der große Leihgeber dieser Ausstellung.

Bewunderer Picassos

Portraits, Akte und Landschaften hat Scharl bevorzugt gemalt, Ölbilder, Gouachen, Zeichnungen mit dem Tuschpinsel. Wie viele andere Künstler seiner Generation war er zudem ein versierter Holzschneider. Geprägt hat ihn gewiß der Expressionismus, doch war er auch, wie man weiß, schon in den 30er Jahren ein großer Verehrer Picassos. Die ikonographische Dichte vieler seiner Frauenbilder vermeint man auch in Scharls Arbeiten wiederzuentdecken, beispielhaft in den Marien- und Mütterdarstellungen. Landschaften erstrahlen in verschwenderischer Farbigkeit, besitzen ähnlich wie die Blumenstilleben eine Neigung zur Auflösung in Textur.

Dame im Pelzmantel (Bild: Sammlung Karsch/Nierendorf, Kreis Unna)

Auch die „toten Soldaten“ von 1948 und 1953 – mit ihrer konkreten Klage eher Ausreißer im thematisch sonst zurückhaltenden Gesamtoeuvre – zeigen in Komposition, Farbigkeit und selbstbezüglicher Flächenstrukturierung einen gewissen Hang zum Dekorativen, der im Spätwerk eher noch zunimmt. Landschaften vor allem, die Mitte der 40er Jahre entstanden, und hier in Sonderheit zu nennen die „Parklandschaft mit Fluß“ von 1942, zeichnet ein außergewöhnlich souveräner Umgang mit Raum und Fläche aus, der zu Ganzheitlichkeit des Bilderlebens strebt. Josef Scharl hatte, wie zu lesen ist, zunächst Dekorationsmaler gelernt, bevor er sich in Kursen weiterbildete. Da hat er das vielleicht schon früh gelernt, starke Wirkung zu erzeugen, Bilder von erstaunlicher Intensität beim „Erstkontakt“ mit dem Betrachter zu erschaffen.

Mit Informel nichts im Sinn

Wie einige andere Künstler, die vor ihm in Opherdicke gezeigt wurden, auch, läßt sich der spätere Scharl stilistisch wohl der Kunstrichtung der „Neuen Sachlichkeit“ zuschlagen, deren schillerndster Vertreter derzeit Karl Hofer zu sein scheint. Josef Scharl ist vergleichsweise unbekannt. Wäre er erfolgreicher (gewesen), wenn ihn die Nationalsozialisten nicht kaltgestellt und zur Flucht nach Amerika gezwungen hätten? Möglich ist es, sicher aber nicht.

Die Kunstwelt wandelte sich in Scharls amerikanischen Jahren. Während er, in seiner eigenen Tradition verharrend, auch 1948 noch schöne, farbige (gerne auch: etwas poppige) Bilder à la „Meeresbucht mit Wolken“ malte, zelebrierte Jackson Pollock in New York seit Jahren schon unerhörtes „action painting“, vernahm der amerikanische Abstrakte Expressionismus im europäischen Informel ein etwas moderateres, aber starkes Echo.

Großes Selbstbildnis (Bild: Sammlung Karsch/Nierendorf, Kreis Unna)

Zeitgenosse von Otto Dix

Diese Prozesse scheinen an Scharl, der ja immerhin in Amerika lebte, spurlos vorbeigegangen zu sein. Auch seine Themenwelten bleiben bis zuletzt sehr europäisch – europäisch-lieblich, genauer gesagt. Zu welchen entlarvenden, verstörenden, verdichtenden (empörenden?) Positionen sich figurative Malerei in seiner Zeit aber ebenfalls entwickeln konnte, zeigt dereit beispielhaft die Ausstellung von Scharls Zeitgenossen Otto Dix (1891 – 1969) im Düsseldorfer K20 (noch bis 14. Mai). Nur mal so zum Vergleich.

Jedenfalls sind in Opherdicke nun schöne, gefällige Bilder in reicher Zahl zu sehen. Als Leihgeber werden die Sammlungen Brabant, Bronner und Fiegel sowie das Hammer Gustav-Lübcke-Museum sowie einige private Leihgeber genannt. Die meisten Bilder aber stammen aus der Sammlung Karsch/Nierendorf. So auch der „Albert Einstein“ von 1944, rot glühende Denkerstirnfurchen, sorgsam „be-greifende“ Hände, sicher eins der besten Bilder dieser Schau. Ruhig und wissend blickt er seinen Betrachtern in die Augen.

  • „Josef Scharl – Maler und Grafiker des Expressionismus“,  Haus Opherdicke, Holzwickede, Dorfstraße 29
  • April bis 23. Juli 2017.
  • Geöffnet Di-So 10.30 – 17.30 Uhr.
  • Eintritt 4 €
  • Öffentliche Führungen So 11.30 Uhr und 14.30 Uhr.
  • Katalog 25 €
  • www.kreis-unna.de



Als man in Unna um die Kirchenkanzel kämpfte: Philipp Nicolai – Dichter, Pfarrer, Lutheraner

Unser Gastautor Heinrich Peuckmann erinnert an den streitbaren Theologen und Dichter Philipp Nicolai (1556-1608), der zur frühen Literaturgeschichte Westfalens gehört:

Die Unnaer Stadtkirche kenne ich aus meiner Schulzeit. Am dortigen Ernst-Barlach-Gymnasium (damals Aufbaugymnasium) habe ich Abitur gemacht. Jeden Mittwoch morgen fand in der Stadtkirche ein Schülergottesdienst statt.

Natürlich sind wir, als wir älter wurden, oft nicht hingegangen, haben uns am Bahnhof getroffen, Cola getrunken und geredet, aber kurz vor Schluss des Gottesdienstes haben wir uns doch in die Stadtkirche geschlichen, haben oben auf der Empore gesessen und das Schlusslied laut mit geschmettert, so dass sich unsere Lehrer, die natürlich vorne, in der Nähe des Altars saßen, zufrieden umblickten. Ja, es war schön für sie, fromme Schüler zu haben.

Vertont von Bach und Händel

Dass es in dieser Kirche mal eine folgenschwere Schlägerei zwischen zwei Pfarrern gegeben hatte, die noch dazu literarische Folgen hatte, habe ich damals nicht gewusst. Wer weiß, vielleicht hätte ich die Gottesdienste sonst aufmerksamer verfolgt.

Philipp Nicolai, Darstellung aus dem 17. Jahrhundert. (Wikimedia/Public Domain - Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum) Porträt-Index: http://www.portraitindex.de/documents/obj/33800342

Philipp Nicolai, Darstellung aus dem 17. Jahrhundert. (Wikimedia/Public Domain – Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum). Digitaler Portrait-Index: http://www.portraitindex.de/documents/obj/33800342

Es gibt zwei Kirchenlieder, die nahezu jeder kennt. „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ lautet das eine und das andere beginnt: „Wachet auf, ruft uns die Stimme.“ Gedichtet wurden sie um 1598 von dem damaligen Pfarrer der Unnaer Stadtkirche, Philipp Nicolai.

Kein Geringerer als Johann Sebastian Bach hat diesen beiden Texten Kantaten gewidmet, und Georg Friedrich Händel hat ein Motiv des so genannten „Wächterliedes“ in den Halleluja-Chor seines „Messias“ übernommen. Größere Anerkennung konnten die Lieder wohl kaum finden – und das, obwohl man sie eher als Gelegenheitsschriften ihres Verfassers ansehen könnte. Er hat sie nämlich 1599 erstmals im Anhang seines Buches „Freudenspiegel des ewigen Lebens“ veröffentlicht, und durch sie ist er zu Lebzeiten auch nicht bekannt geworden.

Zu einem der berühmtesten Pfarrer seiner Zeit haben ihn vielmehr religiöse Streitschriften gemacht, in denen der glühende Lutheraner vehement den Calvinismus bekämpfte. Heute sind diese Streitschriften nur noch von religionsgeschichtlichem Interesse. Umso einziger ragen aus seinem umfangreichen literarischen Werk die beiden Kirchenlieder heraus.

Eltern stammten aus Hagen und Herdecke

Was hat diesen streitbaren und umstrittenen Theologen nach Unna geführt? Da ist einmal seine westfälische Herkunft zu nennen. Geboren wurde er zwar am 10. August 1556 in Mengeringhausen in der Grafschaft Waldeck, aber beide Eltern stammten aus Westfalen: Vater Dietrich Rafflenboel aus Hagen und Mutter Katharina Meyhan aus Herdecke.

Die Rafflenboels waren eigentlich Bauern, aber Dietrich brach mit der Tradition, begann ein Theologiestudium und wurde zuerst, wie später auch sein berühmter Sohn Philipp, Pfarrer in Herdecke. Einer damaligen Mode folgend übertrug er den Vornamen seines Vaters Klaus ins Lateinische und nannte sich mit Nachnamen Nicolai.

1552 musste er wegen der Kämpfe zwischen Katholiken und Protestanten aus Herdecke fortziehen – sein Sohn sollte ihm drei Jahrzehnte später auch darin folgen – und übernahm eine Pfarrstelle in Mengeringhausen, das einige Kilometer entfernt von Kassel liegt, wo Philipp als eines von acht Kindern geboren wurde. Philipp Nicolai hatte also eine enge Beziehung zu Westfalen, als er 1596 ein Angebot aus Unna erhielt.

Wichtiger für dieses Angebot aber war seine strenge lutherische und anticalvinistische Grundhaltung. In einem Streitgespräch 1590 hatte er zwar noch Mohammed und den Papst als schlimmste Helfershelfer des Teufels ausgemacht und das als strenger Lutheraner womöglich sogar von der Bibel her begründet. Später aber hat er in hitzig-polemischen Schriften nur noch den Reformator Calvin und seine Anhänger bekämpft.

Gegen den Calvinismus

Hitzige Kämpfe zwischen Lutheranern und Calvinisten gab es kurz vor seiner Berufung auch in Unna. Einige Kaufleute und ein Teil des Rates um die Altbürgermeister Winold von Büren, Ernst Brabender und Hinrich zum Broch wünschten 1592 eine enge Anlehnung an die Niederlande, die damals – nach der Vernichtung der spanischen Armada – den Welthandel kontrollierten und wirtschaftlich in Blüte standen. Man wollte deshalb die Stelle des Vizepastors mit dem Rotterdamer Pfarrer Hermann Grevinckhoff besetzen, der jedoch, durchaus passend für das aufstrebende Bürgertum, ein Calvinist war.

Vordergründig ging es im Streit zwischen Calvinisten und Lutheranern um die Abendmahlsfrage. Luther, in dieser Frage durchaus in katholischer Tradition, wollte der Abendsmahlsfeier weiter Heilscharakter zubilligen. Er vertrat zwar nicht mehr die so genannte Transsubstantiationslehre, nach der sich Wein und Brot direkt in Blut und Leib Christi verwandeln, lehrte jedoch, dass sich Wein und Brot bei der Abendmahlsfeier durch die Einsetzungsworte auf geheimnisvolle Weise damit verbinden. Für Calvin (und auch für Zwingli) war sie dagegen eine reine Symbolhandlung.

Wichtiger für das aufstrebende Bürgertum war allerdings Calvins Lehre von der doppelten Prädestination. Ob ein Mensch reich oder arm war, ob er der Seligkeit teilhaftig würde oder nicht, das alles hatte Gott vorherbestimmt. Deshalb brauchten reiche Kaufleute wegen der Armut der anderen Menschen auch kein schlechtes Gewissen zu haben, während sie selbst in ihrem Reichtum eine Bestätigung für Gottes Auserwähltheit sehen konnten. Sozialpolitisch war damit die Nächstenliebe ausgehebelt, ein glänzendes Ruhekissen für die Besitzenden.

Wüste Rauferei im Gotteshaus

Die Abt von Deutz lehnte jedoch Grevinckhoffs Berufung wegen dessen calvinistischer Einstellung ab und berief statt dessen den jungen Lutheraner Joachim Kersting. Der aber wollte zuerst seine theologischen Studien in Jena fortsetzen und schickte als Vertreter den lutherischen Kaplan Uphoff, eine Schwäche, die die calvinistische Fraktion sofort ausnutzte. Sie berief den aus Essen stammenden Magister Berger, der sofort, in strenger calvinistischer Tradition, die Bilder aus der Stadtkirche entfernen ließ. Kersting, alarmiert, eilte von Jena nach Unna und dort soll es in der Stadtkirche zu einem tollen Zweikampf gekommen sein.

Altbürgermeister Brabender gab Berger vor einem Gottesdienst die Anweisung, Kersting auf jeden Fall von der Kanzel fern zu halten und befahl dem Küster, die Kirchentüren zu schließen. Während draußen die herbeigerufenen Lutheraner gegen die verschlossenen Kirchentüren trommelten, kämpfte Kersting drinnen einen heroischen Kampf. Es war ihm gelungen, sich am Aufgang zur Kanzel festzuklammern, und so sehr Berger auch zerrte, riss und schimpfte, Kersting ließ nicht los. Der Mantel wurde ihm dabei zerrissen, aber was ist schon Kleidung im Kampf um den richtigen Glauben?

Kersting jedenfalls verteidigte die Kanzel, die auch sein Gegner nicht besteigen konnte, bis die Lutheraner sich über eine kleine Seitentür Zutritt verschaffen konnten und Berger mitsamt seinen Helfern vertrieben. Ein feste Burg ist unser Gott…

Über Schimpfwörter und handfeste Auseinandersetzungen in Glaubensfragen zu dieser Zeit darf man sich nicht wundern. Es war das Zeitalter der Orthodoxie, da galt: Es gibt nur einen richtigen Glauben. Und da es natürlich der jeweils eigene war, mussten die Anhänger des anderen, falschen Glaubens überzeugt werden. Zur Not mit Gewalt.

„Freudenspiegel des ewigen Lebens“

In Unna wollten die Lutheraner ihren Sieg festigen. Unnas neuer Bürgermeister, ein aus Köln zugezogener Patrizier namens von Westfalen, hatte gehört, dass Philipp Nicolai in der waldeckschen Landessynode calvinistische Irrlehrer exkommunizieren ließ, er hatte wohl auch dessen bekannteste Schrift „Nothwendiger und gantz vollkommener Bericht von der gantzen calvinistischen Religion“ gelesen. Wenn d a s nicht der richtige Mann für Unnas Lutheraner ist, muss er wohl gedacht haben.

Zwei Angebote aus Unna lehnt Nicolai noch ab, dann fuhr Bürgermeister von Westfalen selbst ins Waldecksche und überredete ihn. Sein Verdienst war ansehnlich: 50 Mütte reinen Korns, dazu 60 Reichstaler, sechs Fuder Holz sowie freie Wohnung mit großem Garten (eine Mütte Korn hatte den Wert von 4 Talern).

Man scheint in der ganzen Grafschaft Mark an Nicolais Kommen interessiert gewesen zu sein, denn einen Teil der Kosten für seinen Umzug übernahm die Stadt Soest, der Nicolai dann auch sein schönstes Buch, eben den „Freudenspiegel des ewigen Lebens“ widmete.

In den furchtbaren Zeiten der Pest

In Unna aber traten kurz nach seinem Amtsantritt die religiösen Streitfragen in den Hintergrund. 1597 brach über Nacht die Pest aus. Nicolai stellte den Kirchenkampf hintan und beschränkte sich auf die Seelsorge. Er ging zu den Sterbenden, sprach ihnen Trost zu, hatte bis zu 30 Beerdigungen am Tag und musste miterleben, wie auch der tapfere Kanzelverteidiger Kersting der Seuche erlag.

Nicolai selbst fürchtete die Pest nicht. Er vertraute seinem Gott und fuhr – zur medizinischen Unterstützung dieses Vertrauens – zu einer Apotheke nach Dortmund, um sich Medizin zu besorgen.

Wie kann man die allgegenwärtige Todesgefahr, den vergeblichen Kampf gegen den Tod, den Zuspruch des Trostes für Hunderte von Sterbenden psychisch durchstehen? Nicolai schaffte es, indem er am Tage unbeirrt und unermüdlich seine Pflicht tat und sich abends in den erlösenden Trost der himmlischen Herrlichkeit flüchtete, in der es keinen Tod, keine Seelennot mehr gab. Während immer mehr Menschen der Pest erlagen, schrieb er seinen „Freudenspiegel“ als Trost für die Sterbenden und Hinterbliebenen, als Stärkung aber auch für sich selbst. Und im Anhang des Buches, das viele Auflagen erlebte, veröffentlichte er – wie erwähnt – seine berühmt gewordenen Lieder.

Auf dem Friedhof in der Nähe seines Gartens wurden die Leichen aufgeschichtet, Pest- und Verwesungsgeruch lag über der Stadt, Philipp Nicolai aber konnte in der Gewissheit seines Glaubens singen: „Wie schön leuchtet der Morgenstern.“ Die Musik zu seinen Liedern hat er übernommen und nicht selbst geschrieben, obwohl er das vermutlich auch gekonnt hätte. Er hat nämlich eine sehr gute Schulbildung genossen, die ihn u.a. nach Mühlhausen in Thüringen führte, wo später Bach Organist gewesen war. Dort hat Nicolai im Gymnasialkirchenchor mitgesungen und ist von dem fähigen Musiklehrer Joachim Müller a Burck unterrichtet worden, der selbst auch komponieren konnte.

Gottesreich für 1670 vorhergesagt

„Wie schön leuchtet der Morgenstern“ ist ebenso wie „Wachet auf“ ein Zeugnis barocker Brautmystik, in der, im Bild des Bräutigams, vom Kommen Christi und damit vom Jüngsten Tag die Rede ist. Der 45. Psalm, das Hohe Lied der Liebe und das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen im Matthäusevangelium haben mit ihrer Hochzeitsmetaphorik den biblischen Anstoß zu beiden Liedtexten gegeben.

Nicolai stand übrigens wirklich unter dem Eindruck der Naherwartung. In einer anderen Schrift, der „Historie des Reiches Christi“, hat er das Kommen des Gottesreiches sogar genau vorausberechnet und auf das Jahr 1670 datiert. Vorsichtig hat er allerdings hinzugefügt, dass es „wegen des Elends und der Bedrängnis der auserwählten Kinder Gottes“ auch früher kommen könne.

Dieses Denken ist spätestens seit der Aufklärung überwunden. Wenn Nicolais Lieder trotzdem bekannt blieben, das „Wächterlied“ sogar stetig populärer wurde, dann müssen Text und Musik wohl viel ausdrücken. Glaubensstärke und Zuversicht, Optimismus angesichts von Tod und Krankheit (in den Liedern metaphorisch ausgedrückt durch die Überwindung von Nacht und Schlaf) sprechen die Menschen auch heute an. Als König und Königin des Gesangbuchs wurden beide Lieder gelegentlich bezeichnet. Regelmäßig werden sie im Gottesdienst gesungen und Bachs Kantaten sprechen auch Nichtchristen an. In Unna sind also die Texte entstanden, in der Not einer bedrängenden Pestzeit.

Dem Ruf nach Hamburg gefolgt

Philipp Nicolai ist aber nicht in Unna geblieben. 1600 heiratete er noch in Unna die Witwe eines Dortmunder Pfarrerkollegen, eine Katharina von der Recke. Doch schon 1601 folgte er einem Ruf als Hauptpastor in der Katharinengemeinde in Hamburg. Dort wurde sein einziger Sohn Theodor geboren, dort schrieb er noch weitere 17 theologische Abhandlungen, aber schon 1608, im Alter von gerade 52 Jahren, ist er gestorben.

Vor dem Altar der Katharinenkirche hat man ihm ein Ehrengrab gegeben. Als die Kirche 1856 jedoch umgebaut wurde, hat man seine Gebeine aufgenommen und auf dem Katharinenfriedhof vor dem Dammtor beigesetzt. In Hamburg also liegt Philipp Nicolai begraben, in Unna aber hat er seine beiden schönen Kirchenlieder geschrieben.

Und wenn wir Schüler schon damals von dem tollen Zweikampf zweier Pfarrer in der Stadtkirche gewusst hätten, die Voraussetzung für seine Berufung nach Unna waren, wären wir bestimmt pünktlich zum Schulgottesdienst erschienen. Glaube ich jedenfalls.




Ordnung, Rhythmus, Anarchie: François Morellets Konzept-Lichtkunst in Unna

François Morellet: „Néon abscon“  (1963). Foto: Frank Vinken.

François Morellet: „Néon abscon“ (1963). Foto: Frank Vinken.

Er liebe die Strenge der Geometrie, sagte François Morellet, aber noch mehr liebe er es, alle Strenge zu ignorieren. Was wie ein nettes dialektisches Wortspiel wirkt, ist nun im Zentrum für Internationale Lichtkunst in Unna am konkreten Kunstwerk abzulesen. Das weltweit erste Lichtkunstmuseum – im Mai 2001 eröffnet – widmet dem Pionier der Konzeptkunst aus Licht eine Sonderausstellung. Sie entstand noch in enger Zusammenarbeit mit dem Künstler, der im Mai kurz nach seinem 90. Geburtstag verstorben ist.

Alle zehn ausgestellten Arbeiten treiben ihr Spiel mit der perfekten Form. Sie ist wie eine Matrix, auf der sich das Aufbrechen statischer Symmetrie ereignet. Die Stabilität von Linien und Formen wird, wenn sie nicht überhaupt nur vorgetäuscht ist, infrage gestellt.

Die drei Arbeiten aus Morellets Anfangsphase, aus den sechziger Jahren, wirken noch sehr streng. Zumindest auf den ersten Blick. Damals, 1963, entdeckte Morellet das Medium Licht, das ja eigentlich ein uraltes expressives Mittel ist. Die religiös motivierte Kunst der gewaltigen Megalith-Baukomplexe der Jungsteinzeit setzt es ein, die Kathedralbaumeister des Mittelalters wussten um seine Symbolik. Mit der Konstanz und Berechenbarkeit des elektrischen Lichts gewann das Medium eine neue Qualität. Jetzt war es möglich, Licht „an sich“ zu nutzen, frei von den Beschränkungen des natürlichen Lichts, frei von der Vergänglichkeit des Scheins von Kerzen oder Feuer.

Das Zentrum für Internationale Lichtkunst in der ehemaligen Lindenbrauerei in Unna. Foto: Werner Häußner

Das Zentrum für Internationale Lichtkunst in der ehemaligen Lindenbrauerei in Unna. Foto: Werner Häußner

Morellet erkannte die transzendierende Kraft des Lichts. Im Dunkel der Kavernen der Lindenbrauerei in Unna, wo einst Maische gärte und Bier reifte, tritt durch das Licht die Form an sich vors Auge, scheinbar durch keine Krücke der Materie gestützt. „64 lampes – Allumage avec 4 rythmes superposès“, die älteste Arbeit von 1963, könnte ein bewegungsloses Quadrat sein – sozusagen die überzeitliche ideale Form. Aber die Lichtquellen schalten sich an und ab, in vier unterschiedlich gegliederten Rhythmen, und schaffen so durch den Einfluss der Zeit eine verwirrende Vielfalt von Formen. Bezügen, Linien und Körpern. Das Auge wird auf Dauer überfordert: Es nimmt die Formen wahr, kann sie aber nicht behalten, hat nur noch einen rasch verblassenden Eindruck. Wahrnehmungsreste auf der Netzhaut, hastige Erinnerung, überlagert von Neuem. Das komplexe Thema Wahrnehmung behandelt Morellet in dieser Arbeit auf eine so minimalistische wie umfassende Weise.

Ähnlich geht er in „Néon – Éclairage avec 3 rythmes superposés“ von 1964 vor: In einem Quadrat sind neun Reihen von Leuchtstäbchen angeordnet. Zeitweise dominiert die Waagrechte, wenn der Rhythmus entsprechend geschaltet ist. Dann laufen die horizontalen Linien auch nach oben oder unten, aber die Regelmäßigkeit wird gestört und schließlich zerstört: Die Vertikale setzt sich durch, die sich überlappenden Rhythmen erzeugen flirrende Anarchie, aus der sich für Augenblicke vertraute geometrische Formen bilden, um gleich wieder im Wechsel der Lichter zu zerstieben. Auch „Néon abscon“ mit seinen sattroten Kreisen und Linien wirkt zuerst beruhigend stabil, wie eine typische Schmucktapete der sechziger Jahre. Aber dann schalten sich für Augenblicke einzelne Segmente ab und hinterlassen irritierend fragmentierte Figuren.

François Morellet: "Gesticulation 1, 2, 3" im Keller der ehemaligen Lindenbrauerei. Foto: Frank Vinken.

François Morellet: „Gesticulation 1, 2, 3“ im Keller der ehemaligen Lindenbrauerei. Foto: Frank Vinken.

Die späteren Arbeiten verzichten auf Rhythmus und Zeit. Sie füllen statisch und veränderungslos, in vollendeter Schönheit, ihren Raum. „Gesticulation“ heißen die drei jüngsten Arbeiten von 2015: an die Wand komponierte schlanke, weiße Neonröhren, die wirken, als habe jemand eine bewegte punktförmige Lichtquelle in einer Langzeitbelichtung auf Fotopapier festgehalten: Linien, die aus Bewegung entstanden, aber nun im Raum festgeschrieben sind.

Morellet spielt das Spiel mit der Polarität von Ordnung und Freiheit nun auf andere Weise: Das Auge sucht eine Regel, späht nach Symmetrien oder Bezügen, meint sie auch zu entdecken, wird aber enttäuscht. Während das rote Kreuz aus zwei unterschiedlich lang pulsierenden Lcht-Linien in „2 Néons 0“ – 90“ avec 2 rythmes interférents“ wenigstens für einen kurzen Moment seine perfekte Form zeigt, sind die „Gesticulationes“ in ewige Helle gebannte Spontaneität.

Dass die Lichtwerke in Unna an den gefurchten Wänden eines Steinkellers hängen, macht sie noch beziehungsreicher: Ihr reines, ätherisches Licht lässt die Narben und Spalten des Steins hervortreten und schafft – ebenso wie die hängenden, schwarzen Stromzuleitungen, einen materiell-skulpturalen Charakter, den Morellet vielleicht nicht beabsichtigt hatte, der aber seinen Objekten eine zusätzliche Dimension gibt.

Die ehemalige Lindenbrauerei in Unna. Foto: Werner Häußner

Die ehemalige Lindenbrauerei in Unna. Foto: Werner Häußner

Der Rundgang durch die Licht-Keller der 1979 stillgelegten Lindenbrauerei beginnt auf einer Glasplatte, durch die man auf eine Arbeit von Jan van Munster (geb. 1939) blickt: „Ich (im Dialog)“ von 2005 lässt in zehn Sprachen das Wort „Ich“ in variablen Rhythmen auf mehreren Ebenen aufleuchten – und im Lauf des Rundgang steht man dann am Boden des ehemaligen Fallschachtes und schaut nach oben auf die blau blinkenden Buchstaben. Nicht zu verpassen ist François Morellets Arbeit „NO END NEON (Pier and Ocean)“, die er 2001/2002 für einen der Keller geschaffen hat – als Hommage an Piet Mondrian, auf dessen gleichnamige Zeichenserie sich der Titel bezieht.

Die Bewegung des Besuchers verändert hier die Installation – ähnlich wie die Versuchsanordnung in einem physikalischen Experiment. Passiert er eine unsichtbare Lichtschranke, wandelt sich das zuvor in erhabener Symmetrie ruhende Lichtwerk in eine bewegte, von schrägen Linien und Diagonalen durchsetzte Raumlandschaft. Ein Werk, das vielfältige Assoziationen zulässt – ein Merkmal der genial einfachen Konzeptkunst Morellets überhaupt.

Diese Kunst bewahrheitet auf ihre Weise, was Heinrich Heine in seinem Satz „Die Welt ist die Signatur des Wortes“ ausgedrückt hat – ein Zitat aus dem Dritten Buch von „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“, das Joseph Kosuth in einer Installation am Beginn des Rundgangs in einer monumentalen, von keinem Ort des Raums zur Gänze lesbaren Leuchtschrift auf den Grund eines Eiskellers gelegt hat.

Die Ausstellung „Morellet“ im Zentrum für Internationale Lichtkunst Unna ist bis 29. Januar 2017 zu sehen. Sie ist zugänglich im Rahmen der öffentlichen Führungen, die Dienstag bis Freitag um 13, 15 und 17 Uhr, an Wochenenden und Feiertagen zu jeder vollen Stunde von 12 bis 17 Uhr stattfinden. Info: www.lichtkunst-unna.de

Das Zentrum für Internationale Lichtkunst bietet am 1. Oktober ab 18:30 Uhr eine „Lichtreise“ von Unna über Schwerte und Bönen nach Bergkamen an, bei der Lichtkunstinstallationen von wie Kazuo Katase, Rosemarie Trockel, Mischa Kuball, Andreas M. Kaufmann oder Maik und Dirk Löbbert zu erleben sind. Am 26. November findet im Rahmen des Projekts „Hellweg – ein Lichtweg“ die erste „Nacht der Lichtkunst“ statt. Auf neun „Lichtreisen“ lassen sich die Lichtkunstwerke zweier oder mehrerer Städte erfahren.




Auf Ischia der Welt entfliehen – Arbeiten von Ulrich Neujahr in Haus Opherdicke

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Aquarell „Bastia“, 1929 (Bild: Kreis Unna)

Was fällt einem ein zu diesem Künstler, nachdem man die Ausstellung gesehen hat? Vielleicht dies: daß der Begriff „holzschnittartig“ für seine Holzschnitte nicht gilt. Licht und durchgezeichnet sind sie, egal, ob sie Menschen oder Landschaften zeigen. Nur wenige Linien blieben im Holz stehen, um beispielsweise 1929 „Gerda“, qualmende Zigarette in der Rechten, druckreif zu machen. Auf den ersten Blick könnte dies auch eine Kohlezeichnung sein. Und selbst ein „Mond über Sant’Angelo“ (ohne Jahr) ist trotz seines Themas ein Bild der leuchtenden Konturen und Schraffuren, nicht der Nacht.

Die lichte, Schatten vermeidende Bildauffassung zieht sich über Jahrzehnte hin wie ein roter Faden durch das Werk Ulrich Neujahrs. Gut 90 Arbeiten sind jetzt in Haus Opherdicke ausgestellt, Aquarelle, Öl, Kohle, Holzschnitte. Vorwiegend stammen sie aus dem Nachlaß, aus dem Sohn und Tochter je um die 400 Arbeiten besitzen; drei Bilder kamen aus der Sammlung Brabant, aus der ja häufiger schon Teile in Opherdicke gezeigt wurden.

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Selbstportrait in Positano, Holzschnitt, 1933 (Bild: Kreis Unna)

Bruchlose Biographie

In den Beständen der Sammlung Brabant, so könnte man wohl sagen, machten Sigrid Zielke-Hengstenberg und Thomas Hengstenberg als Kuratoren des Kreises Unna eine erste Bekanntschaft mit dem Schaffen Ulrich Neujahrs, der nicht so vielen Kunstinteressierten bekannt sein dürfte. Neujahr, er lebte von 1898 bis 1977, hatte in den 20er Jahren zunächst Architektur in Berlin studiert, nach dem Vordiplom (wie man heute vielleicht sagen könnte) jedoch auf Freie Malerei und Angewandte Kunst umgesattelt. Er wurde Kunstlehrer am Gymnasium und betätigte sich nebenher als produktiver Künstler, der ungern Werke fortgab, wie sich seine Tochter Cecilia erinnert, und dies dank der auskömmlichen Lehrerstelle auch nicht mußte.

Bekannt war er mit Größen der Malerei wie Eduard Bargheer und Werner Gilles, häufig besuchte er das legendäre Romanische Café, er hatte Frauen und Kinder, und alles in allem hinterläßt seine Biographie einen überaus bruchlosen Eindruck. Gravierende Probleme mit den Nazis gab es anscheinend nicht, auch hat diese dunkle Zeit der deutschen Geschichte ganz offenbar keine Spuren im Oeuvre hinterlassen, das von erstaunlicher Kontinuität ist.

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Sita Pagel mit Hut, Öl auf Leinwand, 1928 (Bild: Kreis Unna)

Ein Atelier in Sant’Angelo

Von zentraler Bedeutung ist in Ulrich Neujahrs Werk die Liebe zum Süden, vor allem zur italienischen Insel Ischia, die er in den 30er Jahren für sich entdeckte und wo er einen Großteil seines Lebens verbrachte – vor allem nach 1963, als er in den Ruhestand ging.

Im Fischerdorf Sant’Angelo hatte er sein Atelier mit Traumkulisse. Wer durch die Ausstellung streift, spürt schnell, wie sehr dieser Maler die Menschen, die Farbigkeit, das Licht, die Schönheit der Orte, die Spuren der alten Zivilisation liebte. Das eine oder andere Bild mag gar zu lieblich wirken, und manchmal vermeint man leise Rudi Schurickes „Caprifischer“ zu vernehmen. Doch so ist das eben mit den Sehnsuchtsorten. Und manchmal auch mit den zu Lebzeiten erfüllten Träumen eines Malers.

Neben den südlichen Bildern sind die Portraits und unter ihnen vor allem die Selbstportraits ein wesentlicher Schwerpunkt des Werks. Seit den frühen 20er Jahren bis kurz vor seinem Tod malte sich Neujahr immer wieder, und stets spiegeln diese Selbstportraits (meistens mit Pfeife) ein starkes Selbstbewußtsein. Der Mann, der sich hier zeigt, scheint nicht eben auf quälender Suche nach sicht selbst gewesen zu sein.

Mit Ausnahme einiger musikalischer Strukturen aus den 60er Jahrendie neue  – Frau, die spät er noch geehelicht hat, war Musikerin – bleibt das Oeuvre Neujahrs im Naturalistischen verhaftet. Allerdings wird hie und da durchaus Zeitströmung sichtbar, etwa ein ganz klein bißchen Kubismus im Stilleben „An Picasso“ (1956) oder etwas italienischer Futurismus in einigen Akten. Doch ist das alles sehr schön, sehr ausgewogen und sehr positiv. Als Betrachter wird man nirgendwo beleidigt oder provoziert.

Fraglos also ist die neue Bilderschau in Haus Opherdicke eine Wohlfühlausstellung für alle Freunde des Mediterranen und in ihrer schlichten Weltsicht der Vorgängerschau mit Arbeiten von Hans Jürgen Kallmann nicht ganz unähnlich. Für die nächsten Ausstellungen aber wünschte man sich etwas mehr Auseinandersetzung, Kritik, Drama. Vielleicht auch mal wieder einen Zeitgenossen? Vor etlichen Jahren, dies nur zur Erinnerung, hat der Kreis Unna sogar schon einmal den DDR-„Malerfürsten“ Willi Sitte ausgestellt.

  • „Ulrich Neujahr – Die Faszination des Südens“, Haus Opherdicke, Dorfstraße 29, Holzwickede.
  • &. Dezember 2015 bis 3. April 2016.
  • Geöffnet Di-So 10.30-17.30 Uhr. Eintritt 4,00 €
  • Katalog 24 €. www.kreis-unna.de, www.kulturkreis-unna.de



Leidenschaftlicher Lehrer, Autor und Ratsherr in Unna – zum Tod von Rudolf Schlabach

Der Geest-Verlag, „sein“ Verlag, schreibt spürbar betroffen auf seiner Website: “In großer Trauer nehmen wir Abschied von unserem Autor Rudolf Schlabach, der am Montag, den 26. Oktober 2015 nach langer, schwerer Krankheit verstarb. Das Erscheinen seines letzten Bandes, ,Die Freiheit zu schreiben’, durfte er noch miterleben. Wir werden sein Ansehen und seine unendliche Schaffenskraft in würdiger Erinnerung behalten.”

Wenn man das Motto des Geest-Verlages liest, weiß man, warum Rudi Schlabach ihn wählte, um seine Bücher zu verlegen: “Unpolitisch sein heißt politisch sein, ohne es zu merken.” (Rosa Luxemburg)

Rudolf Schlabach (Foto: © Geest Verlag)

Rudolf Schlabach (Foto: © Geest Verlag)

Rudolf Schlabach (Jahrgang 1924) war aber nicht nur ein Autor, wenn auch das seine Leidenschaft war und bis zu seinem Tode blieb. Er war ebenso leidenschaftlicher Pädagoge, als solcher Gründungsdirektor des Geschwister-Scholl-Gymnasiums in Unna, er war lebenslang Lernender, auch als Lehrender.

Tief geprägt von Erlebnissen aus der Zeit des dumpfen Nazi-Terrors und den Kriegszeiten bei der Marine war er Sozialdemokrat bis zur Knochenhaut, obwohl ihm manche befreundeten Zeitgenossen gern seinen bildungsbürgerlichen Hintergrund vorhielten, wie das auch gern mal sein Altbürgermeister Erich Göpfert auf lästerliche Weise tat. Rudi blieb seinem Freund aber da nichts schuldig, denn er wusste wie er dem “Genossen Erich” zu antworten hatte. Und eines wussten nur wenige Vertraute: Rudi Schlabach kannte jedes einschlägige Arbeiterlied textsicher auswendig.

Rudi Schlabach verfasste viele Beiträge für die legendäre Hörspielreihe “Papa, Charly hat gesagt…”, er liebte das Hörspiel als solches und schrieb viele Texte für dieses Genre, außerdem lesenswerte Novellen (zuletzt noch “Undine lebt”). Für ihn war sein vorpensionärer Hauptberuf von besonderer Bedeutung. Jungen Menschen Bildung zu geben, sie derart zu prägen, dass sie Literatur gern lasen, sie als Grundnahrungsmittel erlebten. Er wollte sie durch solche Prägungen resistent machen gegen das, was er selbst zur Nazi-Zeit erfuhr – dass die menschenunwürdige Herrschaft einer blindideologischen Partei mehrheitsfähig werden konnte.

Rudolf Schlabachs letzte Novelle

Rudolf Schlabachs letzte Novelle

So war es beinahe folgerichtig, dass sich Rudi Schlabach darum bemühte, neben seinen pädagogischen Aufgaben und seiner Leidenschaft als Autor auch noch Ratsmitglied in seiner Stadt zu werden. Es gelang ihm 1975, und er gehörte dem Rat Unnas bis 1984 an. Bisweilen erschien er manchen seiner Fraktionskollegen zu feingeistig, er wurde aber stets geachtet und respektiert, weil er auch da pädagogisch vorging. Und er zeigte ohne erkennbare Hybris, dass er sehr wohl wusste, wovon er im politischen Raum berichtete.

Als er dann Pensionär wurde, zog es ihn nach Hude nahe Oldenburg. Er lebte und schrieb, ließ nur handverlesen alte Bekannte teilhaben und war fern der Heimat im Märkischen Sauerland ein glücklicher Mensch. Es bleibt viel von ihm, was Nachgeborene lesen sollten, es bleibt viel von ihm, was er Lernende lehrte, und es bleibt viel von Rudi Schlabach, an das sich Weggefährten in Rat und Rathaus in Unna erinnern. Mach’s gut, alter Freund!




Wie die Neue Philharmonie Westfalen finanziell gerettet werden soll

Musikalisch ist die Neue Philharmonie Westfalen (NPW) längst erfolgreich, finanziell soll es das größte Landesorchester wieder werden. Den Weg dafür machte der Kreistag Unna frei: Er verzichtete auf sein Recht, den bestehenden Fusionsvertrag bis einschließlich 2021 zu kündigen.

Damit ist das notwendige zeitliche Fenster zur Umsetzung eines mittelfristig tragbaren Finanzierungskonzeptes geschaffen. Was genau geleistet werden soll und muss, hatte Landrat Michael Makiolla in seiner Funktion als Vorstandsmitglied im Trägerverein des Orchesters schon im Juni beschrieben.

Damals hatte Michael Makiolla nicht nur über den Abschluss eines lange verhandelten Haustarifvertrages (mit unterm Strich finanziellen Einbußen bei den Musikern) berichtet, sondern alle Eckpunkte erläutert.

Makiolla war es auch, der bereits in der Mitte der 1990er Jahre darum gerungen hatte, dass die Fusion des Westfälischen Sinfonie Orchesters mit dem Gelsenkirchener Grabenorchester gelang. So konnte damals, als Makiolla noch Kreisdezernent für Soziales und Kultur war, die Existenzbedrohung für das WSO abgewendet werden. Für den Kreis Unna hatte es stets eine besondere Bedeutung, denn die Anfänge des WSO reichten bis in die frühe Nachkriegszeit zurück. Symbolhaft schufen damals Hubert Biernat, der spätere Landrat und sein Freund Alfred Gleisner die Voraussetzungen für ein erstes kulturelles Highlight im noch kriegszerstörten Umfeld.

Was jetzt geschehen muss:

• Die Neue Philharmonie Westfalen senkt die Zahl der Musiker-Planstellen von 124 auf 114. Das bedeutet eine dauerhafte Einsparung von rund 600.000 Euro/Jahr.
• Die Musiker verzichten bis 2021 auf große Teile ihres Weihnachtsgeldes. Dies führt zu einer durchschnittlichen Einsparung von rund 300.000 Euro/Jahr.
• Die Musiker verzichten auf tarifliche Nachforderungen für die Jahre bis 2014. Das spart insgesamt 760.000 Euro.

Hintergrund:

• Die Neue Philharmonie Westfalen (NPW) entstand 1996 durch die Fusion des vom Kreis Unna mitfinanzierten Westfälischen Sinfonieorchesters (WSO) und dem vor allem am Musiktheater in Gelsenkirchen spielenden Philharmonischen Orchester.
• Das NPW ist das größte der drei Landesorchester (neben der Nordwestdeutschen Philharmonie und der Philharmonie Südwestfalen).
• Finanziert wird der Klangkörper von der Stadt Gelsenkirchen (3/6), der Stadt Recklinghausen (2/6) und dem Kreis Unna (1/6). Dazu kommen Zuschüsse vom Land und vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL).
• Generalmusikdirektor ist seit Sommer 2014 Rasmus Baumann.
• Die Zahl der Musikerplanstellen beträgt derzeit (noch) 124.
• Im Kreis ist die Neue Philharmonie vor allem für die Sinfoniekonzerte (9 Veranstaltungen) in der Konzertaula Kamen und ihre Kinderkonzerte (8) bekannt.




Portraitist der jungen Bundesrepublik – Bilder von Hans Jürgen Kallmann in Haus Opherdicke

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Junger Orang-Utan, 1970, Tempera, Pastell (Bild: Kreis Unna)

Der Kopf von Bert Brecht ist so groß, daß er kaum auf das Blatt paßt; der Kopf von Franz Josef Strauß füllt kaum die Hälfte des Blattes und ähnelt in seiner halslosen Rundheit einer Bowlingkugel. Zufall? Vielleicht schon, zwischen den beiden Pastellen liegen fast 30 Jahre. Vielleicht aber auch nicht. Der Maler Hans Jürgen Kallmann, der von 1908 bis 1991 lebte und dem der Kreis Unna nun in Haus Opherdicke eine Ausstellung ausrichtet, hatte Humor.

Kallmanns Kunst ist anspruchsvoll, aber nicht sperrig, war es wohl auch zu keiner Zeit. Natürlich probierte der junge Mann vieles von dem aus, was in den 20er, 30er Jahren in der Malerei als modern galt, versuchte sich in impressionistischen und expressionistischen Bildauffassungen – doch wenn man durch die Bilderschau im Obergeschoß wandert, sieht man schnell, daß größte Stärken in der Abbildung von Menschen und Tieren liegen.

„Entarteter Künstler“

Den Tieren verdankt Hans Jürgen Kallmann sozusagen seine Einordnung als „entarteter Künstler“, 1937 bereits. Wenn Geschichten wie diese im mörderischen Rassenwahn der deutschen Nationalsozialisten nicht einen so ernsten Hintergrund hätten, müßte man über sie lachen. Eins der Kallmann-Bilder nämlich, die die Nazis aus Ausstellungen in Köln und Berlin entfernten, zeigte eine „Hyäne in der Nacht“, an der den Machthabern mißfiel, daß eine „rassisch minderwertige“ Tierart Hauptthema eines Bildes war. Auf so was muß man erstmal kommen. Hans Jürgen Kallmann konnte mit dem Stigma des „entarteten Künstlers“ einigermaßen leben, wenngleich er bis zuletzt Angst vor Diffamierung und weiterer Repression hatte.

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Bundeskanzler Konrad Adenauer, 1963, Pastell (Bild: Kreis Unna)

Und nach dem Krieg kam die große Zeit für den Künstler. Politisch unbelastet und dem angesagten Informel der Wirtschaftswunderzeit gegenüber eher ablehnend gestimmt, wurde er schnell zu einem der gefragtesten Portraitisten der jungen Bundesrepublik. Konrad Adenauer, der erste Kanzler, hatte mehrere Sitzungen bei Kallmann, in denen 17 Pastelle entstanden sowie das Ölbild, das im Bundeskanzleramt die Reihe der deutschen Kanzler eröffnet. Die Pastelle, die ähnlich wie Fotoserien verschiedene Perspektiven ausprobieren, gefielen „dem Alten“ – im Entstehungsjahr 1963 war Adenauer 89 Jahre alt – übrigens besser als das naturgemäß recht statuarische Endprodukt in Öl, erinnert sich die Witwe des Künstlers Dr. Gerda Haddenhorst-Kallmann. Sie hat er übrigens 1977 in Öl und im Profil gemalt und das Bild „Gerda in Burgunder“ genannt. Wahrscheinlich ist das burgunderfarbene Kleid der Gemahlin gemeint, doch läßt die Zubereitung „in Burgunder“ durchaus auch ans Essen denken. Ein „lecker Mädchen“ mithin in rheinischer Lesart. Der Maler hatte Humor.

Leuchtende Trompete

Den Bundespräsidenten Theodor Heuss (1884-1963) hat er gemalt, den Philosophen Ernst Bloch (1885-1977), Papst Johannes XXIII (1881-1963) und viele mehr. Nicht alle Bilder entstanden nach persönlichen Begegnungen in Sitzungen. Louis Armstrong beispielsweise malte Kallmann in starker expressionistischer Verknappung, ein konzentrierter Mensch vor dunklem Grund, dessen Trompete, mit großen Händen gespielt, gelbgolden hervorleuchtet.

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Der Schauspieler Max Proebstl in der Rolle des Falstaff, 1962, Öl auf Leinwand (Bild: Kreis Unna)

Überhaupt, die Künstler: Da geht die Reihe von der Opernsängerin Grace Bumbry bis zum Dirigenten Hans Knappertsbusch, vom Autor Rolf Hochhuth bis zur Schauspielerin Tilla Durieux (1880-1971).

Pastelle geraten nach der Natur, hin und wieder jedoch genehmigt sich der Künstler eine pointiertere Deutung seines Gegenübers, wenn er etwa den italienischen Schauspieler Lino Ventura (1919-1987) mit einer momenthaften, jedoch überaus charakteristischen abwägend-zögerlichen Gesichtsmimik zeigt, die optisch durch die vorgestülpte Unterlippe geprägt wird; oder wenn er sich – eine ungewöhnliche Anordnung – im Gespräch mit dem österreichischen Schauspieler Helmut Qualtinger (1928-1986) abbildet und Qualtingers Kopf in dem Bild viel, viel größer ist, als es nach der Natur sein könnte. Vermutlich ist dies eine tiefe Verbeugung des Malers vor dem intellektuellen Bühnenberserker, der an der Welt litt, dem Alkohol zugewandt war und zu früh starb.

Bilder aus Ismaning

Thomas Hengstenberg als Leiter des Fachbereichs Kultur und Sigrid Zielke-Hengstenberg als Kulturrefentin haben die rund 90 Arbeiten in Haus Opherdicke sinnhaft zusammengestellt und klug gegliedert. Die meisten von ihnen sind Leihgaben des Kallmann-Museums in Ismaning, wo der Künstler seit den frühen 60er Jahren lebte.

Bilder wie die jetzt gezeigten, die zahlreichen Pferdebilder zumal, gefallen vielen Menschen auch heute noch. Würde man sie deshalb gefällig nennen, wäre das ungerecht, weil dem Wort eine gewisse Geringschätzung anhaftet. Hans Jürgen Kallmanns Bilder sind harmonisch in Farbe und Strich, handwerklich untadelig, souverän proportioniert und, so weit es die Portraits betrifft, von psychologischer Genauigkeit. Außerdem bieten sie ein oft vergnügliches Wiedersehen mit berühmten Köpfen von früher. Ein großes Aufregerthema jedoch ist dieses Oeuvre nicht. Wer sich über Kunst aufregen will, braucht nicht nach Opherdicke zu kommen.

  • Hans Jürgen Kallmann, Haus Opherdicke, Dorfstraße 29, Holzwickede.
  • 23. August bis 22. November 2015
  • Geöffnet Di-So 10.30 – 17.30 Uhr
  • Eintritt 4 €, Katalog 24 €
  • www.kreis-unna.de, www.kulturkreis-unna.de



Kulturpolitik in Unna – bitte bloß nicht kleinmütig und halbherzig!

Kultur, sie hatte mal mächtige Stimmen in der Stadt. Die Männer und Frauen, die der Kulturarbeit in Unna ihre Stimmen gaben, konnten sicher sein, dass nicht ungehört verhallte, was sie äußerten. Und sie fanden Gehör – auch weit über die Grenzen der Stadt hinaus. Weil das Modell Unna weithin Aufmerksamkeit erregte. Weithin woben sich auch die Netzwerke, die Unnas Kulturverantwortliche schufen, weil offenbar gern mit modellhaften Kommunen zusammengearbeitet wurde. Und Unna war eine solche.

Ein ebenso stabiles wie inhaltlich definiertes Fundament wurde im Laufe der Jahre geschaffen. Nachhaltig stemmt es sich auch aktuell in die Wellen eines immer inhaltsärmer werdenden Tsunami, der gespeist wird von den siechen Finanzkraft der Kommunen, von neuen medialen Interessen, von der erkennbaren Schwindsucht unter den Rezipienten; aber auch vortrefflich assistiert von zartbegabter Rhetorik seiner auserkorenen Sachwalter.

Das Musical “Oz” der "Freien Wildbahn" als Beispiel für gelungene kulturelle Nachwuchsarbeit. (Foto: Freie Wildbahn)

Das Musical “Oz” der „Freien Wildbahn“ als Beispiel für gelungene kulturelle Nachwuchsarbeit. (Foto: Freie Wildbahn)

Trotzig recken sich da und dort die Zeugen alter Zeiten aus Unnas soziokultureller Vergangenheit in die Landschaft: Lindenbrauerei, ZIB, Lichtkunst, Jugendkunstschule, Travados, die unvergleichlichen Feste in der Stadt sind Beispiele. Die Umwelt, mit der sie leben müssen, ist karger geworden. Die Zeiten sind natürlich auch andere geworden. Die Ideen, was man mit und aus Kultur machen könnte, sind andere geworden. Aber man muss sowohl bereit als auch in der Lage sein, überhaupt Ideen zu haben, sie dann auch noch in ein Konzept zu gießen und dann andere von diesem zu überzeugen.

Kultur ist die Summe aller menschlichen Lebensäußerungen

Nach wie vor hat Unna eine sehr spezifische und erkennbar charakterfeste Stadtkultur. Sie ist tief in Szenen vernetzt, und wer offenen Auges durch die Stadt gehen kann, erkennt, dass Soziokultur personell stark verankert ist, keinerlei schichtenspezische Kleidung umgehängt hat, nahezu alle Instrumente der musischen Lebensäußerungen von ihr bespielt werden. Und es ist auch zu erkennen, dass in der Stadt gern mal der Keim des kulturellen Nachwuchses aus dem Boden lugt und nachhaltig auf sich aufmerksam macht. Das fulminante Musical “Oz” der “Freien Wildbahn” bewies erst kürzlich, wie fruchtbar der großartige Unnaer Kulturhumus sein kann.

Die tragenden Strukturen einer Unnaer Kulturarbeit der Zukunft müssen – so wie das für alle gesellschaftlichen Strukturen gilt – stets an die sich aktuell darstellenden Verhältnisse angepasst werden. Sebastian Laaser, stellvertretender Fachausschuss-Vorsitzender im Rat, hat es getroffen, als er alles mit einen dauernden Prozess beschrieb, was im Zusammenhang mit Kultur steht. Die dahinter liegende Idee aber muss stets die bleiben, dass “der Mensch im Mittelpunkt zu stehen hat” (Hubert Biernat, einst Landrat des Kreises).

Bildung, Schule, Weiterbildung und auch Sport – als basislegend für Teamverständnis, als Erfolgsgarant in der Zusammenarbeit von Individuen –, sie können im Zusammenspiel mit der sich ständig weiterentwickelnden Unnaer Kultur ein zukunftsorientiertes Bindegewebe für eine Stadtgesellschaft bilden, deren gemeinsame Anstrengung im Erhalt einer weltoffenen, (lebenslang) bildungsorientierten und solidarischen Stadtkultur besteht. Einen solchen Chor zu bilden und gekonnt zu dirigieren, das wäre eine Idee.

Wo bleiben die kraftvollen Stimmen?

Wenn Unna, wie geplant, eine gGmbH (gemeinnützige GmbH) ins Leben ruft, um der Zukunft der Kultur ein neues und stabiles Gerüst zu verleihen, dann erfüllt das nur einen Sinn, wenn gleichzeitig der Auftrag dieser Gesellschaft klar definiert wird als Instrument, als Werkzeug eines inhaltlichen Strebens: die Kulturarbeit ständig vom Kopf auf die Füße zu stellen und immer wieder zu erneuern.

Wenn sich aber diese gGmbH kleinmütig bei den Stichwörtern „Steuerersparnis“ und „Mittelverteilung“ festfährt, bleibt der eigentliche Kern der Maßnahme gleich mit in den Startblöcken stehen und wird zum ständig finanzgeschüttelten Spielball der kulturellen Interessenarmut. Das Credo der Kulturpolitik muss hier lauten: Kultur im Mittelpunkt – für Menschen! Und nicht ins Kleinlaute stolpernd die Frage stellen: Wie bewahren wir Krümel einer Vergangenheit, für die wir nicht mehr ausreichend Geld haben?

Die inhaltlichen Zwischentöne einer kraftvollen Stimme in Unnas Kulturpolitik vernehme ich nicht. Jedenfalls nicht, solange sich die Protagonisten darin erschöpfen, im thematischen Zusammenhang mit Kultur verletzungsfrei „Spartenrechnung“ zu buchstabieren oder im Kulturbereich akteneinsichtliche Erkenntnisse zu wittern.

(Der Beitrag erscheint in ähnlicher Form in Rudi Bernhardts Blog dasprojektunna.de)




Ein Kulturzentrum muss sich stets verändern – Gespräch über die Lindenbrauerei in Unna

Wohin wird der Weg der Kulturpolitik in Unna führen? Werden neue, ganz andere Wege beschritten? Müssen ausgetretene Pfade verlassen werden? Ein Gespräch unter Parteifreunden mit Sebastian Laaser (SPD), stellvertretender Vorsitzender des Kulturausschusses:

Frage: Vorweg, den Herrn Laaser schenke ich mir, diese Förmlichkeit wäre albern. Sebastian, siehst du die Diskussion um das Kulturzentrum Lindenbrauerei als abgeschlossen an?

Sebastian Laaser: Ja und Nein. Ja, weil in den letzten Monaten ja eher diskutiert wurde, ob Jahresabschlüsse oder Wirtschaftspläne korrekt seien. Da sage ich klar, dass die nicht-öffentliche Arbeitskreissitzung aus meiner Sicht alle Fragen beantwortet hat. Ich maße mir nicht an, Prüfungen durch das Finanzamt oder vereidigte Wirtschaftsprüfer in Frage zu stellen. Ich gehe davon aus, dass die Vereinsverantwortlichen auch für das Jahr 2014 alle Unterlagen ordentlich einreichen werden.

Nein, weil es immer Diskussionen um die Brauerei gegeben hat und geben muss. Genau wie die Soziokultur insgesamt – die Landesarbeitsgemeinschaft Soziokultur macht das Anfang März mit einer Tagung “Zukunftskongress Soziokultur – Vorwärts und Wohin!” – müssen wir uns auch vor Ort fragen, wo wir stehen und wie die weitere Entwicklung aussehen muss. Ich finde, dazu passt es doch, dass wir in diesem Jahr das erfreuliche 25jährige Bestehen feiern können.

Die Brauerei vor 25 Jahren ist nicht mehr vergleichbar mit der von heute und sie wird in ein paar weiteren Jahren wiederum eine andere sein. Ich sähe es lieber, wir betrachteten kulturelle Angebote generell nicht als festgenagelte Statik, sondern als flexibel Reagierende und Agierende in einer sich stets verändernden Gesellschaft.

Frage: Das heißt nun?

Sebastian Laaser: Wenn in den kommenden Wochen alle notwendigen Beschlüsse eine solide Mehrheit finden, haben wir ein Jahr lang Zeit, gemeinsam mit allen Beteiligten nach zukunftsorientierten, trittsicheren Wegen zu suchen. Nicht nur für die Brauerei, sondern für die gesamte Kulturarbeit in unserer Stadt. Und zwar auf einem Weg, der die Stärken aller drei Säulen (Brauerei, ZIB mit Kulturamt und Stadthalle) berücksichtigt und diese nutzt. Daran zu arbeiten, fundamentale Konzepte aufzustellen, die anschließend resistent gegen Abweichungen und neue Anforderungen durch veränderte Rahmenbedingungen sind, halte ich im Kulturbereich für untauglich. Wir haben es hier mit einer Art lebendigem Organismus zu tun, im wahren Wortsinne lebendig.

Frage: Was hältst du in diesem Zusammenhang von Vorschlägen, beispielsweise den gastronomischen Bereich der Brauerei in die Hände der Stadthalle zu übergeben?

Sebastian Laaser: Ähnliches wurde vor rund 25 Jahren in der Gründungsphase des Kulturzentrums ja versucht. Damals scheiterte das Experiment grandios. Ich sehe nicht, dass es heute mehr Aussicht auf Erfolg haben sollte. Darüber hinaus macht es Sinn, die Brauerei als “Ganzes” zu führen und somit flexibel reagieren zu können. Nebenbei bemerkt, erwirtschaftet die Gastronomie auch einen nicht unerheblichen Deckungsbeitrag…

Frage: Wo siehst du denn Chancen auf Erfolg?

Sebastian Laaser: Wo wir gerade beim gastronomischen Bereich sind. Zunächst warne ich davor, zu glauben, dass alle Heilmittel für sieche Finanzen aus dieser Ecke gezogen werden können. Von dort kann allenfalls ein Beitrag von vielen kommen. Aber die Lindenbrauerei verfügt mit der Hausbrauerei und dem Lindenbier über ein Alleinstellungsmerkmal. Ich würde mir wünschen, dass dieser Bereich stärker als bisher ausgebaut wird bzw. Begonnenes konsequenter fortgeführt wird. Wenn man sich in unserer Region umsieht, bin ich mir sicher, dass die Brautradition mit attraktiven Angeboten durchaus interessant für Besucher sein kann.

Darüber hinaus sollten wir mit den Kulturfachleuten in unserer Stadt ins Gespräch kommen, um in diesem Fall „der Kultur Bestes zu suchen“. Wir müssen uns über eines einig sein. Darüber, dass wir auch in Zukunft in unserer Stadt ein Kulturzentrum Lindenbrauerei wollen. Ich persönlich beantworte mir diese Frage mit einem überzeugten „Ja“. Und ich stelle mir auch nicht die Frage, wie viel Geld wir für dieses Kulturzentrum in der Vergangenheit schon ausgegeben haben, sondern gebe mir selbst und vielen anderen eine Antwort: Die Brauerei und ihre Belegschaft haben in der Vergangenheit u.a. durch individuellen Verzicht enorm mitgeholfen, unserer Stadt ein Zentrum zu erhalten – und dies durch allerlei Maßnahmen (bisweilen auch schmerzhafte) für einen Preis, von dem andere Städte träumen. Wie schon gesagt, wir haben an einem Prozess zu arbeiten und nicht an finalen Lösungen.

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(Das Gespräch erschien in ähnlicher Form zuerst auf http://dasprojektunna.de)




Kulturzentrum Lindenbrauerei in Unna – immer noch keine handfeste Lösung in Sicht

Es wird für die Politiker Unnas über kurz oder lang nur eine wahre Alternative geben können, sich einer Wahlmöglichkeit zu stellen: Soll das Kulturzentrum „Lindenbrauerei“ seinen Betrieb langfristig fortsetzen, kann ebenso langfristig eine Lösung für das erkennbare Problem der strukturellen Unterfinanzierung gefunden werden – oder nicht? Und wenn nicht, dann würde ein Leuchtmittel der Unnaer Kulturarbeit aus den vergangenen Jahrzehnten aufgegeben, eine Akte zugeklappt, weil das Geld einfach zu knapp geworden ist?

Der Kulturausschussdes Unnaer Rates konnte da noch keine sinnfällige Antwort finden und sie den Freunden und Hegern der Brauerei anbieten. Wie auch?

Screenshot der Internetseite http://www.lindenbrauerei.de

Screenshot der Internetseite http://www.lindenbrauerei.de

Zahlen: 897.000 Euro im Jahr kann der Verein als Träger der Einrichtung auf der Einnahmeseite verbuchen. Runde 1,16 Mio. hingegen belasten die Ausgabenseite. 199.000 Euro gibt’s von der Stadt als Zuschuss, bleiben runde 70.000, die im Jahresplan für 2015 fehlen. Immerhin, eine leichte Verbesserung gegenüber dem laufenden Rechnungsjahr, das am Ende auf ca. 76.000 Euro Fehlbetrag kommen wird, dessen Deckung aber schon durch einen erhöhten Zuschuss der Stadt abgedeckt war.

Das kommende Brauerei-Jahr könnte über eine Rückstellung in Höhe von 70.000 Euro aus nicht verbrauchten Mitteln des laufenden Haushaltsjahres gesichert werden, wie der zuständige Dezernent Uwe Kornatz es vorschlug. Die sollten allerdings nur angefasst werden, falls es nötig und die politische Ampel auf Grün gestellt sein wird.

Damit wären akute Überlebenssorgen zwar beseitigt, indes könnte von einem zukunftssichernden Durchbruch auch keine Rede sein. Die Anregung zu einer fraktionsübergreifenden Arbeitstagung wurde zwar in den Raum gestellt, von CDU-Seite allerdings inhaltlich obsolet gemacht, weil deren Standpunkte unverrückbar formuliert wurden: Zusätzliche Mittel für die Brauerei nur aus Umschichtungen im Kulturetat, nicht abgezapft aus dem System des Gesamthaushaltes.

Solche Statements sollten allerdings endlich mal in Eindeutigkeit formuliert werden: Die konservative Linie kommt einer eindeutigen Akzeptanz der Folgen des worst case gleich. Klappen wir doch gleich zu, was uns schon geraume Zeit stört und populär einer opferbereiten Mainstream-Menge angeboten werden kann. Man kann am Ende sich ja immer darauf berufen, dass da falsch gewirtschaftet worden sei und andere das nachweislich ja besser gemacht hätten.

Kann man, aber sollte man? Die Zeit ist nicht mehr fern, da mutiert Unna von der einstigen Kulturstadt zum Kulturbeutel der Region. Ich menetekele mal so vor mich hin: Alsbald wird sich die Aufmerksamkeit der wirtschaftswissenden Polit-Fraktionen skeptischer als bisher formuliert in Richtung des Lichtkunstzentrums wenden. Festivals von internationalem Rang wie der „Mord am Hellweg“ binden doch auch nur teures Personal und organisatorische Kraft, die anderenorts besser genutzt werden könnten. Es reicht doch, wenn Unna wie einst Paläolithikum der Kulturarbeit am Ostrand des Reviers etwas Theater angeboten wird und hier und da mal Musik, oder? Zurück zu den Wurzeln, Besinnung auf das Wesentliche. Kernkompetenz fokussieren auf das, was sich rechnet.

Mir wird schon ganz schwindelig bei der Vorstellung, wie es aussehen könnte, wenn mit dem Dezernenten Uwe Kornatz die letzte Bastion der Kulturpolititik aus der Rathaus-Hierarchie in Unna weg pensioniert sein wird.




Was Architekten gut finden: „Ausgezeichnete“ Bauten im Raum Dortmund – Hamm – Unna

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Die nach den Geschwistern Scholl benannte Gesamtschule in Lünen (hier eine Innenansicht) ist ein Werk des Star-Architekten Hans Scharoun. Der sorgfältigen Renovierung des Baus wurde jetzt eine „Anerkennung“ des Architektenbundes zuteil. (Foto: BDA)

Wenn der Bund deutscher Architekten, Abteilung Dortmund Hamm Unna, gute Architektur und somit in der Regel gute Architekten ehren will, dann finden sich auf der Vorschlagsliste Büros aus Berlin, Nürnberg, Hagen oder Senden, wo lebendige Architekten unermüdlich an der Verschönerung der Welt werkeln.

Will man aber einen großen Toten der Zunft ehren, Fachleute wissen das natürlich, muß man nach Lünen fahren. Das dortige ehemalige Mädchengymnasium, nach den Geschwistern Scholl benannt und heute Gesamtschule, hat nämlich Ende der 50er Jahre Stararchitekt Hans Scharoun entworfen, dem unter anderem Berlin seine Philharmonie und Bremerhaven sein Schiffahrtsmuseum verdankt.

Als Lünen Scharoun und keinen anderen beauftragte, war die Stadt noch eine reiche Stadt; das änderte sich, und lokale Armut spiegelte sich bald auch im Erhaltungszustand des Gebäudes, das im übrigen ja, alte Lüner wissen das, nie ganz dicht war. Mit viel Geld aus der Wüstenrot-Stiftung haben die Architekten Spital-Frenking und Schwarz den Bau jetzt sorgfältig durchsaniert und auf Vordermann gebracht, und dafür gab es warme Worte (und Urkunde, aber kein Geld).

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Stimmig eingepapte Bürobauten neben der Hörder Burg. (Foto: BDA)

Mit der Renovierung wurde das Gebäude auch recht bunt angestrichen, was das Erstaunen Uneingeweihter hervorrief. Denn eigentlich war die Mädchenpenne immer weiß. Doch gab es nun vor der Renovierung einen Putzbefund, der auf einem Prüffeld der Fassade Reste bunter Farben zeigte; und tatsächlich finden sich die auch in Scharouns Entwurfsplanung, wenngleich er ja gegen das Weiß nichts gehabt zu haben scheint. Nun denn, also jetzt Scharoun in Ocker, Grün, Rot…

Kommen wir zu den Projekten, bei denen lebende Architekten ihre Kreativität ausleben konnten. Preiswürdig war der Jury an derSchule Am Eierkamp (Dortmund-Hombruch) die Einbeziehung einer Außenfläche in den Baukörper. Eigentlich, so könnte man meinen, keine große fachliche Herausforderung. Doch das sah die BDA-Jury anders, zumal diese Baumaßnahme richtungweisend für Umbauten von Schulgebäuden in den kommenden Jahren sei.

Auch einem Einfamilienhaus wurde die BDA-Auszeichnung zuteil. Geplant hat es das in Dortmund recht bekannte Büro Schamp und Schmaloer. Richard Schmaloer, dies nur anbei, ist amtierender Vorsitzender der hiesigen BDA-Gruppierung. Das Haus könnte ein Kubus sein, doch sein Dach ist schräg. Des Rätsels Lösung liegt in der Bauherrschaft Wunsch: Sie wollte ein Haus mit Flachdach in einem Neubaugebiet, in dem die Stadt Pult- und Satteldächer forderte. Das Haus steht, der städtischen Auflage ist Genüge getan; doch trägt die Dachschräge nicht unbedingt zur Schönheit des, wie gesagt, von Konzept her eher kubischen Baukörpers bei, und abhängig vom Blickwinkel wird er in der Siedlung wohl auch ein Fremdkörper bleiben. Die Maßnahme ist ein schöner Beitrag zum Thema Sinn und Unsinn behördlicher Vorgaben. Architektonische Kreativität erscheint hier in einem ganz neuen Licht.

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Die Dortmunder Liebfrauenkirche wurde – stilvoll – in ein Kolumbarium umgewandelt. (Foto: BDA)

Der Umbau der Dortmunder Liebfrauenkirche zu einem Kolumbarium durch das Berliner Büro Staab Architekten ist ohne Einschränkung gelungen. Hier ist jetzt Platz für 4000 Urnengräber, deren diskrete Anordnung an die vormalige Möblierung mit Kirchbänken erinnert. Ein guter, starker Ort.

Das nächste Objekt, das den Architekten anerkennenswert erschien, liegt nur einige hundert Meter Luftlinie von der Liebfrauenkirche entfernt. An der zu einem „Boulevard“ rückgebauten Dortmunder Kampstraße steht das ehemalige Verwaltungsgebäude der West-LB, das zu einem Ärztehaus umfunktioniert wurde. Ein Betonklotz aus den 70er Jahren, den umlaufende, meterbreite weiße Plastikwülste prägen und den schön zu finden doch einige Anstrengung erfordert.

Auch wenn Baudenkmäler definitionsgemäß nicht nach Schönheit, sondern nach architektur- und städtebaugeschichtlicher Bedeutung ausgesucht werden sollen, hätte man diesen Bau nicht zwingend erhalten müssen, denn ganz so einzigartig ist er gewiß nicht. Das wesentlich jüngere Volkswohlbund-Haus aus den Achtzigern, nur wenige hundert Meter weiter am Wall gelegen und von weitaus erträglicherem Äußeren, entsorgte man vor einigen Jahren kurz und schmerzlos mit Hilfe einiger Sprengladungen. Die West-LB aber steht jetzt unter Denkmalschutz und trägt angeblich zur Schönheit der Dortmunder Innenstadt bei. Lol.

Munter geht die Reise weiter. Wir erreichen Dortmunds prominentestes Ziergewässer, den Phoenix-See. Hier haben Drahtler Architekten einen Verwaltungsgebäudekomplex neben die so genannte Hörder Burg gestellt, der sich ausgesprochen harmonisch dem baulichen Bild einfügt, gleichermaßen in Materialität und Proportionen. Angenehm fällt insbesondere der Verzicht auf modischen Zierat auf, läßt man die in die Ecken der Gebäudekörper gesetzten Fenster auf einigen Etagen einmal außer Acht. Die Auflockerung des Fassadenbildes durch versetzte horizontale Fensterreihen vermeidet Langeweile. Eine derart gleichermaßen anspruchsvolle wie unaufdringliche Architektur hätte man sich am Phoenixsee häufiger gewünscht. Ist jetzt aber zu spät.

Unna Busbahnhof

Busbahnhof in Unna. (Foto: BDA)

Wir kommen nach Unna, und zwar mit Bahn und Bus. Hier gibt es ein großes Dach über dem Busbahnhof, damit die Fahrgäste beim Umsteigen trocken bleiben. Das wird wohl auch gelingen; doch hätte die Konstruktion nicht etwas filigraner ausfallen können? Das wuchtige Dach sieht aus wie eine plattgedrückte Betonbratwurst auf Stelzen. Darunter ist es düster, weil Beton bekanntlich kein Licht durchläßt. Deshalb gibt es ein Lichtkonzept, das im Wesentlichen aus Strahlern besteht, die von unten das Betondach erhellen. Nachts braucht man die natürlich, aber nicht bei Sonnenschein. Es bricht sich der Gedanke Bahn, daß flächendeckend eingesetztes Glas auch ein schöner Baustoff gewesen wäre.

In Hamm gefiel den Architekten der Neubau einer Sparkassenfiliale, über dessen bauliche Qualität wenig zu sagen ist; einfach gegliederter Baukörper aus Beton und dezent sandsteinfarbenem Klinker mit modischer Entrée-Situation. Eine so uneitle Zweckarchitektur ist oft das Schlechteste nicht!

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Sparkassenneubau in Hamm (Foto: BDA)

Neben den mit einer „Anerkennung“ geehrten Objekten gibt es auf der Vorschlagsliste noch etliche weitere. Viele Neubauten der letzten Jahre, Bürohäuser zumal, tauchen hier auf, daneben aber auch gravierende Umbauten innerhalb bestehender Objekte, wie beispielsweise im Dortmunder Johanneshospital.

Auffällig schließlich ist, daß der jüngst umgebaute und erweiterte Baukörper der Städtischen Musikschule in Hamm es nicht von der Vorschlagsliste in die Liga der Anerkannten schaffte. Ein bißchen Ähnlichkeit hat er mit dem Fußballmuseum, das vor dem Dortmunder Hauptbahnhof im Werden ist. Aber das ist wohl Zufall und hat nichts zu bedeuten.

Eine Ausstellung im Gebäude des ehemaligen Dortmunder Ostwall-Museums, Ostwall 7, präsentiert auf Schautafeln ausführlich die ausgezeichneten und vorgeschlagenen Bauobjekte. Bis 30.11. Geöffnet Freitag, Samstag, Sonntag 15 – 19 Uhr.

 




Kosmos Nordsee – Bilder des Norderneyer Malers Poppe Folkerts in Haus Opherdicke

Die Segel leuchtend oder strahlend weiß, manchmal mit einem zarten Stich ins Rosa; der Himmel so blau wie gerade aus der Tube gequetscht, ebenso die glatte See: von der Farbigkeit her müßte das das Mittelmeer sein, mindestens. Oder die Karibik. Doch da hat Poppe Folkerts nicht oft gemalt. Das so hemmungslos leuchtende Bild entstand 1934 auf Norderney und zeigt den Hafen der Insel, genauer: seine Segelyacht „Senta“ bei der Einfahrt in denselben. Offensichtlich liebte der Maler, dem Haus Opherdicke jetzt eine Ausstellung widmet, die schönen Sommertage ganz besonders.

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Morgenstimmung, 1938, Öl auf Leinwand. Bild: Poppe-Folkerts-Stiftung/Kreis Unna

Immer wieder setzt Poppe Folkerts dem bleiernen Modersohn-Grau des tiefen norddeutschen Himmels ein mehr oder minder leichtes, stets aber intensives Blau in zahlreichen Helligkeiten und Durchmischungen entgegen. Meistens sind Lichter beherrschender als Schatten, und sicherlich offenbart sich in dieser optimistischen Sicht- und Malweise viel von der Lebenshaltung des Künstlers. 1875 auf Norderney geboren, absolvierte er auf dem Festland Schule, Glaserlehre und schließlich eine Ausbildung an der Königlichen Berliner Akademie, um 1900 zur Insel zurückzukehren und bis zu seinem Tod im Jahr 1949 dort zu leben, allen historischen Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Trotz.

Allerdings lebte er nicht als Einsiedler, sondern unternahm zahlreiche Reisen mit Familie ins In- und Ausland. Doch Lebensmittelpunkt wurde und blieb der „Malerturm“, den sich Folkerts 1917 am Nordwestrand seiner Heimatinsel baute. Meer und Menschen, Boote, Strand und Land waren sein überwiegend heiter wahrgenommener Kosmos. Lediglich die Seenotretter in ihren fragilen Ruderbooten legen sich vor düsterem Himmel in die Riemen, was in gewisser Weise ja auch zwingend ist.

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Frauke, 1926, Öl auf Holz. Bild:-Poppe Folkerts-Stiftung/Kreis Unna

Poppe Folkerts stammt aus jener Zeit, in der der Impressionismus dem peniblen naturalistischen Akademiestil – beispielsweise der Düsseldorfer Schule – den malerischen Alleinvertretungsanspruch streitig machte. Es galt, Stellung zu beziehen, und die oft großformatigen Werke im Opherdicker Wasserschlößchen lassen früh erkennen, wie sich Folkerts in dieser Auseinandersetzung moderat positionierte.

Dinge und Menschen bleiben deutlich identifizierbar. „Modern, aber nicht übertrieben“ hätte man diesen Stil in den restaurativen 50er Jahren vielleicht genannt. Daß Meer und Himmel dabei deutlicher als alles andere impressionistischer Darstellung anheimfallen, liegt nahe. Möglicherweise wirkte auch der Wunsch, ab und zu ein Bild an Norderney-Besucher zu verkaufen, stilbildend. Aus heutiger Sicht ist es müßig, zu fragen, wie „mutig“ der Künstler mit seiner Kunst in seiner Zeit war; denn was trotz einer gewissen Gefälligkeit ganz unbestreitbar bleibt, ist die große Ausdrucksstärke, zumal die der Seestücke und Landschaften.

In der Kaiserzeit meldete sich der Künstler freiwillig – mit 39 Jahren war er 1914 für den Militärdienst wohl schon zu alt – als Kriegsmaler. Ein Raum ist in Opherdicke Gemälden von militärischen Aktionen gewidmet, und es fällt auf, daß sie relativ unpathetisch gerieten. Gewiß gehören diese Bilder nicht zum Stärksten der Schau, doch macht ihre stets um formale Ehrlichkeit bemühte Ernsthaftigkeit verständlich, warum Poppe Folkerts nach dem verlorenen Krieg eben nicht als hurrapatriotischer Schlachtenmaler „verbrannt“ war, sondern weiter arbeiten konnte und geachtet blieb.

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Schillbögeln, 1928, Federzeichnung. Bild: Poppe-Folkerts-Stiftung/Kreis Unna

In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, die für Norderney hart waren, da der Tourismus daniederlag, erwarb sich Poppe Folkerts wachsende Verdienste um das Gemeinwohl. Zu den originellsten, wenn auch nicht unbedingt größten Verdiensten gehörte gewiß, wie Hayo Moroni von der Norderneyer Folkerts-Stiftung launig zu berichten weiß, in jener Zeit die Scheine des Notgeldes und das Inselwappen gestaltet zu haben.

Die Nazis mochte er nicht, aber sie ließen ihn in Ruhe. Als er am 31. Dezember 1949 stirbt, ist der Trauerzug lang; und obwohl es eigentlich verboten ist, bekommt er die gewünschte Seebestattung, im schweren Eichensarg im Tiefwasser vor Norderney.

Mehr als 90 Arbeiten von Poppe Folkerts sind ab Sonntag (bis 22. Februar 2015) in Haus Opherdicke zu sehen – neben den Ölgemälden auch sehr bemerkenswerte Kreidezeichnungen und Radierungen. Leihgeber sind vor allem die Poppe-Folkerts-Stiftung auf Norderney, das Ostfriesische Landesmuseum in Emden, einige Privatpersonen und nicht zuletzt die Reederei Norden Frisia, deren Fährschiffe oft zu Motiven wurden.

„Poppe Folkerts – Zwischen Himmel und Meer“. 31. August 2014 bis 22. Februar 2015. Haus Opherdicke, Holzwickede, Dorfstraße 29. Geöffnet Di-So 10:30 bis 17:30 Uhr. Eintritt 4 €. Empfehlenswerter Katalog 24 €

www.kreis-unna.de, www.kulturkreis-unna.de




„Timm Thaler“ usw.: Drehbuchautor Justus Pfaue starb mit 72 Jahren

„Ich bin ja hier so einer, der sich gern mal bei Todestagen wirklich wichtiger Menschen in dieser Republik zu Wort meldet, der aber noch viel lieber aufzeigt, wenn solche Menschen Jahrestage haben, Geburtstage zum Beispiel.“ Das schrieb ich im Juli vergangenen Jahres in den revierpassagen und musste zerknirscht gestehen, dass ich seinen 80. Geburtstag verpasst hatte, ihm aber wenigstens ein Jahr danach noch Ehre erweisen wollte. Ich irrte, er war gerade erst 70 geworden. Dass Justus Pfaues Lebensweg knapp ein Jahr später mir den traurigen Anlass gibt, wieder über ihn zu schreiben, senkt meine Stimmung. Er starb mit 72 Jahren in Berlin.

Justus Pfaue, der eigentlich Norbert Sellmann hieß, das war der kluge Mensch, aus dessen Feder so viel Berühmtes stammte: “Timm Thaler”, “Patrik Pacard – Entscheidung im Fjord”, “Oliver Maass – Das Spiel mit der Zaubergeige”, “Bas-Boris Bode – Der Junge, den es zweimal gibt”, “Teufels Großmutter oder der Himmel auf Erden”, “Anna” und noch vieles andere. Justus Pfaue hat viele Kinderbücher, sehr viele Drehbücher und aus diesem Fachbereich seiner rastlosen Arbeit das eine oder andere auch für sehr, sehr bekannte Filme geschrieben, er war einer der bedeutendsten seiner Zunft in Europa, lebte wahlweise in München und Positano (Campagna, Italien), ein Ort, von dem John Steinbeck mal schrieb, dass er der einzig senkrechte auf der Welt sei.

Und – Justus Pfaue, Norbert Sellmann, geboren in Ballenstedt (Sachsen-Anhalt), hat lange in Unna gelebt.

Trotz seiner grundständigen Abneigung gegen alles, was mit Journalismus zu tun hatte, führte ich vor ungefähr 25 Jahren mal ein langes Telefonat mit ihm, das er dann abrupt abbrach, als es ihm anscheinend zu nahe kam. Was habe ich es genossen, diesen Medienphobiker kurzfristig „aufgeschlossen“ zu haben. Ich behielt vor einem Jahr auch artig mein Herrschaftswissen über Justus Pfaues Geburtsnamen, den anscheinend nicht einmal das allwissende Wikipedia kannte – heute, nach seinem Tod, wird er dort aber veröffentlicht. Die paar Handverlesenen in Unna, die ihn auch kannten, sind heute traurig.

Er war Jurist, forensischer Psychologe und gestochen scharf Beobachtender des menschlichen Alltags, woraus er sich bereits in Studienzeiten Material für seine späteren Produkte holte und für die „ZEIT“ und den Hörfunk Berichte oder glossierende Geschichten schrieb. Brigitte Horney, Peter Pasetti, Gerd Baltus, Loni von Friedl, Eberhard Feik, Elfriede Kuzmany, in neuerer Zeit Jürgen Vogel – alles Namen, die in den Rängen der Großen deutscher Schauspielerei zu siedeln sind. Sie alle rissen sich darum, in einer Serie oder einem Fernsehfilm mitzuspielen, dessen Grundidee von Justus Pfaue entwickelt worden war.

Bevor er so begehrt und offensichtlich auch von Fachleuten zu Recht bewundert wurde, zog es ihn durch viele Bereiche Unnas und immer mal wieder mit seinen Freunden ins Café Jokisch. Dann aber verlagerte es ihn in Richtung des deutschen Südens und er wählte München zu seiner Hauptresidenz. Zu den Unnaer Freunden hatte er nur noch vereinzelt Kontakt. Aber ganz verlor er sie nie aus dem Sinn, einen sollte ich damals ausdrücklich grüßen – trug er mir noch auf, bevor er das Gespräch so abrupt beendete.




Der Kinder- und Drehbuchautor Justus Pfaue wurde 70 – ein arg verspäteter Glückwunsch

Ich bin ja hier so einer, der sich gern mal bei Todestagen wirklich wichtiger Menschen in dieser Republik zu Wort meldet, der aber noch viel lieber aufzeigt, wenn solche Menschen Jahrestage haben, Geburtstage zum Beispiel. Da ist mir im vergangenen Jahr doch einer durchgegangen. 2012 wurde Justus Pfaue 70 Jahre alt.

Wie? Etwa vergessen? Das ist der kluge Mensch, aus dessen Feder so vieles stammt: „Timm Thaler“, „Patrik Pacard – Entscheidung im Fjord“, „Oliver Maass – Das Spiel mit der Zaubergeige“, „Bas-Boris Bode – Der Junge, den es zweimal gibt“, „Teufels Großmutter oder der Himmel auf Erden“, „Anna“ und noch vieles andere. Justus Pfaue hat viele Kinderbücher, sehr viele Drehbücher und aus diesem Fachbereich seiner rastlosen Arbeit das eine oder andere auch für sehr, sehr bekannte Filme geschrieben, er ist einer der bedeutendsten seiner Zunft in Europa, lebt wahlweise in München und Positano (Campagna, Italien), ein Ort, von dem John Steinbeck mal schrieb, dass er der einzig senkrechte auf der Welt sei. Und – Justus Pfaue kommt aus Unna.

Vor Jahrzehnten hatte ich mal das Glück und das Vergnügen, mit dem Mann, in dessen Geschichten bis heute gern die besten deutschen Schauspieler auftreten, zu telefonieren, obwohl der eine grundständige Abneigung gegen alles hegt, was mit Journalismus zu tun hat. Beinahe eine halbe Stunde dauerte das Gespräch, was gemessen daran, dass er ansonsten eher zweisilbig bis einsilbig daher kommt, geradezu inflationär anmutet. Ich gestehe, ich habe jede Sekunde genossen, weil ich um seine verschlossen-freundliche Art wusste.

Daher bewahre ich an dieser Stelle auch mein Herrschaftswissen über Justus Pfaues Geburtsnamen, den anscheinend nicht einmal das allwissende Wikipedia kennt. Nur ein paar Handverlesene in Unna wissen von ihm … und das ist auch gut so.

Er ist Jurist, forensischer Psychologe und gestochen scharf Beobachtender des menschlichen Alltags, woraus er sich bereits in Studienzeiten Material für seine späteren Produkte holte und für die „ZEIT“ und den Hörfunk Berichte oder glossierende Geschichten schrieb.

Brigitte Horney, Peter Pasetti, Gerd Baltus, Loni von Friedl, Eberhard Feik, Elfriede Kuzmany, in neuerer Zeit Jürgen Vogel – alles Namen, die in den Rängen der Großen deutscher Schauspielerei zu siedeln sind. Sie alle rissen sich darum, in einer Serie oder einem Fernsehfilm mitzuspielen, dessen Grundidee von Justus Pfaue entwickelt worden war.

Bevor er so begehrt und offensichtlich auch von Fachleuten zu Recht bewundert wurde, zog es ihn durch viele Bereiche Unnas und immer mal wieder mit seinen Freunden ins Café Jokisch (ungefähr da, wo heute ein überflüssiger Balkon die Unnaer Marktatmosphäre stört). Da half die „Kleine Jokisch“ gern mal dem Vater und bediente die Kundschaft. Der junge Justus und seine Freunde hatten es besonders gern, wenn gerade sie ihnen den Kaffee servierte, weil die „Kleine Jokisch“ ein sehr apartes Wesen war (und sie ist das auch heute noch).

Dann aber zog es ihn in Richtung des deutschen Südens und er wählte München zu seiner Hauptresidenz. Zu den Unnaer Freunden hat er nur vereinzelte Kontakt, und da er auf seine Privatsphäre damals wie heute empfindlich achtete, behalte ich auch in dieser Hinsicht mein Wissen für mich.

Nun kann ich ja auch nur noch nachträglich zum 80. gratulieren, worauf der Landsmann vom Hellweg, der richtig gebürtig eigentlich aus Ballenstedt (Sachsen-Anhalt) stammt, wohl aber keine nennenswerten Reaktionen zeigen wird. Ich tu’s trotzdem.




Zum Tod von Dieter Pfaff: Warum sind wir uns eigentlich nie begegnet?

Warum sind wir uns eigentlich nie über den Weg gelaufen? Er wurde 1947 in Dortmund, der Stadt meiner Jugend, geboren, fast genau ein Jahr, bevor es mich auf dürren Beinen gab. Er besuchte das Aufbaugymnasium (später Ernst-Barlach-Gymnasium) in Unna, wo ich die meiste Zeit meines Arbeitslebens verbrachte.

Er war mit dem Schriftsteller Heinrich Peuckmann in einer Klasse, dem ich freundeskreislich schon lange verbunden bin. Er hatte ein großes Herz für den BVB, und meines schlägt ja auch im Biene-Maja-Takt. Aber wir sind uns nie auf kreuzenden Wegen begegnet, vermutlich war er immer schon an einem anderen Ort, wenn ich irgendwo eintraf. Nun ist Dieter Pfaff nicht mehr, wir werden uns nie begegnen und ich werde nie erfahren, ob er wirklich so liebenswert war, wie ich es annehme. Ich bewahre mir aber diese Überzeugung.

65 Jahre wurde Dieter Pfaff alt –„Der Dicke“ oder „Sperling“ oder „Bloch“ – der Schauspieler zahlloser Rollen, dem aber eines beinahe immer zu eigen war: seine ungewöhnliche Körperfülle, die er zusammenspielen ließ mit einer sonor-ruhigen Stimme, ausgewogener Motorik und einem offenbar haarnadelscharfen Verstand, der seine Äußerungen antrieb. Er erlag dem Lungenkrebsleiden, das er Anfang des Jahres noch als erfolgreich behandelt schilderte.

„Der Dicke“ – das war ein Serientitel, den man landauf landab mit seiner üppigen Körperlichkeit assoziierte. Der Rechtsanwalt, der „kleine“ und „kleinste“ Leute lieber vertritt als solche, die auf seine Klienten herab sehen. Das nahm ihm sein Publikum ab, das war authentisch. Dieter Pfaff war Sohn eines Polizisten, zu dem er ein ebenso „intensives wie schwieriges Verhältnis“ hatte. Er verstand sich als Menschen, der von der 1968-er Bewegung geprägt war, er verstand diese indes aber auch als so mehrschichtig und mangelhaft aufgearbeitet, dass er weder dazu neigte, sie mit einem Glorienschein zu umkränzen noch ihre Auswirkungen als Teufelswerk zu geißeln.

Sein Weg begann in engem Kontakt zu den „normalen Menschen“, sein politisches Dasein blieb in Fühlweite dieser „normalen Menschen“ und er selbst wurde nie jemand, der blitzbelichtert über einen roten Teppich daher kam. Deshalb konnte jeder und jede ihn als so einen „Dicken“ wahrnehmen und sein Rollenverständnis verstehen.

Dieter Pfaff erlernte seinen Beruf als Schauspieler so gut, dass er in Graz jahrelang eine Professur ausübte – nachdem er in seiner Heimatstadt Dortmund, in München, im Theater am Turm in Frankfurt und auf vielen anderen Bühnen bewiesen hatte, dass sehr viel in ihm steckte. Damals war er noch gertenschlank, denn das – wie er sagte – ihn erdende Körpervolumen nahm er erst jenseits des 30. Lebensjahres an.
Dieter Pfaff wurde mit Grimmepreisen bekränzt, schuf Charaktere mit seinen Rollen, die bundesweit und weiter populär waren und es bleiben werden. Und wenn er Muße am Set hatte, zupfte er gedankenverloren die Gitarre oder begleitete sich beim eigenen, allgemein als wohltönend gerühmten Gesang.

Eine Begegnung mit ihm blieb mir versagt, meine Bewunderung für ihn spreche ich gern aus. Und die Erinnerung an seine Charaktere – das fällt mir jetzt auf – ist so stark, dass ich die in ihrer Vielfältigkeit gar nicht mehr als einzelne erkenne, sondern sie als Gesamtbild vor mir sehe.




Alltagsnicken (5): Wir hatten doch noch telefoniert

Ich hatte gerade erst das Vermögen des schmerzfreien Gehens wieder erlangt, ich hatte den Frost des vergangenen Samstags aus meinen hinfälligen Knochen geschüttelt, ich saß verdrossen und missgelaunt – warum, das könnt Ihr ahnen – in meinem Büro, als mich ein Anruf erreichte.

Am anderen Ende der Leitung redete eine gewohnte Stimme fröhlich auf mich ein. Der Mann erläuterte mir quasi in einem Atemzug, dass er sich gerade im Krankenhaus befinde, es aber immer besser ginge, nur, dass es ihm schlecht werde, wenn er die Nachrichten über die umstrukturierende Erdrosselung der Westfälischen Rundschau lese und dass wir uns dringend baldigst zusammensetzen sollten, um gemeinsam über eine lokale Internetzeitung zu grübeln, deren Erscheinen nun umso dringlicher geboten sei.

Es war Klaus Seifert, der ehemalige Chefredakteur des Hellweger Anzeigers (HA), der Zeitung, die ab 1. Februar – nach den Visionen des Pontifex Maximus mit Namen Christian Nienhaus – in Unna und Kamen den lokalen Teil zur ganzkörperamputierten Rundschau liefern soll. Klaus Seifert, der war mal mein Chef, nachdem ich beim HA angeheuert hatte und bald darauf zur Rundschau wechselte. Wir haben stets gern zusammengearbeitet, haben bisweilen auch heftig gestritten, aber über eines hätte ich nie klagen dürfen, weil es nicht geschah: über Respektlosigkeit. Wie ich später von ihm erfuhr, galt das auch in umgekehrter Richtung.

Gestern glaubte ich nicht an ein Gerücht, das krakig durch die Stadt tentakelte, wehrte ich energisch ab und verwies darauf, dass ich doch am Montag noch mit ihm gesprochen habe, dass wir Alten noch an gemeinsamen Plänen arbeiteten. Heute musste ich feststellen, dass manches Gerücht erschütternd reale Hintergründe hat. Klaus Seifert, kaum 72 Jahre alt, ist nicht mehr am Leben. Das letzte worüber wir sprachen, war das gemeinsame Entsetzen über das Ende der WR. Er hat es kaum glauben wollen, wie zynisch kalt die Essener die Amputation durchzogen, wie wenig der Faktor Mensch zählte und fragte immer wieder nach, ob das denn wirklich so gewesen sei.

Nicht erst seit den miesen Nachrichten über die erschlagene Zukunft der WR wissen wir, wie sehr Zeitungen und ihre Macher die Kultur einer Stadt, die Atmosphäre in ihr mitbestimmen. Ein guter Freund und langjähriger Kollege, der auch als Ruheständler sich liebend gern einmischte, lebt nicht mehr. Klaus würde es mir nachsehen, dass ich bei den Gedanken an ihn beinahe automatisch diese Assoziation hatte: Bald werden noch viele andere Stimmen verstummen, weil ihr Rundschau-Sprachrohr nicht mehr existiert.

Ade, Klaus Seifert.




Alltagsnicken (4): Kleiner Mann auf großem Rad

Es kam mir dieser Tage unversehens in den Sinn, weil ein Freund seinen Namen erwähnte: „Du hast ihn schon lange nicht mehr gesehen, lebt er eigentlich noch?“ Also begann ich herumzufragen, telefonierte, wenn ich Zeit hatte und versuchte, bei Bekannten und Freunden Näheres über seinen Verbleib zu erfahren.

Was ich da erfuhr, war wirklich sehr erfreulich. Erstens, er ist noch am Leben, zweitens, er hält mit Hilfe fürsorglicher Umgebung die Kehle trocken, was ihm – wie man hört – sehr gut tut und drittens ist er mit inzwischen 78 Jahren natürlich nicht mehr gar so mobil, so dass ein Umzug in einen anderen Stadtteil schon mal dafür sorgt, dass er frühere Plätze etwas vernachlässigt. „Schön“, freue ich mich. Da hat etwas, da hat jemand nach wie vor Bestand.

Denn wir liefen uns ständig in den vergangenen Jahrzehnten über den Weg. Mal saß er bei Großveranstaltungen auf dem Gepäckträger eines Fahrrades, dessen Pedale von einem stadtbekannten Juristen ehrgeizig getreten wurden, so dass das Fahrzeug über die Strecke eines Jux-Rennens bewegt wurde, mal tapste er sichtbar unsicher (weil vermutlich weinselig) durch die Fußgängerzone, mal radelte er auf einem viel zu großen Rad durch die Straßen und kaufte ein, was er so benötigte, mal saß er traumverloren auf einer Bank, blinzelte in die Sonne und hing Erinnerungen nach.

Ach ja, ich sollte noch erwähnen, wer das ist, dessen kleiner Körper – so um die 1,65 Meter hoch – mir seit Jahrzehnten stets auffällt, wer sich so bunt bekleidet, dass er gesehen werden muss und wessen vorwitzige Augen unter dem Schirm seines grellen Basecaps hervor blinzeln. Die Rede ist von Brian Casser, der 1936 in Liverpool zur Welt kam, der eine kurze Zeit aus seinem zerbrechlichen Körper derart viel Musik herausholte, dass er und seine Band fast am Weltruhm kratzten, dessen unterschiedliche Formationen auch schon mal Eric Clapton beherbergten, der eine Zeitlang in der „Maigret“-Serie nahe am TV-Star war. Brian Casser, das ist der bürgerliche Name von Casey Jones, „The Governors“ nannte sich die Band und „Don’t Ha Ha“ war der bekannteste Hit der Truppe, die zu Zeiten ihres Glanzes die „Beatles“ leichter Hand überglänzte, was auch nicht schwierig war, weil die „Beatles“ ihren Glanz noch vor sich hatten.

Wie gesagt, die Zeit währte nur kurz, der kleine Casey lebte groß und intensiv, genoss alles, was er als Genuss empfand und wurde immer mal wieder vom trunkenen Kopf auf trockene Füße gestellt. Irgendwann landete er in Hessen, später folgte er einem Freund und Manager nach Unna und mengte sich ins Stadtbild ein. Kaum jemand erkannte ihn auf der Straße, kaum jemand erinnerte sich, dass das Männlein auf dem großen Fahrrad einmal ein ganz Großer des Beat war. Nur eine fröhlich Clique um den stadtbekannten Juristen, der selbst auch schon ewige Zeiten ein stadtbekannter Musiker ist, gab Casey Jones (es ist übrigens ganz bewusst der Name der Lokomotivführer-Legende aus nordamerikanischen Westernzeiten) gebührende Aufmerksamkeit. Weil sie alle zu würdigen wussten, wer er ist und was er war gab es auch niemanden, der sich über ihn lustig machte, lieber waren sie allesamt miteinander lustig.

Brian „Casey“ Casser wird hoffentlich – sobald es wieder warm wird – in der Stadt zu sehen sein. Ich tippe mal, dass er sein Fahrrad nicht mehr zu ausgedehnten Ausflügen nutzen, lieber zu Fuß gehen wird. Aber farbwechselnd gekleidet wird er sein, wenn er mit greller Kappe auf dem schütter behaarten Kopf in die Sonne blinzelt und der alten Tage gedenkt.




Friedrich Seidenstücker: „Zille an der Linse“ kam aus Unna

Er ist d e r Berliner Fotograf, liebkoste Mensch und Alltag humorvoll und zeitkritisch, ein „Zille an der Linse“ – und quasi der Knautschke (legendärer Urvater vieler Bewohner des Nilpferdhauses im Zoo) der Tierfotografie: Friedrich Seidenstücker. Ihm widmet die Berlinische Galerie vom 1. Oktober 2011 bis 6. Februar 2012 eine Ausstellung, die 226 (nur 21 davon sind Neuprints) seiner Bilder zeigt und mit ihnen einen drallen und im wahren Wortsinne liebevollen Ausschnitt der Metropole von 1925 bis 1958.

Friedrich Seidenstücker (1882 bis 1966) hat in seiner Heimatstadt Unna nur eine kleine Skulptur als Spur hinterlassen, der man nachsagt, dass sie aus seiner formenden Hand stamme. Sein abbildendes Werk entstand in Berlin und blieb dort, weil diese Stadt Friedrich Seidenstückers Universum wurde.

In Hagen hatte er das Maschinenbaustudium begonnen, das er 1904 in Berlin-Charlottenburg fortsetzte. Während des 1. Weltkrieges war er, obschon mit Fotografie und Bildhauerei in Kontakt, Flugzeugkonstrukteur bei der Zeppelin Bau AG in Potsdam, was er einige Jahre später den Nazis verschwieg, so dass er die dunkelste Zeit relativ unbehelligt als (politisch) mäßig beachteter Fotograf „überwintern“ konnte.

Friedrich Seidenstücker: Frühling (1948). Copyright: bpk/Friedrich Seidenstücker

Nach dem Krieg dokumentierte Friedrich Seidenstücker Zerstörung und Wiederaufbau, bekam anlässlich seines 80. Geburtstages eine große Ausstellung, um danach langsam der Vergessenheit der Menschen anheim zu fallen, die im zerschlissenen Berlin mit immer neuen und moderneren Reizen beschäftigt waren.

1971 entdeckte das Bildarchiv Preussischer Kulturbesitz bei einem Trödler Friedrich Seidenstückers Nachlass und erwarb den für 500 Deutsche Mark. Wohl getan, denn dieser Fund ermöglichte die Ausstellung in der Berlinischen Galerie. Und – wesentlich kleiner – eine Erinnerung an den Sohn der Stadt in Westfalen mit vier Buchstaben im dortigen Hellweg Museum. Wann, das weiß ich nicht mehr.

Ausstellung 1. Oktober 2011 bis 6. Februar 2012.
Berlinische Galerie
Landesmuseum für Moderne
Kunst, Fotografie und Architektur
Stiftung Öffentlichen Rechts
Alte Jakobstraße 124-128
10969 Berlin
http://www.berlinischegalerie.de
Tageskarte 8 Euro
Ermäßigt 5 Euro
jeden ersten Montag im Monat 4 Euro
Freier Eintritt bis 18 Jahre

Teaserbild: Friedrich Seidenstücker: Ohne Titel (Die Zwillinge Hilde und Helga Fischer), 1948. Copyright: bpk/Friedrich Seidenstücker




Eine Reisende, die man nicht aufhalten kann: Vom Lichtkunstzentrum in Unna zur NRW-Kunststiftung

Ursula Sinnreich (Jahrgang 1957), der man gern den Dr. und den Prof. dem Namen voran stellt, geht nach Düsseldorf und übernimmt die Geschäftsführung der NRW-Kunststiftung, deren neuer Präsident, Dr. Fritz Behrens, sie für dieses Amt vorgeschlagen hatte. Sie verlässt das spärlich berühmte Unna, sie verlässt das wohlbekannte Lichtkunstzentrum, dessen Direktorin sie war, sie verlässt eine inhaltlich vorzügliche Aufgabe und widmet sich zukünftig dem landesweiten Geschäft. Verständlich, wenngleich bedauerlich, denn das „Zentrum für internationale Lichtkunst“ in der Kreisstadt östlich von Dortmund erlebte gerade einen Besucherandrang – und das im Jahr nach RUHR 2010, da in vergleichbaren Museen die Ströme sich wieder auf Normal-Niveau einpendeln.

Nun kann eine kleine Stadt nie mit den verlockenden Attraktionen konkurrieren, die eine Landeshauptstadt und eine landesweit operierende Institution bieten können. Viele Städte in NRW können sich völlig zu Recht „Kulturstadt“ nennen, doch neben Köln oder Düsseldorf verblasst ihr Stern alsbald zur Funzel, wenn ansehensträchtige Aufgaben in die Metropolen locken. Axel Sedlack, der jüngst pensionierte Autodidakt und rastlose Architekt einer kulturmittelstädtischen Sonderstellung Unnas, war noch die Ausnahme, er blieb ortsfest ebenso wie er für die Kulturpolitik standfest blieb. Kann sein, dass er der letzte seiner Art ist.

Sedlack betrachtet die Vorgänge von draußen, kann oder mag auch nicht mehr eingreifen. Ursula Sinnreich ist – wenn man so will – seine „Entdeckung“ für Unna gewesen. Sie wurde aus der Verantwortung für die östlichsten Beiträge zum Ruhrgebiets-Kulturhauptstadtjahr in die Leitung des Lichtkunstzentrums befördert. Und musste seit Beginn des Jahres 1 nach 2010 miterleben, wie der anhaltende Erfolg ihres einzigartigen Kellergewölbes breit zerredet wurde, wie jeder sich aufschwang, den anerkannten Leuchtturm einer ganzen Region in die Mahlwerke einer ideologisch geprägten Finanzdebatte zu parlieren.

Das hat die Frau Direktorin ganz sicher nicht gegen neue Herausforderungen resistenter gemacht.

Nun, neben dem Glück, das man ihr bei der neuen Arbeit wünschen soll, sei ein anderer, nachhaltiger Wunsch geäußert. Nämlich dass eine Nachfolge geregelt wird, die dem Lichtkunstzentrum gerecht wird, die seine Fortentwicklung und seine Bestandssicherung zum Ziel hat, die auch einmal Ideen im Kopf kreisen lässt, um sie frei nach draußen zu lassen und sie nicht bereits im Entstehen durch systemerzeugte Bedenken zerdrückt. Dieser Wunsch gilt der Lichtkunst-Leitung, dieser Wunsch gilt ebenso der behutsamen zukünftigen Leitung der Kulturarbeit im alten Unna, um sie möglichst verletzungsarm durch die Phase des finanziellen Dämmerlichts zu leiten.

(Bild: Screenshot der Internetseite des Lichtkunstzentrums)




Kultur und Infrastruktur

Wer es besser weiß, der möge mich ohne jede Hemmung korrigieren – das gilt übrigens stets und ständig, wer ist denn schon von Irrtümern verschont? Aber hat irgendwer einmal davon gelesen, dass ernst zu nehmende Menschen aus dem noch ernster zu nehmenden Bereich der Betriebs- oder Volkswirtschaft einen Straßenbau angezweifelt hätten, weil dieser sich womöglich nicht rechnen könnte – oder gar ein Minus gebären könnte?

Ich weiß, niemand käme auf solch eine ungeheuerliche Idee. Hingegen geht so etwas pfeilschnell, wenn Theater oder Orchester oder Museen nicht das einspielen, was der ernst zu nehmende Betriebs- oder Volkswirt errechnet hat. Oder wenig ernst zu nehmende Politiker.

Im kulturell noch immer beseelten Hagen war vor gar nicht allzu langer Zeit das Theater (wie vielerorts) flink zur Disposition gestellt, wenige Hände hoben sich für Bestandspläne, wenige Stimmen waren so vorlaut, Schließungsgedanken ins Reich der Absurdität zu debattieren.

Im wesentlich kleineren Unna entspinnen sich Auseinandersetzungen um die Finanzausstattung des internationalen Lichtkunstzentrums, deren Niveau an provinzieller Qualität schneller zulegt als „The Biggest Loser“ im Mob-TV abnehmen könnte.

Beispiele gibt es noch reichlich, Städte mit ergänzungsbedürftiger Fernsicht ebenfalls. Sie haben alle eines gemeinsam, dass sie nämlich um den Erhalt von gesellschaftlicher Infrastruktur streiten. Nichts anderes sind Theater, Museen, kulturelle Einrichtungen insgesamt, aber auch (man möge mir vergeben, dass ich dergleichen Alltägliches in Augenhöhe erwähne) Schwimmbäder oder Sportplätze und Turnhallen. Sie sind ebenso wie Straßen, wie Autobahnen oder Schienenstränge lebensnotwendige Infrastruktur.

Ich komme noch einmal auf die besagten Straßen zurück. Während sich furchtbar gern und ultra populistisch darüber gestritten wird, ob x-tausende Euro besser für Kindergärten oder Schulen angelegt sind als für ein Kultur-Objekt, werden Straßenbaupläne durchgewunken und abgenickt in einer stets silberpfeiligen Geschwindigkeit. Allenfalls zwisten Grüne bei diesem Thema, sie sind aber mit ausreichend begleitenden Radfahrgelegenheiten (selbstverständlich asphaltiert) zu sedieren.

Hingegen ist die „Hinterfragebereitschaft“ bei kulturellen Angeboten wesentlich ausgeprägter.

Ich kenne das nur aus den Lagerfeuer-Erzählungen noch erfahrenerer Menschen. Nach dem Krieg, Straßen und Schienenstränge, viele Autobahnen und Städte waren zerschlissen und zerstört – da sorgten zwei Männer namens Alfred Gleisner und Hubert Biernat im Kreis Unna dafür, dass die Keimzelle für ein Landesorchester gelegt wurde. Es existiert heute noch unter dem Namen Neue Philharmonie Westfalen. Hatten die denn keine anderen Sorgen?

Gute Frage – noch bessere Antwort: Die hatten erkannt, dass Straßen und Schienenstränge wieder aufgebaut werden können, dass aber, wenn man den Wiederaufbau der Menschen vernachlässigt, man irreparable Schäden hinterlässt.

Noch einmal zurück nach Hagen. „Sieben Sagen“ titelte das 3. Familienkonzert des Philharmonischen Orchesters Hagen. Wolfram Buchenberg hatte diese Musik für die Ruhr und ihre sagenumwobene Geschichte komponiert. Und wer miterlebte, wie begeistert Schulkinder sich als Teil des Orchesters einbrachten, sich vom Dirigenten Florian Ludwig lenken ließen, als hätten sie nie etwas anderes getan, wie sie nahtlos zum Teil eines Kultur-Betriebes wurden, der verschwendete keinen Gedanken daran, die roten Zahlen den Kindergärten und Schulen gegenzurechnen. Auch Infrastruktur, wie ich meine, die man nicht antasten würde, so lange es ausreichend junge Menschen gibt.




Er ist wieder da!

Er hat anscheinend einen anderen Tagesrhythmus gewählt. Morgens fehlt er dem gewohnten Bild im Streckenabschnitt Hagen – Unna des RE 7 nach Rheine. Wie er missmutig dreischauend, angestrengt schnaubend, hypertonisch roten Kopfes Zug auf Zug ab marschierte und die Sitzplätze oder Müllbehälter nach Leergut absuchte. Wenn er fündig wurde, befüllte der Mittfünfziger (grobe Schätzung) sorgsam seine Kunstleder-Aktentasche, deren Design für ein Aktentaschen-Methusalem-Alter sprach, denn so eine hatte ich auch mal, als ich noch zur Schule radelte.

Nun, er war eine Zeit verschwunden, machte seine Runde nicht mehr im Zug. Traf in Schwerte nicht mehr seinen Bekannten, der gleichgesinnt durch die Abteile stöberte und sammelte. Bis vergangenen Freitag, als wir uns im Nachmittagsverkehr des RE 7 Richtung Hagen wiedertrafen. Das hypertonische Rot war keineswegs gewichen, immer noch dieselbe langdienende Aktentasche, auch schaute er nicht wohlgelaunt in die Runde. Nur eine Änderung: Er hat ein Depot geschaffen, einen Bierflaschenträger in einem Abteil installiert, darin die gläsernen Fundstücke gut aufgehoben werden können.

Wir stiegen beide in Hagen aus dem Zug. Er trug den Bierkasten und die prall gefüllte Aktentasche zur nächstgelegenen Verkaufsstelle, dass das Pfand eingetauscht werde.

Gut zu wissen, dass vieles Bestand hat, dass sich nur die Rhythmen ändern. Ich wünsche ihm noch ganz viel Pfand und noch mehr sei ihm Freude gewünscht.




Kreis Unna: Millionen fürs Haus der Moderne gesucht

Unna/Holzwickede. Es ist offenbar ein großes Rad, an dem der Kreis Unna dreht: Um die hochkarätige Wiesbadener Kunstsammlung Brabant in ein künftiges „Haus der Moderne“ einzubringen, müssen zuvor 10 Millionen Euro Spenden gesammelt werden.

„Eine Vision mit großen Chancen“ nannte gestern die Kulturdezernentin des Kreises Unna, Gabriele Warminski-Leitheußer, das Projekt. In der Tat: Der Sammler Frank Brabant (69) hat seine eindeutige Zusage gegeben. Er ist zu dem Schluss gekommen, dass seine Bilderschätze beim Kreis Unna in guten Händen sind. Alles Vertrauenssache. Unna erhält somit den Vorzug etwa vor dem Landesmuseum in Schwerin (Brabants Geburtsstadt) und diversen Häusern in Süddeutschland.

Der Sammler ist als Kaufmann tätig und erwirbt seit rund 45 Jahren Bilder. Das allererste Werk, einen Holzschnitt für damals 300 Mark, müsste er noch auf Raten finanzieren. Brabant übt zwar keinen zeitlichen Druck aus. Aber eins ist klar: Allein mit öffentlichem Geld ist das Vorhaben nicht zu stemmen. Die finanziellen Fakten: Der museumstaugliche Umbau des historischen Hauses Opherdicke (in Holzwickede) dürfte rund 5 Millionen Euro kosten. Beim Kreis Unna hofft man, 80 Prozent dieser Summe durch Zuschüsse des Landes NRW aufzubringen. In diesem Falle müsste der Kreis selbst also rund 1 Million Euro ausgeben.

Damit nicht genug. Wenn die Sammlung erst einmal im Haus Opherdicke untergebracht ist, fallen Betriebskosten von cirka 500 000 Euro pro Jahr an. Plan der Kulturdezernentin: Es soll eine Stiftung gegründet und mit 10 Millionen Euro Kapital ausgestattet werden. Aus den Erträgen könnte man die laufenden Kosten bestreiten. Hierfür wären, wie gesagt, namhafte Spenden nötig. Warminski-Leitheußer: „Wir werden jetzt ,Klinken putzen‘ gehen.“ Sprich: für gut‘ Wetter bei möglichen privaten Geldgebern sorgen.

Und wenn das alles klappt? Dann würde sich der Kreis Unna in einer ganz anderen Liga wiederfinden. Man könnte mit teilweise hochrangigen Gemälden und Graphik (z. B. von Beckmann, Chagall, Feininger, Kandinsky, Klee, Marc, Nolde, Picasso und Warhol) locken. Einige Kostproben der 450 Stücke umfassenden Kollektion waren 2006 auf Schloss Cappenberg zu sehen. 25 000 Besucher interessierten sich für den Querschnitt, dessen Qualität Verhandlungen mit dem
Sammler in Gang brachte.

Günstiger Umstand: NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers hat sich die Schau seinerzeit persönlich angesehen. Am Donnerstag dieser Woche gibt es in Düsseldorf Gespräche von Vertretern des Kreises Unna mit NRW-Kulturstaatssekretär Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff. Dabei sollen Bedingungen für etwaige Landeszuschüsse zum Umbau des Hauses Opherdicke erörtert werden.

Thomas Hengstenberg, Fachbereichsleiter für Kultur und Medien beim Kreis Unna, hat bereits erste Studien zur Umsetzung erstellt. Das idyllisch gelegene, denkmalgeschützte Haus Opherdicke bietet reichlich Platz und eine recht gute Verkehrsanbindung. Bereits im Umkreis von nur 25 Kilometern leben etwa 2 Millionen Mensschen 5,6 Millionen wohnen im Radius von 50 Kilometern.

Die Sammlung, derzeit mehr schlecht als recht in Brabants Dachwohnung untergebracht (bis in den Sanitärbereich hinein), soll in Holzwickede durch Zukäufe ergänzt werden. Man will nicht das ganze Konvolut auf einmal zeigen, sondern thematische Wechselausstellungen arrangieren. Damit die Kollektion vernünftig erschlossen werden kann, sollen Kunsthistoriker der regionalen Hochschulen Zugang für Forschungen erhalten.

Übrigens: Die Eröffnung des „Hauses der Moderne“ würde der Kreis gerne 2010 feiern – im Jahr der Kulturhauptstadt.

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(Der Beitrag stand am 27. November 2007 in ähnlicher Form in der „Westfälischen Rundschau“)




Was heißt denn hier „Provinz“? – Neue dauerhafte Lichtkunst-Installation von Rebecca Horn in Unna

Von Bernd Berke

Unna. Im New Yorker Guggenheim-Museum bekam sie schon vor Jahren eine Einzelschau. Auch in Paris, London, Berlin und bei der Kasseler documenta war sie oft präsent. Jetzt hat es die Künstlerin Rebecca Horn (62) nach Unna verschlagen.

Im Zentrum für Internationale Lichtkunst (genauer: im Gewölbekeller der einstigen Lindenbrauerei) ist jetzt auf Dauer Rebecca Horns raumfüllende Installation „Lotusschatten 2006″ zu sehen.

Eine weltweit renommierte Künstlerin in der „Provinz“? Die Künstlerin selbst sieht es anders: „Mir kommt es nicht auf die Stadt, sondern auf die künstlerische Umgebung an.“ Tatsächlich befindet sich ihre neue Installation im Lichtkunst-Museum in bester Nachbarschaft: Hier gibt es bereits Arbeiten von Mario Merz, Mischa Kuball, Josef Kosuth, James Turrell und Christian Boltanski. Die Liste ist documenta-würdig.

Betritt man den Raum mit dem „Lotusschatten“, so wird man unwillkürlich still. Es geschieht genau das, was sich die Künstlerin wünscht: dass man alle Hektik hinter sich lassen und die Gedanken ruhig strömen lassen möge. Da wird einem feierlich zumute.

Äußerlich betrachtet, steht man vor einem vielgliedrigen Gebilde, das an Schlingpflanzen und Sumpfblüten erinnert. Hauptmaterial ist schimmerndes Kupfer. Trichterförmige Lampenschirme winden sich an langen, gebogenen Röhren zu Spiegeln hin, welche sich langsam drehen und geisterhaft reflektierte Schattenspiele über die Wände huschen lassen.

Dazu erklingt eine eigens von Hayden Chisholm komponierte Sphärenmusik, die geradewegs aus den Weiten des Weltalls zu kommen scheint. Völlig schwerelos. Das traumhaft wirksame Werk ist speziell für diesen Raum entstanden. Hier steht es nun und kann nicht anders.

Der Ankauf der 200 000 Euro teuren Arbeit war nur mit illustrer Hilfe möglich: Die Kulturstiftung der Länder hat etwa ein Drittel der Summe beigesteuert, auch Sponsorengeld ist geflossen.

Wie war das noch mit der „Provinz“? Unnas Kulturdezernent Axel Sedlack mag den Begriff nicht örtlich verankern: „Wenn es Provinz gibt, dann existiert sie allenfalls in den Köpfen.“ Auch Unnas Bürgermeister Werner Kolter kommt an dem garstigen Wort nicht vorbei: „Wir haben keinen IC-Haltepunkt. Darin sind wir Provinz. Aber nicht bei der Lichtkunst.“

Zentrum für Internationale Lichtkunst. Unna, Lindenplatz 1. Besuche nur mit geführter Begleitung: Di-Fr 14, 15.30 und 17 Uhr, Do auch 18.30 Uhr, Sa/So 14,15.,16 und 17 Uhr. Eintritt 5 Euro. www.lichtkunst-unna.de




Kulturhauptstadt: Keine Atempause – Rund 200 Projekte stehen schon auf den Listen, täglich kommen neue hinzu

Von Bernd Berke

Dortmund. Schon länger nichts mehr gehört zum Thema „Kulturhauptstadt Ruhrgebiet 2010″. Seit dem europäischen Jury-Entscheid vom 11. April sind einige Wochen ins Land gegangen. Doch der Schein der Ruhe trügt: Die Organisatoren hatten kaum eine Atempause. Im Gegenteil.

Kulturhauptstadt-Moderator Oliver Scheytt gestern beim Pressetermin im Dortmunder Konzerthaus: „Dass es nach dem Jury-Votum mit der Arbeit erst richtig losgeht, habe ich ja geahnt. Aber so massiv hätte ich es nicht erwartet. Wir sind voll im Geschäft.“

Die Finanzierung „steht“ weitgehend, das Gesamtvolumen soll von 2007 bis 2010 rund 78 Mio. Euro betragen. Wenn der Europäische Rat im November das Jury-Votum bestätigt (womit fest zu rechnen ist), kann noch in diesem Jahr eine Kulturhauptstadt GmbH gegründet werden, für die man dann eine künstlerische Leitung sucht. Scheytt: „Das muss jemand sein, der auch schon mal Nein sagt und Projekte ablehnt.“

Ideen gibt es wohl genug, sie müssen gewichtet und sortiert werden. Rund 200 Projekte stehen bereits auf den Listen, täglich kommen rund fünf bis zehn Vorschläge hinzu. Sie stammen zu 84 Prozent aus der Region selbst. Doch auch ein ehemaliger Zahnarzt und Hobbysegler aus Husum offerierte seine Dienste. Auf dem Bootsweg vom hohen Norden nach Istanbul (gleichfalls Kulturhauptstadt 2010) wollte er kulturelle Botschaften aus dem Revier mit an den Bosporus nehmen.

Eine ganze Garde von Kulturdezernenten und Amtsleitern des Reviers war gestern dabei, als Scheytt den Stand der Dinge erläuterte. Es wurde deutlich, dass die Städte ihre vielfältigen Aktivitäten schon jetzt eng miteinander abstimmen. Da wächst wohl zusammen, was zusammen gehört.

Auch in den Randzonen des Reviers regt sich etwas

Es gibt übergreifende Schwerpunkte (z.B. Lichtkunst, Aktionen an Wasserwegen), doch jede Kommune betont auch eigene Stärken. Beispiel: Dortmunds Dezernent Jörg Stüdemann setzt vor allem auf „Musik als verändernde Kraft“. Die Projekte sollen sich ums Brückstraßen-Viertel mit Konzerthaus, Jazzclub domicil, Chorakademie und Orchesterzentrum ranken. Zudem dürfte bildende Kunst in den Vordergrund rücken, das Spektrum soll von digitalen Arbeiten (Medienkunst in der Phoenixhalle) bis zum großen Bilder-Auftritt (Wunschprojekt „Dortmunder U“) reichen.

Regt sich auch etwas in den Randzonen des Reviers? Offenkundig schon. Unnas Kulturamtsleiter Axel Sedlack (Schwerpunkte: Lichtkunst, Krimifestival „Mord am Hellweg“, das Schaffen von Komponistinnen) versicherte, in seiner Stadt diskutiere man bereits seit zwei Jahren das Thema Kulturhauptstadt, nun beteilige sich auch gesamte Kreis Unna verstärkt.

Mehrere Kulturdezernenten (vor allem aus kleineren Gemeinden) ließen durchblicken, dass sie sich von der Kulturhauptstadt keine grandiosen neuen „Leuchttürme“, sondern eher eine Stärkung und Festigung der vorhandenen Kultur erhoffen. Und ein dichteres Netzwerk mit den anderen Städten.

Wie sieht’s mit der vielfach befürchteten Dominanz von Essen aus? Oliver Scheytt, hauptamtlich Essens Kulturdezernent, beteuert: „Ich ärgere mich immer, wenn ich die Bezeichnung ,Kulturhauptstadt Essen‘ lese.Es geht ums ganze Ruhrgebiet.“ Auswärtige können diese Gegend allerdings oft kaum verorten. So wurde gestern der Mülheimer Komiker Helge Schneider zitiert. Wenn man ihn draußen fragt, wo das Ruhrgebiet liege, sage er nur noch: „Bei Frankfurt“.

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HINTERGRUND

Markenrechte gesichert

  • Die Organisatoren der Kulturhauptstadt haben sich die Markenrechte an ihrem Ruhrgebiets-Logo gesichert. Wer es verwendet, soll möglichst zahlen. Die FIFA hat’s bei der Fußball-WM im großen Stile vorgemacht.
  • Die bisher rund 200 Projektvorschläge stammen zu 35 Prozent von Kulturschaffenden.
  • Den Löwenanteil machen Vorschläge zur „Stadt der Künste“ aus, hier rangiert die Bildende Kunst (25 Prozent) ganz vorn. Abgeschlagen: Theater mit lediglich 3 Prozent.

 




Was Experten entgeht oder: Blinde Flecken der Kulturgeschichte

Von Bernd Berke

Über Kulturgrößen wie den Komponisten Hanns Eisler, der viel mit Brecht zusammengearbeitet hat, und den Wiener Chansonnier Georg Kreisler („Tauben vergiften im Park“) gibt es jede Menge Literatur – und erst recht über Charlie Chaplin. Aber eine Kleinigkeit hat bisher gefehlt.

Denn manchmal entgehen auch den fleißigsten Deutern und Biographen interessante Details. Die werden dann – beispielsweise – von einer WR-Leserin aus Unna entdeckt. Wir reichen sie nun weltexklusiv weiter. Allein durch intensive Lektüre und Kombinationsgabe hat Tanja Krienen (43) eine Querverbindung zwischen den genannten Namen ziehen können, die bislang offenbar von allen Autoren übersehen worden ist: Eisler und Kreisler (seinerzeit beide im US-Exil) haben gemeinsam für die Musik zu Chaplins Frauenmörder-Film „Monsieur Verdoux“ (1946) gesorgt.

Gewiss: Diese Erkenntnis wird die Welt nicht umstoßen. Doch immerhin hat Kreisler selbst das hübsche Aperçu der Kulturgeschichte brieflich bestätigt, und Eisler-Biograph Jürgen Schebera will es in die nächste Auflage seines Buches einfließen lassen.

Tanja Krienen ist keine Frau vom Fach, keine Filmkundlerin oder dergleichen. Früher arbeitete sie als Erzieherin mit sozial auffälligen Kindern, heute hilft sie, die Firma ihres Mannes zu organisieren. Doch sie liest viel, veranstaltet auch schon mal – nahezu kurios – Nietzsche-Gedenklesungen in Spanien und kennt sich eben hie und da aus. Vorteil solcher Amateur-Forscher(innen): Sie sind nicht mit Fachblindheit geschlagen, sind offen für neue Fragen. Und wenn sie auch noch ein gutes Gedächtnis haben…

Den Ablauf der Episode mit Chaplin, Eisler und Kreisler muss man sich so vorstellen: Im Film gibt es einige Szenen, in denen Chaplin Klavier spielt. Zitat aus Kreislers Brief an Tan ja Krienen: „Dabei spielte er natürlich nicht wirklich, sondern damals wurde das noch so gemacht, dass ein im Film nicht zu sehendes Klavier für mich aufgestellt wurde, und ich spielte die betreffenden Passagen und behielt dabei die Bewegungen Chaplins im Auge“.

Zweite Aufgabe für Kreisler: Chaplin pfiff ihm Melodien vor, die Kreisler in Notenschrift festhielt. Mit diesen Blättern ging er dann zu Hanns Eisler, der Orchestermusik daraus machte. Kreisler, damals 23 Jahre jung, fungierte als musikalischer Bote. Noch heute rätselt er: „Ich weiß nicht, warum Eisler nicht selbst ins Studio zu Chaplin kam, möglicherweise war ihm der Weg zu weit.“ Jedenfalls tauchte weder der eine noch der andere Musikername im Film-Nachspann auf. Die Vertonung galt damals als untergeordnete Tätigkeit.

Es war also ein ziemlich folgenloser Berührungspunkt dreier sehr unterschiedlicher Künstler. Einflüsse im Werk sind nicht einmal beim damals noch prägsamen Kreisler vorhanden. Von Eisler, der später auch die DDR-Hymne („Auferstanden aus Ruinen“) komponierte und dem Weltstar Chaplin ganz zu schweigen. Sie werden den kleinen Vorfall bald vergessen haben.

Aber so kann’s gehen, selbst wenn sich ganz erlauchte Geister treffen: Man weiss, dass die beiden vielleicht größten Romanautoren des 20. Jahrhunderts, Marcel Proust und James Joyce, einander ein einziges Mal begegnet sind. Welch ein funkelnder Dialog über Literatur und Leben hätte daraus werden können! Doch die beiden Genies wussten – bis auf ein paar höfliche Floskeln – einander gar nichts zu sagen. Und wie nennen wir solche fruchtlosen Begebenheiten? Vielleicht sind es die „blinden Flecken“ der Kulturhistorie.

 




Kunstwerk für Millionen – HA Schults Auto-Denkmal im Dortmunder Hauptbahnhof

Von Bernd Berke

Dortmund. Da eilte selbst Oberbürgermeister Günter Samtlebe herbei und hielt eine launige Ansprache. Denn nicht alle Tage gibt sich ein so prominenter Aktionskünstler wie HA Schult in Dortmund die Ehre. Mitten in die Empfangshalle des Hauptbahnhofs hat Schult ein Marmor-Auto postiert.

An diesem Kunstwerk werden bis zum 4. August wohl einige Millionen Menschen vorübergehen, denn täglich sind’s im Schnitt rund 120 000, die durch den Bahnhof hasten. Das meiste Aufsehen erregte gestern Schults schrille Muse Elke Koska, die übrigens aus Dortmund stammt und hier das Mallinckrodt-Gymnasium besucht hat. Sinnierte Günter Samtlebe: „Da kann man mal sehen, was aus den Leuten so wird.“

Das gar nicht aus Marmor bestehende, sondern marmorierend bemalte Fahrzeug (besser: „Steh-Zeug“) prangte 1994 als Symbol des politischen Zeitenwandels auf einem Sockel vor dem Marmorpalast in St. Petersburg, wo es einen Panzerwagen Lenins ersetzte. Seither hat das gute Stück eine Tournee durch acht deutsche Städte hinter sich. Nun aber spricht Schult, dem Regionalstolz schmeichelnd: „Das waren nur Fingerübungen, um es endlich in Dortmund zeigen zu können.“

Warum der Bahnhof? Schult: „Weil hier so viele Leute sind, und weil hier auch Nutten oder Penner meine Kunst sehen können.“ Und die Finanzen? Schult läßt sponsern. Denn sein Auto ist nicht irgendeins, sondern ein Mittelklassemodell aus Kölner Fabrikation, welche mit dem Spruch „Die tun was“ beworben wird. Man muß sie nicht nennen, man kann getrost fortfahren…

Nein, man habe sich mit dem Auto keine Konkurrenz ins Haus geholt, meinte gestern Ernst Liedschulte von der Deutschen Bahn AG. Man begreife das Automobil als sinnvolle „Ergänzung“ zur Schiene. Und Dortmunds Oberbürgermeister Günter Samtlebe befand launig, mit HA Schult und Elke Koska habe man sich ein „Power-Paar“ in die Stadt geholt. Ökologisch korrekt, empfahl er Schult jedoch, bald ein Marmor-Fahrrad herzustellen.

Derweil bildete sich beim Eröffnungs-Zeremoniell eine neugierige Menschenmenge, angelockt auch vom gewohnt schrillen Erscheinungsbild Elke Koskas. Die erschien mit einem großen schwarzen Hund und trug statt eines Handtäschchens einen kleinen Silberkessel. Todschick. Mancher Urlauber machte hier gleich beim Reisestart sein erstes Erinnerungsfoto, und auf die Erläuterungstafel zu „Marmorne Zeit“ (Werktitel) hatte schon einer gekritzelt: „Schult, laß dich nicht unterkriegen, deine Kunst ist klasse“.

Stimmt das? Mal ehrlich: Mag das Auto in St. Petersburg noch von historischer Aura profitiert haben, so wirkt es in Dortmund relativ schlicht. Erst wenn Schult und seine Elke live dazu auftreten, wird s spektakulär. Sie selbst sind das Kunstwerk.

 




Jetzt werden auch Schriftsteller im Revier gesponsert – Initiativkreis Ruhrgebiet finanziert neue Lesereihe

Von Bernd Berke

Im Westen. Neues vom hochkarätigen Sponsorenzirkel der Revier-Wirtschaft: Der „Initiativkreis Ruhrgebiet“ steigt jetzt auch in die Literaturförderung ein. Vom 3. bis zum 27. November gibt es erstmals die Lesereihe „Poesie und Prosa – Junge Literatur im Ruhrgebiet“, die in neun Städten (darunter Dortmund und Unna) Station macht. Falls sie jetzt Erfolg hat, soll die Veranstaltung künftig alle zwei Jahre über die Bühne gehen.

„Ein Beweis dafür, daß der Initiativkreis nicht nur Glanz- und Glamour-Veranstaltungen wie Operngalas finanziert.“ So wertete Dr. Konrad Schilling das Engagement. Schilling, vormals Kulturdezernent von Duisburg, ist jetzt Kulturbeauftragter des Vereins „pro Ruhrgebiet“, der den Initiativkreis unterstützt.

16 Autoren aus dem Revier werden mit „Poesie und Prosa“ aller Genres (von der Jugendliteratur bis zum Krimi) vorgestellt. Bibliotheken und Literaturbüros der Region machten Vorschläge für die Namensliste. Hobby- und Arbeiterliteratur hat man ebenso „aussortiert“ wie Prominenz: Max von der Grün und Josef Reding sind beispielsweise nicht dabei.

Die 16, die nun in den einzelnen Städten (meist paarweise und nach Geschlechterparität) an den Lesestart gehen, haben allesamt schon Bücher herausgebracht, sind aber nur halbwegs arriviert. Kaum einer kann von seiner Literatur leben. Mitorganisator Gerd Herholz vom Literaturbüro Gladbeck: „Ein einzelner Autor hat es hier schon schwer, in der Nachbarstadt bekannt zu werden.“ Die Bündelung der Kräfte durch „Poesie und Prosa“ könne da Abhilfe schaffen.

Schwerpunkt in Dortmund

Schreibkünste scheinen besonders in Dortmund zu gedeihen: Mit Thomas Kamphusmann, Thomas Kade, Ewa Gust, Bettina Rolfes und Jürgen Wiersch lebt fast ein Drittel der beteiligten Autoren in dieser Stadt. Hinzu kommt die Krimi-Autorin Sabine Deitmer, die einen Leseabend moderiert. Überhaupt bleiben die Autoren nicht auf sich allein gestellt. Jeder Abend wird nicht nur moderiert, sondern auch musikalisch umrahmt.

Bringt die Literaturszene des Reviers genügend guten Nachwuchs hervor, um auch 1994 und 1996 „Poesie und Prosa“ angemessen zu besetzen? Gerd Herholz ist skeptisch: „Warten wir’s ab.“ Konrad Schilling hingegen meint: „In zwei Jahren werden wir die Qual der Wahl haben.“

Für „Nachwuchs“ will man schon diesmal ganz konkret sorgen: Am 27. November beendet ein „Stimmengewirr“ in Mülheim an der Ruhr die Literaturtage. So heißt die öffentliche Abschlußlesung eines Lyrik-Workshops, der von Hannelies Taschau und Thomas Rosenlöcher betreut wird.

Der Eintritt zu allen Veranstaltungen ist kostenlos. Der Initiativkreis wendet für das Projekt rund 125 000 DM auf.

Auskünfte und Programmfaltblätter bei: Initiativkreis Ruhrgebiet 0201/266 96 18 oder Stadt- und Landesbibliothek Dortmund 0231/502-3225 oder: Unna, Lindenbrauerei 02303/27 10 97.




Literaturhaus ist im Ruhrgebiet noch ein Luftschloß

Von Bernd Berke

Gladbeck/Unna. Berlin hat eins. Hamburg hat eins. Frankfurt hat eins. Und dann ist da noch jene Metropole namens Ruhrgebiet mit ihren rund fünf Millionen Einwohnern: Sie hat keins. Nämlich kein Literaturhaus als Zentrum für Autoren und Leser.

Das Thema, schon seit vielen Jahren hin und her gewälzt, gerät derzeit mal wieder verstärkt in die Diskussion. Bei der Jahresversammlung des in Gladbeck ansässigen „Literaturbüros Ruhrgebiet“ stand es jetzt ganz oben auf der Tagesordnung. Dort war man sich schnell einig: Das Revier braucht unbedingt ein Literaturhaus. Doch einstweilen, so hieß es, sei es noch ein „Luftschloß“.

Weit weniger zögerlich gab sich ein Mann, den man als Mutmacher nach Gladbeck gebeten hatte. Uwe Lucks, Geschäftsführer des als vorbildlich geltenden Hamburger Literaturhauses, servierte den Literaturförderern des Reviers eine ganze Reihe praktischer Tipps aus echt hanseatischem Kaufmannsgeist. In Hamburg, so Lucks, habe man das Literaturhaus bewußt kommerziell aufgezogen. Man erziele nennenswerte Einnahmen aus der Weitervermietung, sogar für Hochzeiten im stilvollen Rahmen der alten Villa. Gerade deshalb bleibe der Kernbereich, die Literatur, von Zwängen unberührt. Man könne sich also auch Minderheitenprogramme und Flops erlauben. Zu den rund 80 eigenen Veranstaltungen im Jahr zählen hochkarätige Lesungen, Vortragsreihen und Diskussionen. Außerdem versucht man, die Tradition von Literatencafés wiederzubeleben.

Ähnliches schwebt auch den Leuten im Revier vor. Doch im Gegensatz zu ihnen hat der Hamburger Lucks gut Lachen, denn auf dem Weg über eine Stiftung spendete der Hamburger Verleger Gerd Bucerius Millionenbeträge für das dortige Literaturhaus. Lucks‘ bündiger Rat: „Präsentieren Sie den Politikern ein Wunsch-Haus, präsentieren Sie ihnen Mäzene und ein vernünftiges Konzept.“ Mit reichlich „Vitamin B“ (sprich: Beziehungen) werde sich der Rest dann rascher finden.

Verstreute Autorenszene, keine großen Belletristik-Verlage

Leicht gesagt, schwer getan. So optimistisch sich das Hamburger Beispiel auch anhörte – im Vorstand des Gladbecker Literaturbüros wurden Bedenken laut. Im Revier sei die Autorenszene verstreut, es gebe hier keine großen Belletristik-Verlage, und die Kirchturmpolitik der hiesigen Städte stehe einer zentralen Einrichtung wie einem Literaturhaus entgegen. Schwerlich werde eine Stadt zahlen, wenn das Haus im Nachbarort stehe. Mit Wohlgefallen hörten die Gladbecker vom entschieden unternehmerischen Denken in Hamburg, denn ein Literaturhaus im Revier solle keine Kuschel-Herberge für frustrierte Autoren werden.

Unterdessen versucht man beim Westfälischen Literaturbüro in Unna, das Thema Literaturhaus auch im östlichen Revier „warmzuhalten“. Man hat der Regionalkonferenz (Dortmund, Hamm und Kreis Unna) ein Konzept vorgelegt, das im Herbst auf politischer Ebene behandelt werden soll. Auch ein passendes Gebäude (Fachwerkhaus in Unna) hat man bereits ausgesucht.

Monika Littau, Literaturberaterin im Büro Unna: „Eigentlich hat ja Dortmund hier die lebendigste Literatenszene.“ Doch Unna scheine sich mehr ins Zeug zu legen als der große Nachbar. Falls es denn wahr wird, will man auch hier (nach Hamburger Modell) Mieteinnahmen erzielen, eine Buchhandlung und einen örtlichen Verlag mit aufnehmen. Vielleicht, so Frau Littau, könne dann endlich die ständige Abwanderung von Revierautoren in verlagsreiche Großstädte gebremst werden.




„Stadtmusikerin“ Elke Mascha Blankenburg will in Unna das Kulturleben dauerhaft anregen

Eigener Bericht

Unna/Dortmund. (bke) Die Dirigentin Elke Mascha Blankenburg (45), die als „Stadtmusikerin“ von Unna ein bundesweit beispielloses Amt versieht, ist voll des Lobes: „In einer kleineren Stadt wie Unna ist es viel leichter, Unterstützung für ungewöhnliche Kulturvorhaben zu bekommen, als in Köln“.

Der Vergleich liegt nahe, denn Frau Blankenburg, die als Gast im Dortmunder Rundschauhaus über ihre Arbeit in Unna berichtete, lebt seit fast 20 Jahren in der Domstadt am Rhein. Nie habe sie dort so nachhaltige Unterstützung erfahren wie durch Axel Sedlack, den Kulturamtsleiter der Stadt Unna, der mit ihr die Rundschau-Redaktion besuchte.

Frau Blankenburg ist zuversichtlich, in Unnas Musikleben einiges bewegen zu können. Nicht auf den hochtrabenden Einzel-„Knüller“, der dann doch rasch vergessen werde, komme es an, sondern auf Anstöße etwa für den örtlichen Musikverein und die zahlreichen Chöre. Bei einem Vorsingen, das sie jetzt für ihre Einstudierung von Franz Lehárs Operette „Die Lustige Witwe“ veranstaltete, lernten manche der langjährigen Laiensänger aus Unna einander erstmals persönlich kennen – Kontakte, die die lokale Musikszene auch dann noch beleben könnten, wenn am Jahresende Elke Mascha Blankenburgs Amtszeit abläuft. Noch ein Aha-Erlebnis beim Vorsingen: Zwei Friseure entpuppten sich als hörenswerte Tenöre.

„Die Lustige Witwe“ ist eines der Unna-Projekte, auf die sich Frau Blankenburg mit großem Arbeitseifer „stürzt“. An der Operette sollen rund 40 Laien mitwirken, nur die Hauptrollen werden mit Kölner Profis besetzt. Regie führt Dieter Klein vom „Plastischen Theater Köln“.

Zweites Projekt – und noch ehrgeiziger – ist die Wiederaufführung einer Frauen-Komposition, der 1889 entstandenen „Kolossal-Kantate“ (Blankenburg) „Ode triomphale“ von Augusta Holmes. Das pathetische Werk über die Französische Revolution wurde seither nie mehr aufgeführt. Elke Mascha Blankenburg, die sich ganz besonders für vielfach vernachlässigte Kompositionen von Frauen einsetzt, trieb die Original-Partitur in Paris auf. 300 Chorsänger und rund 100 Orchestermitglieder will sie am 8. und 9. September in Unna unter freiem Himmel („Nur den Regen fürchten wir“) auftreten lassen. Blankenburg scherzhaft: „Das gibt eine richtige Massen-,Raserei‘ auf der Bühne“.

Dabei ist die „Ode triomphale“ auch „nur“ Bestandteil des fünfstündigen Simultan-Spektakels einer „Stadtoper“, das sich die Zuschauer regelrecht erwandern sollen. Der Theatermacher Peter Möbius bastelt zur Zeit am Libretto mit rund 120 Rollen. Inhalt: Revolten in Westfalen seit 1789, z. B. das Revolutionsjahr 1848 in Iserlohn oder der große Bergarbeiterstreik 1889. Gesamtregie führt Helmut Palitsch vom Dortmunder Stadttheater, von Unna für sechs Monate als „Vollzeitkraft“ engagiert. Kulturamtsleiter Sedlack freut sich über einen Nebeneffekt: Wegen der Kooperation mit Dortmund kann Unna mit Landeszuschüssen rechnen. Sedlack: „Trotzdem suchen wir noch Sponsoren“.

Deutlich auf Dauerwirkung angelegt ist wiederum die Einrichtung der ersten Frauenmusik-Bibliothek Europas in Unna, für die Elke Mascha Blankenburg aus ihrem Privatarchiv den Grundstock liefert. Kulturamtsleiter Axel Sedlack will die Spezialbücherei in die künftige neue Stadtbibliothek integrieren. Flachst Sedlack: „Bis die Olympiade im Revier stattfindet, sind wir so weit.“




Westfälisches Literaturbüro plant Autoren-Zeitung und Messe der Kleinverlage – Seit einem Jahr Beratungsdienste in Unna

Von Bernd Berke

Unna. Zu einer festen Größe im Kulturleben ist das „Westfälische Literaturbüro“ geworden, das vor einem Jahr in Unna seine Arbeit aufnahm. Kaum hat man die Anfangszeit überstanden, reifen ehrgeizige Pläne: Von der Gründung einer Literaturzeitschrift für NRW ist die Rede, von einer Messe westfälischer Kleinverlage, die 1987 in Unna aus der Taufe gehoben werden soll. Die Rundschau sprach mit den „Literaturberatern“ des Büros, Franziska Groszer und Siegfried Mrozek.

Als die beiden vor Jahresfrist die unscheinbare Dachkammer in der Kreisbücherei bezogen, stapelten sich dort längst „mehrere tausend Blatt Manuskripte“ (Mrozek) von durchweg „namenlosen“ Autoren. Es bestand also großer Bedarf nach kundiger Beratung: „Wie gut sind meine Texte? Kann ich sie veröffentlichen?“ Solche und zahllose andere Fragen wurden gestellt,

Mrozek und Groszer, die wenig von „kurzlebigen Riesenspektakeln, dafür mehr von dauerhafter Kleinarbeit halten“ (Groszer), halfen mit Erfolg. Sie betätigten sich als „Vor-Lektoren“ für Texte aus privaten Schubladen, knüpften Kontakte zu Kultur-Institutionen, vermittelten Lesungen, wirkten an Lyrik-Treffen (z. B. in Hattingen und Wetter) und ähnlichen Veranstaltungen mit, regten die Bildung lokaler Schreibgruppen an – und spielten immer mal wieder „Seelentröster“. Auch bekanntere Autoren schauen bisweilen herein, wenn sie sich „festgeschrieben“ haben.

Kein Wunder, daß die Berater kaum noch zum Schreiben eigener Texte kommen – und ihre beiden halben Stellen reichen schon gar nicht hin, dies alles zu bewältigen. Überstunden sind die Regel.

Der jüngste Schriftsteller ist erst 14 Jahre alt

Die Klientel kommt aus allen Schichten: Sie reicht vom Schlosser, der in seiner Freizeit Kurzgeschichten verfaßt, über die Hausfrau, die sich an Romanen versucht, bis hin zu Studienräten und Anwälten mit lyrischer Ader. Siegfried Mrozek: „Es gibt Leute, die fast keine Schulbildung genossen haben und trotzdem in einer ganz einfachen Sprache phantastisch erzählen können – und es gibt Deutschlehrer, die keinen lesbaren Satz zu Papier bringen“.

Frauen gehören ebenso häufig zu den Ratsuchenden wie Männer. Die überwiegende Zahl der bisher betreuten 150 Autoren ist zwischen 25 und 40 Jahre alt. Der Jüngste war gerade 14, die Ältesten über 70.

Illusionen sind generell selten, „ansonsten ziehen wir ihnen gleich den Zahn“ (Mrozek). Zwar warf auch schon mal jemand seine Blätter mit der Bemerkung auf den Tisch, dies Meisterwerk habe gefälligst in einem renommierten Verlag zu erscheinen, und auch Meinungsverschiedenheiten über die Qualität von Texten ließen das Büro schon erzittern. Doch die allermeisten schätzen ihre Veröffentlichungs-Chancen sehr realistisch ein und vertragen Kritik. Natürlich werden auch hin und wieder Kitsch-Texte eingesandt. Deren Verfasser werden nicht zum Gespräch geladen, bekommen aber aufmunternde Briefe. Das Gros aber hat nach Auffassung der Berater zumindest literarische „Substanz“.

Finanziell fehlt es hinten und vorn

Nicht nur „Einzelkämpfer“ werden beraten, auch Kommunen gehören zur Kundschaft – etwa dann, wenn (wirklich vorgekommen) kein Mensch in einer großen Stadtverwaltung so recht weiß, wie man eigentlich einen Literaturpreis ausschreibt und organisiert. Doch nur eine einzige westfälische Gemeinde, nämlich Selm, ist zahlendes Mitglied im eingetragenen Verein „Literatur-Büro“ (Vorsitzender: NRW-Umweltminister Klaus Matthiesen, „Vereinsblatt“ namens „Büroklammer“).

So mancher Stadtvertreter muß quasi „bekniet“ werden. Meist gilt, daß sich kommunale Kulturpolitiker lieber mit kostspieligen Auftritten berühmter Opernsänger schmücken als mit Literatur. Finanziell fehlt es, auch wenn NRW mit der Ausstattung seiner drei Literaturbüros (Unna, Gladbeck, Düsseldorf) bundesweit führend ist, „hinten und vorn“. Unna muß mit 75.000 DM pro Jahr auskommen, außerdem gibt es Zuschüsse und Sachleistungen der Stadt und des Kreises sowie (ganz selten) Spenden.

Künftig (erstmals am 18. September, 19.30 Uhr) veranstaltet das Büro jeden dritten Donnerstag im Monat ein Thementreffen in der Kreisbücherei Unna. Beim ersten Mal geht’s um Literatur für den Funk, im Oktober um Lyrik.

Hier die Adresse und die (neue) Telefonnummer: „Westfälisches Literaturbüro“, Am Markt 1, 4750 Unna, 02303/27 10 97. Übrigens: Das Büro steht jedermann offen, seine Dienste sind kostenlos.